Spinnenpiñata - Tino Falke - E-Book

Spinnenpiñata E-Book

Tino Falke

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Beschreibung

Bei Tino Falke steht Vielfalt auf dem Programm. Seine Geschichtensammlung umfasst Texte von herzerwärmend bis verstörend, mal zuckersüß und lustig, mal schockierend und düster. 22 Kurzgeschichten in verschiedensten Genres laden zum Staunen, Schmunzeln und Schaudern ein. Ob realistisch oder phantastisch, im Kern beleuchten doch alle dasselbe: was in und zwischen Menschen vorgeht. Und bieten damit eine ganz besondere, kunterbunt gefüllte Piñata.

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HYBRID VERLAG

Vollständige elektronische Ausgabe

08/2022

 

Spinnenpiñata

 

© by Tino Falke

© by Hybrid Verlag, Westring 1, 66424 Homburg

 

Umschlaggestaltung: © 2022 by Creativ Work Design, Homburg Coverbild © 2022 by Jenny Siege, Weißenfels

Lektorat: Rudolf Strohmeyer

Korrektorat: Rudolf Strohmeyer

Buchsatz: Lena Widmann

Autorenfoto: Tino Falke

 

Inhaltswarnungen / Content Notices zum Buch finden sich auf der Homepage des Autors: www.tinofalke.de/spinnenpinata

Coverbild ›Humbug über Xenosol‹

Umschlaggestaltung: © 2021 by Creativ Work Design, Homburg

Stock-Illustration-ID:1203818959 / Bildnachweis:WhataWin Weltall

Stock-Fotografie-ID:1195952247 / Bildnachweis: cihatatceken

Lizenzfreie Stockfoto-Nummer: 181424567 / Bildnachweis: Aphelleon – Planet

Coverbild ›Funkschatten‹

© 2019 by Creativ Work Design, Homburg; Fotograf/Bild: © by Ruth Ledersteger

 

ISBN 978-3-96741-161-4

 

www.hybridverlag.de

www.hybridverlagshop.de

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

Printed in Germany

 

 

Tino Falke

 

Spinnenpiñata

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Gesammelte Kurzgeschichten

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für Lena,

ohne die es keine dieser

Geschichten gäbe

 

 

Vorwort

 

 

Spinnenpiñata [ˈʃpɪ.nən.pi.ˌɲa.ta] Substantiv, feminin. 1. Eine Piñata, geformt wie eine Spinne, gefüllt mit Süßigkeiten. Das abschreckende Äußere verbirgt ein versöhnliches Inneres. 2. Eine Piñata jedweder Form, gefüllt mit Spinnen. Unter der fröhlichen Oberfläche steckt etwas unerwartet Abstoßendes. 3. Eine Piñata, Form und Inhalt irrelevant, für Spinnen. Etwas Schönes für die, die sonst so oft abgelehnt werden.

 

 

Wenn ich auf meine bisherigen Kurzgeschichten zurückblicke, erkenne ich mehrere wiederkehrende Muster. Manchmal geschehen Dinge, die auf den ersten Blick verstörend oder schlimm erscheinen, die letztendlich aber eine gute Entwicklung für die Charaktere bedeuten, wie das Bewältigen vergangener Verluste oder das Überwinden von Ängsten. In anderen Texten werden harmlose Dinge in etwas Furchtbares gekehrt, seien es Wackelaugen, Tattoos, Kinderzeichnungen oder eine simple Handy-App. Und ein ums andere Mal entpuppt sich das Monströse selbst als allzu menschlich, wenn beispielsweise Ungeheuer verschiedener Mythologien mit vertrauten Gefühlen und Umständen jenseits ihrer Kontrolle hadern.

 

Die 22 Texte in diesem Buch passen nicht alle in diese Kategorien, aber für mich lassen sie sich so am besten zusammenfassen. Meine bunte »Spinnenpiñata« enthält dabei so einige Genres – es finden sich High und Urban Fantasy, Science-Fiction, Solarpunk, Abenteuer, Horror, Romance sowie lyrische Kurzgeschichten in einem Slam-Poetry-Stil und Nichtphantastisches (bei jeder Geschichte angegeben, falls manche Genres eher ausgelassen werden sollen). Wer sich mal länger als zehn Minuten mit mir über meine Projekte unterhält, wird merken, dass etwas fehlt. Die Steampunk-Geschichten von Pina Parasol bekommen eine eigene Anthologie und sind kein Teil dieser Sammlung. Abgesehen davon handelt es sich aber um eine komplette Zusammenstellung all meiner Kurzgeschichten, die ich von 2014 bis 2021 geschrieben habe. Ein paar davon waren bislang unveröffentlicht, alle wurden noch einmal minimal überarbeitet.

 

Davor hielt ich diese Gattung noch für uninteressant (!), viel zu kurz für meine Ideen und konzentrierte mich ausschließlich darauf, Romane zu schreiben. Aber ich lag falsch. 2014 bekam ich von Lena Richter, die nicht nur Autorin und Podcasterin, sondern auch eine großartige Freundin ist, das Buch »On Writing« von Stephen King geschenkt. Von King mag man halten, was man will, und an den Inhalt erinnere ich mich gar nicht mehr, aber es war diese Mischung aus Autobiografie und Schreibratgeber, die mich dazu inspirierte, es mal mit Kurzgeschichten zu versuchen, auch um hin und wieder in neue Genres reinzuschnuppern oder stilistisch zu experimentieren.

