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Mann mit Hummer sucht Frau mit Herz
Was macht ein Mittvierziger im Karriereknick? Er sucht eine Marktlücke und gründet ein Start-up. Frank Berger sieht sich gegen Geld die Urlaubsfotos einsamer Leute an und schwelgt mit ihnen bei Hagebuttentee und trockenen Keksen in Erinnerungen, die nicht seine eigenen sind. Nie hätte er gedacht, dass sich mit so viel Nichtstun so viel Geld verdienen lässt. Sein Unternehmen brummt. Bei einem seiner Einsätze zeigt ihm ein Kunde ein Urlaubsfoto von seiner Ex-Frau in der Bretagne – und Frank verliebt sich auf den ersten Fotoblick in die bezaubernde Karin. Hals über Kopf bricht er auf an die bretonische Küste in der Gewissheit, Karin dort zu treffen und für sich zu gewinnen. Doch statt romantischen Sonnenuntergängen mit seiner Angebeteten erwarten ihn zunächst verregnete Strandspaziergänge mit Hugo, seinem neuen knopfäugigen Freund mit harter Schale und weichem Kern …
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Rüdiger Bertram, geboren 1967 in Ratingen, schrieb Sitcoms für SAT.1 und WDR, bevor er ein erfolgreicher Kinder- und Jugendbuchautor wurde. Hummer to go ist sein Debütroman für Erwachsene.
Der Autor hat mit seiner Familie selbst schon verregnete, aber auch sonnige Ferien in der Bretagne verbracht. Er hat Stürmen getrotzt und Hummer gerettet. Und würde man alle Crêpes, die er dort gegessen hat, übereinanderschichten, wäre der Stapel höher als ein Leuchtturm.
Rüdiger Bertram in der Presse:
»Es gibt richtig viel zu lachen!« Neue Presse über Stinktier & Co
»Strapaziert die Lachmuskeln der Leser!« Oberhessische Presse über Stinktier & Co
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Roman
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Copyright © 2024 by C. Bertelsmann
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Covergestaltung: www.buerosued.de
Covermotiv: mauritius images / Masterfile RM / Gary Gerovac
Redaktion: Gerhard Seidl
Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-28622-4V001
www.penguin-verlag.de
Für alle, die Hummer lieber
im Meer als im Topf sehen
und Crêpes auch für viel zu
dünne Pfannkuchen halten.
Sechs Stunden.
In der Bretagne reicht das, um
… sechs Mal nass und wieder trocken zu werden,
… sechzig Leuchttürme zu besteigen
… oder sechshundert Crêpes zu backen.
Man kann aber auch einfach mitten im Meer auf einem Felsen hocken und darauf warten, dass endlich die Ebbe kommt. Weil man vergessen hat, den Gezeitenkalender auswendig zu lernen.
So wie ich.
Ich kenne den Felsen, auf dem ich sitze. Vom Strand sieht er aus wie ein riesiger Würfel. Ich habe ihn oft von dort betrachtet und weiß, dass er bei Flut nicht völlig absäuft.
Immerhin.
Der Würfel ist auf den meisten Postkarten drauf, die in den Crêperien verkauft werden. Etwa dreihundert Meter hinter mir am Ufer. Aber die sind heute alle geschlossen, weil keine Touristen da sind.
Dafür ist es zu nass und zu kalt.
Bretagnekalt halt.
Mir ist auch kalt. Die Gischt spritzt mir ins Gesicht, wenn die Wellen gegen den Würfel knallen. Das tun sie ständig. Zum Glück regnet es nicht. Es wäre schade um meine Hose und Schuhe. Die habe ich am Strand zurückgelassen, um durchs flache Meer zu dem Felsen hier zu waten.
Vorhin, als noch Ebbe war.
Es fängt an zu regnen.
Ist ja klar.
Das hier ist Trégastel, nicht Nizza.
Ist aber auch egal. Am Strand hat sich die Flut gerade meine Hose geschnappt und spielt damit Fangen. Eine Welle zieht sie ins Wasser, die nächste spuckt sie wieder aus.
Die dritte lässt sie endgültig verschwinden.
Neben mir steht eine Tasche. Ich öffne den Reißverschluss und greife hinein, um Hugo zu streicheln. Das beruhigt mich. Das tut es immer. Er schnappt nach mir, aber das meint er nicht böse.
Er ist wie ein Welpe.
Furchtbar verspielt.
Nur nicht so weich.
Ich: »Ganz ruhig, alles wird gut, Hugo.«
Vorsichtig ziehe ich den Reißverschluss wieder zu.
Noch haben wir Zeit, Hugo und ich.
Sechs Stunden.
Das erinnert mich an die Nacht, die ich in einer Gruft auf dem Cimetière Montparnasse verbracht habe.
Andere Geschichte.
Da war es dunkler, dafür trockener.
Besser war es nicht.
Was also tun?
Ich könnte erzählen, warum ich hier auf diesem Würfel hocke. Dafür dürfte die Zeit reichen. Mit Zeit hat auch alles begonnen. Davon hatte ich damals nämlich viel zu viel.
Deswegen auch die Anzeige:
»Sehe mir gegen Honorar mit
regem Interesse Ihre Urlaubsfotos an.
Frank Berger, Tel.: 0179 – 510…«
Marktlücke, absolute Marktlücke. Kennt jeder. Man hat tolle Fotos vom letzten Urlaub auf seinem Handy, aber keiner will sie sehen. So wie damals meine Bilder aus Venedig.
Die, auf denen Sandra noch drauf war …
Sandra auf der Rialtobrücke.
Sandra auf dem Markusplatz.
Sandra vor der Gondel … in der Gondel war zu teuer.
Aber niemand wollte meine Bilder anschauen, dabei gab es so viele Geschichten zu den Fotos:
Die alte Dame, die neben Sandra auf der Brücke steht.
Danach war Sandras Portemonnaie weg.
Die zwei Espressi auf dem Markusplatz.
