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Eine kosmische Bedrohung nähert sich dem Planeten Xenosol. Ebaneez Scrooge, Kommandant der Raumstation Humbug, muss abwägen, ob er die Bevölkerung warnen und aufnehmen will, oder sie ihrem Schicksal überlässt. Bevor er sich entscheiden kann, erhält er einen Notruf seines ehemaligen Partners, der entführt und in Ketten gelegt wurde. Und während ein technischer Defekt die Station in Schnee versinken lässt, taucht in seinem Quartier eine Zeitreiseagentin auf, die den Auftrag hat, ihn in die Vergangenheit zu schicken. Scrooge steht eine außergewöhnliche Nacht bevor. Mit ungewissem Ausgang – nicht nur für ihn selbst.
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HYBRID VERLAG
Vollständige elektronische Ausgabe
12/2021
Humbug über Xenosol
© by Tino Falke
© by Hybrid Verlag
Westring 1
66424 Homburg
Umschlaggestaltung: © 2021 by Creativ Work Design, Homburg
Stock-Illustration-ID:1203818959 / Bildnachweis:WhataWin Weltall
Stock-Fotografie-ID:1195952247 / Bildnachweis: cihatatceken
Lizenzfreie Stockfoto-Nummer: 181424567 / Bildnachweis: Aphelleon – Planet
Lektorat: Rudolf Strohmeyer
Korrektorat: Petra Schütze
Buchsatz: Lena Widmann
Autorenfoto: Tino Falke
Illustrationen: Isabel Schmiedel
Inhaltswarnungen / Content Notices zum Buch finden sich auf der
Homepage des Autors: www.tinofalke.de/humbug-uber-xenosol
Coverbild ›Eiskalter Tod‹ © 2020 by Creativ Work Design
Coverbild ›Funkschatten‹ © 2019 Umschlaggestaltung by Creativ Work Design, Coverbild: 2019 by Ruth Ledersteger
Coverbild ›Omega‹ © 2020 by Creativ Work Design
Coverbild ›Colerianischer Herbst‹ ©2020 by DeadRabbit/Paul Lung
ISBN 978-3-96741-145-4
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www.hybridverlagshop.de
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Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.
Printed in Germany
Tino Falke
Humbug über Xenosol
Science-Fiction
1. Schnee im All
2. Invasion der Chromfüßler
3. Feste und Flüssige
4. Dreizehn Boxen
5. Die Fremde
Danksagung
DER AUTOR
Hybrid Verlag …
Für alle,
die für andere
Türen öffnen
Schnee im All
Ebaneez Scrooge hatte viel gesehen in seinem Leben. Er hatte die Invasion der Chromfüßler miterlebt, die nach Jahren des Krieges zur kompletten Zerstörung seiner Heimatkolonie geführt hatte. Er war dabei gewesen, als Ma-Læ, sein Ma-Læ, zum jüngsten Kommandanten in der Geschichte der Trans-Nebula-Allianz ernannt worden war. Er hatte Sterne gesehen, die kollabiert und in strahlenden Supernovas explodiert waren, und Monde, die sich dem Gravitationsfeld ihres Planeten zu sehr genähert und beim Einschlag auf der Oberfläche alles Leben dort ausgelöscht hatten. Doch was Scrooge noch nie zuvor gesehen hatte, war Schnee im Weltraum.
Er hatte überhaupt seit seiner Kindheit keinen Schnee gesehen. Auf dem Planeten, auf dem er aufgewachsen war, hatte es aber noch Winter gegeben. Einmal im Jahr schneite es, manchmal nur tagelang, manchmal ein paar Wochen, und einmal war es so kalt geworden, dass die Gelenke aller Biped-Bots der Kolonie eingefroren waren, deren Update-Arkaden im Freien standen. Sogar die Schule fiel aus, weil auch die Kinder mithelfen sollten, die Roboter wieder aufzutauen. Wie lange war das nun her? 50 Jahre, 60? Lange genug, dass der Anblick wieder den Zauber bekommen konnte, den Gewohnheit ihm sonst genau so genommen hätte wie bei all den technischen Errungenschaften, die Scrooge einst zum Staunen gebracht hatten. Heute machten sie seinen Alltag aus. Niemand auf der Humbug wunderte sich noch über sprechende Algorithmen und Hologramme. Aber es stand außer Frage, dass der Schnee in diesem Moment von mehr als nur einem Fenster aus beobachtet wurde.