 

Dabei geht es nie bloß um die Geschichte an der Oberfläche. Ich kann mir gar nicht vorstellen, einen Text zu schreiben, der nicht mehrere Ebenen hat, und gerade die Phantastik bietet sich perfekt an, um das Alltägliche mit dem Außergewöhnlichen zu verknüpfen und dadurch zu beleuchten, was in und zwischen Menschen vorgeht. Ob mir das gelungen ist, dürft ihr nach der Lektüre gern in Rezensionen verraten. Vorerst kann ich nur gute Unterhaltung wünschen!

 

Chuck Palahniuk, aus dessen Essays ich eine Menge über minimalistisches Schreiben gelernt habe, hat einmal einen Tipp seines alten Schreiblehrers Tom Spanbauer geteilt: »Eine gute Geschichte sollte dich zum Lachen bringen und dir einen Moment später das Herz brechen.« Oft bemühe ich mich genau darum (und manchmal darum, das gebrochene Herz direkt wieder zu kitten). Hauptsache, es wird eine Vielzahl von Emotionen angesprochen. Wenn ich alles richtig gemacht habe, werdet ihr amüsiert und gerührt sein, schockiert und überrascht, und wenn es euch wütend macht, werft das Buch ruhig gegen die Wand. Vielleicht fallen ja Süßigkeiten raus.

 

 

Inhaltsverzeichnis

 

Avalanche Rocks (Contemporary)

#WeAreMedusa (Urban Fantasy)

Golems (Urban Fantasy)

Millennial Mammut Crash Derby 3000 (Solarpunk)

Privates Journal meiner Forschungsexpedition mit Herrn Dr. Konrad Henneborn (Horror)

Schnapp sie alle! (Science-Fiction)

Der Weg nach El Hurrado (Solar Punk)

Leviathana (Fantasy)

Im Bärental (Science-Fiction)

Hutmachers Laterne (Slam Poetry, Horror)

Von Herzen (Urban Fantasy)

RealDora (Science-Fiction)

MOLOCH (Fantasy)

Lo-fi chill hop beats to hope/keep on fighting to (Solarpunk)

D15 PERDO (Horror)

👀 (Mystery)

Mandragora Schmidt gegen den Kristall der Zeit (Contemporary)

Willkommene Narben (Contemporary)

Chips Chips (Science-Fiction)

NPC (Contemporary)

Pferdemädchen (Urban Fantasy)

Sepia (Slam Poetry, Romance)

 

 

Avalanche Rocks

Contemporary

 

Als wir die Achterbahn verlassen, erwartet uns ein defekter Eisbär.

Eigentlich sollte er uns anlachen, munter hin- und herwackeln und ein Lied singen, doch sein Kopf hängt antriebslos hinab, seine Augen starren ohne Ausdruck zu Boden. Der Animatronic, der hinter einem niedrigen Absperrgitter steht, ist nicht fröhlich heute, er ist kaputt innendrin. Ich kenne das Gefühl.

Während ich das reglose mechanische Tier noch immer ansehe, kehrt Janne schon mit unseren Fahrtfotos zurück. Alle in der Truppe stürzen sich auf ihre Abzüge. An jeder Attraktion mit Foto-Point kaufen sie die kleinformatigen Erinnerungen an Momente, in denen steile Abfahrten, enge Kurven oder besonders starke g-Kräfte ihnen die Endorphine ins Hirn getrieben haben. Auch ich bekomme eines der Bilder von uns, abwärts rasend nach dem ersten Looping der Snowplosion-Stahlachterbahn. Die meisten werfen die Hände in die Höhe. Ich bin die einzige Person auf dem Foto, die nicht einmal lächelt. Aber ich bin dem Coaster Club auch nicht beigetreten, um Spaß zu haben.

Die anderen lieben Vergnügungsparks, nichts in ihren Leben erfüllt sie mit mehr Freude. Als Hank heute zum Treffpunkt vor dem Eingang kam, trug er bereits Stempelabdrücke von drei anderen Parks auf dem Handrücken, die er am Vormittag besucht hatte. Auf Izumis Jeansjacke prangen Patches von allen Attraktionen, die solche Andenken verkaufen. Wenn die alte Meryem ihre Brieftasche öffnet, strahlt ihr nicht ihre Familie entgegen – auf den kleinen Schnappschüssen darin sehe ich VelociCoaster aus Universal’s Islands of Adventure und Steel Vengeance aus Cedar Point, Ohio. Was anderen Menschen nur ein gelegentlicher Ausflug in den Sommerferien wert ist, beschäftigt diese Truppe das ganze Jahr über. Nichts liegt näher, als einem Verein Gleichgesinnter beizutreten, mit denen man jeden freien Tag nutzen kann, um zu teilen, was man so liebt.

Nachdem wir die Fotos verstaut haben, drängen die ersten bereits zur nächsten Attraktion. Wir tragen besondere Armbänder, wie es sie in so vielen Parks gegen Aufpreis gibt. Sie erlauben es uns, die meisten Schlangen zu umgehen, also steht uns ganz Avalanche Rocks offen. Wir können gehen, wohin wir wollen.