Danach waren vierzig Euro weg.
Der Gondoliere, der sie zu einer Gratisfahrt eingeladen hat.
Danach war Sandra weg.
Niemand mochte meine Bilder sehen, niemand meine Geschichten hören. Selbst auf Instagram gab es dafür nur ein paar Klicks. Aus Höflichkeit oder Versehen, was auch immer. Aber immer mit dem Kommentar: »Klasse Fotos, aber hast du schon meine Bilder gesehen? Freu mich über ein Like.«
Social-Media-Kanäle sind kein Ersatz für ein ernst gemeintes »Super! Echt jetzt!«.
Ich hatte gerade meinen Job verloren, wollte mich neu orientieren. Was man eben so sagt, wenn man keine Ahnung hat, wie es weitergehen soll. Da kam mir die Idee mit den Fotos, und der Text war schnell getippt. Keine zwei Minuten hat das gedauert. Wer keine Stelle hat, schafft sich eine, und meine lautete ab heute: Professioneller Fotobewunderer.
Keine halbe Stunde nachdem die Anzeige online war, kam der erste Auftrag: Herbert, Mitte siebzig, ohne Familie, aber mit Dias. Kennt heute kaum noch jemand. Sehen aus wie schwarze Puppenhausscheiben. Die Bilder werden mit Licht auf eine Leinwand projiziert. Das ist wie Kino mit Transversalsyndrom, komplett bewegungslos. Seit seinen Zwanzigern war Herberts gesamtes Leben dokumentiert: Hochzeit, Kinder, Geburtstage, Urlaub in Deutschland, Weihnachten, Urlaub im Ausland, Hochzeit der Kinder, Enkel, Goldene Hochzeit, Scheidung der Kinder, Beerdigung der Gattin …
Ein Leben in fünftausend Fotos.
Eher mehr.
Ich habe sie alle gesehen. Begleitet vom Summen des Projektors, dem rhythmischen Klack-Klack beim Wechsel der Bilder und einer Kassette mit den besten Hits der 1970er in Endlosschleife. Dazu gab es aufgetauten Bienenstich und Filterkaffee mit Kondensmilch.
Ich hatte nicht gewusst, dass es so was noch gibt.
Anfangs dachte ich, ich müsste zwischendurch irgendwas zu den Bildern sagen. Aber das brauchte ich gar nicht. Höchstens mal ein »Schon sehr schön dort« oder »Da wäre ich auch gern dabei gewesen«.
Zuhören reichte völlig.
Fünf Stunden später waren wir durch, und als ich auf mein Handy schaute, hatte ich zwanzig neue Aufträge im Posteingang.
Mandy, die ihre Bilder in hübsche Fotoalben mit Katzenmotiven eingeklebt hatte. Dreißig Jahre FKK-Urlaub an der Ostsee. Eine Studie über die unaufhaltsame Macht der Gravitationskraft. Beeindruckend. Aber auch beängstigend. Daran konnten auch der russische Zupfkuchen und ihr Pfefferminztee nichts ändern.
Lars, der mir auf seinem Tablet Hunderte Fotos von Lokomotiven zeigte, die er immer auf derselben Brücke am immer selben Ort zur immer gleichen Uhrzeit aufgenommen hatte. Dazu gab es Zuger Kirschtorte und Cola. Original aus dem Bordbistro. Das war ihm wichtig.
Alexander, der schon seit Jahren täglich Fotos von seinen Muttermalen machte und von mir wissen wollte, ob die sich verändert hatten. Hatten sie nicht. Glaube ich zumindest. Ab dem fünfzigsten Bild schaute ich nicht mehr so genau hin. Für mich sahen die alle gleich aus, und Kuchen gab es auch keinen. Aber das war eher die Ausnahme.
Es gab auch Rückschläge. Tina mit den Fotos von der Geburt ihres ersten Kindes.
Tina: »Bitte passen Sie mit dem Kaffee über der Tastatur auf. Ich habe die Bilder noch nirgendwo anders gesichert.«
Ich: »Keine Sorge, ich bin Profi!«
Sie: »WASHABENSIEGETAN?!«
Das war nur passiert, weil ich so zittern musste. Wegen des vielen Bluts und … Egal, Tina war jung. Da konnte sie noch ein Kind kriegen und neue Fotos machen lassen. Dann würde ich einfach wiederkommen. Sogar umsonst, denn ihr Rotweinkuchen war echt lecker.
In der Regel aber waren es Urlaubsbilder. Nach ein paar Wochen konnte ich die meisten Strände der Welt an winzigen Bildausschnitten erkennen: an der Farbe der Strandliegen, der Größe der Sandkörner, der Frisur der Sonnenbrillenverkäufer.
Ein typisches Kundengespräch verlief ungefähr so:
Ich: »Wo war das denn? Das sieht ja hübsch aus.«
Sie / Er: »Mallorca, da gibt es ja auch ruhige Ecken. Im Hinterland.«
Ich: »Und wer ist der reizende Mann / die bezaubernde Frau neben Ihnen?«
Sie / Er: »Das war …«
An der Stelle flossen oft Tränen. Klar, wären er oder sie noch da gewesen, hätte sie oder er mich nicht gebraucht. Für den Fall hatte ich Taschentücher dabei. Auch für mich, weil ich dann an Sandra denken musste. Manchmal weinten wir zusammen, bevor wir weiter Kuchen aßen und Kaffee tranken.
Ich verstand meine Klienten, und sie verstanden mich. Ich besaß Stammkunden und Laufkundschaft, die mir ihre Bilder unterwegs auf dem Handy zeigten.
Es war der perfekte Job.
Gut bezahlt, emotional befriedigend und ohne Gefahr, sich zu überarbeiten.
