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Die Storys, wie immer vom Feinsten: * Tino Falke: Im Bärental * T. Elling: Die letzte Jungfrau * Tom Turtschi: Die Pinocchio-Abteilung * J. A. Hagen: Das Ebenbild * Moritz Greenman: Spiegelzeit * Uwe Post: … und mir wird nichts mangeln * Frank Hebben: Am letzten Tag * Norbert Stöbe: Expedition 13b/Regalis * Peter Stohl: Keine Maßnahmen erforderlich * Martin Wambsganß: Geifer Mit einer Gaststory aus Kanada von * Louis B. Shalako: Anna Der Sekundärteil mit dem Schwerpunkt Simulationshypothese: * Thomas A. Sieber: Die ultimative Verschwörungshypothese * Erfan Kasraie: Science-Fiction, philosophische Hypothese oder Bullshit? Eine philosophische Untersuchung der Simulationshypothese * Fabian Vogt: Die beste aller Simulationen. Ein theologischer Streifzug durch die Möglichkeit der Wirklichkeit * Wolfgang Mörth: Die Gummiwelt-Illusion Mit Nachrufen auf: * Karl Smith: Erinnerung an Syd Mead 1933–2019 * Cory Doctorow: RIP Mike Resnick sowie einem Vorwort vom Verleger, einem Geständnis des Grafikredakteurs, einem Titelbild von Lothar Bauer und Illustrationen von Gerd Frey, Christian Günther, Detlef Klewer, Victoria Sack, Christine Schlicht, Si-yü Steuber und Michael Wittmann.
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Seitenzahl: 296
Michael K. Iwoleit & Michael Haitel (Hrsg.)
Michael K. Iwoleit & Michael Haitel (Hrsg.)
NOVA Science-Fiction
Ausgabe 29
NOVA ist ein Projekt des World Culture Hub:
www.worldculturehub.org
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© dieser Ausgabe: August 2020
p.machinery Michael Haitel
Titelbild: Lothar Bauer
Redaktion Storys: Michael K. Iwoleit, [email protected]
Redaktion Artikel/Essays: Thomas A. Sieber, [email protected]
Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda, Xlendi
Lektorat: Michael K. Iwoleit, [email protected]
Korrektorat: Dirk Alt, Michael Haitel
Herstellung: global:epropaganda, Xlendi
Verlag: p.machinery Michael Haitel
Norderweg 31, 25887 Winnert
www.pmachinery.de
www.nova-sf.de
www.facebook.com/novamagazin
www.twitter.com/novamagazin
ISSN: 1864 2829
ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 205 8
ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 885 2
… hat man irgendwann die Ehre, das Vorwort zu schreiben. Ehre … Normalerweise fällt es mir nicht schwer, so ein Vorwort zu schreiben. Ad hoc. Aus der Hüfte. Wenn ich mir aber ein Vorwort wie das von Dirk Alt in NOVA 28 anschaue, dann wird mir klar, dass es hier mit einem Schuss ohne Zielfernrohr nicht getan ist. Oder doch? Vielleicht hilft es, wenn ich mir über meine Rolle in diesem Magazin klar werde – ich bin der Verleger. Und mehr: ich korrigiere die Texte – nicht allein, aber es ist jeweils die letzte Korrektur –, ich mache das Layout, ich verlege NOVA. Das sind lauter wichtige Aufgaben, und doch – ohne meine Kollegen Michael, Dirk, Thomas und Christian wäre da nichts.
Insofern ist das Gefühl, das ich seit dem Anruf von Michael Iwoleit hatte, damals, als er mich fragte, ob ich mit ihm NOVA machen wollte, nicht so sehr ein diffuses Gefühl als eine Gewissheit. Ich fühle mich geehrt. Es ist eine Ehre, NOVA machen zu dürfen – gleichgültig, welche Aufgaben dabei auf mich entfallen. NOVA hat eine Historie, mit der ich bis zur Ausgabe 25 (inklusive) nichts zu tun hatte. Und nun bin ich es, der als (Mit-) Herausgeber auf dem Cover und im Impressum steht, dessen Aufgaben – mögen sie noch so wichtig oder noch so gering sein – eine Rolle spielen, NOVA auf den Markt zu bringen, immer wieder. Und immer gerne.
Dabei spielt nicht zuletzt auch eine Rolle, dass NOVA ein ziemlich guter Garant dafür ist, einen der bekannten deutschen SF-Preise zu kassieren – gleich, ob Kurd-Laßwitz-1 oder Deutscher Science-Fiction-Preis2. NOVA ist mit von der Partei – und das gilt auch für die NOVA-Ausgaben seit der Nummer 26, seit Michael Iwoleit mich eingeladen hat, mit ihm NOVA zu machen. Man kann sich daran gewöhnen.
… ist man einer der Ersten, die den Inhalt der neuen Ausgabe zu Gesicht bekommen. Während ich die Texte korrigiere, lese ich sie auch – und in dieser Ausgabe musste ich mich bei den Kurzgeschichten arg konzentrieren. Eigentlich habe ich nie Probleme, Texte zu lesen und gleichzeitig zu korrigieren. Die Storys in dieser neunundzwanzigsten NOVA-Ausgabe haben mich bisweilen so sehr fasziniert, dass ich absatzweise vergaß, auf Tipp- und Rechtschreibfehler zu achten. Was die angenehme Folge hatte, die eine oder andere Geschichte im Grunde genommen zweimal lesen zu müssen. Zu dürfen. Und wieder hatte ich ständig die SF-Preise im Hinterkopf. Da sind diesmal Geschichten dabei, die mehr als preisverdächtig sind …
… hat man mehr als genug Gelegenheit, die Arbeit der Kollegen zu bewundern. Wie bei Christian, unserem Grafikmann, sieht sie manchmal soo schwierig und aufwendig nicht aus. Aber weiß man das wirklich so genau? Auch wenn Christian nur die Grafiken für die Ausgabe sammelt – da steckt ganz sicher eine Menge Kommunikation dahinter: Storys in Empfang nehmen, anschauen, Überlegungen anstellen, welcher Grafiker für welche Story am ehesten infrage kommt, Kommunikation mit den Grafikern, Termine überwachen und einfordern … Vermutlich sind das Fantasien eines Workaholics. In Wirklichkeit macht Christian einfach nur »snick« und zwei Stunden später ist seine Mailbox voll mit den geilsten Grafiken und Bestechungsangeboten, damit das eine oder andere Werk doch noch in der NOVA-Ausgabe landet …
Michaels Arbeit kenne ich selbst am besten, bei p.machinery erscheint ja nicht nur NOVA: Storys lesen, lektorieren, auswählen. Und ich weiß, dass Michael ganz sicher mit einem »snick« nicht sehr weit käme, auch wenn ich mir vorstellen kann, dass er sich das manchmal wünscht.
