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Ein recht verstandener Humanismus ist die Antwort auf die aktuelle Unordnung der Welt – so lautet die Zentralthese des neuen Buches von Julian Nida-Rümelin, der unter »Humanismus« weit mehr versteht als eine Geisteshaltung oder gar das angestaubte Relikt längst vergangener Zeiten. Humanismus ist vor allem eine Praxis der Menschlichkeit und damit die einzige Hoffnung auf eine friedliche, gerechte und prosperierende Weltgesellschaft der Zukunft. Damit der Humanismus seine Prägekraft zurückgewinnt, die er in einigen Phasen der Weltgeschichte hatte, muss er revitalisiert, muss er von Grund auf erneuert werden. Die Texte in diesem Band wollen dazu einen Beitrag leisten.
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Seitenzahl: 709
Veröffentlichungsjahr: 2016
2Ein richtig verstandener Humanismus ist die Antwort auf die aktuelle Unordnung der Welt – so lautet die Zentralthese des neuen Buches von Julian Nida-Rümelin, der unter »Humanismus« weit mehr versteht als eine Geisteshaltung oder gar das angestaubte Relikt längst vergangener Zeiten. Humanismus ist vor allem eine Praxis der Menschlichkeit und damit die einzige Hoffnung auf eine friedliche, gerechte und prosperierende Weltgesellschaft der Zukunft. Damit der Humanismus seine Prägekraft zurückgewinnt, die er in einigen Phasen der Weltgeschichte hatte, muss er revitalisiert, muss er von Grund auf erneuert werden. Die Texte in diesem Band wollen dazu einen Beitrag leisten.
Julian Nida-Rümelin lehrt Philosophie und politische Theorie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Im Suhrkamp Verlag erschienen: Demokratie als Kooperation (stw 1430), Ethische Essays (stw 1565) und Philosophie und Lebensform (stw 1932).
3Julian Nida-Rümelin
Humanistische Reflexionen
Suhrkamp
4Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016
Der folgende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2180.
© Suhrkamp Verlag Berlin 2016
© Julian Nida-Rümelin
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Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt
eISBN 978-3-518-74486-4
www.suhrkamp.de
Vorwort
Erster Teil: Wahrheit und Begründung
Veritas filia temporis
Begründung in der philosophischen Ethik
Moralische Begründung
Moralische Tatsachen
Zweiter Teil: Kritik des Naturalismus
Kritik der Naturalisierung epistemischer Gründe
Warum moralische Objektivität und Naturalismus unvereinbar sind
Warum die Annahme menschlicher Freiheit begründet ist
Dritter Teil: Humanistische Anthropologie
Humane Bildung
Plädoyer für eine normative (humanistische) Anthropologie
Praktische Rationalität und der Sinn des Lebens
Vierter Teil: Humanistische Semantik
Humanistische Semantik
Die Grenzen der Sprache
Grice, Gründe und Bedeutung
Fünfter Teil: Plädoyer für einen erneuerten Humanismus
Grundlagen
Kritik des Anti-Humanismus
Demokratie und Kosmopolitismus
Anhang
Karl Marx: Ethischer Humanist – Politischer Anti-Humanist?
Respect. Ein Plädoyer für die gleiche Anerkennung unterschiedlicher Wissenschaftskulturen
Humanismus als Leitkultur
7Διὸ δεῖ ἕπεσϑαι τῷ ξυνῷ. τοῦ λόγου δ’ ἐόντος ξυνοῦ ζώουσιν οἱ πολλοὶ ὡς ἰδίαν ἔχοντες φρόνησιν.
Heraklit
Beginnend mit meiner Habilitationsschrift zur Kritik des Konsequentialismus,[1] später dann in der Auseinandersetzung mit dem naturalistisch motivierten Angriff auf die Idee menschlicher Freiheit und menschlicher Verantwortung,[2] schließlich in meiner Kritik des Homo oeconomicus[3] und in den jüngsten bildungstheoretischen Auseinandersetzungen[4] ist mir ein grundlegender philosophischer Konflikt im Laufe der Jahre immer deutlicher geworden: der zwischen humanistischem und anti-humanistischem Denken. Was ich jeweils bei aller Unterschiedlichkeit der Themen kritisiere, stellt sich als eine Spielart anti-humanistischen Denkens heraus. Dieser rote Faden meiner eigenen Arbeit ist mir erst mit der Zeit bewusst geworden, oder besser: Mir war nicht von Anbeginn klar, dass ich mit meiner Kritik in einer größeren Tradition der humanistischen Revolten gegen anti-humanistische Theorie und Praxis seit der Antike stehe.