Nicht mal ein Jahr später hatte Look-a-lot Filialen in allen großen deutschen Städten, fünfhundertzwanzig Mitarbeiter und einen Firmensitz in der dreiundzwanzigsten Etage eines der Hochhäuser am Potsdamer Platz. Look-a-lot war der Name, den ich meiner Firma gegeben hatte. Ich mied die Zentrale mit ihren Glasbüros und ging lieber weiter bei fremden Leuten Bilder gucken. Das fand ich spannender, als Bilanzen zu prüfen. Die überließ ich anderen. Vor allem Schneider, der sich bei Look-a-lot ums Geschäftliche kümmerte. Wir waren kurz davor, mit der Firma ins Ausland zu expandieren …
… dann kam Gerhard.
Es ging um Urlaubsfotos. Falsch. Es ging ums Reden. Es ging immer ums Reden. Gerhard wohnte in einer Villa mit Garten in einem der schickeren Viertel Berlins. Auf dem Klingelschild stand »Professor Angermann«. Den Prof hatte er bei der Anfrage unterschlagen. Entweder war er bescheiden oder so eingebildet, dass er glaubte, darauf verzichten zu können. Ich tippte auf das Zweite, als ich den dicken E-Volvo in der Einfahrt sah.
Gerhard (Ende vierzig, leichter Bauchansatz, teurer Leinenanzug) hatte bereits alles vorbereitet. Es gab Latte macchiato (Nespresso), Schwarzwälder Torte (Coppenrath), und ein ultraflacher Laptop (Apple) stand auch schon auf dem Kirschholztisch bereit. Von der Küche konnte man über bodentiefe Fenster in den Garten schauen. Dort gab es einen Pool, der mit einer blauen Plane abgedeckt war, und auf dem Rasen standen Gartenmöbel, die so teuer aussahen, dass ich sie niemals draußen im Regen stehen lassen würde.
Als Gerhard den Rechner aufklappte, erschien auf dem Display ein Leuchtturm als Bildschirmhintergrund.
Da ahnte ich schon, dass es in die Bretagne gehen würde. Passte auch zu dem Volvo vor der Tür und den Gemälden, die an der Wand hingen: viel Wasser und tote Fische in Öl.
Mit einem forschen »Na, dann wollen wir mal …« eröffnete Gerhard die Show: Gerhard im Meer, Gerhard am Strand, Gerhard auf einem Felsen, Gerhard vor einem Hinkelstein, Gerhard mit einem Teller Garnelen, Gerhard in einem Segelboot, Gerhard im leichten Regen, Gerhard mit einem Hummer, Gerhard im starken Regen, Gerhard bei Ebbe, Gerhard vor einem Hünengrab, Gerhard bei Flut, Gerhard mit einem Glas Cidre, Gerhard vor einer alten Kirche, Gerhard in einer alten Kirche, Gerhard auf dem Markt, Gerhard mit einer Artischocke, Gerhard in Badehose, Gerhard im gestreiften Pullover, eine Frau vor einem Leuchtturm …
Ich: »Noch mal zurück bitte.«
Er: »Warum?«
Ja, warum eigentlich?
Genau konnte ich das nicht erklären. Es war so ein magischer Moment, wie man ihn zwischen Geburt und Tod höchstens ein oder zwei Mal erlebt.
Ich: »Wegen … wegen … wegen des Leuchtturms. Ich mag Leuchttürme.«
Die ganze Zeit hatte ich mich schon gewundert, wer die vielen Bilder geknipst hatte. Das musste die Frau vor dem Leuchtturm gewesen sein. Anfang vierzig, blondes Haar, deutsch, aber elegant.
Er: »Sie auch? Das ist aber auch wirklich ein wunderschönes Exemplar. Der steht in Ploumanac’h, direkt neben dem Haus von Eiffel.«
Gerhard wartete auf eine Reaktion. Ich reagierte aber nicht, sondern starrte weiter auf den Bildschirm.
Er: »Eiffel! Das ist der Architekt, der den Eiffelturm gebaut hat. Da gibt es übrigens auch einen bezaubernden Spazierweg an der Küste entlang. Die Leute dort nennen ihn Zöllnerpfad, weil …«
Ich: »Und die Dame auf dem Foto, ist das Madame Eiffel?«
Ich unterbrach Gerhard, weil mir der bezaubernde Zöllnerpfad entlang der Küste völlig egal war. Genauso wie der blöde Leuchtturm und das Haus von Eiffel.
Er: »Nein, das ist Karin. Wir fahren jedes Jahr nach Trégastel in Urlaub.«
Gerhard stockte.
Er: »Fuhren. Wir fuhren jedes Jahr nach Trégastel.«
Ich: »Ist sie tot?«
Es kann sein, dass ich erschrockener klang, als es angemessen gewesen wäre. Aber wenn man gerade jemanden gefunden hat, will man ihn nicht gleich wieder verlieren.
Er: »Ich wünschte, sie wäre es.«
Das sagte er ganz leise, sodass ich es kaum verstehen konnte. Ich holte die Taschentücher raus, und er erzählte mir die ganze Geschichte.
Ich beschränke mich auf die Eckdaten: Hochzeit vor zwanzig Jahren, drei Kinder, Bungalow gebaut, Trennung vor drei Monaten. Da war irgendwas mit einer Studentin. Gerhard blieb an der Stelle etwas vage. Karin zieht aus, nimmt die Kinder mit, lässt die Festplatte mit den Fotos da. Wahrscheinlich, weil da sowieso nur er drauf war.
Ich hörte gar nicht richtig hin. Ich hatte nur Augen für sie.
Es war Liebe auf den ersten Fotoblick. Nicht erklärbar, völlig idiotisch, total bescheuert.
Liebe eben.
