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Nur 300 Kilometer – ein Roadmovie der besonderen Art
Ein Flip-Flop verändert Carls Leben. Der Schuh triff ihn am Kopf, als er in einem hässlichen Strandrolli an der Ostsee steht. Carl verbringt dort mit seiner Mutter die Sommerferien, obwohl er lieber in einem Rollstuhlskater-Camp wäre. Der Flip-Flop gehört der gleichaltrigen Fee. Sie stürmt in Carls Leben wie ein Taifun, ein Orkan, ein Tornado. Alles auf einmal. Als Fee erfährt, dass Carls Verhältnis zu seinem Vater seit seinem Unfall gestört ist, überredet sie Carl, ihn in Berlin zu besuchen … sind ja nur 300 Kilometer.
Unterwegs wird Carl klar, dass Fee noch ein ganz anderes Ziel verfolgt und in eigener Mission eigentlich nur die Ex-Kanzlerin treffen will. Die kennt sein Vater, weil er früher ihr Chauffeur war. Aber da sind die beiden schon mittendrin in ihrem Rolli-Roadtrip in Richtung Hauptstadt ...
Ein Roadmovie der besonderen Art mit dem starken Thema Inklusion – feinfühlig, unterhaltsam und mit viel Leichtigkeit erzählt
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Seitenzahl: 253
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© 2023 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der
Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Christiane Rittershausen
Coverillustration und -gestaltung: Geviert, Grafik & Typografie
aw · Herstellung: AJ
E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-30004-3V001
www.cbj-verlag.de
Mein Name ist Carl und ich vermisse meinen Vater.
Mehr gibt es über mich nicht zu sagen.
»Spinnst du? Das ist totaler Quallenquatsch, den du da erzählst. Über jeden Menschen gibt es mehr als nur einen Satz zu sagen und über dich könnte ich ganze Bücher schreiben.«
»Weil ich im Rollstuhl sitze?«
»Es geht doch nicht immer nur um deinen Rolli! Ohne dich wären wir nie zur Kanzlerin gefahren. Echt, ich fasse es nicht! Du bist so ein Idiot!«
»Ex-Kanzlerin.«
»Was?!«
»Sie ist nicht mehr Kanzlerin, sie ist Ex-Kanzlerin.«
»Und ein alter Klugscheißer bist du auch, Carlchen-Schlau. Hat dir das schon mal jemand gesagt?!«
»Schon öfters.«
»Dann ist ja gut.«
Das war Fee. Dabei ist sie in der Geschichte noch gar nicht dran. Sie taucht hier erst viel später auf, irgendwann nach der Einleitung. Das habe ich in der Schule gelernt. Jede gute Geschichte hat eine Einleitung, einen Mittelteil mit einer dramatischen Wendung und ein Ende, in dem alles aufgelöst wird.
Aber hey, das hier ist kein Buch. Das ist mein Leben, und das hält sich nicht an die Regeln, die sie uns in Deutsch beigebracht haben.
Hat es nie, wird es nie.
Und deswegen begann alles auch gleich schon am Anfang mit einer dramatischen Wendung. Und zwar genau in dem Augenblick, als meine Mutter in mein Zimmer kam und fröhlich verkündete: »In diesem Jahr machen wir Urlaub an der Ostsee. Das wird super, glaub mir!«
Nee, habe ich ihr nicht geglaubt.
Schon mal diese Strand-Rollstühle gesehen? Riesige Teile mit gigantisch großen Plastikrädern? Die brüllen geradezu: Hey, alle mal herschauen! Hier ist einer, der nicht laufen kann!
Die fetten Räder haben die gleiche Warnfarbe wie diese Dinger, die den Schiffen sagen, wo sie langschippern sollen. Nein, keine Leuchttürme, die anderen, die … die …
Augenblick, ich komm gleich drauf, wie die heißen.
Diese Strandrollis sehen fast so aus wie der Wagen, mit dem die Astronauten damals über den Mond gekurvt sind.
Nur in uncool.