Den Terminus »humanistisch« zur Charakterisierung meiner eigenen Position verwendete ich meines Wissens zum ersten Mal im September 2003 in einem Vortrag Freedom without Foundations? vor der Gesellschaft für Analytische Philosophie. Die schriftliche Fassung dieses Vortrages bildete dann 2005 das erste Kapitel des zweiten Reclam-Bändchens Über menschliche Freiheit und ist aus diesem Grund hier noch einmal abgedruckt (Kap. 7). Ein Jahr später erschien unter dem Titel Humanismus als Leitkultur eine Sammlung einiger meiner politischen Reden aus fünf Jahren in kulturpo10litischen Ämtern.[5] Das Buch beanspruchte nicht eine systematische Theorie des Humanismus vorzustellen, sondern war eher als ein Nachlesebuch gedacht mit einer Vielzahl von politischen Stellungnahmen zu unterschiedlichen Themen, die jedoch von einer gemeinsamen humanistischen Grundüberzeugung geprägt waren.
Der vorliegende Band trägt den Titel Humanistische Reflexionen, er enthält verschiedene Stücke des Nachdenkens, der Erörterung unterschiedlicher Aspekte der theoretischen und der praktischen Philosophie in einem spezifischen, nämlich humanistischen Modus und schließt mit einem »Plädoyer für einen erneuerten Humanismus«, in dem die in meinen Augen zentralen Elemente eines erneuerten philosophischen Humanismus vorgestellt werden. Wer keine hinreichende Verwandtschaft mit früheren Definitionsversuchen humanistischen Denkens erkennen kann, der nehme diese Stücke als sich wechselseitig stützende Elemente einer spezifischen philosophischen Perspektive, wie immer man sie dann bezeichnen mag.
In der Tat wird unter Humanismus sehr Unterschiedliches verstanden, darunter die Betonung alter Sprachen, griechischer und römischer Geschichte und Kultur im Bildungswesen, der Deutsche Idealismus und seine geisteswissenschaftlichen Ausläufer im 19. Jahrhundert, die neue literarische Sensibilität der italienischen Frührenaissance, aber auch die These von der Sonderstellung der menschlichen Spezies, verbunden mit einer Abwertung allen nicht-menschlichen Lebens. Keine der genannten Charakterisierungen von Humanismus spielt in diesem Band eine Rolle. Diese beziehen sich in meinen Augen nicht auf den Kern humanistischen Denkens und humanistischer Praxis, sondern auf bestimmte historische und kulturelle Begleitphänomene. Meine eigene praktische Philosophie steht nicht in der Tradition des Deutschen Idealismus, eher in der der analytischen und pragmatistischen sowie der aristotelischen Philosophie, wenn es auch Berührungspunkte zum analytischen Hegelianismus der Gegenwart gibt (Brandom, McDowell u.a.) und ich vertrete nicht die These einer absoluten Sonderstellung der menschlichen Spezies, habe mich im Gegenteil für eine Ethik des gleichen Respekts bei Berücksichtigung der biologischen Differenzen im Umgang mit Tieren ausgesprochen.[6]
11Das »Plädoyer für einen erneuerten Humanismus« abstrahiert von einer Formenlehre des Humanismus und versucht, den Kern genuin humanistischen Denkens zu fassen: nicht im Sinne einer geisteswissenschaftlichen, historischen oder kulturtheoretischen Rekonstruktion, sondern im Sinne einer in sich stimmigen philosophischen Positionierung – im Zweifelsfall ist es lediglich meine Positionierung, auch wenn mir Gemeinsamkeiten mit anderen humanistischen Denkern auf der Hand zu liegen scheinen. Der philosophische Humanismus hat, wie kaum eine andere philosophische Strömung, eine politische Dimension. In der Tat bin ich davon überzeugt, dass die neuen Fanatismen und Fundamentalismen, die Kommerzialisierung und Infantilisierung der westlichen Kultur und der Kulturen weltweit nicht nur einer philosophischen, sondern auch einer politischen Antwort bedürfen und dass diese humanistisch sein sollte.