Ich: »Trégastel?! Bezaubernd, umwerfend, großartig.«
Er: »Ja, das ist es. Da wird sie auch in diesem Sommer sein, nur um mich zu ärgern. Aber nicht mit mir. Der Ort gehört ihr schließlich nicht allein. Ich werde auch da sein. Ist mir völlig egal, dass sie unser altes Ferienhaus dort schon für sich gebucht hat. Zehn Jahre haben wir da gemeinsam Urlaub gemacht. Da kenn ich jede Fliesenfuge im Bad auswendig. Nehme ich halt ein anderes, gibt ja genug Hütten da. Oder baue gleich was Neues, ihr direkt vor die Nase. Da kann sie ihren Meerblick vergessen.«
Gerhard wischte über sein Tablet, als säße da ein dicker Brummer auf dem Display. Das nächste Bild erschien: Gerhard vor einem großen Felsen, der aussah wie ein Würfel.
Ich hatte das Gefühl, ich müsste irgendwas Unverfängliches sagen, um ihn zu beruhigen.
Ich: »War das auch in Trégastel?«
Er: »Ja, da liegen überall so riesige Steine im Meer rum. Die haben auch alle Namen: der Würfel, die Hexe, der König. Sollten Sie sich mal anschauen, ist wirklich hübsch dort. Mit dem Wagen sind Sie in sechzehn Stunden da. Ein Klacks.«
Ich: »Ich fahre kein Auto.«
Er: »Nehmen Sie halt den Zug, geht genauso schnell, und wenn Sie über Paris fahren, können Sie sich noch die Stadt ansehen. Warten Sie …«
Gerhard stand auf und kramte in einer Schublade. So eine, wie es sie in jeder Wohnung gibt. Bis oben vollgestopft mit alten Prospekten, Visitenkarten, Bonusheften. Es dauerte eine Weile, bis er gefunden hatte, wonach er suchte. Mit einer kleinen Karte in der Hand kam er zurück zum Sofa.
Gerhard: »In dem Hotel hier übernachten … haben wir immer übernachtet, also Karin und ich. Wenn wir in Paris waren. Liegt ganz in der Nähe vom Bahnhof Montparnasse. Da starten die Züge in die Bretagne.«
Ich steckte mir die Karte ein, ohne hinzuschauen. Das würde ich später tun.
Gerhard: »Von unseren Paris-Urlauben gibt es übrigens auch noch Fotos, warten Sie mal, die müssten hier irgendwo sein.«
Gerhard stöberte durch die Festplatte, dann ging es auch schon weiter: Gerhard vorm Eiffelturm, Gerhard vor dem Panthéon, Gerhard auf den Champs-Élysées, Gerhard in einem Straßencafé, vor sich einen Milchshake …
Ich: »Oh, das trinke ich auch gerne.«
Das war gelogen. In Wahrheit hasste ich Milchshakes. Aber ich hatte das Gefühl, mal wieder irgendwas sagen zu müssen. Man kann ja nicht immer nur nicken und zustimmende Brummlaute von sich geben.
Gerhard: »Eigentlich hatte ich einen Kaffee bestellt. Aber mein Französisch ist seit der Schule ein bisschen eingerostet. Karin spricht viel …«
Er brachte den Satz nicht zu Ende, sondern klickte schnell weiter: Gerhard vor Sacré-Cœur, Gerhard an der Seine, Gerhard vor dem Arc de Triomphe, Gerhard vor der Louvre-Pyramide, Gerhard im Moulin Rouge …
Karin tauchte auf den Bildern nicht mehr auf. Ich überlegte, ob es eine zweite Festplatte mit Fotos von ihr gab. Oder ob Gerhard die alle gelöscht hatte.
Nein, das traute ich ihm nicht zu. Es gab einfach keine von ihr, außer dem einen vor dem Leuchtturm.
Ich verstand, warum Karin ihn verlassen hatte. Was ich nicht verstand, war, warum sie es erst getan hatte, nachdem sich drei Terabyte Gerhard-Bilder auf diversen Festplatten angesammelt hatten.
Als er mich zwei Stunden später auszahlte und zur Tür brachte, sah ich ihr Foto an einer Pinnwand im Flur. Unscharf, pixelig, schwarz-weiß. Trotzdem erkannte ich sie sofort. Sie saß hinter dem Steuer, trug einen Pferdeschwanz und sah überrascht, nein, eher ertappt aus, als sie den Blitz der Radaranlage bemerkte. Wie ein kleines Mädchen, das beim Griff in die Süßigkeitenschublade erwischt wird. Ich kannte eine ganze Reihe solcher Fotos. Einer meiner Stammkunden zeigte mir jede Woche eine neue Aufnahme, und ich musste dann neugierig fragen: »Und? Wie schnell?«
Worauf er mir stolz irgendeine selbstmörderische Geschwindigkeit nannte.
Vielleicht hatte Gerhard das Bild dorthin gepinnt. Als stillen Vorwurf. Oder Karin hatte es selbst dort aufgehängt, weil es sonst nur so wenige Fotos von ihr gab.
Aber warum hatte sie es zurückgelassen?
Weil sie wusste, dass es ab jetzt mehr von ihr geben würde und sie es nicht mehr brauchte?
Ich wartete, bis Gerhard einen Moment abgelenkt war. Dann griff ich zu. Kurz darauf stand ich draußen auf der Straße und hatte einen Plan gefasst. Ich würde in die Bretagne fahren, da war ich noch nie gewesen. Und ich wusste auch schon, wo ich auf dem Weg dorthin in Paris übernachten würde.
Ich hatte noch einen Anschlusstermin in der Stadt. Deswegen konnte ich nicht direkt nach Hause fahren, um meinen Urlaub zu planen. Ich klingelte, aber es dauerte eine Weile, bis der Summer ertönte.
»Folgen Sie einfach dem Treppenlift«, rief eine Stimme von oben.
Der Lift führte mich in die dritte Etage, wo Frau Kauffmann (achtzig/eher neunzig, rosa getönte Haare, Rollator mit Klingel) mich schon ungeduldig erwartete. Sie war eine Neukundin. Eigentlich gab ich mir bei denen immer besonders viel Mühe. Aber heute war ich abgelenkt. Ich schaute kaum hin, als sie mir auf einem braunen Kachelcouchtisch die Fotos ihrer letzten Kreuzfahrt zeigte. Frau Kauffmann hatte ihre Bilder alle ausgedruckt, und die meisten besaßen einen leichten Rotstich. Was ein bisschen schade war, weil viele Schneefotos dabei waren.