Und Thomas … Schon Franz Rottensteiners Quarber Merkur fasziniert mich immer sehr, wenn ich einmal mehr das Korrektorat und die Druckvorlagen mache. Die Arbeit, sekundärliterarische Materialien an Land zu ziehen, auszuwählen und in eine thematisch sinnvolle Kombination zu bringen, ist zugegebenermaßen etwas, das mir überhaupt nicht liegt. Und was Thomas in NOVA so zusammenstellt, das kann nur durch einen wahrlich magischen »snick« zustande gekommen sein. Magie. Zauberei. Und keine, die nur so aussieht und in Wirklichkeit nur technologische Fiktion ist.
… hat man auch einmal Gelegenheit, sich Gedanken zu machen, die vielleicht niemanden interessieren. Das ist das Schöne an einer (Mit-) Herausgeberschaft, am Verlegertum. Ganz am Ende ist man der Boss – nicht, dass ich das jemals ausnutzen wollte; ich bin ja nicht blöd – und man kann sicher sein, dass bestenfalls jemand den Kopf schüttelt und sich über die genialen Storys, die fantastischen Bilder und die bildungsfördernden Artikel und Essays hermacht. Schlimmer wär’s, würde ich ein Nachwort schreiben (müssen, dürfen, können) – angeblich bleibt das, was der Mensch als Letztes liest (oder hört) am längsten im Gedächtnis. (Und nein, das ist nicht der Grund, warum mein Name auf dem Cover nach Michael Iwoleit genannt wird …)
Im Bewusstsein, dass dieses Vorwort vermutlich völlig an der Sache NOVA 29 vorbeigeht:
Michael Haitel
Winnert (bei Husum), im Juli 2020
1 Im KLP 2020 gab es keinen Preis, aber immerhin drei Nominierungen zur besten Erzählung. Und 2019 gab es nicht nur die Siegererzählung, sondern auch den Sonderpreis für die ganze Mannschaft, die NOVA erfunden und über die Jahre hinweg gemacht hat.
2 Im DSFP 2020 gewann Tom Turtschi den DSFP für die beste Kurzgeschichte. Im DSFP 2019 stammte die Siegerstory von Thorsten Küper aus NOVA 26; dazu gab es zwei Nominierungen aus NOVA 25. Und in den Jahren zuvor war NOVA immer wieder vertreten: die Nummer 25, 24, 23, 21, 20 …
Nicht nur Druckfehlerteufel schlagen zu:
Eine ganz dicke Entschuldigung vor allem bei Si-yü Steuber ist fällig, aber natürlich auch beim Autor der betroffenen Story »Die Befragung«, Marcus Hammerschmitt, und unseren Lesern. Sowohl die Illustration als auch die Geschichte lagen schön ordentlich in einem Dateiordner – allerdings in dem für die vorliegende Ausgabe, nicht in dem für die Nummer 28. So fiel mir das Malheur dann auch erst bei den Schlussarbeiten auf. Natürlich wollen wir diese Grafik hiermit auch veröffentlichen: sie steht, wie ich meine, auch sehr gut für sich alleine, atmet Atmosphäre, darf aber auch zur zugehörigen Geschichte gedacht werden.
Christian Steinbacher
Wir sind sicher, wenn es einen neuen Appell gibt, werden wir es auch von unserem Revier aus bemerken. Trotzdem erhebt sich Pippi jeden Morgen und macht sich auf den Weg zur Anhöhe. Täglich trottet sie los, selbst in Regen- und Trockenzeiten. Selbst wenn es zu dunkel ist, um etwas zu sehen. Wenn wir eins nicht tun, dann aufgeben.
Ich könnte ihr sagen, dass es nichts bringt. Dass die Reiter nicht zurückkommen und sie umsonst Ausschau hält. Aber wer weiß schon, ob das wirklich stimmt?
Also folge ich ihr und sehe vom Fuß der Anhöhe mit an, wie sie sich in alle Richtungen umschaut. Im Nebel erkenne ich fast nur ihre Silhouette. Pippi gehört zu den größten Bären im Tal. Auf ihrem Rücken ragen die Reste eines Gefechtsturms in die Höhe. Fetzen alter Flaggen und Bänder wehen im Wind.
Das Signal war nicht mehr zu hören, seitdem die Menschen den Dschungel verlassen haben. Seitdem der Krieg beendet ist. Dennoch kommt Pippi noch immer jeden Morgen hierher. Insgesamt hoffen wir alle, dass sie etwas sieht. Truppen, die zu einem der Stützpunkte zurückkehren. Rauchsäulen, wo bereits neue Kämpfe begonnen haben. Wir alle warten auf die nächste Schlacht, in der die Menschen uns brauchen.
Ein Reiter ohne Bär ist immer noch ein Mensch. Ein Bär ohne Reiter ist nur ein Bär.
Momo sagt, es könnte schlimmer sein. Sie sagt, vor dem letzten Frost hat sie am Fluss einen der Bären gesehen, die nicht mitkämpfen durften. Sein Fell hatte die Farbe von Sand und keine andere. Niemand hatte ihm Schriftzeichen eingebrannt oder mit Farben markiert, zu welcher Kompanie er gehört. Während meine Schwester ihn beobachtete, fing er einen Fisch. Dann legte er sich in die Sonne. Er hatte keinen Namen.
An den Bewegungen der Baumkronen erkennt man, dass sich Pippi wieder unserem Revier nähert. Nach all den Jahren weiß sie, wie man durch den Wald manövriert, ohne mit dem Turm an Ästen hängen zu bleiben. Wo damals ein ganzer Trupp Schützen Platz hatte, findet man heute nur noch ein verlassenes Nest. In der Brutzeit wird sich die nächste Generation Vögel dort einnisten, wie jedes Jahr. Bis dahin wird sie weiter jeden Morgen zur selben Zeit auf die Anhöhe gehen.