Inzwischen war Scrooge selbst lange genug Kommandant, dass er sich kindliches Staunen nicht mehr leisten durfte. Trotzdem konnte er den Blick nicht abwenden — er war auch nur ein Mensch. Er sah an seiner Spiegelung vorbei, dem weißen Haar, der hellen Haut, den Abzeichen. Das Fenster seiner Kabine zeigte die endlose Fremde mit all ihren Sternen und direkt vor dem Glas unzählige Schneeflocken, tanzend im Vakuum, unbekümmert und vielleicht unendlich lang, denn wenn das All eines war, dann kalt. Scrooge versuchte, seine Uniform weiter zuzuknöpfen, doch fand bereits alle Knöpfe verschlossen. Er fror eigentlich immer auf der Station.
So hypnotisierend das ungewohnte Schneetreiben auch war, Scrooge kam nicht umhin, sich über den Grund dafür zu ärgern. Schon seit mehreren Tagen waren alle Reproduktoren defekt. Statt die gewünschten Speisen zu produzieren, spuckten die Wandterminals nichts als gefrorenes Wasser aus. In allen Korridoren und auf den GastroDecks häuften sich riesige Hügel aus Eis, und natürlich sollte es nicht dazu kommen, dass die weißen Landschaften schmolzen und die Crew durch knöcheltiefes Eiswasser waten musste. Also ließ Scrooge PortalPanels montieren, ein In-Panel vor jeden Reproduktor, die dazugehörigen Out-Panels an die Außenhülle der Station — manche so klein wie ein Schreibdisplay, andere so hoch und breit wie eine Tür. Bis Crewmitglieder vom TechDeck herausgefunden hätten, wie der Defekt zu beheben wäre, wurde das unablässig produzierte Eis pulverisiert und direkt ins All hinausgeschickt. Und dort tanzte es.
Für einen Moment fragte sich Scrooge, ob die Flocken es wohl bis in die Atmosphäre des Planeten unter ihnen schaffen konnten, da klopfte es an der Tür. Der Kommandant strich seine Uniform glatt, dann ließ er die verspätete Besucherin in sein Büro.
»Offene Hände«, zitierte Schwester Fana ihre übliche Begrüßung.
»Offene Herzen«, murmelte Scrooge die Standardantwort auf die Grußformel der Kultistin.
»Aber weiter verschlossene Türen, wie ich sehe«, sagte sie und setzte sich in einen der Sessel vor Scrooges Schreibtisch.
Die Bræga trug eine purpurne Robe, die den gesamten Rücken und die Arme frei ließ, damit keine ihrer Tätowierungen verdeckt war. Ihre für ihr Volk typische gelbe Haut war über und über mit filigranen roten Linien und Mustern bedeckt, mit rituellen Schriftzeichen und heiligen Symbolen. Fanas Kopf war halb geschoren, um Platz für weitere Ornamente zu machen, das lange Haar auf der anderen Schädelhälfte war mehreren Kulturen gewidmet, die ihren Glauben in besonderen Filz- oder Flechtstilen ausdrückten. Sie faltete die Hände und lächelte ihren Kommandanten an.
»Weißt du, dass die Crew manchmal wettet, wie lange es dauert, bis sie dich mal wieder zu Gesicht bekommt? Es wäre vielleicht gut für die Moral auf der Station, wenn du dich hin und wieder unter die Arbeitenden mischst, statt dich immer nur in deinem Büro zu verschanzen.«
»Meine Tür ist verschlossen, damit mich keiner stört.« Scrooge blickte wieder aus dem Fenster. Das Schmunzeln auf Fanas Gesicht erkannte er auch aus dem Klang ihrer Stimme, er musste sie dafür nicht ansehen. »Und in meinem Büro bin ich, um zu arbeiten. Etwas, was die Crew vielleicht auch tun sollte, statt unsinnige Wetten über ihren Vorgesetzten abzuschließen.«
»Niemand an Bord lehnt sich tatenlos zurück, keine Sorge. Dass die Besatzung zwischendurch Spaß hat, bedeutet nicht, dass sie ihre Aufgaben vernachlässigt.«
Scrooge wandte sich vom Fenster ab und setzte sich Schwester Fana gegenüber. Die Bræga war seine älteste Vertraute auf der Station. Einst war sie seine Lehrerin gewesen, viele Jahre später hatte er sie auf die Humbug geholt, um ihre Dienste als spirituelle Expertin in Anspruch zu nehmen. Fana hatte jahrzehntelang die Religionen und Weltanschauungen des bekannten Universums studiert und es zur angesehensten Kultistin der ganzen Allianz geschafft. Sie hatte sich ihrer Profession wortwörtlich mit Leib und Seele verschrieben.