Frau Kauffmann hatte ihre Bilder ganz altmodisch in ein Fotoalbum geklebt, auf dessen Deckel »Hurtigruten 2021« stand. Aus den Augenwinkeln sah ich in der Schrankwand gegenüber hinter Glas eine ganze Reihe ähnlicher Alben stehen. Auch auf denen stand Hurtigruten. Nur die Zahlen dahinter waren andere: 2005, 2006, 2007, 2008, 2010, 2011, 2012, 2013, 2014, 2015, 2016, 2017, 2018, 2019 und 2020. Wären meine Gedanken nicht die ganze Zeit bei Karin gewesen, hätte ich Frau Kauffmann bestimmt gefragt, was 2009 geschehen war. Aber ich ließ es. Ich nippte nicht mal an dem Hagebuttentee, den sie mir servierte, und probierte auch nicht ihre dänischen Kekse aus der runden blauen Metalldose. Ich hatte seit Beginn meines neuen Jobs sowieso schon zugenommen. Für die Bretagne würde ich abnehmen müssen. So wie ich jetzt aussah, konnte ich mich unmöglich in einer Badehose am Strand blicken lassen. Allerdings hatte ich gehört, dass es in der Bretagne ziemlich kalt war. Auch Gerhard hatte auf den Fotos meistens eine Jacke getragen. Sehr wahrscheinlich gab es gar keinen Anlass, mich am Strand auszuziehen, und ein weiter Pulli kaschierte meinen Bauch immer noch zuverlässig. So dick war ich nun auch wieder nicht.
Trotzdem ließ ich die Kekse lieber in der Dose und überlegte, ob es nicht sowieso klüger wäre, Karin hier in Berlin zu treffen, anstatt in der Bretagne auf sie zu warten.
Ganz zufällig natürlich.
Andererseits boten die Ferien Vorteile. Da ist man entspannter. Offener für Neues. Außerdem kannte ich ihre neue Adresse in Berlin nicht, und Gerhard würde sie mir kaum geben. Der hatte beim Abschied schon komisch geschaut. So, als hegte er einen vagen Verdacht. Aber das konnte auch am Sodbrennen von dem vielen Kaffee liegen, den wir zusammen getrunken hatten.
Frau Kauffmann unterbrach meine Gedanken, indem sie mir mit ihrem spitzen Zeigefinger schmerzhaft in die Seite stieß.
Sie: »Sie hören ja überhaupt nicht richtig zu!«
Ich: »Doch, doch, ich bin ganz bei Ihnen.«
Frau Kauffmann klappte das Album zu und schaute mich streng an. Als wäre ich ein Schüler, der im Unterricht nicht aufgepasst hatte.
Sie: »Was war auf den letzten Bildern drauf?«
Ich: »Ein Schiff?«
Die Wahrscheinlichkeit war ziemlich groß, dass bei Kreuzfahrtfotos auch ein Schiff zu sehen gewesen war.
Frau Kauffmann brummte unwirsch, offenbar hatte ich richtig geraten.
Sie: »Und sonst? Was war da sonst noch zu sehen?«
Ich hatte mir schon öfter Fotos von Hurtigruten-Touren anschauen müssen. Eigentlich gab es nur drei typische Motive auf der Kreuzfahrt: ein einsamer Fjord, eine kleine Stadt mit bunten Häuschen und Polarlichter. Aber die waren nur auf den Kreuzfahrtprospekten häufig. In der Realität gab es die eher selten. Also musste ich mich nur zwischen Fjord und Stadt entscheiden. Meine Chancen standen fifty-fifty, also eigentlich gar nicht mal so schlecht.
Ich: »Ein Fjord, da war ein Fjord. Ein ganz besonders schöner. Wo war das noch mal genau?«
Sie: »Ich habe doch gesagt, Sie gucken gar nicht richtig hin!«
Frau Kauffmann machte eine triumphierende Pause und schaute mich tadelnd an. Ich hatte schon vermutet, dass sie in ihrem frühen Leben irgendwo unterrichtet hatte. Wer, außer einer pensionsberechtigten Lehrerin, konnte sich jedes Jahr so eine Skandinavien-Kreuzfahrt leisten?
Sie: »Auf den Bildern war das Büfett!«
Mein Fehler!
Klar war es das Büfett.
Von nichts wurden auf Kreuzfahrten mehr Fotos gemacht als von überladenen Grillfleischtellern, gigantischen Fischschwarmplatten und ganzen Armeen bunt gefüllter Dessertschälchen. Das alles dekoriert mit durchsichtigen Skulpturen, die umgeschulte kanadische Holzfäller aus Eis geschnitzt hatten. Gerne Meerjungfrauen oder Meeresgötter mit Dreizack, deren Spitzen im Lauf des Abends dahinschmolzen und in die rote Grütze tropften. Kreuzfahrtschiffe rammten heute keine Eisberge mehr, die stellten sie einfach als Deko zwischen ihre Salatschüsseln. War ja auch viel sicherer so. Obwohl ich noch nie eine Kreuzfahrt gemacht hatte und auch nicht vorhatte, jemals in einer schwimmenden Kleinstadt meine Ferien zu verbringen, kannte ich die Bilder, weil ich schon Hunderte davon gesehen hatte.
Vom Büfett wurden mehr Fotos gemacht als von einsamen Fjorden oder bunten Städtchen zusammen.
Sie: »Mein Egon war viel aufmerksamer. Der hat wirklich hingeguckt und mir zugehört. Ich werde mich bei Ihrem Chef beschweren, und das Trinkgeld können Sie auch vergessen.«
Frau Kauffmann stellte das Album zurück ins Regal und räumte demonstrativ die Keksdose auf eine Anrichte. Da stand ein gerahmtes Foto von einem älteren Herrn, ebenfalls mit Rotstich. Über die rechte obere Ecke lief ein schwarzes Band. Da wusste ich, was 2009 geschehen war.