Keine Ahnung, warum es die Teile nicht auch in schön gibt, denn die braucht man am Strand, weil die dünnen Reifen eines normalen Rollis im Sand einsinken. Da kommt man nicht voran. Und zurück auch nicht. Was ziemlich blöd ist, wenn die Flut kommt.
Um es kurz zu machen: Ich war überhaupt nicht begeistert davon, in den Ferien ans Meer zu fahren. Nicht mal an die Ostsee, obwohl es da überhaupt keine Flut gibt.
Boje! Das Wort, das ich vorhin gesucht habe, ist Boje, und es wäre schon toll, wenn es so etwas auch für mich geben würde. Damit ich immer weiß, wo es langgeht. Meistens weiß ich das nämlich nicht so genau, und da wäre so eine Boje in meinem Leben echt eine super Sache.
Können auch gerne ein paar mehr sein.
Ich sitze im Auto auf dem Beifahrersitz. Meine Mutter hat das Radio angemacht und singt laut bei den Songs mit, die da laufen. Sehr laut. Das macht sie immer. Obwohl sie gar nicht singen kann. Aber das stört sie nicht. Sie hört das ja auch nicht. Das tu nur ich und das ist nicht schön.
Echt nicht.
»Hörst du?! Die spielen deine Playlist«, sagt sie. »Eben lief Rolling in the deep und jetzt Roll over Beethoven.«
Sie lacht, aber das ist nicht böse gemeint. Sie will mich auch zum Lachen bringen, obwohl mir überhaupt nicht zum Lachen ist.
Vielleicht gerade deswegen.
»Das ist nicht komisch«, erwidere ich.
»Ein bisschen schon. Pass auf, als Nächstes spielen sie bestimmt Haftbefehl.«
Meine Mutter fängt wieder an zu singen: »Denn ich rolle mit mei’m Besten. Ich und er sind jederzeit bereit für Action.«
Dazwischen macht sie Geräusche, die wahrscheinlich eine Beatbox imitieren sollen. Für mich klingt es eher nach brüllenden Kühen, die schon viel zu lange nicht gemolken wurden.
»Du wirst sehen, das wird toll«, sagt meine Mutter, nachdem sie ihr peinliches Rap-Solo beendet hat. »Der Wetterbericht für die nächsten beiden Wochen ist super und zum Strand sind es nur ein paar Minuten.«
Im selben Moment muss sie scharf bremsen, weil vor ihr ein anderer Wagen gebremst hat. Mich drückt es in die Sicherheitsgurte und plötzlich sind die alten Bilder wieder da. Aber nur ganz kurz, dann ist alles wieder normal. Der Verkehr auf der Autobahn und ich auch.
»Können wir uns nicht einfach ein paar schöne Tage machen? Nur du und ich?«, fragt meine Mutter und schaut zu mir rüber. »Wir haben doch sonst kaum Zeit füreinander, wenn ich arbeiten muss. Und du bist auch kaum da, sondern ständig unterwegs.«
Sie sieht müde aus, aber ich bin noch nicht in der Stimmung für gute Stimmung. Deswegen antworte ich: »Ich wäre lieber mit den anderen ins Camp gefahren.«
»Und ich nach Kalifornien. Waffenstillstand?«
»Kommt Papa?«
»Er hat’s versprochen, sind ja nur knapp drei Stunden mit dem Auto.«
»Papa fährt kein Auto mehr.«
»Dann soll er halt den Zug nehmen.« Meine Mutter klingt genervt, das tut sie immer, wenn wir über Papa reden.
Wir halten an der Tankstelle einer Autobahnraststätte. Sogar durch die geschlossenen Türen riecht es nach Benzin. Ich sitze allein im Auto, weil meine Mutter bezahlen ist und es zu umständlich gewesen wäre, dafür meinen Rollstuhl aus- und wieder zusammenzuklappen.
Meine Stimmung ist genauso mies wie vorhin. Weil ich lieber mit den anderen in das Rollstuhl-Skate-Camp in Bayern gefahren wäre. Das ist mein Hobby, auch wenn ich nicht besonders gut darin bin. Einen Salto schaffe ich nicht, werde ich nie, aber ein paar coole Moves und Slides kriege ich schon hin. Nicht immer, aber manchmal, und nach dem Camp hätte es bestimmt öfter geklappt als vorher.