Sein Blick wanderte über die Bilder auf ihrer Haut, über all die Segenssprüche und Beschwörungstexte, die stets offen lagen. Wer von Brægon stammte, hatte eindeutig kein Problem mit Kälte. In der Tat strahlte Fana sogar immer eine gewisse Wärme aus.
»Ich vermute«, fuhr Scrooge fort, »du bist nicht nur hergekommen, um mir mitzuteilen, was die Crew hinter meinem Rücken über mich erzählt?«
»Ich bin hier, um dich zu der Feier heute Abend einzuladen!«
Scrooge stöhnte auf. Jetzt fing auch Fana noch damit an.
»Reicht es nicht, dass ich ein paar Dutzend Einladungen von f(red) abgelehnt habe? Ich habe keine Zeit zum Feiern. Ganz abgesehen davon, dass ich nur aus Höflichkeit gefragt wurde. Niemand will seinen Kommandanten um sich haben, wenn ausgelassen getanzt und getrunken wird.«
»Du unterschätzt deine Crew.«
»Was ist denn überhaupt der Anlass?«
Fana musste lachen.
»Mit der richtigen Weltsicht gibt es immer was zu feiern. Und gerade zum Jahresende kommen in vielen Kulturen Freundeskreise oder Familien zusammen. Die Ni’moni feiern Cha’mena, die kitaurischen Luxlaufenden begehen das Aurorum, die XKT38/b feiern polyload, die Brægai das Wallen des Mondmeeres unter den sieben neuen Winden — ich könnte dir stundenlang weitere aufzählen. Auch auf der Menschenwelt Erde soll es solche Feste gegeben haben.«
Scrooge schnaubte verächtlich. Was kümmerte ihn ein Planet, auf dem Generationen zuvor Verwandte von ihm gelebt hatten? Doch die Schwester ließ sich nicht beirren. Mit einem Strahlen in den Augen beugte sie sich vor.
»Vielleicht hat deine Familie Ōmisoka gefeiert, den letzten Tag des Jahres, oder das Lichterfest Chanukka. Es gab das Julfest und Kwanzaa und Pancha Ganapati, und in vielen Regionen war Weihnachten sehr beliebt.«
»Als würde mir auch nur einer dieser Namen irgendwas bedeuten!« Scrooge erhob sich wieder. Sein Büro bot nicht viel Platz zwischen dem Tisch und den altmodischen Schränken für Papiere an der Wand, doch trotzdem schritt er energisch auf und ab.
»Nein danke, sage ich dazu. Ein Jahr endet, oder ein Rotationszyklus, die Leute tauschen einen Kalender durch den nächsten aus, und alle müssen dasselbe leisten wie am Tag zuvor. Ich wüsste nicht, wieso man sich ganze Tage frei nehmen sollte, nur weil regelmäßig die Konstellationen irgendwelcher Sterne oder Positionen von Planeten variieren.«
»Weißt du«, sagte Fana, stützte sich auf dem Tisch ab und legte eine schmale Hand an ihre Wange, »auf der Station läuft alles in perfekter Routine ab. Sie wird nicht eingehen, wenn du dich mal einen Tag nicht um sie kümmerst.«
Ihr Blick fiel auf die verstreuten Dokumente auf dem Schreibtisch — echtes Papier, das Scrooge mit farbiger Tinte beschriftete, statt wie alle anderen auf Displays zu schreiben. »Außerdem kann vieles, was du dir aufbürdest, genauso gut von Bots erledigt werden. Manches sogar schneller, nehme ich an. Sind das hier Budgetrechnungen für das Labor? Kalkulierst du die immer noch von Hand?«
Mit einem Satz war Scrooge wieder am Tisch, hastig sammelte er die Papiere zusammen.
