Hundert Jahre Heimatland? - Rolf Verleger - E-Book

Hundert Jahre Heimatland? E-Book

Rolf Verleger

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Beschreibung

Verzweifelt über israelische Menschenrechtsverletzungen, verblüfft über das Vogel-Strauß-Verhalten deutscher Politiker und aufgrund der jüdischen Tradition seiner Familie sucht der Autor die Ursachen der heutigen Situation und spürt verlorengegangenen Alternativen nach: Im Judentum des Zarenreichs, wo Religiosität, Sozialismus und Nationalismus Wurzeln schlugen, im Zusammentreffen dieser Strömungen mit dem britischen Empire, der Furcht Europas vor dem "jüdischen Bolschewismus" und den Nazi-Verbrechen. Um seinen heutigen nationalreligiösen Fanatismus zu überwinden, braucht das Judentum ein erneuertes Leitbild von Befreiung, Erlösung und Nächstenliebe.

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Ebook Edition

Rolf Verleger

Hundert Jahre Heimatland?

Judentum und Israel zwischen Nächstenliebe und Nationalismus

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-86489-684-2

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2017

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich

Inhalt

Vorwort
Eine Laudatio auf Daniel Barenboim
Morgensonnenlicht
West-östlicher Divan
Israelis, Palästinenser, Deutsche
Eine jüdische Laudatio
Boykottiert vom Bürgermeister
Der Vize-Laudator
Der Vize-Preisverleiher
Vorauseilender Gehorsam
Meine Eltern: Scheite, aus dem Feuer gerettet
Mein Vater
Meine Mutter
Meine Eltern, meine Heimat
Im Zentralrat
Aufbauarbeit in Lübeck
Der Zentralrat der Juden in Deutschland?
Eine privilegierte Minderheit
Mehrerlei Maß für Menschenrechte
Ein Brief und seine Folgen
Judentum und jüdischer Staat – ein Rückblick in Vorgeschichte und Geschichte
Die biblische Vorgeschichte
Jüdischer Staat und jüdische Religion
Auserwählt? Selbstbezogenheit und Universalismus in jüdischer Tradition
Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst
Geh und lerne
Jüdisches Stiefvaterland Zarenreich
Jüdische Heimstätte Polen-Litauen bis 1795
Juden im Zarenreich zwischen 1000 und 1795
Das Zarenreich und die Juden ab 1795: Reformversuche in verkrusteten Strukturen
Explosion, Restauration, Revolution, Bürgerkrieg
Die Endphase bis 1916
Das Judentum im Zarenreich an der Wende zum 20. Jahrhundert
Chassidismus
Deutsche Aufklärung
Russische Aufklärung
Gesellschaftlicher Aufstieg
Integration mit der polnisch-russischen Revolte
National und religiös motivierter Zionismus: Emanzipation und Erlösung in einem anderen Land
Die Anfänge bis 1881
Bürgerlich-religiöse Koalition 1882 bis 1890
Jüdischer Nationalismus ab 1890: Zionismus
Religiöser Zionismus: das nationalreligiöse MiSRaChi
Exkurs außerhalb des Zarenreichs: Theodor Herzls Zionismus als Weltpolitik
Alternativen zum Zionismus: Amerika, Bund, Sozialismus, Aguda
Auswanderung in die USA
Jüdische Emanzipation im eigenen Land: der Bund
Sozialistische Reform und Revolution
Konservative Religiöse: die Aguda
Weltmacht Großbritannien und die Juden aus dem Zarenreich
Geopolitische Gründe für die Balfour-Deklaration119
Politische Einwirkung auf das Judentum als Motiv für die Balfour-Deklaration
Anglikanischer Fundamentalismus
Jüdischer Widerstand gegen die Balfour-Deklaration
Antisemitismus und Zionismus
Zwei Seiten einer Medaille?
Das Transfer-Abkommen
Zionismus versus Internationalismus
Rückgang des Antisemitismus in Europa
Antisemitismus heute
Doppelte Loyalität
Deutsche Staatsräson
Mitverantwortung des Zionismus für Antisemitismus?
Bevorzugung von Juden gegenüber Einheimischen in Palästina
Eine Heimstätte light?
Was sollte mit den arabischen Einwohnern geschehen?
Eine Geschichte von Unrecht und Unrecht
Das Wesen des Judentums
Zwischen Religion und Nation
Judentum im heutigen Israel
Judentum in den USA
Der spirituelle Wert des Judentums
Anmerkungen