»Worauf hast du denn Lust?«, fragt mich Izumi, und ich falte die Broschüre mit dem Lageplan des Parks auf. Einige der Fahrgeschäfte sind noch immer dieselben wie in meiner Kindheit, doch es gibt natürlich einiges Neues, das Geisterhaus Iglu des Grauens zum Beispiel, und den Top Spin Frostbite mit der sich überschlagenden Gondel. Aber solange wir einfach noch eine Weile bleiben, ist mir egal, was wir fahren. Hauptsache, die anderen wollen nicht plötzlich schon nach Hause, und wir vertreiben uns hier lange genug die Zeit, bis ich den Mut gefasst habe, meinen eigentlichen Plan in die Tat umzusetzen.

Ich sehe hinüber zu Hypothermia, wo gerade ein Zug voll schreiender Menschen durch einen der vielen Loopings rast. Die Stahlachterbahn ist die neueste Attraktion hier, ein hellblauer Koloss mit eingebauter Lichtshow. Wie alles im Park ist sie dem Thema Winter gewidmet. Eiszapfen aus transparentem Plastik hängen von den Dächern aller Imbisse. Die armen Angestellten tragen selbst im Hochsommer dicke Daunenjacken mit Pelzkragen. Und der Eisbär ist nicht das einzige mechanische Polartier, das hier für gute Laune sorgen soll.

Wir kommen an einem breit grinsenden Walross vorbei, das auf einem Podest neben einem Eisstand rhythmisch in die Flossen klatscht. Ich kenne es noch von meinem ersten Besuch. Als kleines Kind habe ich mich vor ihm gefürchtet, die hin- und herzuckenden Roboteraugen und die langen Stoßzähne waren mir nicht geheuer.

»Stell dich mal nicht so an«, habe ich noch die Worte meines Vaters im Ohr.

»So einen Schrott haben die hier?«, antwortete meine Mutter damals und wies auf die Stellen hin, an denen man das Metallskelett unter der Silikonhaut erkennen konnte.

Jetzt sehe ich dabei zu, wie lachende Kinder um das Podest laufen, während das harmlose, fröhliche Walross eines der Lieder singt, die im ganzen Park erklingen.

Wenn die Spaßlawine rollt, haut sie alle von den Socken!

Die Schneemänner tanzen! Die Schneeflocken rocken!

Eis ohne Ende und Action ohne Pause!

Wer nach Avalanche Rocks kommt, will niemals mehr nach Hause!

Wenn ich mir die anderen so ansehe, scheint das Tier recht zu haben. Begeistert machen Hank und Vicky ein Foto mit dem ewig applaudierenden Animatronic. Ein Teil der Gruppe berät, wohin es als Nächstes gehen soll. Sie sind alle lieber in Vergnügungsparks als daheim.

Ich weiß, dass Hank beim Kauf seines Hauses darauf geachtet hat, dass er das nächstgelegene Riesenrad sogar vom Garten aus sehen kann. Izumis Katzen sind nach ihren Lieblingsattraktionen benannt. Das Personal grüßt alle aus der Truppe mit Vornamen und spricht mit ihnen, als wären sie schon ewig befreundet. Ein Mitarbeiter flirtet mit Janne. Die Grenzen zwischen dem Leben außerhalb und innerhalb des Parks verschwimmen. Wenn sie hier wohnen könnten – ausnahmslos alle Mitglieder der Truppe würden es tun.

Es sind Semesterferien, also wohne ich aktuell bei meinen Eltern. Wie immer seit dem letzten Schultag bin ich zu Beginn der vorlesungsfreien Zeit direkt hingefahren, ganz wie es von mir erwartet wird. Ich habe den Abstellraum voller Kisten bezogen, der einst mein Kinderzimmer war, und darf mir jeden Abend am Esstisch anhören, in welchen Bereichen meines Lebens ich überall versagt habe. Ich bin alt genug, dass sie es nicht mal mehr zwischen den Zeilen verstecken.

Ich berichte, dass ich online ein paar nette Leute kennengelernt habe, die öfter gemeinsam Vergnügungsparks besuchen. Mom kommentiert als Antwort mein Gewicht, meine Haare, meine Kleidung, meinen Beziehungsstatus. Dad äußert sich zu meinem Studienfach, meinen Hobbys, meinen Zukunftsplänen. Sie ergänzen einander perfekt.

Die einzigen Fakten, die im Coaster Club zählen, sind die Zahlen und Daten der Fahrgeschäfte. Als wir an einem Stand neben der Achterbahn Sub-Zero Getränke kaufen und ein Gast hinter uns seiner Begleitung erzählt, dass der Zug bis zu 100 km/h schnell wird, kann Meryem nicht anders, als sich umzudrehen und ihn zu berichtigen, dass es 102,6 sind. Sofort ergänzt sie auch die Höhe und Länge der Strecke, und die anderen stimmen mit ein. Filippo nennt das Baujahr, Kaia und Vicky diskutieren die Beschleunigung. Wer auch immer sie jenseits des Parks sein mögen, was ihre Jobs sind und ihre Sorgen und Ängste – hier sind sie ganz in ihrem Element, sie lachen und teilen ihr Nischenwissen, und alle hören interessiert zu.

Fast schleicht sich ein Lächeln auf mein Gesicht, da sehe ich ein paar fröhliche Menschen in der Schlange der Attraktion, eine traditionelle Kernfamilie aus einem Elternpaar und zwei Kindern. Sie tragen blau-weiße T-Shirts mit dem Parklogo und Mützen aus dem Souvenirshop. Sie haben Spaß und freuen sich, dass sie miteinander Zeit verbringen. Von ihnen plant niemand heimlich, sich bei voller Fahrt aus dem Sicherheitsbügel des Sitzes zu winden und Dutzende Meter hinabzustürzen.