»Solange ich dazu in der Lage bin, meine Arbeit selbst zu machen, wird keine Maschine mich ersetzen!« Er funkelte Fana finster an. »Und selbst, wenn sie uns irgendwann in allen Bereichen überlegen sind — wohin soll das denn führen? Heute übernehmen sie die Buchhaltung, morgen bestimmen sie über unsere Rationen und die Truppenführung, und übermorgen wird gar kein humanoider Kommandant mehr gebraucht!«
»Dann könntest du dich zur Ruhe setzen.« Sie zog die Augenbrauen hoch und verschränkte die Arme. »Verdientermaßen.«
Wortlos sortierte Scrooge die Papiere in die antiken Aktenschränke. Nur aus dem Augenwinkel nahm er wahr, dass Fana den Blick auf die Tischplatte senkte. Sie seufzte.
»Ich glaube, wenn den Bots nicht von Anfang an nur Misstrauen entgegengebracht worden wäre, hätten sie sich gar nicht gegen die Menschen aufgelehnt. Als KI laufen lernte, warnte auch auf deiner Ursprungswelt die Menschenrechtsbewegung vor dem nahenden Ende. Hunderte Jahre lang haben die Roboter nur gehört, dass niemand ihnen traut. Kein Wunder, dass sie sich von deinen Ahnen abgewandt haben.«
»Sie haben sich nicht abgewandt.« Scrooge drehte den Kopf gerade weit genug, dass Fana sein ernstes Gesicht sehen konnte. »Maschinen haben meine Heimat zerstört. Es sollte dich also genauso wenig wundern, dass ich sie nicht um mich haben will.«
»Meine Heimat wurde von einem Meteoritenhagel zerstört — und ich freue mich trotzdem, wenn ich eine Sternschnuppe sehe.«
»Dann wünsch dir das nächste Mal, wenn du eine siehst, dass niemand auf die Idee kommt, eine Kultisten-Maschine zu bauen, die dich überflüssig macht.«
»Ebaneez!«
Schwester Fana sah ihren Kommandanten fassungslos an, die Augen weit aufgerissen, die Lippen zu einer schmalen Linie zusammengepresst. Scrooge atmete tief ein, schloss den Aktenschrank und drehte sich erneut zum Fenster. Er hatte Fana noch nie ins Gesicht sehen können, wenn sie wütend auf ihn war. Vor allem, wenn er wusste, dass sie damit vollkommen recht hatte. Einen Moment lang versuchte er, ihr erbostes Schnaufen hinter sich auszublenden und sich ganz auf das beruhigende Ballett der Eiskristalle vor dem Fenster zu konzentrieren. Schnee im Weltraum, wie faszinierend und fremdartig zugleich, wer hätte je mit so etwas gerechnet?
Schließlich ergriff er wieder das Wort.
»Es tut mir leid, Fana. Das war respektlos und unprofessionell von mir, und egal wie gestresst ich bin — so sollte ich mit keinem Crewmitglied umgehen. Und mit einer alten Freundin schon gar nicht. Am besten reden wir nicht mehr über Maschinen.«
»Vielleicht sollten wir gerade das tun. Es gibt keinen Grund, so lange einen Groll gegen Bots zu hegen, Ebaneez, der Krieg ist seit Jahrzehnten vorbei. Und wenn du darüber reden willst, was du damals … durchgemacht hast, dann steht meine Tür dir immer offen. Auch das weißt du.«
»Ich habe keinen Bedarf an …« Scrooge hielt inne. »Wie nennst du es immer?«
»Seelsorge«, sagte Schwester Fana. »Zumindest heißt es so in Kulturen, die an die Seele glauben. Nenn du es, wie du willst: Gesprächstherapie, Abladen von Altlasten, eine erleichternde Unterhaltung mit einer alten Vertrauten. Hauptsache, du behältst nicht alles für dich, was dich beschäftigt.«
»Ich kann dir sagen, was mich beschäftigt.« Der Blick des Kommandanten fiel auf den Planeten unter ihnen, auf den Grund, warum die Humbug hier stationiert war und warum er seit Wochen keinen ruhigen Moment mehr gehabt hatte: Xenosol, die fremde Welt, der all ihre Forschung galt.