Neben unserem kommt ein Wagen zum Stehen. Ein Mann steigt aus und aus dem Rückfenster starrt mich ein kleines Mädchen an. Sie lacht und winkt. Aber weil ich immer noch so schlecht drauf bin, verziehe ich mein Gesicht zu einer Furcht einflößenden Grimasse.
Das kann ich echt gut.
Das Mädchen erschrickt und fängt an zu weinen, da macht ihr Papa ihr auch schon die Tür auf. Er greift in den Wagen und holt für sie zwei Krücken heraus, weil sie offenbar auch nicht richtig laufen kann.
Sofort tut mir das mit der Grimasse leid, aber weil die Autoscheibe klemmt, kann ich mich nicht entschuldigen.
Alles, was ich schaffe, ist, eine unbeholfene Geste zu machen: Sorry.
Aber die sieht das Mädchen nicht, und als ich das Fenster endlich geöffnet habe, ist sie mit ihrem Vater schon Richtung Toiletten verschwunden.
Ich fühle mich furchtbar, und das wird auch nicht besser, als meine Mutter wieder einsteigt und mir einen Schokoriegel in den Schoß wirft.
Den Rest der Fahrt passiert nicht mehr viel. Wir reden kaum und meine Mutter hat sogar das Singen aufgegeben. Weil die Landschaft draußen immer flacher und langweiliger wird, hole ich mein Smartphone raus. Es gibt eine Nachricht von den anderen aus dem Camp. Sie haben sogar ein Video gemacht, auf dem sie ihre neuesten Tricks zeigen. Hinter ihnen erkennt man die Alpen und der Himmel sieht aus wie aus einem Tourismus-Prospekt. Blau mit nur ein paar weißen Wölkchen, die aber garantiert keinen Regen bringen. Hier ist es eher grau und nass, und der einzige Berg, an dem wir vorbeifahren, ist eine Müllkippe.
Ich wechsle von der Nachrichten-App in mein Videoarchiv, weil meine Laune sonst nur noch schlechter würde. Ich brauche jetzt was Beruhigendes, und deswegen scrolle ich zu den alten Filmen, auf denen auch mein Vater noch mit drauf ist. Er und ich liegen am Strand und er kitzelt mich. Das war vor dem Unfall. Auf dem Video bin ich ungefähr sieben, also etwa fünf Jahre jünger als heute. Meine Mutter hat das damals gefilmt, das weiß ich, weil sie uns zuruft, dass wir in die Kamera gucken sollen. Aber das geht nicht, dazu muss ich viel zu sehr lachen. Irgendwann fängt meine Mutter an, meinen Vater zu kitzeln. Die Kamera immer noch in der Hand. Auf dem Bildschirm ist ein furchtbares Kuddelmuddel aus Armen und Beinen. Wir lachen, giggeln und kichern alle durcheinander. Auch Papa, obwohl wir alle auf ihm draufliegen. Aber damals waren wir noch nicht so schwer, ich nicht, weil ich da ja noch klein war, und Mama auch nicht.
Irgendwann brüllt einer von uns: »Achtung, die Flut kommt!«, und das beweist, dass das Video nicht an der blöden Ostsee aufgenommen wurde, sondern irgendwo an einem richtigen Meer.
Mama hat natürlich mitbekommen, was ich mir anschaue. Sie sagt aber kein Wort, sondern starrt einfach weiter auf die Spur vor ihr. Ich vermeide es, sie anzuschauen. Aber selbst von der Seite erkenne ich, wie müde sie aussieht, und da tut sie mir leid.
»Und das Haus ist wirklich ganz in der Nähe vom Strand?«, frage ich, und das kann man durchaus als Friedensangebot verstehen.