Ich würde ihr später einen Gutschein schicken lassen für ihr Hurtigruten-Album von 2022 und auch ihre Beschwerde persönlich beantworten. Sie hatte ja recht: Ich war nicht bei der Sache gewesen. Das war ich sonst immer, und das bewies nur, dass das mit Karin etwas Ernstes war.
Ich: »Ich gehe dann mal, Frau Hoffmann.«
Sie: »Kauffmann! Nicht Hoffmann!«
Dann stand ich auch schon draußen vor der Tür und machte mir eine Notiz: Ich würde ihr zwei Gutscheine schicken. Für ihre Hurtigruten-Tour 2023 gleich mit.
Ich folgte der Spur des Treppenlifts nach unten. Als ich auf die Straße trat, beugte sich Frau Kauffmann weit aus dem Fenster und zeigte auf die Plakatwand auf der Straßenseite gegenüber.
Sie: »Und überhaupt! So wie der sehen Sie gar nicht aus, da war mein Egon mit siebzig noch hübscher als Sie.«
Dann knallte sie das Fenster zu, und ich starrte auf das Plakat. Der Mann war wirklich attraktiver als ich. Das mit der Plakatwerbung für Look-a-lot war Schneiders Idee gewesen. Falsch. Die Idee der Agentur, die Schneider beauftragt hatte. Ich hatte mir eine Kampagne vorgestellt, in der ich gemeinsam mit einer netten alten Dame wie Frau Kauffmann durch ein altes Fotoalbum blättere. Musste ja nicht unbedingt eine Hurtigruten-Kreuzfahrt sein. Eher Kinderbilder vorm Weihnachtsbaum oder der erste Urlaub in Italien. Das alles gerne in Schwarz-Weiß.
Meine Idee war in dem Agentur-Meeting in weniger als einer Minute vom Tisch. Ich war zu alt, um gut auszusehen, und noch nicht alt genug, um Vertrauen zu erwecken. Stattdessen hingen jetzt überall in der Stadt diese jungen Models. Sie beugten sich mit ihren Klienten über deren Tablets oder Fotoalben und brachten dabei wahlweise ihre Dekolletés oder ihre Bizepse vorteilhaft zur Geltung. Nur der Spruch darunter »Deine Fotos, so attraktiv wie du« verriet, dass es keine Parship-Werbung war.
Seit den Plakaten hatten sich unsere Aufträge verdoppelt, und ich konnte schon verstehen, dass die gute Frau Kauffmann ein wenig enttäuscht von mir gewesen war.
Immerhin würde Karin mich in der Bretagne jetzt nicht sofort erkennen, weil sie mich in XXXXL auf Hunderten von Plakatwänden gesehen hatte.
Wer weiß, wozu es gut ist.
Einer der Lieblingssprüche meiner Mutter. Trotzdem hatte ich mich damals über Schneider und seine Agentur geärgert.
Schneider. Bei dem musste ich noch vorbeischauen und Bescheid sagen, dass ich für ein paar Wochen weg war. Selbst als Chef. Das gehörte sich einfach so. Außerdem war ich schon lange nicht mehr im Büro gewesen. Da wollte ich mich vor meiner Abreise wenigstens kurz im dreiundzwanzigsten Stock blicken lassen.
Ich fuhr mit dem Aufzug nach oben, gab den Zahlencode am Eingang ein und … nichts.
Das gewohnte Summen blieb aus. Ich probierte es noch einmal. Wieder nichts. Es gab nicht mal einen dieser fiesen hohen Töne, die einen darauf hinweisen sollen, dass man sich vertippt hatte.
Hatte ich auch nicht. Ganz sicher nicht. Trotzdem versuchte ich es ein drittes Mal. Wieder erfolglos.
Ich klingelte, und endlich öffnete sich die Tür. Hinter einem hohen Pult erwartete mich eine Frau (Anfang zwanzig, blond gefärbte Haare, krallenartige Fingernägel). Bei meinem letzten Besuch hatte es den Empfang und die Dame dahinter noch nicht gegeben.
Sie: »Einen schönen Tag. Haben Sie einen Termin?«
Ich: »Nee, aber ich bin …«
Bevor ich zu Ende sprechen konnte, kam Schneider (Mitte dreißig, karierter Anzug, Dreitagebart) den Flur entlanggerannt und streckte mir seine Hand entgegen.
Schneider: »Das geht schon in Ordnung, Sonja. Der Mann hat access to all areas.«
Schneider schüttelte mir die Hand, kräftig, packte mich an der Schulter und schob mich den Gang entlang. Ohne Sonja zu erklären, wer ich war. Unterwegs kamen mir weitere junge Männer und Frauen entgegen, die ich noch nie gesehen hatte, die aber alle unglaublich smart und erfolgreich wirkten. Genau wie Schneider trugen alle Headsets. Einige redeten, während sie liefen. Andere tippten auf ihren Handys rum.
Ich: »Wer sind all die Leute, und wer ist Sonja? Und wer zum Teufel hat den Code an der Tür geändert?«
Schneider antwortete nicht, sondern klopfte mir beruhigend auf die Schulter, bog am Ende des Flurs rechts ab und manövrierte mich in sein Büro, wo er mich auf den Sessel vor dem Schreibtisch drückte, während er es sich auf der anderen, der wichtigen Seite bequem machte.
Ich: »Und überhaupt, wieso gehen wir nicht in mein Büro?«
Schneider: »Wir haben expandiert und umstrukturiert, das tun wir eigentlich ständig. Kernkompetenzen stärken, Markenkern definieren, Zielgruppen analysieren, das Übliche halt. Dafür brauchten wir dein Büro. Du bist ja eh nie da. Das letzte Mal ist mindestens zwei Monate her. Und Sonja schmeißt den Empfang, den brauchten wir ganz dringend. Sieht einfach seriöser aus.«
Ich: »Zwei Monate?!«
Mir war es viel kürzer vorgekommen.