Selbst die Ankunft der neuen Menschen kann daran nichts ändern.
Wir bemerken es sofort, als sie das Tal betreten. Die von uns, die noch riechen können, wittern das Metall ihrer Rüstungen. Das Feuer zum Schmieden primitiver Waffen. Alle Bären, ob in der Höhle oder davor, blicken in dieselbe Richtung. Zora sagt, wir sollten darauf warten, dass sie zu uns kommen, wie die ersten Menschen, die ins Tal kamen und uns mitgenommen haben. Lars sagt, wir sollten keine Zeit verlieren und uns so bald wie möglich auf den Weg machen, um sie zu uns zu holen. Wir müssen uns entscheiden, wem wir folgen wollen.
Lars führt uns am Wasserfall und dem Denkmal vorbei. Er macht einen weiten Bogen um den Felsen, an dem die anderen Alphas gefallen sind und er den Pfeil abbekommen hat, der noch immer aus seinem Nacken ragt. Es gibt ein Lied über den Tag, an dem der Pfeilhagel den Himmel verdunkelte und wir glorreich den Hügeln gefallener Kameraden entstiegen, um ein letztes Mal dem Feind entgegen zu rauschen, doch niemand von uns gibt einen Ton von sich. Wir erreichen das Menschenlager vor der Dämmerung.
Alle sehen, aber keiner sagt, dass das Zelt, das wir umzingeln, viel zu klein für eine ernst zu nehmende Armee ist. An der Feuerstelle wurden keine Waffen gefertigt. Der Metallgeruch scheint von dem Fahrzeug daneben zu stammen. Es gibt keine Banner. Aus dem Zelt hören wir Gelächter und Gesang.
Um die Menschen herauszulocken, stimmen wir die Hymne unserer alten Kompanie an. Die erste Strophe ist noch nicht beendet, da treten vier Gestalten ins Freie. Zwei Ausgewachsene, zwei Junge, je eins männlich, eins weiblich. Sie schreien in einer Sprache, die wir nicht verstehen, und bewerfen uns mit Steinen. Michel ist der Einzige, der die Flucht ergreift. Wir Übrigen überzeugen uns davon, dass sich nicht noch weitere Menschen in der Nähe befinden, dann treiben wir die vier in Richtung Höhle. Nach ein paar erfolglosen Versuchen, durch unsere Reihen zu brechen und zu fliehen, geben sie sich geschlagen und kommen mit uns. Auf dem Weg finden wir auch Michel wieder, das Gesicht an einen Baum gepresst, die Krallen wund vom Zerfurchen der Rinde. Er spricht den Rest des Tages kein Wort mehr.
Nach der Rückkehr werden die neuen Reiter sofort von unseren Jungen beschnuppert. Der Krieg war vorbei, bevor sie geboren wurden. Die meisten von ihnen kennen Menschen nur aus Erzählungen. Und von dem Denkmal am Wasserfall.
Auf einer Plattform drehen sich vier rostige Säulen, angetrieben von der nahen Strömung, im Innern elektrisches Licht. In das Metall sind kleine Öffnungen gestanzt worden, geformt wie die Kämpfer und ihre Waffen. Auf einer sind Pfeile und Speere zu sehen, auf einer anderen die Wolkenwürmer und ihre brennenden Lichtbälle, die so oft die Nacht erhellten. Eine Säule zeigt die Umrisse von kolossalen Mechapanzern, in denen die Soldaten durch den Wald stampften. Die Letzte zeigt die mächtigen Bärenreiter. Sobald es dunkel genug ist, scheint es durch die Öffnungen auf die Fläche zwischen den rotierenden Säulen. Nacht für Nacht erzählen die kleinen Lichtgestalten die Geschichte des Krieges, laufen durcheinander, werden von kleinen Geschossen getroffen oder verfehlt, attackieren ihre Feinde oder laufen vor ihnen davon.
Als unsere Jungen das Denkmal zum ersten Mal sahen, schnappten manche nach den leuchtenden Bildern, doch da war kein echter Krieg mehr, den sie beißen konnten. Es herrscht Frieden im Bärental. Trotzdem laufen manche von ihnen noch immer gern den Lichtgestalten nach.
Wir bereiten den Menschen einen Schlafplatz im alten Gefechtsturm meiner Schwester, der am Rand des Reviers liegt. Seitdem sie einst im Frost gestürzt ist und die Halterungen sich gelöst haben, liegt er zwischen den Bäumen und verrottet. Momo sagt, es macht ihr nichts aus, doch manchmal verbringt sie den ganzen Tag damit, den alten Turm anzustarren, regungslos, stumm, so oft man sie auch anstößt.
Auch die Menschen bewegen sich kaum. Mit Ehrfurcht bewundern sie unsere Bemalungen und Bänder. Als Pippi am Morgen verschwindet, blicken sie ihr nach und flüstern sich Laute des Erstaunens zu. Wir untersuchen die Tornister, die sie von ihrem Lager mitbringen durften, doch wir finden nichts von Wert. Ein kleiner Metallkasten, der kurz blitzt, wenn man einen Knopf drückt. Eine Flasche mit einer kleinen Sonne darauf und einer weißen Substanz darin. Eine Karte des Waldes, die wir nicht lesen können.
Wir sprechen ihre Sprache nicht, also müssen wir sie auf anderen Wegen davon überzeugen, unsere neuen Reiter zu werden. Immer wieder legen wir uns vor ihnen hin, in der Hoffnung, dass sie auf unsere Rücken klettern. Wir kratzen Symbole in den Staub, doch sie verstehen nicht, was wir damit sagen wollen. Wir singen die Hymne, bis unsere Stimmen versagen.
Zora sagt, wir sollten darauf warten, dass sie von selbst aufsteigen, und ein paar von uns stimmen ihr zu. Lars sagt, je eher die Menschen erkennen, dass sie Bärenreiter sind, umso eher können wir neue Siege erkämpfen. Er sagt, warten macht uns schlaff und stumpf, und auch ihm wird zugestimmt. Manche der Bären schauen rastlos von einem zum anderen.