»Mit deinem Feuerstuhl schaffst du das bestimmt sogar in unter fünf Minuten«, erwidert sie. »Ich habe ewig gesucht, um was Passendes für dich …« Sie stoppt kurz, bevor sie weiterspricht. »… für uns zu finden. Das Haus ist komplett barrierefrei, stand auf der Webseite. Und es gibt sogar einen kleinen Skaterpark.«
»Skatepark, nicht Skaterpark«, verbessere ich sie.
»Ist doch völlig egal, wie das Ding heißt. Hauptsache, er ist so nah, dass du da sogar allein hinfahren kannst. Ich bemühe mich, Carl. Echt!«
Im selben Augenblick werden wir rechts von vier Trike-Fahrern überholt. Sie zeigen uns den Mittelfinger, weil Mama konstant auf der Überholspur unterwegs ist, obwohl die ganze Autobahn frei ist.
Ich erwidere den Gruß angemessen, aber Mama winkt einfach freundlich zurück. Auf einem der Trikes ist hinten ein zusammengeklappter Rollstuhl befestigt, und da finde ich die Trike-Rocker plötzlich gar nicht mehr so bescheuert wie gerade eben noch.
Dann sind sie auch schon an uns vorbei und am linken Straßenrand taucht ein Schild mit der Aufschrift Rostock auf.
»Müssen wir hier nicht raus?«, frage ich.
»Wo?«
»Na hier! Autobahnkreuz Rostock.«
»Stimmt, wenn ich dich nicht hätte.« Meine Mutter zieht über die beiden Fahrstreifen nach rechts, um unsere Ausfahrt nicht zu verpassen. Hinter uns ertönt lautes Hupen, doch das ist ihr egal.
Mir nicht.
»Nicht mehr lange, wenn du so weiterrast!«, brülle ich und halte mich an dem Türgriff fest, weil meine Mutter viel zu schnell in die viel zu enge Kurve der Autobahnausfahrt fährt.
Der Rest der Strecke ist dann noch trostloser. Eine endlose Allee folgt auf die nächste. Bäume links, Bäume rechts, Bäume vor uns, Bäume hinter uns – und dazwischen in regelmäßigen Abständen kleine Holzkreuze, neben denen Blumen, Kerzen oder Stofftiere liegen. Überall, wo die Kreuze stehen, haben auch die Bäume eine Macke. Mal fehlt ein Stück Rinde, mal sind da richtige Dellen im Stamm.
Weil meine Mutter so schnell fährt, kann ich die Namen auf den Kreuzen nicht lesen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass die nicht Heinz, Hertha oder Hermann lauten, sondern Justin, Jaqueline oder Jasmin. Also eher junge Leute, die sich hier totgefahren haben, und im Gegensatz zu denen habe ich damals echt Glück gehabt.
Aus lauter Langeweile zähle ich die Kreuze am Straßenrand, und als ich bei fünfunddreißig bin, sagt meine Mutter: »Heute Abend schauen wir uns am Strand den Sonnenuntergang an. Da gibt es einen Steg, der aufs Meer rausführt. Auf den Bildern sah der riesig aus.«
»Falls wir jemals da ankommen«, erwidere ich, als wir an Kreuz Nummer sechsunddreißig vorbeifahren.
»Wieso sollten wir nicht?«
»Weil du viel zu schnell fährst«, rufe ich. »Wenn du so weiterrast, sind wir bald Nummer siebenunddreißig und achtunddreißig.«
Meine Mutter schaut mich verständnislos an, und ich muss ihren Kopf sanft Richtung Straße drehen, damit sie den Wagen nicht wirklich an einen der vielen Bäume setzt. »Papa fährt viel vorsichtiger.«
»Deswegen bist du ja auch …«
Sie bricht mitten im Satz ab und sagt kein Wort mehr.
Ich auch nicht.
Wir schweigen beide, bis wir endlich unser Ferienhaus erreicht haben, und auch dann ist das Einzige, was mir einfällt: »Ach du heilige Scheiße!«
Meine Mutter hat den Wagen am Ende einer sandigen Einbahnstraße geparkt.
Eine Allee.
Was sonst?