Er: »Vor einem halben Jahr war das ja noch gar nicht skalierbar, wie die Firma performen würde. Aber jetzt sind wir am Point of no Return und können ultimativ abliefern, und das werden wir auch in the Future tun.«
So sprach er immer. Ich verstand kein Wort. Brauchte ich auch nicht, dafür hatte ich ihn ja eingestellt. Damit er sich um die Geschäfte kümmert. Und ich es mir leisten konnte, zwei Monate lang nicht hier sein zu müssen.
Ich: »Aber von den Leuten hier mit Headset guckt doch keiner Fotos, oder?«
Schneider: »Doch, doch, aber das läuft quasi nebenbei. Wir haben jetzt auch Zoom-Angebote im Programm. Hier, schau mal.«
Schneider drehte seinen Monitor so, dass ich den Bildschirm sehen konnte: Strand. Ibiza. Ich erkannte einen der Sonnenbrillenverkäufer an seiner Mütze von anderen Urlaubsfotos wieder.
Er: »Wunderbar, ganz wunderbar, Herr Beckstein. Das ist ja traumhaft schön da in Gomera.«
Schneider hatte einen Knopf auf seinem Headset gedrückt, um sich in dem Zoom-Meeting mit Herrn Beckstein kurz zu Wort zu melden. Dabei griff er in eine blaue Metalldose mit dänischen Keksen. Es war dieselbe Sorte, die mir auch Frau Kauffmann angeboten hatte.
Ich: »Ibiza.«
Ich flüsterte, damit Herr Beckstein mich nicht hören konnte.
Schneider schaute mich überrascht an, reagierte dann aber schnell, während er gleichzeitig seinen Keks hinunterschluckte.
Schneider: »Ibiza, entschuldigen Sie. Klar, das ist ja Ibiza. Sieht man ja, hatten Sie ja auch gesagt und ist auch viel schöner da als auf Gomera. Da beneide ich Sie um die Zeit dort, echt jetzt.«
Dann drehte er den Bildschirm wieder weg, drückte auf den Aus-Knopf seines Headsets und hustete, weil er sich an den Kekskrümeln verschluckt hatte und Husten musste.
Er: »Das ist die Zukunft! Das läuft bald alles nur noch digital und ganz ohne Face-to-Face-Communication. Corona war nicht nur schlecht, das hat uns in der Beziehung ganz weit nach vorne gebracht. Und weißt du, was der Vorteil daran ist?«
Ich schüttelte den Kopf, weil ich es wirklich nicht wusste.
»Dann können auch Inder oder Chinesen von zu Hause aus für uns arbeiten. Ist ja auch viel billiger. Und danach kommt der nächste heiße Scheiß!«
Schneider schaute mich an und wartete auf eine Reaktion. Genau wie Gerhard heute Morgen. Ich hatte keine Ahnung, was der nächste heiße Scheiß sein sollte, und zuckte mit den Schultern.
Er: »Bots! Die kosten uns dann gar nichts mehr, und die paar Phrasen, die es braucht, um die Leute glücklich zu machen, haben wir denen ganz schnell draufprogrammiert: Schön da! Wäre ich auch gerne! Toller Sonnenuntergang!«
Mir gefiel das nicht. Mir gefiel das ganz und gar nicht. Aber darum ging es jetzt nicht.
Ich: »Ich bin für ein paar Wochen weg.«
Er: »Okay.«
Ich: »Könnte auch etwas länger werden, kann ich noch nicht sagen.«
Er: »Okay.«
Was hatte ich erwartet?
Ich war der Chef, und wenn ich ein paar Wochen oder Monate Urlaub haben wollte, brauchte ich dafür keinen Antrag zu stellen. Ich hatte ja Schneider, damit der Laden lief.
Ich war schon fast wieder draußen, da rief er mich noch mal zurück, weil ich irgendwelche Dokumente unterschreiben sollte.
Er: »Nur Papierkram, nichts Wichtiges.«
Ich: »Wo?«
Schneider tippte mit einem Stift auf eine Linie ganz unten auf einem Blatt Papier. Genau gesagt waren es fünf Unterschriften auf fünf verschiedenen Blättern. Als ich fertig war, schob er mir die Dose mit den Keksen rüber.
Er: »Einen Keks für die Fahrt?«
Ich schüttelte den Kopf und ging.
Er: »Schöner Urlaub.«
Ich wollte mich bedanken. Erst da bemerkte ich, dass Schneider gar nicht mit mir sprach, sondern sich wieder in seinen Zoom-Termin eingeklickt hatte.
»Du spinnst! Das ist totaler Wahnsinn! Das ist, als wenn du nach Frankreich fahren würdest, um da die Mona Lisa zu daten!«
Anouk (Mitte zwanzig, Nasenpiercing, kurze Haare) ist meine Nichte und bei mir eingezogen, weil sie im ersten Semester ihres Studiums hier in Berlin kein WG-Zimmer gefunden hatte. Jetzt war sie im zehnten, wohnte immer noch bei mir, und ich hatte bis heute keine Ahnung, was sie überhaupt studierte. Irgendwas mit Umwelt, Wirtschaft, Jura, Marketing, und ein bisschen Design war wohl auch noch mit dabei.
Um ihr BAföG aufzubessern, nahm sie Aufträge für Look-a-lot an. Manchmal kam sie ganz beglückt nach Hause, weil sie auf den alten Bildern im Hintergrund Sachen entdeckt hatte, die es heute nicht mehr gab. Von manchen war sie total begeistert, von anderen total entsetzt. Pferdemetzgereien, Telefone mit Wählscheiben UND Spiralkabeln, Mett-Igel.
Von ihren Kunden erzählte sie nie etwas. Anouk interessierte sich mehr für Dinge und Tiere als für Menschen. Deswegen verstand sie auch die Sache mit Karin nicht.