Zora war Alpha unseres Clans, lange bevor aus drei Clans eine Kompanie wurde und aus einer Kompanie das, was wir heute sind. Als die Menschen uns fingen und für die Schlacht trainierten, war es jedoch Lars, der auserwählt wurde, den obersten General zu tragen und die Truppen anzuführen. In seiner Flanke wurde das Fell geschoren und Farbe unter seine Haut gespritzt, sodass er für immer die Flagge unserer Seite zeigt. Mit Stolz trägt er seinen Helm und den Pfeil, der für seinen damaligen Reiter bestimmt gewesen war.
Die neuen Menschen scheinen keinen der beiden zu bevorzugen. Auch nach Wochen halten sie sich fern. Wenn sich einer von uns ihrem Schlafplatz nähert, pressen sie sich aneinander, die Ausgewachsenen vorn, die Jungen dahinter. Wir bringen ihnen Fleisch und Wasser, doch sie werden immer dünner und blasser. Wir beruhigen uns damit, dass man es unter den Farben und Bändern nicht mehr erkennen wird.
Schließlich erklärt sich einer der Menschen dazu bereit, wieder in die Schlacht zu reiten. Kurz nach Sonnenaufgang nähert sich eines der Jungen – das jüngere, männliche – meiner Schwester. Die anderen Menschen schlafen noch. Momo zögert nicht und legt sich flach auf den Boden, damit der Reiter aufsteigen kann. Erst berührt er nur ihr Fell und betrachtet die Reste alter Flaggen aus der Nähe, dann krabbelt er auf ihren Rücken. Sofort setzt sich Momo in Bewegung. Ich laufe mit. Kriegsbären marschieren niemals allein.
Momo rauscht durch den Dschungel, als wäre der Frieden nie ins Tal gekommen. Sie springt über Felsen und Bäche, weicht Ästen aus und lässt den Waldboden erzittern. Sie brüllt die Triumphgesänge unserer Kompanie. Schnell stimmt der Reiter auf ihrem Rücken mit ein, schreit und johlt aus vollem Hals, dann verstummt er, um Energie für den Kampf zu sparen. Wir treffen keine Feinde, doch ich habe meine Schwester lange nicht so lebendig gesehen. Sie läuft bis zum alten Stützpunkt, erklimmt die ausgebrannten Wracks der abgestürzten Sterngondeln, dann laufen wir auf dem gleichen Weg zurück.
Nur dass wir bei der Rückkehr ins Revier nur noch zu zweit sind.
Lars und Zora sind sich einig, dass wir zurückgehen und den verlorenen Reiter finden sollen. Vielleicht kann er die anderen Menschen davon überzeugen, auch wieder auf unsere Rücken zu steigen. Also schreiten wir den Weg noch mal entlang, unnatürlich langsam, obwohl Kriegsbären selbst im Lauf nichts entgeht. Auch nach mehreren Tagen taucht das Menschenjunge nicht wieder auf. Die Ausgewachsenen können uns nicht helfen, sie dürfen das Revier nicht verlassen. Stattdessen rufen sie, was vermutlich der Name des Jungen ist.
Wir selbst haben erst Namen, seitdem die Menschen uns welche gegeben haben. Die meisten tragen die fremden Schriftzeichen auf ihrer Haut, eingebrannt oder aufgemalt, ohne zu wissen, was die Worte bedeuten. Meine Geschwister, vorher nur einfache Bären, wurden Momo und Bilbo. Während Momo noch immer eines der stärksten Mitglieder des Clans ist, wurde Bilbo eines Tages am Fuß des Wasserfalls entdeckt. Seine Bemalung hatte den Fluss verfärbt, rot und blau, und wir mussten nur der Farbe folgen, um seinen Körper zwischen den Felsen zu finden. Wir sind sicher, dass es nur ein Unfall war.
Die Menschen werden noch ruhiger nach dem Verlust ihres Jungen. Alle weiteren Versuche, sie zu Reitern zu machen, enden mit Niederlagen. Wir hoffen jeden Morgen, dass Pippi bessere Menschen erspäht. Sie entdeckt nur eine Neuigkeit, nämlich dass sich eine der Säulen des Denkmals nicht mehr dreht. Wir fragen, ob es unsere Säule ist. Welche der Lichtfiguren sind noch in Bewegung? Sie sagt, das Denkmal ist zu weit weg. Sie kann es nicht genau erkennen. Drehen sich die Bärenreiter noch? Vielleicht, sagt sie, aber vielleicht auch nicht.
Das Leben im Tal geht weiter wie zuvor. Mumin sitzt am Ende der Höhle und leckt langsam das Gestein. Sobald wir Donner hören, rennt Zora die Grenzen des Reviers ab.
Wir fürchten kein Feuer, wir fürchten keinen Sturm, doch als das Gewitter über uns hinweg zieht, wird es eng in der Höhle. Momo sagt, es ist sicherer so, der Feind könnte jeden Blitz als Tarnung für die nächste Offensive nutzen. Zu spät merken wir, dass zu wenig Bären draußen sind, um auf die Menschen aufzupassen. Die Ausgewachsenen liegen noch in der Turmruine, doch das andere Junge ist entkommen. Ein paar von uns laufen sofort in den Wald, um es wieder einzufangen, doch es ist zu spät. Einer der Bären berichtet, dass er gesehen hat, wie es in den Fluss gesprungen und davon getrieben ist.
Natürlich verschärfen wir sofort die Wache. Die zwei Menschen, die wir noch haben, versuchen aber gar nicht erst, sich noch einmal gegen uns aufzulehnen. Wahrscheinlich verstehen sie jetzt, dass wir Verbündete sein müssen. Niemand weiß, wann wieder Sterngondeln aus dem Himmel stoßen und die Gefechte fortgesetzt werden.
Es ist etwa zu dieser Zeit, dass ich den Bären selbst sehe, den meine Schwester mir beschrieben hat. Sandfarbenes Fell, keine Verzierungen, keine Narben. Er trägt einen Bienenstock im Maul, den er irgendwo erbeutet hat. Während ich ihn beobachte, lässt er sich den Honig schmecken. Er rollt im Gras herum. Er legt sich schlafen.