Das Ferienhaus vor uns ist aus Holz und irgendwann war es mal grün. Vermute ich. So genau ist das nicht zu erkennen, weil überall die Farbe abblättert. Es hat zwei Etagen, und zum Eingang geht es eine kleine Treppe rauf, weil sich vor der Tür eine Veranda mit einem morschen Geländer befindet. Es fehlen ein paar Sprossen, und ich würde mich da niemals anlehnen, selbst wenn ich könnte. Das Glas von zwei Fenstern hat einen Sprung, und einer davon ist mit durchsichtigem Klebeband repariert worden.
Wir sitzen im Wagen und starren durch die Windschutzscheibe das Haus an. Als würden wir beide darauf warten, dass es vor unseren Augen in sich zusammenfällt.
Tut es aber nicht.
Noch nicht.
Ist aber nur eine Frage der Zeit.
»Sieht doch ganz hübsch aus«, sagt meine Mutter, aber das findet sie nicht wirklich. Das kann ich hören. Eltern müssen halt immer so tun, als wäre alles okay. Auch wenn es das nicht ist. Das kennt jeder und ich kenn das seit zwei Jahren noch besser als andere.
»Klar, sieht echt super aus«, erwidere ich und schiebe nach einer kurzen Pause hinterher: »Wenn man auf Bruchbuden steht.«
»Im Internet wirkte es irgendwie …« Meine Mutter sucht nach dem richtigen Wort. Einem, das die Situation nicht noch schlimmer macht. »… neuer.«
»Von wann waren denn die Fotos? Letztes Jahrhundert?«
»Älter, ich hatte ja extra noch den Katalog bestellt, und da waren der Text und die Bilder in Steintafeln geritzt. Der Paketbote hat sich tierisch beschwert, als er uns den gebracht hat«, antwortet sie und grinst. Und da muss ich dann doch grinsen, obwohl ich eigentlich sauer sein will.
Wegen dieser Bruchbude, in der wir die nächsten zwei Wochen an der blöden Ostsee verbringen werden, während meine Freunde ihre Ferien in einem schicken Hotel irgendwo in den Bergen genießen. Da gibt es bestimmt keine Veranda, die ich mit dem Rolli nicht hochkomme. Da ist alles auf dem neuesten Stand und komplett barrierefrei.
Hier ist es eher so barrierevoll.
»Guck mal, es gibt sogar einen Aufzug für dich.« Meine Mutter zeigt auf so eine Art Treppenlift neben den Stufen, die zur Veranda raufführen. Der Lift hat keinen Stuhl, sondern nur eine Plattform, auf die ich wahrscheinlich mit meinem Rolli fahren soll.
»Das Ding funktioniert nie, wetten?!«
»Die Wette gilt!« Meine Mutter hält mir die Hand hin. »Wenn es funktioniert, hörst du auf zu meckern.«
»Und wenn nicht?«
»Dann …« Meine Mutter denkt nach, ihr fällt aber kein guter Wetteinsatz ein.
Dafür weiß ich einen.
»… dann darf ich zu den anderen ins Camp fahren.«
Ich finde das nur fair.
Meine Mutter überlegt einen Augenblick, dann sagt sie: »Einverstanden. Wenn das Ding nicht funktioniert, können wir den Urlaub hier sowieso vergessen.«
Sie streckt erneut ihre Hand aus, und ich schlage schnell ein, bevor sie sich das noch anders überlegt.
»Dann lass uns die Sache mal aus der Nähe ansehen.«
Meine Mutter steigt aus und geht um den Wagen rum, um meinen Rolli aus dem Kofferraum zu holen. Ich schaue mich nicht um, ich weiß ja eh, was sie macht. Sie klappt ihn auf, dazu braucht man nur ein paar Handgriffe, und schiebt ihn dann vor meine Wagentür, damit ich umsteigen kann.
Meine Mutter will mich zu dem Lift schieben, aber ich zische nur: »Finger weg!«
Sofort zieht sie ihre Hände zurück, so als hätte sie sich an den Griffen des Rollis verbrannt. Ich hasse es, wenn sie mich schiebt, als wäre ich ein Baby, das noch im Kinderwagen sitzt.