Ich: »Die Mona Lisa ist in Paris, nicht in der Bretagne. Außerdem ist das nur ein Bild.«
Anouk: »Dasda ist auch nur ein Bild und nicht mal ein besonders gutes. Das sieht eher aus wie das alte Ultraschallfoto von mir, das Mama gerahmt hat und das immer noch bei uns im Wohnzimmer hängt.«
Das war gelogen. Anouks Ultraschallbild hatte nichts, aber auch gar nichts mit Karins Blitzerfoto zu tun. Ich hatte ihr Foto mit einem Magneten (ein roter Hummer, dessen Plastikfühler wippten, das war beinahe schon prophetisch, aber davon ahnte ich damals noch nichts) an meinen Kühlschrank geheftet.
Meiner, weil wir neuerdings zwei davon hatten. Anouk wollte nicht, dass sich mein Schnitzel und ihr Tofu dieselbe Kälte teilten. Dabei aß ich wegen ihrer vorwurfsvollen Blicke schon seit einiger Zeit so gut wie kein Fleisch mehr und wenn, dann nur, um sie zu ärgern.
Ich: »Das kann man doch überhaupt nicht vergleichen!«
Sie: »Stimmt, die Mona Lisa ist hübscher, und die rast auch nicht unverantwortlich mit hundertfünfzig durch die Straßen. Was da alles passieren kann! Deine Unbekannte …«
Ich: »… heißt Karin.«
Sie: »… deine Karin sollte lieber mit dem Fahrrad fahren, ist sowieso besser für die Umwelt.«
Ich: »Eure Generation hat einfach keinen Sinn für Romantik.«
Sie: »Bretagne? Romantik? Dein Ernst? Wenn es wenigstens Venedig wäre oder Rom oder Nizza. Da ist es immerhin warm.«
Ich: »Das wird noch böse enden mit euch. Schnöde Pragmatiker seid ihr, alle miteinander.«
»Schnöde Pragmatiker« ist das schlimmste Schimpfwort, das ich mir vorstellen kann. Ich war nie pragmatisch gewesen, mein ganzes Leben nicht. Auch die Sache mit dem Bildergucken war ja eher eine spontane Idee gewesen. Ohne dass ich geplant oder geahnt hätte, dass das später irgendwann mit einem Büro im dreiundzwanzigsten Stock eines Hauses am Potsdamer Platz enden würde.
Ich: »Immerhin hast du die Wohnung dann eine Zeit lang für dich allein, wenn ich weg bin.«
Weil es mit der Romantik nicht klappte, versuchte ich, an ihren Pragmatismus zu appellieren. Das funktionierte eigentlich immer. Anouk beugte sich über das Bild und betrachtete es lange.
Sie: »Ein bisschen dunkel. Bei Tag ist sie wahrscheinlich wirklich ganz hübsch.«
Ich: »Die Aufnahme wurde nachts gemacht.«
Sie: »Das erklärt es natürlich. Dafür kriegt sie mildernde Umstände. Nachts sind wenigstens nicht so viele Leute unterwegs. Da ist es nicht ganz so schlimm, wenn sie mit hundertfünfzig durch eine Spielstraße rast.«
Ich: »Das war keine Spielstraße!«
Sie: »Woher willst du das wissen?«
Ich: »Wäre es eine gewesen, wäre sie nicht gerast.«
Zugegeben, meine Argumentation war ein wenig schwach. Deswegen musste ich noch einen weiteren Köder auswerfen.
Ich: »Ich kann auch gar nicht sagen, wie lang ich weg sein werde. Könnte den ganzen Sommer dauern.«
Sie: »Du hast recht, das sieht tatsächlich nicht nach einer Spielstraße aus. Eher Landstraße oder Autobahn.«
Ich wusste, dass ich mich auf ihren Pragmatismus verlassen konnte. Wenn ich weg war, würde sie die ganze Wohnung mit weiteren Kühlklimakillern vollstellen können. Für jede Gemüsesorte einen.
Sie: »Sonst sieht sie eigentlich ganz nett aus, und es gibt ja eine Menge Leute, also ältere, die für die Bretagne schwärmen. Fahr, sonst wirst du es vielleicht irgendwann bereuen.«
Der letzte Satz klang ein bisschen zu alt für sie. Wahrscheinlich hatte sie den bei ihrer Mutter aufgeschnappt. Mir war es egal, ich hatte zu tun: Fahrkarten kaufen, eine Unterkunft besorgen, Koffer packen, Ferienlektüre aussuchen. Was man halt so macht, wenn man verreisen will.
Ich ging in mein Zimmer und durchsuchte das Internet nach Spuren von Karin. Aber offenbar hatte sie bei der Heirat ihren Mädchennamen behalten. Unter Karin Angermann fand ich keinen einzigen Eintrag. Zu Gerhard gab es Tausende. Selbst über mich existierten im Netz zahlreiche Treffer, nachdem die Presse zu Beginn durchaus wohlwollend über meine Firma berichtet hatte. Schlagzeile: Guter Blick und gute Worte.
Weil ich über Karin nichts fand, suchte ich nach diesem Trégastel, von dem Gerhard gesprochen hatte. Der Ort sah hübsch aus. Ich konnte verstehen, warum Gerhard und Karin da regelmäßig hinfuhren. Viele der Motive kamen mir bekannt vor. Die hatte ich schon bei Gerhard auf dem Computer gesehen. Jetzt, ohne Gerhard davor, sahen sie sogar noch hübscher aus. Auch der riesige Felswürfel und sogar das Haus von Eiffel tauchten oben in der Bildersuche auf. Die Gegend nannte sich Côte de Granit Rose, obwohl die Felsen auf mich überhaupt nicht rosa wirkten. Da hätte es schon den Rotstich von Frau Kauffmanns Fotolabor bedurft, damit die Bezeichnung auch nur annähernd zutraf.