»Ich kann seit Tagen nicht schlafen. Ich kriege kaum einen Bissen runter. Ich bin verspannt, mein Kopf pocht die ganze Zeit. Doch schon bald wird alles besser werden. Was du nicht wissen kannst, ist, dass für morgen früh eine allianzweite Kundgabe geplant ist. Die Präsidentin der TNA drängt auf eine Entscheidung. Ich wollte nach unserem Meeting eine Ankündigung auf allen Stationsfrequenzen senden.«
»Was für eine Entscheidung?«, entfuhr es Fana leise, doch Scrooge sah ihren Blick in der Spiegelung im Fenster. Sie wusste genau, wovon er sprach.
»Ich werde morgen früh bekanntgeben, ob wir die Xenos aufnehmen werden.«
Wortlos erhob sich die Bræga. Scrooge kannte sie gut genug, um genau zu wissen, was gerade in ihr vorging. Ein paar Sekunden lang würde sie sich freuen, weil sie gehört hatte, was sie hören wollte. Wie zum Beweis fuhr sie mit den Fingerspitzen über bestimmte Linien ihrer Tätowierungen, die für Segnungen und Dankbarkeit standen. Dann fiel ihr das Detail auf, von dem Scrooge gehofft hatte, er müsste es nicht mit ihr persönlich diskutieren.
»Was soll das heißen — ob wir sie aufnehmen?«
Scrooge hielt den Atem an.
Anfangs war die Entdeckung von Xenosol ein Segen für die Wissenschaft gewesen. Bei den Einheimischen handelte es sich um Abkömmlinge einer vor Jahrhunderten ausgelöschten Spezies. Ein Teil der Bevölkerung hatte einst seine Ursprungswelt verlassen, hier eine Kolonie gegründet und aller Technologie abgeschworen. Auf dem neuen Planeten gab es weder Elektrizität noch Roboter oder Raumtransport. Die Aufgabe der Humbug war es, die Zivilisation zu beobachten und ihre Entwicklung zu studieren, außer Sichtweite im Orbit, während die Xenos ihr maschinenfreies Leben lebten. Ein Dasein ganz nach Scrooges Geschmack.
Nur war vor wenigen Monaten eine Anomalie auf dem Radar aufgetaucht. Aus den Weiten des Weltraums näherte sich kosmische Strahlung, die schon bald direkt auf den kleinen Planeten treffen würde. Das Volk von Xenosol konnte es nicht wissen, doch in wenigen Wochen wäre ihre schützende Atmosphäre durchlöchert, und die ahnungslosen Xenos würden an der Strahlung verenden, innerhalb weniger Jahre würde ihnen die Haut von den Körpern schimmeln und ihre Organe versagen, und der Planet wäre wieder unbewohnt. Es sei denn, Scrooge gäbe den Befehl, Kontakt mit seinen Forschungsobjekten aufzunehmen und die gesamte Bevölkerung hinauf auf die Station zu holen.
»Du kannst nicht ernsthaft mit dem Gedanken spielen, sie sterben zu lassen?« Es lag ein Beben in Schwester Fanas Stimme. »Das sind intelligente Lebensformen da unten, wie du und ich!«
»Es ist nicht ganz so einfach.«
»Sollte es aber sein!« Sie schritt auf ihn zu. »Öffne einfach die Türen!«
»Das hier ist eine Forschungsstation!«, sagte Scrooge und drehte sich endlich zu ihr um. »Wir beobachten, wir greifen nicht direkt ein. Wenn wir die Xenos aus ihrer gewohnten Umgebung reißen, war jahrelange Arbeit umsonst. Außerdem müssen viele Dinge bedacht werden, bevor so eine Entscheidung getroffen werden kann. Haben wir genug Platz und Vorräte, um die ganze Kolonie aufzunehmen — und sei es nur eine Weile, bis wir sie auf einen anderen Planeten umsiedeln können? Wie würde die Crew reagieren? Will eine Gesellschaft, die Technologie ablehnt, überhaupt von uns gerettet werden? Ich bin nicht dagegen, Fana, ich bin nur … unentschlossen.«
»Und ich bin enttäuscht, dass die Antwort für dich nicht eindeutig ist. Wenn du die letzte Nacht vor deiner Kundgabe noch brauchst, um dich zu entscheiden, dann nimm dir die Zeit, Ebaneez. Aber wenn du demnächst wieder ruhig schlafen kannst, obwohl du die Lebewesen dort unten qualvoll zugrunde gehen lässt, ist meine Zeit auf deiner Station vorbei. Das habe ich dir nicht beigebracht.«
»Die Zeiten, als du meine Scola warst, sind lange vorbei. Und ich habe dich nicht auf die Humbug geholt, um meine Ausbildung fortzusetzen.«
»Ein Jammer«, schnaubte Schwester Fana. »Offenbar hast du noch einiges zu lernen.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, stürmte die Kultistin aus dem Büro.