Das weiß sie genau, trotzdem tut sie es immer wieder.
Sie kann einfach nicht anders und wird es wieder tun.
Darauf hätte ich wetten sollen und nicht auf diesen doofen Lift.
Ich rolle auf die Plattform, meine Mutter fixiert den Rolli, und dann drückt sie auf einen Knopf.
Es passiert … nichts. Gar nichts. Überhaupt nichts.
Meine Mutter sieht echt verzweifelt aus. Sie probiert es noch ein paar Mal, erst nur sanft, dann immer kräftiger, bis sie mit der Handfläche mit aller Kraft auf das Steuerpult haut.
»Verdammt, verdammt, verdammt!«, schimpft sie und haut noch mal zu.
Die Plattform bewegt sich keinen Zentimeter.
Das liegt aber nicht daran, dass der Lift nicht funktioniert, sondern weil sie die ganze Zeit auf den falschen Knopf eindrischt. Der richtige liegt genau daneben, und als ich ihn leicht antippe, setzt sich das Gerät langsam in Bewegung.
Und wenn ich langsam sage, meine ich langsam.
BR R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R.
Es dauert ewig, bis der Lift die Veranda erreicht, obwohl es nur vier Stufen sind. Egal, so habe ich genug Zeit, mich über mich selbst zu ärgern, während mir meine Mutter am Fuße der Treppe grinsend hinterherwinkt, als würde ich mit einem Ozeandampfer über den Atlantik reisen.
Ich Idiot!
Hätte ich nicht wieder den Besserwisser gespielt und den richtigen Knopf gedrückt, wäre ich morgen schon in den Bergen im Camp bei den anderen.
Da, wo ich sowieso viel lieber wäre.
Drinnen geht es genauso schlimm weiter. Stimmt nicht. Drinnen ist es noch schlimmer. Die ganze Einrichtung sieht aus, als ob die Besitzerin in ihrem Ferienhaus all das Zeug ausgelagert hätte, das sie zu Hause nicht mehr haben wollte.
»Ist das hier ein Museum?«, frage ich.
»Die Besitzerin hat offenbar einen etwas …« Meine Mutter stockt, bevor sie weiterspricht. »… eigenen Geschmack.«
»Sie hat gar keinen Geschmack.«
Und das stimmt. Schon im Flur hängen überall fürchterliche Gemälde an der Wand. Bilder von der Ostsee, die aussehen, als hätte sie ein Fünfjähriger mit Fingerfarben gemalt.
Meine Mutter nimmt eines der Bilder und dreht es kurzerhand um.
»Wir machen es uns einfach nett.«
Sie braucht den Urlaub, das weiß ich, und ganz offensichtlich hat sie keine Lust, sich die zwei Wochen vermiesen zu lassen. Von mir nicht und auch nicht von hässlichen Gemälden an der Wand. Sie lächelt einfach alles weg, selbst die schrecklichen geschnitzten Holzmöwen, die überall im Wohnzimmer rumstehen. Die dominierende Farbe dort ist Orange. Orangefarbene Stühle, orangefarbene Vorhänge, selbst ein paar von den Möwen sind orange. Echt wahr, vielleicht sollen es auch Papageien sein.
Es gibt einen Tisch mit orangefarbenen Platzdecken (war ja klar), einen alten Nicht-Flachfernseher, ein abgenutztes Sofa und eine Glastür, die auf eine winzige Terrasse führt, hinter der ein noch kleinerer Garten liegt. Vor der Tür hängt ein Schnürchenvorhang. Auch orange – nein, stimmt gar nicht. Es gibt auch braune Schnürchen. So was habe ich ewig nicht gesehen, und ob das wirklich Fliegen und Mücken davon abhält, ins Haus zu kommen, wage ich zu bezweifeln.
Es sei denn, es sind Insekten mit gutem Geschmack.
»Guck mal, wir können sogar draußen frühstücken«, sagt meine Mutter.