Die Texte dieses Bandes sind überwiegend in den letzten Jahren seit Erscheinen des stw-Bandes Philosophie und Lebensform (2009) entstanden; ältere Texte wurden dann aufgenommen, wenn sie zum Verständnis der Thematik unverzichtbar erschienen. Einige Textfassungen weichen in dem einen oder anderen Detail von schon erschienenen ab. Meist als Vorträge gehalten, wurde auch in der schriftlichen Form die Besonderheit der mündlichen Rede beibehalten und der Anmerkungsapparat sparsam eingesetzt. Dem Band wurde kein Personen- und Sachregister beigefügt, da das detaillierte Inhaltsverzeichnis am Ende des Buches wohl hinreichend Orientierung bietet.
Ich danke Elizabeth Bandulet und Niina Zuber für Verschriftlichungen und redaktionelle Glättungen, Rebecca Gutwald für die Übersetzung eines der Texte (Kap. 5) aus dem Englischen, Jan-Erik Strasser für die sorgfältige Lektorierung des Manuskriptes und Eva Gilmer für die wie immer reibungslose Zusammenarbeit mit dem Suhrkamp Verlag.
München, im Dezember 2015
Julian Nida-Rümelin
In diesem Vortrag geht es mir um die Überwindung eines doppelten Schismas in der modernen Philosophie: des Schismas zwischen Realisten und Antirealisten und desjenigen zwischen theoretischer und praktischer Vernunft. Nun bin ich nicht so vermessen anzunehmen, dass sich mit einem Vortrag – selbst wenn er auf dem bedeutendsten Kongress der deutschsprachigen Philosophie gehalten wird – zwei in der modernen Philosophie tief verwurzelte Schismen zu Grabe tragen lassen. Die bescheidenere Formulierung meines Vortragsziels lautet daher: Ich möchte Sie davon überzeugen, dass sich diese Schismen überwinden lassen, und deutlich machen, wie sie sich überwinden lassen. Zugleich aber möchte ich erläutern, wie es zu diesen Schismen kommen konnte und warum sie einen so dominierenden Einfluss auf das moderne, auch auf das zeitgenössische, philosophische Denken erringen konnten.
Dieser Vortrag richtet sich sowohl an die Kolleginnen und Kollegen aus dem Fach als auch an ein breiteres Publikum, das ein Interesse an der Philosophie hierher geführt hat, wie es sich für einen Abendvortrag gehört. Dies stellt mich, wie die anderen, die auf diesem Kongress einen Abendvortrag übernommen haben, vor eine gewisse Herausforderung: Kann man ein komplexes und intrikates philosophisches Argument so entwickeln, dass es sowohl diejenigen, die die Philosophie zum Beruf gemacht haben, als auch diejenigen, die ein außerberufliches Interesse an philosophischen Fragen entwickelt haben, gleichermaßen anspricht? Ich denke, das sollte möglich sein – ob es mir gelingt, steht auf einem anderen Blatt. Die interessantesten Beiträge in der Geschichte des philosophischen Denkens haben sich jedenfalls nicht eines bestimmten Jargons bedient, sondern versucht, Genauigkeit mit Verständlichkeit zu verbinden. Dass auch große Köpfe an dieser Aufgabenstellung immer wieder gescheitert sind, ist nicht ermutigend, ich versuche es hier trotzdem.
Wie so vieles in der Philosophie (genauer: in der Philosophie unseres Kulturkreises) kann man die Ursprünge dieses Schismas, das es zu überwinden gilt, bis auf Platon zurückverfolgen. In der berühmten Kaskade der drei Gleichnisse – des Sonnen-, des Linien- und des Höhlengleichnisses – geht es um das Verhältnis von doxa und epistèmè, von bloßer Meinung und sicherem Wissen. Platon ist der Überzeugung, dass Wissen nur auf dem Wege der Philosophie und der Wissenschaft (was damals noch nicht zu trennen war) zu erreichen ist. Da nicht alle diesen Weg gehen können, müssen sich die Vielen auf die Wenigen verlassen, die in der Lage sind, den philosophischen Weg zu gehen, und ihrem Rat folgen. Das Spannungsverhältnis zwischen philosophischem Wissen und Alltagserfahrung bleibt jedoch in praxi bestehen, wie die resignativen Schlusspassagen des Höhlengleichnisses deutlich machen und wie es das Menetekel des Todes von Sokrates, nicht nur für Platon, drastisch vor Augen führte. Wissen verlangt nach einer radikalen Distanz von den Praktiken und Urteilen der Alltagswelt. Diese radikale Lösung über die Wenigen, die ihr Leben der Philosophie widmen, hat eine stilbildende und zugleich hochproblematische Konsequenz: Es ist die Abwertung dessen, was im Anschluss an Husserl als »lebensweltliches Wissen«, im Anschluss an Wittgenstein und die Ordinary-language-Philosophie als »Alltagssprache«, im Anschluss an die schottische Aufklärungsphilosophie als »common sense« und im Anschluss an Dewey als »Erfahrung« bezeichnet werden könnte.