Scrooge seufzte. Genau das hatte er verhindern wollen. Schon zu Schulzeiten war die Bræga von ihm geschätzt worden. Nach dem Krieg, als sich ihre Wege wieder kreuzten und sie sich auf Augenhöhe begegnen konnten, weil die Hierarchien seiner Kindheit nicht mehr galten, hatte er sogar begonnen, sie als Freundin wahrzunehmen. Wahrscheinlich war sie das einzige Mitglied der Crew, das ihn auch ein wenig mochte. Mehr noch — sie glaubte an ihn, und bei einer Kultistin war das keine leichtfertige Aussage.
Auf Fanas Heimatwelt hatte es früher einen Brauch gegeben, bei dem dreizehn ungefüllte Schachteln verschenkt wurden, als Symbol für all das Potenzial, all die Möglichkeiten, die ein neues Jahr bot. Manchmal dachte Scrooge, Fana sähe in ihm auch eine Ansammlung von Boxen, die bei ihrer ersten Begegnung noch leer gewesen waren. Nur womit er sie seitdem gefüllt hatte, schien ihr nicht mehr zu gefallen.
Er sah noch eine Weile den tanzenden Schneeflocken zu, dann setzte er sich an sein ComTerminal. Viele der Maschinen auf der Station waren von der Trans-Nebula-Allianz vorgeschrieben, er kam also nicht umhin, sie zu benutzen. Widerwillig sprach er seine Ankündigung für die ganze Besatzung in das Gerät. Jetzt wussten alle, was sie morgen erwartete. Falls Teile der Crew mitbekommen hatten, dass schon den ganzen Tag getarnte Shuttles von anderen TNA-Stationen andockten, war auch dieses Geheimnis jetzt gelüftet. Die besuchenden Offica, all die ranghohen Mitglieder der Allianz, hatten ein Deck für sich — jetzt nach der stationsweiten Ankündigung war es auch ihnen erlaubt, sich frei auf der Humbug zu bewegen. Sollten sie sich ruhig alle mit der Feier ablenken, während Scrooge sich unruhig in seinem Bett wälzte. Bei näherer Überlegung war es vielleicht schon jetzt ein guter Zeitpunkt, sich in sein Privatquartier zurückzuziehen, bevor weitere besorgte Crewmitglieder mit den ewig gleichen Argumenten zu ihm kämen.
Scrooge warf sich seinen Mantel über, trat aus seinem Büro und stand sofort bis zu den Knien in einem Schneehaufen. Er stöhnte leise auf. Eines der Wandterminals hing direkt gegenüber, und offenbar funktionierte das PortalPanel, das mit GravitaSpots davor verankert war, nicht so effizient, wie es eigentlich sollte. Es war dementsprechend kalt außerhalb des Büros. Und inzwischen schien auch die Beleuchtung betroffen zu sein! Ob es an der höheren Feuchtigkeit in der Luft lag oder an Eiskristallen, die ihren Weg in die Lampen gefunden hatten — weite Teile des Korridors lagen im Dunkeln. Murrend bahnte sich Scrooge den Weg, vorbei an vielen weiteren weißen Hügeln, die sich wie Schneewehen auf der Station ausgebreitet hatten, als würde ein winterlicher Wind sie überall verteilen. Er hörte nichts als das Knirschen unter seinen Stiefelsohlen, Gesellschaft bot ihm nur sein Schatten. Einzelne Deckenleuchten spendeten Licht, ließen Schneehaufen funkeln und die Dunkelheit dazwischen umso finsterer wirken, ganz wie die alten Laternen in Scrooges Jugend.