»Ja, aber nur nacheinander. Für uns beide gleichzeitig ist es da nämlich viel zu eng.«
»Du hast deine Wette verloren, also hör auf zu meckern. Wettschulden sind Ehrenschulden.«
Meine Mutter versucht, die Terrassentür zu öffnen, das klappt aber nicht, weil sie sich in dem Vorhang verheddert und die Tür klemmt. Dann klappt es doch. Meine Mutter wirft sich mit der Schulter gegen den Rahmen. Genau in dem Augenblick, in dem ich rufe: »Warte doch mal! Da unten ist nur ein Riegel vor.«
Zu spät.
Das Holz splittert und meine Mutter stolpert durch die jetzt offene Tür in den Garten. Zum Glück bleibt das Glas heil, sonst hätte sie sich übelst verletzen können.
Zufrieden dreht sie sich zu mir um und sagt: »Na, geht doch. Komm raus, die Tür reparieren wir später.«
Um in den Garten zu kommen, muss ich mich durch die orange-braunen Schnürchen kämpfen und mit dem Rolli über eine Kante fahren, weil die Tür nicht ganz bis zum Boden geht. Kein Problem. Also für mich kein Problem, für andere schon.
»Bist du sicher, dass das Haus barrierefrei ist?«, frage ich.
»Stand jedenfalls im Katalog.«
»Auf der Steinplatte?«
»Genau, aber ich hatte sicherheitshalber auch noch mal im Internet nachgeguckt. Genieß du einfach die frische Luft, ich geh mal oben gucken, wie es da aussieht.«
Während sich meine Mutter mit dem Vorhang abmüht, um zurück ins Wohnzimmer zu kommen, schaue ich mich um. Direkt gegenüber liegt eine Jugendherberge, das weiß ich, weil das Wort ganz groß an einer Mauer steht. Im Garten davor üben ein paar Kinder Tanzschritte. Das sieht ziemlich klasse aus, was die da machen. Fast schon professionell und die Musik ist auch gut. Es sind Jungen und Mädchen, und die sind ungefähr so alt wie ich. Ich schaue ihnen ein wenig zu, dann erst bemerke ich ein Mädchen, das ein bisschen abseits sitzt. Sie hat schwarze Haare und tut ziemlich gelangweilt, so als wären die Moves der Tänzerinnen und Tänzer abgrundtief unter ihrem Niveau.
»Carl, wir haben ein kleines Problem.« Meine Mutter schaut aus einem der Fenster im ersten Stock zu mir herunter.
»Die Klimaerwärmung?«
»Schlimmer, es gibt keinen Lift hier rauf. Nur das Erdgeschoss ist barrierefrei«, antwortet meine Mutter. »Offenbar habe ich das Kleingedruckte nicht genau gelesen. Ich war einfach so froh, dass ich überhaupt was Passendes gefunden hatte. Immerhin ist das Bad unten.«
Sie sieht echt verzweifelt aus, und ich weiß ja, wie dringend sie den Urlaub braucht.
»Im Wohnzimmer gibt es ein Sofa, von mir aus schlaf ich einfach da«, erwidere ich großzügig.
»Du bist ein Schatz«, ruft meine Mutter glücklich. »Wäre sowieso nichts anderes frei gewesen. Ist Hauptsaison.«
Dann zieht sie ihren Kopf zurück und ich schaue wieder zu den Tänzern. Aber die sind weg und auch das Mädchen ist verschwunden. Wohin auch immer.
Abends fahren wir dann noch zu dem Steg, von dem meine Mutter geschwärmt hat. Wir wollen uns da den Sonnenuntergang anschauen, verpassen ihn aber knapp, weil der Lift BR R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R R ewig braucht, um mich die vier Stufen wieder runterzubringen.
Als wir auf dem Steg ankommen, ist die Sonne längst verschwunden. Steg trifft es nicht genau, es ist mehr so eine Art breite Straße aus Holz, die man über das Wasser gebaut hat. Die führt aber nirgendwohin. Da kann man hundert Meter rauslaufen, umdrehen und wieder zurücklatschen. Das mit dem Sonnenuntergang stand im Reiseführer unter Geheimtipp.