Vorwort

Im November 2017 jährt sich zum hundertsten Mal die »Balfour-Deklaration«. Das ist die Willensbekundung der britischen Weltmacht von 1917 zur Errichtung einer jüdischen Heimstätte in Palästina. Aus diesem Anlass wollte ich eine Neuauflage meines Buches Israels Irrweg. Eine jüdische Sicht schreiben.1 Im Erzählton jenes Buchs und in Neubearbeitung seiner Inhalte sind hier die ersten beiden Teile entstanden, über meine Biografie und über die Polarität von Staat und Religion in der jüdischen Tradition.

Aber dann nahm ich den Anlass dieses neuen Buches ernst. Wie kam es zur Balfour-Deklaration? Gab es überhaupt Juden, die das damals interessierte? Gab es denn nennenswerten Antisemitismus schon vor Hitler? Man kommt unweigerlich dazu, sich mit der Geschichte der Juden im Zarenreich zu befassen, denn dies war das größte jüdische Zentrum der Welt, hier kommt alles her: Antisemitismus, Zionismus, die jüdische Auswanderung nach Amerika, die nationalreligiöse Ideologie, der sozialistische Bund, Bolschewismus, Auswanderung nach Mittel- und Westeuropa, das hiesige Ansteigen des Antisemitismus, die Katastrophe. Davon berichtet der große dritte Teil des Buchs.

Edwin Montagu, der einzige Jude im britischen Kabinett von 1917, war mit Leidenschaft gegen die Balfour-Deklaration. Der vierte Teil lässt seine vier Hauptargumente gegen die Errichtung der jüdischen Heimstätte Revue passieren und verlängert die Diskussion seiner Argumente bis in die Gegenwart, denn es geht darin um grundsätzliche Fragen des heutigen Judentums: Wie verhält man sich gegen Antisemitismus? Wie kann man gleichzeitig seinem Heimatland und dem Staat Israel gegenüber loyal sein? War die Vertreibung der Araber bei Gründung des Staats Israel nur ein Betriebsunfall? Und was ist die heutige spirituelle Botschaft des Judentums?

Die von der nationalreligiösen Ideologie Verblendeten werden dieses Buch »antisemitisch« nennen. Hoffentlich! Wenn nicht, wird es mir nicht gut gelungen sein. Getroffen fühlen sollen sich diejenigen – Juden wie Nichtjuden –, die in Wort oder Tat dagegen verstoßen, dass alle Menschen gleich erschaffen sind und dass alle Menschen unveräußerliche Rechte haben. Dies ist die jüdische Tradition, die wir bewahren sollten. So bin ich erzogen. »Im Ebenbild Gottes erschuf Er den Menschen: B’Zéllem Elohím Bará’ et-ha’Adám.« Diesen Satz der Schöpfungsgeschichte hat der einflussreiche Talmudgelehrte Ben Asa’i (Schüler und Freund von Rabbi Akiva) zum wichtigsten Grundsatz der Torah erklärt.2 Damit sagte er: Nicht erst Abraham, der erste Jude, sei im Ebenbilde Gottes erschaffen, sondern bereits Adam, der erste Mensch; Juden wie Abraham seien nur deswegen ein Ebenbild Gottes, weil sie den Menschen Adam und Chawa (Eva) gleichen wie alle anderen Menschen.3

In diesem Sinne wollen wir das Judentum wiederherstellen und weiterentwickeln. Möge ein solches Judentum nach der Vernichtung auch in meiner Heimat Deutschland wieder tiefe Wurzeln schlagen, in Abkehr von der nationalreligiösen Verirrung.

Teil I:

Ein Judentum im heutigen Deutschland

Kapitel 1:

Eine Laudatio auf Daniel Barenboim

Daniel Barenboim bekommt viele Preise verliehen. Einmal durfte ich dazu die Laudatio halten. Mehr zu den Begleitumständen ist im nächsten Kapitel zu erfahren. Hier zunächst nur diese Lobrede anlässlich der Verleihung des Otto-Hahn-Friedenspreises durch die Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen im Berliner Haus der Kulturen der Welt am 22. März 2011.