Manche Parks haben sogenannte Thrill Seeker wie unseren Club verbannt, weil es immer wieder Mitglieder gibt, die Vorschriften ignorieren, um sich ein besonders aufregendes Fahrerlebnis zu verschaffen. Das Ziel ist, möglichst viel Airtime zu haben – Sekunden, in denen man Schwerelosigkeit oder gar negative g-Kräfte spürt, weil man kurz von seinem Sitz abhebt. Seitdem es Achterbahnen gibt, werden immer mal wieder Gäste aus den Zügen geschleudert, und jedes Mal kommt auch die Frage auf, ob sie vielleicht absichtlich aufgestanden sind. Doch meist handelt es sich um tatsächliche Unfälle.

2010 öffneten sich auf der Boomerang-Achterbahn im kanadischen La Ronde die Bügel von vier Sitzen. Die Passagiere, darunter zwei 12-jährige Jungen, überstanden die Fahrt nur unverletzt, weil die Zentrifugalkraft sie bis zum Ende der Fahrt fest gegen ihre Rückenlehnen presste. Als Entschädigung wurden ihnen VIP-Pässe für den Park angeboten.

Was für viele nach blankem Horror klingt, wäre für die Truppe, mit der ich nun seit ein paar Wochen immer wieder unterwegs bin, eine Win-win-Situation. Nur brauchen wir keine Pässe, wir haben unsere Armbänder, um dank exklusiver Eingänge manche Attraktionen ohne Wartezeit zu erleben. Nachdem alle ihre Pappbecher geleert haben, manövrieren wir uns durch die Menschenmassen bis zum Geisterhaus.

Im Iglu des Grauens nehmen wir Platz in Schneemobilen, die durch verschiedene Räume mit Horrorszenarien fahren. Ich höre die anderen vor und hinter mir kreischen. Sie erschrecken, obwohl sie die Attraktion schon zahllose Male besucht haben. Falls auch hier drin ein Foto gemacht wird, werde ich wieder als einzige Person ausdruckslos schauen.

In einem Raum werde ich von einem zottigen Yeti angesprungen, der noch die blutigen Reste eines Bergsteigers im Gebiss und den Klauen hat. Doch ist das wirklich gruseliger als sich schreiend und weinend von innen gegen eine Kinderzimmertür zu pressen, während im Türspalt immer wieder die wutverzerrte Fratze des eigenen Vaters auftaucht, der einem zeigen will, was passiert, wenn man ihm noch mal so frech widerspricht?

In einem Raum schlurfen die Skelette erfrorener Seeleute auf mich zu, die in den Tiefen des Meeres verendet sind. Graue Fleischfetzen hängen ihnen von den Knochen, doch ich habe keine Angst. Der Anblick ist nicht schauriger als die eigene Mutter, die mit glasigen Augen und Fahne nachts im Türrahmen steht und lallt, dass es bei ihr bergab ginge, seitdem man geboren wurde, und dass man ihr Leben ruiniert habe.

In einem Raum ist ein Labor nachgestellt, in dem ein Forschungsteam im ewigen Eis von einen aggressiven Albino-Kraken attackiert wird. Seine kalkweißen Arme reißen einen Wissenschaftler in Stücke und schrauben einer Laborantin den Kopf vom Hals, Saugnäpfe bedecken ganze Gesichter und lassen die Forschenden ersticken, und Tentakel bohren sich durch verschiedene Körperöffnungen bis in die Gehirne der Opfer, die daraufhin von dem Oktopus kontrolliert werden wie verstümmelte, leblose Puppen. Doch es gibt Schlimmeres. Zum Beispiel nicht von den Menschen geliebt zu werden, die einen in die Welt gesetzt haben.

Natürlich wird man nicht direkt suizidal, wenn die eigenen Eltern einen für wertlos halten. Wenn man das lange genug hört und spürt, glaubt man es allerdings irgendwann. Es strahlt in den Rest des Lebens aus und sorgt dafür, dass man vernachlässigt, was einem Freude macht. Dass man an der Universität keine neuen Kontakte knüpft, weil sie einen ohnehin nicht mögen und allerhöchstens tolerieren werden. Dass man antriebslos und unkonzentriert eingeht und in den Ferien immer wieder aus Gewohnheit an den einen Ort zurückkehrt, den man früher mal mit Heimatgefühlen verband. Und mit ›man‹ meine ich mich.

Als wir das Geisterhaus verlassen, schaut Meryem kurz auf die Uhr, Filippo gähnt. Ich sage, dass sie doch wohl hoffentlich noch nicht gehen wollen. Wollen wir nicht noch mal rein? Wollen wir nicht lieber dabei zuschauen, wie Blut und Gedärm gegen die Igluwände spritzen, als schon in den tristen Alltag zurückzukehren? Nur einmal noch, kommt schon. Wir können gehen, wohin wir wollen – es muss nicht nach Hause sein.

Mein Blick fällt noch einmal auf den Zug von Hypothermia. Fast habe ich den Mut beisammen, allem endlich ein Ende zu setzen. Niemand würde Absicht dahinter vermuten. Wie schon bei dem Mann, der 1986 im Lincoln Park aus der Comet-Achterbahn gefallen ist, oder dem Mitarbeiter 1988 im Cyclone in Astroland auf Coney Island. Im Nachhinein kann immer nur spekuliert werden, ob die Opfer solch tragischer Unfälle absichtlich während der Fahrt aufgestanden sind.