Ist es aber gar nicht, eher so das Gegenteil.
Oder die vielen Menschen hier haben sich den gleichen Reiseführer gekauft wie wir. Es ist nämlich wahnsinnig viel los auf dem Steg, obwohl die Sonne längst weg ist. Und da ist es gar nicht so schlimm, dass ich den Horizont nicht sehen kann, sondern nur auf dicke Hintern in zu knappen Hosen gucke. Was man aus meiner Perspektive halt so vor der Nase hat, wenn man nicht in der ersten Reihe steht.
»Können Sie den Jungen mal vorlassen, der sieht doch sonst gar nichts«, ruft meine Mutter, und da ist der Ausflug für mich endgültig gelaufen.
Den Rest des Abends verbringen wir im Haus und auf der Terrasse. Meine Mutter telefoniert in der Küche noch wegen einer anderen Unterkunft. Es gibt aber natürlich keine mehr, und erst recht keine ohne Treppen und mit breiten Türen, durch die ich mit dem Rolli passe.
Ich sitze draußen und verscheuche die Mücken von meinen Armen. An den Beinen machen mir die Stiche nichts aus, nur oben ist es lästig. Aber das kapieren die dummen Mücken natürlich nicht und deswegen müssen ein paar von ihnen dran glauben.
Sorry, Moskitos, ist nichts Persönliches.
Die tanzenden Kinder und das Mädchen im Garten der Jugendherberge sehe ich nicht mehr. Vielleicht sind denen draußen auch zu viele Mücken unterwegs.
Über mir ist ein gigantischer Sternenhimmel. Der ist echt Wahnsinn, und ich kann auch ein paar von den Planeten und Sternbildern erkennen, die mein Vater mir beigebracht hat: die Venus, den Großen Wagen, Kassiopeia und den Schwan.
Die gibt es bei uns zu Hause in Hannover gar nicht.
Falsch.
Es gibt die da schon.
Man sieht sie halt nur nicht.
Am nächsten Morgen sind die Möwen weg. Also nicht die, die draußen vor dem Fenster Krach machen, sondern die im Wohnzimmer. Das sehe ich als Erstes.
Dann erst entdecke ich meine Mutter. Sie hat einen großen Karton in der Hand und stopft da die ganzen Scheußlichkeiten rein, die an den Wänden hängen oder irgendwo rumstehen.
»Auch schon wach?«, begrüßt sie mich.
»Ich habe Ferien«, erwidere ich. »Was tust du da?«
»Ich mach es uns ein bisschen hübscher«, antwortet sie. »Der ganze Kram kommt oben in dein Zimmer. Das kannst du ja eh nicht nutzen. Hast du trotzdem gut geschlafen?«
»Ja, bis gerade eben. Hätte aber auch ein bisschen länger sein können.«
»Dann hätte ich auch das Ende erfahren«, sagt meine Mutter geheimnisvoll.
»Was? Wovon redest du?«
»Du redest im Schlaf.«
»Tu ich nicht.«
»Tust du doch.«
»Und was habe ich gesagt?«
»Komm, mach dich fertig, ich habe Brötchen geholt. Und dann können wir endlich ans Meer«, weicht sie mir aus und verlässt das Zimmer.
Nach dem Frühstück machen wir uns direkt auf den Weg zum Strand. Und natürlich sind es mehr als nur fünf Minuten.
Eine halbe Stunde sind wir unterwegs, auch weil wir nicht das Auto nehmen und ich mit dem Rolli auf den sandigen Wegen nur langsam vorankomme. Meine Mutter will schieben, aber das kann sie vergessen.
Das schaffe ich auch allein.
Dauert dann halt nur ein bisschen länger.
Als wir endlich die Promenade erreichen, bleibt meine Mutter vor einem riesigen orangefarbenen Monster stehen. Es ist einer dieser Strandrollis, von denen ich schon erzählt habe. In echt sind die noch viel hässlicher, als ich sie mir vorgestellt hatte. Und das Teil vor mir ist ein ganz besonders scheußliches Exemplar.