Ich behalte ihn im Auge, bis er wieder erwacht. Kurz scheint er in meine Richtung zu schauen, doch ich verstecke mich im Unterholz. Als ich wieder hinsehe, ist er verschwunden.
Langsam trotte ich ins Revier zurück. Ich komme erst im Dunkeln an. Die meisten Bären schlafen schon. Nur Michel scheint noch beschäftigt zu sein. Von Weitem sehe ich, wie er versucht, einen der Menschen auf seinen Rücken zu hieven. Er schafft es nicht. Der Mensch rutscht wieder zu Boden, neben den anderen. Also biete ich meine Hilfe an. Mit der Schnauze wuchte ich das ausgewachsene Männchen hoch. Michel presst sich flach auf die Erde. Kurz liegt der Mensch auf seinem Rücken, dann rutscht er auf der anderen Seite herunter.
Also versuchen wir es noch mal. Dann noch mal. Die Versuche enden alle gleich, doch wir machen weiter. Ein Bär ohne Reiter ist nur ein Bär.
Doch wir sind Kriegsbären. Kriegsbären geben niemals auf.
»Du bist das? Waaas! Toll. Ich habe dich gar nicht, echt, überhaupt nicht erkannt! Naja – wie auch!«, lachte der Beraterarzt. Er wedelte mir mit der Anmeldung vor den Augen herum, stach dabei mit einem steifen Zeigefinger hörbar auf meinen auf dem Dokument lesbaren Namen ein. Und grinste. Die ganze Sache nervte. Ich sah zu ihm auf.
Er war ein großes Modell, in einem Luxus verkündenden Schokoladenton – echt, nicht eingefärbt – und strahlte mich mit perfekt gerade sitzenden, reinweißen Zähnen an. Seine Augen blitzten.
»Esther! Jungfrau! Du wirst dich doch an mich erinnern. Ich bin Hein, der Opa deiner Schulfreundin Eva, nicht wahr! Aber klar, erkennen kannst du mich nicht! Wie auch! Einst war ich Opa Hein, jetzt bin ich, vielleicht, Freund Hein – ich bin, sozusagen, ein anderer geworden! Ich darf doch ein Selfie mit dir machen, oder?«
Ohne Zögern griff er den an seinem Schreibtisch lehnenden Kamerastick, schwang sich mit einem raumgreifenden Schritt an meine Seite, umarmte mich von rechts, hielt die Kamera in die Standardposition und jubelte »Kriiise!«, bevor er auslöste.
»An den Allgemeinblog senden! Titel: Freund Hein und die letzte Jungfrau!«, wandte er sich an das Assistenzmodul, das als Holokubus auf seinem Schreibtisch thronte. Ich nahm es hin. Im Kubus sah man ein Mini-50s-Retromädchen mit hochtoupierten, blonden Haaren und golden leuchtenden Tätowierungen an einem Minischreibtisch sitzen. Das Minimädchen lächelte und tippte etwas in eine winzige Schreibmaschine. Nettes Detail. »Und je-etzt …« Hein legte das Formblatt auf den Schreibtisch, schwang sich auf seinen Bürofitnesssessel und trat mit langen, muskulösen Beinen in die Pedale, wobei er rhythmisch mit dem Oberkörper schunkelte, als hörte er Musik. Dann schloss er kurz die Augen, als müsste er einen Gedanken fassen. »Nun … Ich muss wohl kaum fragen, was ich für dich tun kann.«
Sein Lächeln war entwaffnend. Optimistisch. Freundlich. Egal. Ich wollte ihn nicht mögen. Er war … Ich kramte in meinem Gedächtnis nach einem Opa Hein. Ja. Da war er. Ich hatte sogar intensive Erinnerungen an ihn, nun, da ich ihn zuordnen konnte: Ein krummes, kahles Männlein, gebeugt, mit Spitz-, Schmer- oder Bierbauch, das sich selbst vernachlässigte und den Mädchen, meinen Freundinnen, nachblickte, als wären sie verpasste Metrobahnen, ein »lächerliches, verbrauchtes Ding«, hatte Jay damals gesagt. Er nannte ihn auch »Faltenstinker«, wegen seiner oft heftigen Körperausdünstungen. Ich betrachtete den Mann vor mir. Muskulös, drahtig, schlank. Bereit. Ich versuchte, mich an den Duft starker, sexuell aktiver Männer zu erinnern – gab es so etwas überhaupt? Rochen die anders? Ich wusste es nicht mehr.
Hein hatte lockiges, gesundes, blondes Haar, hellgrüne, strahlende Augen. Er trug einen halbtransparenten Laborkittel. Darunter war ein nur die Brust umspannendes Ikonshirt mit der Aufschrift »AMOR!« sichtbar, und ein mit floralen Mustern tätowierter Waschbrettbauch. Die Tätowierung verschwand unter dem Shirt, erschien am Halsansatz wieder, zog sich fast bis zum Kopf hoch. Sie rankte sich zudem, aus den T-Shirt-Ärmeln züngelnd, die halben Arme entlang bis kurz über die Ellbogen und erreichte, unter den weißen Shorts herausfließend, gerade so seine wohlgeformten Waden, die er fleißig weiter trainierte. Er bemühte sich, das musste der Neid ihm lassen.
»Ich habe mich noch nicht endgültig entschieden«, sagte ich. Zwang mich zur Ruhe. Sammelte meine Gedanken. Merkte wieder: Ich wollte ihn nicht mögen, aber … warum eigentlich? Fand ich den Mann vor mir zu gelassen? Zu zufrieden? Auf falsche Art einnehmend? Lächerlich? Ich konnte es nicht einordnen. Ich fühlte nur den Widerstand in mir.