Hank beruhigt mich. Es wird zwar langsam dunkel, aber der Park ist noch fast eine halbe Stunde lang offen. Natürlich muss das bis zum Schluss ausgekostet werden, da sind sich alle einig, so verschieden sie auch sonst sind. Im Coaster Club ist egal, woher man kommt und wie man aussieht, wen man liebt, was man kann. Von Teenagern bis zu Senioren vereint alle dieselbe Leidenschaft. Nach Turbulenzen im Flugzeug reißen sie die Arme hoch und wünschen sich eine zweite Runde. Wenn sie von ihrem »ersten Mal« sprechen, meinen sie lediglich Loopings, und wenn Janne und Kaia von einem g schwärmen, das sie in Wallung bringt, meinen sie nicht angebliche Reizzonen in ihrer Anatomie.

Nur ich bin nicht ekstatisch. Ich starre den Animatronic eines fröhlichen Polarfuchses neben dem Riesenrad an, der immer wieder dieselben Bewegungen macht, monoton wie ein eingesperrtes Zootier. Er funktioniert gut genug, dass niemand ihn als auffällig wahrnimmt, ewig fröhlich, immer mit einem Lied auf den mechanischen Lippen.

Wenn der Freudenblizzard tobt, werden alle mitgerissen!

Die Eisbeine schwingen! Die Eisblumen sprießen!

Schnee statt Konfetti bei der coolen Wintersause!

Wer nach Avalanche Rocks kommt, will niemals mehr nach Hause!

Ich spüre einen Kloß im Hals, dann plötzlich Izumis Arm, eingehakt in meinen. Ich lächle sie an und bete, dass sie nicht erkennt, wie es mir wirklich geht. Als die anderen sich wundern, dass wir nicht mit ihnen zum Kettenkarussell stürmen, winkt sie ab.

»Ach, die Snow Chains, schon tausendmal gefahren! Macht nur, wir gucken uns den Park einmal von oben an.« Und mit diesen Worten lenkt sie mich in Richtung Seilbahn.

Wir zeigen unsere Armbänder vor und nehmen in einem Zweisitzer Platz, der einer Skilift-Bank nachempfunden ist und eine Rundfahrt über ganz Avalanche Rocks verheißt. Keine Minute später betrachten wir die Attraktionen aus der Vogelperspektive, all die blauen und weißen Stahlgebilde, an denen Robben und Schneehasen und andere Maskottchen performen, um Tausende Menschen pro Tag von dem abzulenken, was sie jenseits der Parkmauern beschäftigt.

»Ich kann von hier mein Haus sehen!«, ruft Izumi und deutet auf eine Hüpfburg, die einer Lebkuchenhütte in einem verschneiten Garten nachempfunden ist. Ich muss lachen. Wär vielleicht gar nicht so übel, hier zu leben, stimme ich ihr zu. Nur glückliche Tiere in der Nachbarschaft. Und so viel Softeis, wie man essen kann!

Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Izumi den Blick nicht von mir lässt.

»So denken die meisten im Coaster Club«, sagt sie. »Die erste Regel ist, wir reden nicht über unsere privaten Sorgen außerhalb der Parks. Manchmal ist diese Art von Eskapismus genau das Richtige.«

Ich sehe sie an, kann gar nicht anders, so nah, wie wir nebeneinander sitzen. Hoch in der Luft, wie zwei Schaukelnde unter dem dunkler werdenden Abendhimmel.

»Aber manchmal«, fährt sie fort, »ist es wohl besser, zu teilen, was einen umtreibt. Damit andere merken, dass sie mit ihrem Kummer nicht allein sind. Wir scherzen gern, dass Hank von der Geburt seiner ersten Tochter über das Lautsprechersystem eines Parks erfahren hat. Dass Meryem das Wachstum ihrer Kinder damals nicht in Zentimetern gemessen hat, sondern darin, für welche Achterbahnen sie schon groß genug waren. Aber die Wahrheit ist, dass die meisten von uns nicht gern an ihre Familien denken.«

Sie zieht ihre Jeansjacke fester zu. Die winterliche Dekoration überall unter uns sorgt selbst im Sommer dafür, dass man hier frösteln muss. Aber Kälte lässt Menschen immerhin enger zusammenrücken.

»Hank wurde unerwartet von seiner Frau verlassen«, sagt Izumi, nachdem ich ihr versprochen habe, es für mich zu behalten. »Nach fast 30 Jahren Ehe verriet sie ihm, dass sie bereits über die Hälfte der Zeit eine Affäre hatte. Kaias Eltern haben den Kontakt wegen politischer Differenzen abgebrochen. Filippos letzter Partner wollte letztendlich nur sein Geld, Jannes Mann wurde nach den Flitterwochen auf einmal besitzergreifend und handgreiflich, sodass sie fliehen musste. Meryem wird nur an Feiertagen von ihren Kindern angerufen, und dann nur für den allernötigsten Austausch. Und das, nachdem sie sich immer aufopferungsvoll um alle gesorgt hat. Es ist kein Zufall, dass sie in ihrer Brieftasche nur Achterbahnfotos hat und keine Verwandtschaft.«

Während sie weitere traurige Schicksale aufzählt und ihre Therapeutin anpreist, suche ich das Kettenkarussell im Gewimmel unter uns, wo die anderen sich gerade von all dem ablenken, was mir anvertraut wird. Natürlich sieht man ihnen den Ballast nicht an. Sie sind nach außen hin fröhlich, aber unter der Oberfläche facettenreich und komplex, wie Animatronics in Vergnügungsparks, unter deren drolliger Silikonhaut sich verborgene Maschinerie bewegt. Vielschichtig, wie alle Menschen.