Die Crew auf dem TechDeck versprach, sich sofort um die Beleuchtung zu kümmern. Eine Kadettin vom Support bestätigte außerdem, dass die Shuttles mit den neuen G-Spulen zur Erhaltung der künstlichen Schwerkraft eingetroffen seien, zudem weitere Lebensmittel — die Verpflegung der Crew war also auch trotz des Reproduktor-Defekts gesichert. Sehr gut, dachte Scrooge. Die Versorgung mit Notrationen war immer eine heikle Angelegenheit. Offiziell durfte niemand wissen, wo die Humbug sich befand, damit kein Schiff, egal ob verbündet oder feindlich, ihre Tarnung im Orbit auffliegen lassen konnte. Für die besuchenden Shuttles wurden große Ausnahmen gemacht. Die Bevölkerung des Planeten durfte weiterhin nichts von ihnen mitbekommen.
Der Weg in sein Quartier führte Scrooge noch bei einem weiteren geschätzten Mitglied der Besatzung vorbei. Im großen Labor war es ebenfalls dunkel, doch für Dr. Bobben Crat war das kein Grund, seine Arbeit aufzuschieben. Manchmal dachte Scrooge, selbst wenn die Station eines Tages vom Himmel stürzen sollte, würde Crat noch im freien Fall beenden, woran er gerade arbeitete.
Der Chiloni sah kurz auf, als sein Kommandant mit schneeverkrusteten Stiefeln das Labor betrat, dann widmete er sich wieder seinen Notizen. Er schrieb von Hand, ganz wie Scrooge es mochte. Die metallenen Schärpen, die seine Spezies früher traditionell trug, hatte er schon vor Langem gegen einen weißen Kittel eingetauscht. Mit seiner haarlosen Indigohaut und vereinzelten Smaragdflecken war die gedrungene Gestalt des Doktors im Dunkeln nur schwer auszumachen. Beleuchtet wurde Crat bloß von der deckenhohen Glassäule in der Mitte des Raums, in der reglos sein aktuelles Forschungsprojekt trieb.
»Ich sehe, auch hier sind einige Lampen ausgefallen«, sagte Scrooge, als er sich dem Chiloni näherte. »Es wird bereits ein Team zusammengestellt, das sich in Kürze darum kümmern wird.«
Dr. Crat räusperte sich und sah Scrooge an. Seine Augen reflektierten das Licht der Säule. Sein zahnreicher Mund verformte sich zu dem, was bei ihm als Lächeln galt.
»Nicht nötig, nicht nötig.« Er senkte den Blick und sprach mehr zum Boden als zu seinem Kommandanten. »Die Lampen sind aus, alles richtig so, ein angenehmer Bonus, wenn sonst niemand anwesend ist, haha. Ich sehe tatsächlich besser, wenn es nicht so hell ist.«
Während Scrooge die Gestalt hinter dem Glas betrachtete, sprach Crat weiter.
»Angeblich war Chilon eine Nachtwelt, mit so vielen Monden, dass die ferne Sonne nur selten bis zum Planeten durchdrang, aber wer weiß, wer weiß. Ich bin kein Historiker.«
»Ein Glück«, flüsterte Scrooge fast, als könnte er aufschrecken, was in der leuchtenden Säule schwamm. »Es wäre eine Verschwendung Ihrer Fähigkeiten.«
Der Doktor gab ein paar Laute moderaten Entzückens von sich, dann schrieb er weiter. Scrooges Aufmerksamkeit galt derweil ganz dem Klon in der Glasröhre. Beim letzten Besuch im Labor war die Gestalt kaum größer gewesen als eine Nyntische Basskatze, jetzt schien sie fast ausgewachsen zu sein. T-T stand auf einer handschriftlichen Notiz, die auf die Säule geklebt war. Transgenetisches Testsubjekt.
Es sah exakt so aus wie Bobben Crat. Und damit genauso wie die Bewohner von Xenosol.
Inzwischen bestand kein Zweifel mehr daran, dass der Ursprungsplanet der Xenos die Heimat von Dr. Crat gewesen war. Chilon war vor langer Zeit unbewohnbar geworden, eine Reihe von Vulkanausbrüchen hatte es innerhalb weniger Tage komplett in einen erstickenden Mantel aus Asche gehüllt. Nur der gefeierte Genetiker hatte überlebt — und die Koloniebevölkerung, die lange vor seiner Zeit von dort aufgebrochen war.
Würde Scrooge sich dagegen entscheiden, die nichts ahnenden Einheimischen von Xenosol zu retten, wäre Dr.