»Nun, es wird langsam Zeit. Dennoch, also, ich kann dir sagen: Ich bewundere dich! Nur wenige halten so lange aus. Und es lohnt sich! Man nimmt etwas … Fantastisches mit sich, einen starken Willen, eine tiefe Einsicht … Ich weiß, was ich sage, ich war ja auch mal richtig, richtig alt – du erinnerst dich …«
Er lächelte, fast entschuldigend, fast schüchtern. Kannte ich den Ausdruck in dem Luxusgesicht vor mir von seinem alten Ich? Ich fiel dem Gedanken an Hein in die Vergangenheit hinterher, landete woanders, erinnerte mich an abfahrende Metrobahnen. An eine verpasste Fähre. An das Dunkel des Meeres am Anleger, an dem ich einmal mit Jay die Nacht verbringen musste. Wie schön das war. Wir froren, waren endlos jung. Das Leben lag vor uns, wie das dunkle, unergründliche Meer damals. Die »Gruftis«, wie wir sie nannten, waren uns fern vorgekommen, fremd. Wie der Blick des alten Hein, der, in meiner Erinnerung, an irgendeiner Wand lehnte, müde. War es vor dem Haus, in dem er wohnte – was war da, damals, in seinen Augen? Ich versuchte, meine Erinnerung scharf zu stellen. War sein Blick lüstern? War er bitter? Oder beides?
»Du bist viel-lei-eicht die jüngste Frau ü-ber-haupt, du – ach was, das ist ja Quatsch! Ich übertreibe gerne, aber die jüngste der Vorgeborenen, vielleicht. Die letzte Frau, die noch nicht den ersten Schritt getan hat? Könnte das sein? Soll ich die Assistentin fragen? Nein? Ist auch egal … Magst du was trinken? Tee? Saft? Und ich muss jetzt doch nachhaken: Wie kann ich dir helfen? Dich zu entscheiden?«
»Es fällt mir schwer.«
An der Wand hinter ihm hing ein Spiegel. Ich sah mein Gesicht. Wie so oft erkannte ich mich nicht recht, obwohl ich wusste: Das ist mein Widerschein, das bin ich. Licht werdendes Haar, schmutzig weiß. Runzeln überall. Eingefallene Wangen, Augensäckchen. Ein bisschen Doppelkinn. Statt der Lebensfreude, die in Heins Augen spielte, boten meine aber … einen gewissen Trotz. Stolz. Behauptete ich mir gegenüber jedenfalls. Ich glaube, im Grund zeigten sie Müdigkeit. Kalte, abgekämpfte, abgenutzte … Schwäche. Und Scham. War es das im Ausdruck des alten Hein, was ich … woran mich erinnerte? Was ich sah? Gesehen hatte?
»Es fällt mir einfach schwer.«
»Wie gesagt, ich verstehe das … Der erste Schritt ist der schwerste.« Hein summte eine Melodie, zeigte eine ernste Miene, eine andere Seite von sich. Machte er sich tatsächlich Gedanken darüber, wie er mir »helfen« könnte?
»Naja, die Alternative ist nun wirklich grässlich und menschenunwürdig, falsch – aber das weißt du ja.«
Hein legte kurz die Hand ans rechte Ohr, die Assistentin sprach wohl privat zu ihm. Die Repräsentation im Kubus sagte bei vorgehaltener Hand etwas in ein historisch aussehendes Minitelefon mit Holokabel. Sie bemerkte meinen Blick und winkte mir mit einem entschuldigenden Lächeln zu, wobei sie mit den Schultern zuckte. Frauensolidarität, hm?
»Mir wurde gesagt, ich werde eventuell … beeinflussend. Bedrängend. Verzeih. Verzeih. Wirklich.Ich beantworte gerne alle deine Fragen. Die Entscheidung kann ich, darf ich dir natürlich nicht abnehmen. Ich darf auch keine Empfehlung aussprechen. Aber dir ehrlich über meine eigenen Erfahrungen berichten, dir Antworten geben, das kann ich machen. Dies ist inzwischen mein vierter Körper, ich bin also – relativ – erfahren!«
Sein vierter Körper. Ich sah ihm in die grünen, meinen Blick direkt erwidernden Augen und versuchte erneut, mich an den Ausdruck in denen des hinfälligen Männleins zu erinnern. Es gelang mir nicht. Ich presste die Lider zusammen. Strengte mich mehr an. Der alte Hein trug damals immer eine Brille. In meiner Erinnerung saß er auf einer Bank am Fluss, unweit von unserer Wohnung. Hustete trocken vor sich hin. Fummelte an der Brille herum, sah, die Brille umständlich wieder aufsetzend, einem jungen Mädchen hinterher, etwas älter als ich … war es Eva? Der Wind fegte durch die Herbstblätter. Ihr Rock umflatterte lange Beine. War sein Blick hart? Furchte sich eine Träne durch sein Gesicht? Hein klatschte in die Hände.
»Soll ich dir erst mal die Kassenmodelle zeigen? Hm?«
Ich schlug die Augen auf. Der Schokohein lächelte mich viril auffordernd an, während er aufstand, nein, auffederte, und meine Hand griff, mich praktisch vom Stuhl zog. Als er merkte, dass ich wegen des Tempos schon beim Erreichen der Tür außer Atem war, husten musste, wurde er langsamer, entschuldigte sich. Er führte mich einen steril wirkenden Gang entlang, durch eine weiße Tür. Der Raum war groß, der Boden weich. Ein filigranes, an maurische Architektur erinnerndes, ästhetisch schmeichelndes Gitter trennte den schmalen Besucherbereich ab. Die Leuchtelemente waren auf unserer Seite angebracht. Das Licht fiel durch mehrfarbige Filter, was ein anregendes Spiel aus Helle und Schatten bedingte. Wir sahen sie durch die Lücken.
»Das sind sie: Adam und Eva!«
Hein legte mir eine Hand auf die Schulter, blickte in den abgegrenzten Raum, kicherte in sich hinein. Leise. Sein Gesicht wirkte hell, verstehend, aufgeschlossen. Er wird den … Witz schon oft gemacht haben. Er amüsierte sich dennoch, echt, ohne Übertreibung.
In dem … Gehege … hielten sich zwei junge Leere auf, ein Weibchen und ein Männchen. Sie waren gleich groß, wirkten wie Teenager, spielten nackt zwischen farbenfrohen, über den Raum verteilten Kissen. Es gab auch ein paar gebogene, farbige Röhren, durch die sie wohl gerne krabbelten. Die Wände zierte eine Landschaftstapete, die einen lichten Wald mit Blumen und anderen Farbtupfern zeigte. Die Szene wirkte märchenhaft. Die beiden Leeren setzen sich hin, erschöpft schnaufend. Glücklich? Das Männchen strich dem Weibchen durchs Haar. Das Weibchen sah zu uns herüber. Nein, sie sah Hein an. Fand sie ihn attraktiv?