Der Widerstand gegen diese radikale Abwertung formiert sich schon früh, nämlich bei einem – allerdings rund vierzig Jahre jüngeren – Schüler Platons: bei Aristoteles. In der Nikomachischen Ethik wird nicht nur die Ideenlehre Platons geradezu brüsk verworfen, sondern auch die Lebenserfahrung und das Alltagswissen in Gestalt des phronimos aufgewertet. Dem Intellektualismus Platons wird – so könnte man in historisch verzerrender Terminologie sagen – der Pragmatismus erfahrungsgesättigter Lebensklugheit entgegengestellt.
Platon ist, wie Aristoteles, zweifellos im philosophischen Sinne Realist. Aber während sich die Realität für Aristoteles in Gestalt eines topischen Vorgehens aus unseren lebensweltlichen Überzeu17gungen erschließt, müssen diese für Platon radikal in Frage gestellt werden, um hinter den Schattenbildern des alltäglichen Erfahrungswissens das eigentlich Seiende, nämlich die Formen und Strukturen, also das, was irreführend als »Ideen« übersetzt wird, zu enthüllen. Aber führt die topische Methode nicht geradewegs in einen Relativismus unterschiedlicher Perspektiven? Ist nicht etwa die normativ weitgehend abstinente Beschreibung, die Aristoteles unterschiedlichen Verfassungsformen angedeihen lässt, ein Beleg und ist nicht die Ziviltheologie, wonach jede griechische Stadt gut beraten ist, dem gemeinsamen Glauben an die Götter Ausdruck zu geben und die Beteiligung an den entsprechenden Riten und Festlichkeiten als Bürgerpflicht zu etablieren, ein Warnsignal, jedenfalls für gläubige Menschen? Die topische Methode als Weg in den Agnostizismus nicht nur in der Theologie? Und ist die Abwertung der Wissenschaft jedenfalls dort, wo sie eine Genauigkeit fordert, die dem Gegenstand unangemessen ist,[2] nicht eine Form des Quietismus, der sich mit den überkommenen Vorstellungen und Gebräuchen arrangiert, etwa in der bemerkenswert unkritischen Akzeptanz dreier vermeintlicher Herrschaftsformen von Natur: der der Eltern über die Kinder, der der Freien über die Sklaven und der der Männer über die Frauen? Ist da nicht die platonische Utopie einer gerechten Stadt vorzuziehen, die mit überkommenen Praktiken der Unaufgeklärtheit und Unterdrückung radikal bricht, Männer und Frauen gleich behandelt, die Familien auflöst (jedenfalls für die Angehörigen des Wächterstandes) und Gerechtigkeit als praktische Umsetzung philosophischer Erkenntnis realisiert?
Auch wenn der Gegensatz von Platonismus und Aristotelismus das weitere philosophische Denken in der Antike und im Mittelalter beeinflusst, so kommt es zur eigentlichen Ausprägung des Schismas, um das es uns in diesem Vortrag geht, erst mit der scientia nova und dem neuzeitlichen Rationalismus. Man mag vermuten, dass sich kulturell in der italienischen und dann gesamteuropäischen Renaissance ein Muster wiederholt, das auch Platon zu seiner Philosophie inspirierte, nämlich das einer tiefgehenden und umfassenden Entwertung vertrauter Praktiken und Überzeugungen. In der frühen Neuzeit nimmt das die Form des klerikalen Autori18tätsverfalls, der Abwertung des aristotelisch-thomasischen Weltbildes sowie der über Glaubens- und Moralgewissheiten gestifteten einheitlichen christlichen Lebensform an. Erst das Zwillingspaar aus und , also die subjektive Erschütterung lebensweltlicher normativer wie empirischer Gewissheiten und die Identifikation von Wissen mit Unbezweifelbarkeit führt zum der Philosophie, der diese über weite Strecken bis heute prägt. Unter »Rationalismus« verstehe ich dabei eine spezifische Methodik, eine Vorgehensweise in der Theoriebildung und schließlich eine philosophische Erkenntnistheorie, wonach aller Intuition, aller lebensweltlichen Erfahrung, allem Common Sense, aller etablierten Pragmatik zu misstrauen und diese durch ein methodisch-wissenschaftlich gesichertes, deduktives Verfahren des Wissenserwerbs zu ersetzen sei.
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