»Ihre Welten wurden auf den Kopf gestellt, von einem Tag auf den anderen.« Izumi lächelt mich traurig an. »Es kann ganz schnell gehen. Wenn du das Gefühl kennst und darüber reden willst, meld dich gern bei mir. Vielleicht lächelst du dann auch in den Foto-Points.«

Ich blinzle emporsteigende Tränen weg, dann erreichen wir das Ende der Seilbahnfahrt. Ich lüge, dass alles in Ordnung ist. Ich danke ihr für ihre Offenheit.

In weniger als 20 Minuten, wenn die Pforten von Avalanche Rocks sich schließen und wir alle in verschiedene Richtungen verschwinden, werde ich zurück zu meinen Eltern fahren, wie ich es schon immer gemacht habe. Die vorlesungsfreie Zeit ist lang, ich habe noch mehrere Wochen ihrer Kommentare vor mir. Beim Abendessen fallen natürlich nicht nur abfällige Bemerkungen, aber Dad wird wieder betonen, wie peinlich er Erwachsene findet, die regelmäßig Vergnügungsparks besuchen. Mom wird fragen, ob ich also den ganzen Tag nur Fast Food und Süßigkeiten gegessen habe. Aber vielleicht kann ich noch für ein völlig anderes Tischgespräch sorgen. Eines, bei dem ich gar nicht anwesend bin.

Wie gehofft, entscheidet sich der Coaster Club dafür, den Ausflug mit einer Fahrt auf Hypothermia zu beenden. Der hellblaue Stahlkoloss bietet viele enge Loopings, die eine Reise durch einen arktischen Schneesturm simulieren sollen.

Bevor wir einsteigen können, diskutiert die Truppe wie so oft die besten Plätze – umso wichtiger, weil in dieser Achterbahn alle Passagiere hintereinandersitzen. Vicky, Filippo und Meryem wollen nach ganz vorne, für eine bessere Aussicht. Janne, Kaia und Hank wollen möglichst in die letzte Reihe, für mehr Airtime. Alle sind sich einig, dass im mittleren Wagen am wenigsten Thrill zu holen ist, dass die Dämmerung aber helfen könnte, weil verminderte Raumwahrnehmung im Dunkeln tiefere Drops und engere Kurven vorgaukelt. Regenglätte, Hitze oder ein voll besetzter Zug würden sogar für noch mehr Tempo sorgen. Nur eine Fahrt, bei der ihnen Hagel in die Gesichter boxt, wie sie die gesamte Truppe mal auf Lunaphobia in Corona Kingdom erlebt hat, will niemand wiederholen.

»Und was willst du?«, fragt Izumi und schaut mich an.

Ich blicke dem Zug entgegen, der gerade von der vorherigen Runde in die Station rollt. Neben der Achterbahn trällert ein Pinguin die immer gleiche Hymne des Parks.

Wer nach Avalanche Rocks kommt, will niemals mehr nach Hause!

Das Einzige, was ich will, ist, meine Eltern niemals wiederzusehen.

Wir steigen ein. Ich nehme im letzten Wagen Platz, wie die Frau, die 2003 in der The Raven-Achterbahn im Holiday World & Splashin’ Safari Park in Indiana ihren Sicherheitsgurt geöffnet hat, am höchsten Punkt der Strecke aufgestanden und über 20 Meter in den Tod gestürzt ist. Ich senke meinen Sicherheitsbügel nur so weit, dass genug Freiraum entsteht, um mich während der Fahrt herauswinden zu können.

Die anderen jubeln, als der Zug sich in Bewegung setzt. Er beschleunigt sofort und rast den ersten Lifthill hinauf. Schnell höre ich nur noch das Rattern der Ketten, dann folgt auch schon der erste Drop, und ich spüre die kalte Abendluft auf der Haut. Hypothermia führt durch den halben Park, vorbei an den meisten anderen Attraktionen, immer wieder in neue kleine Loopings und streckenweise durch Tunnel mit der angekündigten Lichtshow, schnell genug, um den Atem stocken zu lassen, um Nierensteine loszuwerden, um den Rest der Welt kurz zu vergessen.

Im ersten Looping lockere ich schon meinen Sicherheitsbügel.

Vom zweiten Looping werde ich so überrascht, dass ich vor Schreck auflachen muss. Kurz dringt auch das freudige Gebrüll der anderen an meine Ohren, die für ein paar weitere Momente nicht an all das denken müssen, was sie sonst betrübt. Ich versuche mich zu sammeln, diese Fahrt ist meine letzte Gelegenheit.

Nach ein paar schnellen Kurven und einem weiteren Lifthill, der noch höher führt als der erste, rasen wir in den dritten Looping. Während oben und unten vertauscht sind, schießt mir mehr Blut in den Kopf, ins Gehirn, wo all die trüben Gedanken wohnen. Doch es fühlt sich gut an. Mein Herz rast, auf eine willkommene Art.

Im vierten Looping ergänze ich den Chor der Freudenschreie um meine eigene Stimme.