»Du hast echt Glück! Das sind mit die letzten Mann-Frau-Kassenmodelle – sobald die Geschlechtslosen freigegeben sind, wird man für die Sexoption ex-tra zahlen müssen! Und das wird schon sehr bald der Fall sein!«
Ich schoss einen Blick in sein Gesicht. Er sah mich kurz fragend an.
»Ich denke mal, du willst ein besseres Modell, ein paar Extras?«
Ein besseres Modell. Hein konnte sich, wie ich sah, alle möglichen »Extras« leisten. Wut kochte in mir hoch. Naja, köchelte. Mein Temperament war mit den Jahren … abgekühlt. Ich sah wieder zu den Kassenmodellen. Sie hätten Zwillinge sein können, waren von fast gleicher Statur, bis auf die Geschlechtsteile so gut wie identisch. Die Gesichter wirkten … unfertig. Breit. In der besseren Gesellschaft, in Kuratorenkreisen beispielsweise, konnte man sich damit kaum sehen lassen.
»Wie alt sind diese Modelle?«, fragte ich.
»Vier Jahre, diese beiden wurden letzte Woche freigegeben. Die übliche Nutzungsdauer liegt bei fünfundzwanzig bis dreißig Jahren …«
»Was gibt es für Extras?«
»Im Grunde – was du willst! Echte Sondermodelle müssen, ist ja klar, vorbestellt werden, da ist die Reifungszeit sogar etwas länger – und so viel Zeit hast du eher nicht mehr … Äh, verzeih. Verzeih, wenn ich eine ungerechtfertigte Annahme gemacht habe. Es war nicht meine Absicht. Also … Im Lager haben wir aktuell verschiedene Haar- und Hautfarben, auch einfache Mehrwertmodelle mit Schlankgen, Leistungskörper … Und ein paar Signaturmodelle, von früheren Stars entworfen. Ich glaube, es gibt auch noch ein oder zwei vom Hype übrig gebliebenen Richard-Gere-Männchen, schon ein wenig gealtert, aber … du willst ja wohl einen Frauenkörper, es …«
»Ich bin noch nicht sicher.«
Ich wandte mich wieder dem Gatter zu. Trat leicht erschrocken einen Schritt zurück. Das Leermännchen stand direkt vor mir. Sah mich durch das nette Lochmuster an. War da so etwas wie … Neugierde? Es bleckte die Zähne, blickte – aggressiv? Fühlte es sich eingesperrt? Schlecht behandelt? Es kam näher, legte den Kopf an das Gitter. Lehnte sich mit dem ganzen Körper an. Schnaubte oder brummte oder knurrte. Wollte es, dass ich es berührte? Hein zeigte auf das Weibchen, das auf einem Kissen saß und uns beobachtete. Es hauchte etwas, oder gurrte es? Wollte sie ihr Männchen zu sich rufen? Husten schüttelte mich, es floss wieder rotes Sekret aus meiner Nase. Die Ärzte hatten gesagt, sie könnten nichts mehr tun. Ich fischte nach einem Taschentuch, in Panik. Das Männchen hatte alles gesehen. Betrachtete einen Moment den roten Schmodder, der aus meinem Körper gekommen war. Schnaubte und lief weg.
»Das könntest du sein.« Hein, der durch seinem Blickkontakt mit der Leeren wohl abgelenkt war und nichts bemerkt hatte, und wies auf das Weibchen.
»Was denken sie?«, fragte ich.
»Denken? Natürlich … denken sie nicht. Das wäre gegen das Gesetz … Platzhalterhirne halten den Neukörper aktiv, mehr nicht …«
»Leiden sie?«
»Aber nein! Im Gegenteil! Sie sind glücklich. Ihr Hormonhaushalt ist optimiert. Sie genießen, was für uns ZOT bedeuten wird. Das solltest du wissen. Ist alles in der VAN geregelt, der Verordnung zur Aufzucht von Neukörpern. Sie haben kein Bewusstsein, keine Leidensfähigkeit. Sie kennen keine Not, wissen nichts von ihrer Endlichkeit. Sie spielen und fressen. Da sie steril sind, dürfen sie kopulieren, wann sie wollen. Vor der Operation schlafen sie einfach ein. Ahnungslos, erfüllt. Und du wirst natürlich auch nichts davon mitbekommen, vom Ende deines alten Körpers, meine ich, vom Anfang …«
»Fühlst du das? ZOT?«
»ZOT? Ja, klar …«
»Zufriedenheit, Optimismus, Tatkraft … Aber … Hein … du warst doch nicht immer so. Die Transplantation hat aus dir einen anderen gemacht. Du bist nicht mehr du. Stört dich das nicht?«
Hein sah mich an. Einen Moment lang blieb sein Gesicht seltsam ausdruckslos, dann huschte ein verständnisvolles, vielleicht nachsichtiges Lächeln über Heins sinnliche Lippen. Er nickte langsam, zupfte mit der linken Hand an seinen spitz zugeschnittenen, gepflegten Koteletten. Er überlegte, ernsthaft und sichtbar, was er sagen sollte. Fand ich ihn gönnerhaft?
»Wenn du eines Tages, nach einem … seltsamen, schmerzhaften Traum … aufwachst und glücklich bist. Glücklicher als schon lange, vielleicht denn je, und weißt, die Zukunft hält viel Gutes für dich bereit, und du hast viel, viel Energie. Bist du dann nicht mehr du selbst? Oder zum ersten oder zweiten Mal – wirklich du?«
Ich gab mir Schwung, mit den Beinen. Wann waren die so … mächtig geworden? So elefantös? Die Mittagssonne erwärmte den Spätherbsttag, ein paar Neumenschen spielten nahebei in einer Kletter- und Amüsieranlage. Natürlich wirkten alle jung. Die meisten waren Kassenmodelle. Eingelebt reiften diese nach, wurden zu unterscheidbaren Individuen. Die Körper nachlässiger Nutzer dickten aus, andere schafften es, sie über die gesamte Haltbarkeit fit zu halten. Auch die Gesichter änderten sich, mit der Zeit – erhielten Wesen, Charakter, verloren das Unfertige, das mir an den Leeren bei Hein aufgefallen war. Solche Körper wurden selten bis in deren höheres Alter genutzt – sie sollten die ganze Nutzungszeit über optimal funktionieren. Die Leerkörper – wie seltsam das immer noch klang. Mir fielen ein paar Sondermodelle in der Gruppe auf, die durch ihre meist größeren und schlankeren Körper herausstachen. Sondermodelle konnte man meist auch länger nutzen, sie alterten besser. Allerdings wirkten einige der Kassenmodelle auf mich fast … interessanter, wohl durch ihre individuellere Wahl der Kleidung. Es gab keine Berührungsängste zwischen Sonder- und Kassenmodellen, auch wenn sich selten Mischbeziehungen ergaben, jedenfalls, wenn ich das richtig beobachtete. Warum war das so? Klassendenken? Unwahrscheinlich. Die meisten Menschen mussten einen Körperzyklus durchsparen, um sich einen besseren Leib zu leisten. Heißt es. Ich schaukelte höher, es knarzte in den Seilen. War ich zu schwer für die uralte Kinderschaukel?
Früher hatte ich solche Schaukeln geliebt, als Kind. Ich gab damals Schwung und mehr Schwung, genoss die Angst, zu hoch zu fliegen, in den Himmel zu stürzen. Ich war leicht damals, fast wie ein Vogel. Liebte es, mich in den Himmel zu katapultieren, auf dem Apex abzuspringen. Zu fliegen, um sicher im Sand zu landen. Heute würde ich mir alle Knochen brechen. Aber so hoch flog ich ohnehin nicht mehr. Alles gut. Haha.
Jay war meine erste Liebe. Wir kannten uns schon als Kinder. Er schaukelte immer höher als ich. Vielleicht hatte mich das beeindruckt. Wir trennten uns, nachdem ich schwanger geworden war. Ich hatte auf die Abbruchpille bestanden. Ich wollte etwas aus mir machen, wollte meiner Generation vorausschreiten, auf der Welle reiten. Das war kurz vor dem Jahr eins. Er roch mir, nach dem Abbruch, nach Schmerz und Vergangenheit. Die psychiatrischen Hilfsmittel, die angebotenen Medikationen lehnte ich ab. Vielleicht suchte ich ihn darauf in anderen, oder suchte in anderen, was ich in ihm gesucht und nicht gefunden hatte. Wirklich? – Nein, das stimmt so nicht. Mein Leben, meine Beziehungen waren nicht so … gewollt. Erklärbar. Jede Erfahrung, jedes Kennenlernen war anders. Sich finden war immer Glück. Das Zusammensein jeweils eher … grau. Normal. Das Auseinandergehen dagegen troff, jedes Mal, vor Schmerz.
Ich dachte wieder an den alten Hein. Man erzählte damals, er war einmal ein recht beliebter Mann gewesen. Er hätte einst eine Bar geführt, alle gekannt, Witze gemacht, die Nächte durchgetanzt. Lebenslust in den Augen, in den Beinen. Er sei nur nicht der Hellste gewesen. Kein Ehrgeiz. Kein Wille, für die Gesellschaft besonders wichtig zu sein. Die Mottowerbung jener Bar hing damals in seinem Fenster. Ich konnte mich genau daran erinnern, sah sie vor mir: »Das schönste aller Dinge, ein Schluck mit Hein und Inge«, oder so ähnlich, in gelbem Neon. Inge war seine Frau gewesen. Ich habe sie nie kennengelernt.
Nachdem sie gestorben war, hatte er »abgebaut«, wie die Leute sagten. Fast alle sagten auch, er wäre besser dran, würde er die Medikation nehmen. Ich hatte das vergessen – doch urplötzlich wusste ich es wieder: Ich fand es damals bewundernswert, dass er die Pillen nicht nahm. Anders war als die anderen. Aber waren die Leeren, die Neukörper nicht auch eine Art Medikation? Hatte Hein sich verraten? Wann genau hat er einen Leerkörper besiedelt? Er muss mit einer der Ersten gewesen sein … Damals …
Als Hatou nach unserer Trennung als erster Mann in einen Frauenkörper wechselte und deswegen zum Promi wurde, das war alles noch so neu, radikalisierte sich etwas in mir. Vielleicht. Vielleicht suchte ich auch nur einen Ausweg, weil aus mir »nichts geworden war«, wie ich, das muss ich mir eingestehen, schon damals dachte. Ich dachte: Fand ich zu jener Zeit wirklich, dass Hatou etwas Besonderes war, wertiger, bedeutender, weil die Leute über ihn redeten? War ich so … klein? Oberflächlich? Warum fühlte ich das?
Eine andere Erinnerung stieg in mir auf. Hatou und ich gingen durch im Sonnenlicht glänzende, dicht zusammenstehende Pampasgräserbüschel, die so etwas wie ein Wäldchen bildeten, sich in einer sanften Brise bogen, spannten, dann langsam zurückschwangen. Ich sah zu ihm hinüber, die Luft flirrte vor Hitze, Vitalität. Er wirkte selbstverloren. Zufrieden. Sinnlich auf sich bezogen. Er sah mich gar nicht an. Warum … beneidete ich ihn? Hasste ich ihn dafür?
Und dann waren da die ungenutzten und vertanen Chancen. Die Liebschaften, die »Begegnungen«, die ich als … unnötig erachtet hatte? Das Bedauern. Die Leute sagten … Echt? Stimmt das? Ich hielt die Schaukel an. Mir war etwas schwindelig. Früher sagten die Älteren, man leidet am meisten an den Dingen, die man sich nicht erlaubt hat, die man nicht versucht hat. Ich blickte zurück. Ja? Nein. Es waren meine Entscheidungen. Ich konnte, musste sie akzeptieren. Auch die Feigheiten. Ich merkte, dass es viel schlimmer war. Wie so oft war dieser Gemeinplatz nur eine Ausrede. Gewesen. Ich hörte in mich hinein. Es schmerzte mich mehr, mich nicht mehr gegen Dinge, die ich vielleicht irgendwie wollte, entscheiden zu können. Da sie … gar nicht mehr in meiner Reichweite waren. Das Bedauern der Vergangenheit, dachte ich, war nur eine Ausflucht, ein Mantel. Es war ohnehin egal – heutzutage sagte wohl niemand mehr solchen Quatsch.