Im fünften Looping scheint kurz die Zeit stillzustehen. Ich sehe Izumis in die Luft geworfene Hände im Wagen vor mir, ihr flatterndes Haar im Fahrtwind. Ich sehe die dunklen Wolken hinter ihr, am Rand silbrig beleuchtet vom bereits sichtbaren Mond. Es wäre ein schöner letzter Anblick. Doch ich bleibe sitzen, mit hochgezogenen Mundwinkeln in den Sitz gepresst. Wenn deine Welt auf den Kopf gestellt wurde – vom plötzlichen Ende einer Beziehung, von unerwarteten Abschieden, von der Erkenntnis, dass nicht jede Liebe zu Gegenliebe führt –, dann ist zumindest in einem Looping für einen Sekundenbruchteil alles wieder richtig herum.

Wir rasen an einer Kamera vorbei, ich nehme das Blitzlicht wahr, dann geht es wieder abwärts, in eine Schraube, eine Kurve, einen weiten Bogen über den Park mit seinen fröhlichen Maskottchen. Ich genieße die g-Kräfte, das Adrenalin, die Endorphine, ganz wie die Menschen in den Plätzen vor mir. Zwei weitere Loopings erleben wir zusammen, in derselben Pose, synchron schreiend und ich wette, mit ähnlich hohem Puls.

Als wir die Achterbahn verlassen, erwartet niemand, dass auch ich auf dem Fahrtfoto lächle, doch als Janne die Abzüge verteilt, haben alle den Beweis auf 10 mal 14 Zentimeter Hochglanzpapier. Ich weiß, dass der Höhenflug nur von kurzer Dauer ist und dass meine Probleme nicht plötzlich gelöst sind, aber für einen Moment lasse ich mich ganz auf das positive Gefühl ein. Die Momente, in denen man sich an der Oberfläche halten kann, sich freuen und lachen und den Abgrund unter sich kurz ignorieren, müssen ausgekostet werden. Auch die anderen sind von der Fahrt begeistert, sie springen aufgeregt umher, umarmen einander, müssen ihre Energie in weiteren Bewegungen und Ausrufen entladen. Und selbst wenn die Endorphine in wenigen Minuten verflogen sind – die Menschen bleiben.

Wie auf jeder Achterbahn endete die Zugfahrt genau dort, wo sie auch begonnen hatte, und doch hat sie mich an einen anderen Ort gebracht. Inmitten von Gleichgesinnten, die eine neue Familie gefunden haben, nachdem ihre alte ihnen nur noch wehtat, und die trotz allem Ballast gemeinsam Spaß haben. Eine toxische Umgebung gegen einen Park voller singender und lachender Tiere einzutauschen ist sicher nicht die schlechteste Idee.

Und vielleicht ist es okay, Leidenschaft über Verwandtschaft zu stellen und in der Brieftasche nicht Bilder von Eltern, Geschwistern oder Kindern mit sich zu tragen, sondern von etwas anderem, das einen glücklich macht. Ich könnte meine Ferien auch allein verbringen, aller Tradition zum Trotz. Oder mit Menschen, die mich tatsächlich schätzen. Es gibt sie, ganz bestimmt.

»Alles in Ordnung bei dir?«, fragt Izumi. Erst jetzt bemerke ich, dass die anderen schon in Richtung Ausgang gezogen sind. Sie hat auf mich gewartet, während ich in das Foto von uns allen versunken war. Aus den Lautsprechern überall auf dem Gelände wird verkündet, dass bald die Pforten schließen.

Ich schüttle den Kopf. Eigentlich nicht, sage ich. Aber ich lächle, und nach kurzer Verwirrung kann Izumi sich nur anschließen. Ich sage ihr, dass ich nicht dorthin zurückkehren will, wo ich momentan wohne. Ich suche etwas Neues. Ohne zu zögern, bietet sie mir ihre Couch an. Ich müsste sie nur mit ihren Katzen teilen.

Ich sage, das ist genau die Art von Eskapismus, die ich gerade brauche. Und vielleicht kann sie mir beim Frühstück noch einmal von der Therapeutin erzählen, die sie auf dem Skilift erwähnt hat.

Izumi hakt sich wieder bei mir ein, und gemeinsam schlendern wir an den stiller werdenden Attraktionen und den Animatronics vorbei, die für einen Tag genug Lieder gesungen haben. In den kommenden Nachtstunden müssen sie niemandem mit falschem Grinsen vorgaukeln, dass es ihnen prächtig geht.

»Musst du irgendwem Bescheid geben, dass du woanders übernachtest?«, fragt Izumi.

Ich zeige ihr das Armband an meinem Handgelenk.

Nein, sage ich. Ich kann gehen, wohin ich will.

 

 

#WeAreMedusa

Urban Fantasy

 

Sie scrollte und scrollte und sah nichts als geschlossene Augen. Junge Leute aus aller Welt posteten Selfies, keiner von ihnen sah in die Kamera. Sie wusste nicht, wer den Trend gestartet hatte, doch er galt ganz ihr. Unter jedem Bild sah sie ihren Namen.

#WeAreMedusa

#SupportMedusa2k22

Auf Twitter wartete ein neuer Beitrag von TheRealGwenStacy: Zeit für eine Götterdämmerung! Lasst die Proteste nicht enden! Für Medusa! Nächste Demo am Freitag! Mehr Infos auf OccupyOlymp.tumblr.com

Sie hätte gelächelt, wäre der Ursprung des Ganzen nicht so furchtbar gewesen. Die Vergewaltigung durch Poseidon war etwa einen Monat her, die Verwandlung durch Athene folgte keine 24 Stunden später. Der Meeresgott hatte sie auf der Treppe vor Athenes Tempel überwältigt, und die Göttin der Weisheit war davon alles andere als begeistert gewesen. Seitdem wanden sich Schlangen, wo zuvor Medusas Haar gewesen war. Seitdem war es ihr unmöglich, Freundeskreis und Familie in die Augen zu sehen.

Sie scrollte weiter. Zwischen den Selfies sah sie Videos der letzten Demonstration. Menschen, denen sie nie begegnet war, riefen ihren Namen bei Märschen durch die Stadt.

Sie war ein Symbol geworden. Sie war ein Hashtag.

Stoppt die Willkür der Unsterblichen!, tweetete TheRealGwenStacy, Anklagen statt Anbeten! Jede Stimme zählt! Teilt eure Erfahrungen auf oggo-forum.com

Das Forum »Opfer Göttlicher Gewalt Online« hatte inzwischen Tausende Mitglieder, doch als Medusa es entdeckt hatte, waren es nur wenige Dutzend gewesen. Verschiedene Gottheiten hatten die angemeldeten Frauen verwandelt, in Tiere und Bäume, die Schwester einer Userin in eine Quelle, die Freundin einer anderen sogar in einen Berg.

ich bin eine weiße kuh, schrieb milkylicious92. war zeus idee. *lol* weil er mit mir rumgemacht hat und nicht wollte, dass seine frau davon erfährt. ich wurde natürlich nicht gefragt.

OMFG, ich hatte auch was mit ihm!!!, schrieb Lady_Beorn. Nur dumm, dass ich für Artemis einen Keuschheitsschwur abgelegt hatte … Long story short – sie hat mich in einen Bären verwandelt. Ratet mal, wer ohne Konsequenzen davongekommen ist???

Medusa hatte Stunden damit verbracht, von den Schicksalen der Userinnen zu lesen, dann hatte auch sie sich getraut, ihr Erlebnis niederzutippen. Keine zehn Minuten später blinkte ein kleiner Briefumschlag am Bildschirmrand. Eine Nachricht von TheRealGwenStacy.

Mädel, du musst unbedingt zu unserem nächsten Treffen kommen!

Hinter dem Usernamen steckte Arachne, die Gründerin des Forums. Auch sie war transformiert worden. Seitdem sie Athene bei einem Knüpfwettbewerb besiegt hatte, wandelte sie als riesige Spinne durch die Welt. Gottheiten waren schlechte Verlierer, doch für die Verwandelte war das kein Grund, einfach aufzugeben und sich zu verkriechen.

Bis das Treffen stattfand, hatte Medusa genug Zeit, Arachne über ihren Zustand zu informieren. Die Schlangen auf ihrem Kopf waren nicht das Einzige – Athene hatte auch noch dafür gesorgt, dass Medusa jeden versteinerte, dem sie in die Augen sah. Sie würde pausenlos ihre Handykamera auf die anderen Anwesenden richten müssen, um sie gefahrlos auf dem kleinen Bildschirm sehen zu können. Als der Abend gekommen war, ging sie zum Treffpunkt, ihr Blick starr auf den Boden gerichtet, ihre Kapuze bis in die Stirn gezogen. Sie klingelte. Ein Bär öffnete ihr die Tür.

»Ich bin Callisto«, stellte sich das zottige Tier vor und deutete den Flur entlang. »Die anderen sind schon in der Küche. Wir haben Kaffee, Tee und Wasser, bedien dich einfach. Und Io hat Brownies mitgebracht. Mit Milch aus ihrem eigenen Euter. Hoffe, das stört dich nicht.«

Auf ihrem Handy sah Medusa all die Opfer göttlicher Gewalt, von denen sie gelesen hatte. Die Pleiaden, sieben Schwestern, von Zeus in Tauben verwandelt, um sie vor dem liebestollen Orion zu schützen. Scylla, ein Ungeheuer dank Circe, weil diese den Fischer, der erfolglos um die junge Frau warb, für sich wollte. Durch das Fenster schauten die drei Heliaden, von ihrem Vater Helios in Erlen verwandelt, weil sie zu lange um ihren toten Bruder trauerten.

Keine der Frauen hatte sich wirklich etwas zuschulden kommen lassen. Keine der Gottheiten hatte sich auch nur entschuldigt.

»Es ist Zeit, Mädels!«, rief Arachne, nachdem sich alle vorgestellt hatten. »Wir haben lange genug geschwiegen! Medusa ist der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt! Wie lange wollen wir uns noch misshandeln und verwandeln lassen, ohne uns zu wehren?«

Sie waren sich einig. Es war Zeit, an die Öffentlichkeit zu gehen! Keiner ihrer Fälle hatte es auch nur in die Lokalnachrichten geschafft, jedes Mal waren die Medien von wichtigeren Ereignissen abgelenkt gewesen. Ein Schauspieler war gestorben. Ein adeliges Baby geboren worden. Einer jungen Politikerin war der Rock verrutscht. Doch Medusas Schicksal könnte etwas bewegen. Etwas verändern, verbessern. Sie mussten nur genügend Leute auf die Missstände aufmerksam machen. Die Frauen waren voller Hoffnung. Das war vor der Gegenbewegung. Vor dem Brandanschlag auf Medusas Wohnung.

Es half, dass das linke Bild des Vorher-nachher-Vergleichs, der bald im Fernsehen und in Zeitungen zu sehen war, ein so hübsches Mädchen zeigte.

---ENDE DER LESEPROBE---