Morgensonnenlicht

Als ich die Anfrage erhielt, ob ich die Laudatio auf Herrn Barenboim halten würde, da musste ich nicht lang überlegen. Ich sagte gerne zu. Ich dachte mir, das wäre endlich eine Gelegenheit, Herrn Barenboim persönlich kennenzulernen. Es ist gar nicht so einfach, an ihn heranzukommen. »Management« nennt sich der dreifache Schutzwall, der ihn umgibt und der dafür sorgt, dass er ungestört der Tätigkeit nachgehen kann, für die ihn die Welt liebt, seit er im Alter von sieben Jahren das erste öffentliche Konzert gab: Musik. Dafür muss er sich gegenüber der Außenwelt rarmachen. Als Laudator steht nun für mich das Tor zu ihm offen, ich schlüpfe gerne durch.

Und ich sagte vor allem deswegen gerne zu, weil ich auch schon längst gerne ein Lob an ihn losgeworden wäre. Ich hätte zum Beispiel am 11. Juni 2010, letztes Jahr, ihm Folgendes sagen mögen:

»Sehr verehrter, lieber Herr Barenboim,

ich bin gerade beruflich in Greifswald, bin morgens um 7 Uhr an der Ryke nach Wiek geradelt, habe da an der Ostsee direkt am Ufer ein Frühstück bekommen – zu lesen gab es keine Tageszeitung, aber immerhin die Zeit.

Und da las ich am stillen Meer im milden Morgensonnenlicht Ihr Interview.

Großartig. Jeder Satz prägnant. Jeder Fakt in seinen Zusammenhang gestellt.

Danke.

Mit herzlichen Grüßen

Rolf Verleger«

So. Nun könnte ich ja aufhören. Aber ich glaube, ich sollte doch noch das eine oder andere Wort anfügen. Die Laudatio wäre sonst zwar herzlich gewesen, aber zu kurz.

Das Interview mit der Zeit handelte davon, dass einige Tage zuvor israelische Soldaten die Mavi Marmara in internationalen Gewässern geentert und dabei neun Menschen umgebracht hatten. Womit wir schon beim Thema wären, dem Konflikt um Israel und Palästina.

West-östlicher Divan

Aber fangen wir ganz vorne an. Daniel Barenboim wurde 1942 geboren, in Buenos Aires. Seine Großeltern waren dorthin ausgewandert, aus dem Reich des russischen Zaren, 1904.

Wie kamen russische Juden dazu, nach Buenos Aires auszuwandern? Um die Wende zum 20. Jahrhundert brandete in den großen Imperien Osteuropas, dem Zarenreich und der Habsburger Monarchie, der Nationalismus auf: Die Völker Osteuropas strebten nach Autonomie und kultureller Identität. Und dieses Streben hatte eine Kehrseite: den Hass auf diejenigen, die als nicht zugehörig definiert wurden, und das war vor allem die jüdische Minderheit. Im Zarenreich war diese Kehrseite besonders heftig, weil die zaristische Herrschaft ganz bewusst die Juden in vielerlei Hinsicht rechtlos hielt und den Volksmassen als Hassobjekt gerne überließ. 1903 bis 1906 sind die Jahre der großen Pogrome: Mehrere Tausend Juden wurden getötet, Hunderttausende Juden verließen das Zarenreich. Viele von ihnen kamen nach Deutschland. Einige blieben hier wie die Familie meines Vaters 1905, der damals fünf Jahre alt war. Aber die meisten waren nur auf der Durchreise, um von Hamburg – gepfercht in Auswandererschiffe – in die Neue Welt zu kommen, so wie vier junge Menschen aus dem Zarenreich, deren Enkel Daniel Barenboim wurde.

1942 ist er also dort, in Buenos Aires geboren. In der Tat, woanders als in Buenos Aires konnte man als Jude 1942 nicht geboren werden. In Europa jedenfalls nicht. Niemand aus meiner Verwandtschaft ist 1942 geboren. 1942 wurde gestorben, genauer gesagt: 1942 wurde man als Jude umgebracht in Europa. Mein Vater war 1942 in Auschwitz, seine Frau und seine drei Kinder wurden dort umgebracht. Er hat überlebt. Meine Mutter wurde 1942 mit ihren Eltern von Berlin nach Estland deportiert. Sie allein hat überlebt und kam nach Berlin zurück, 1945.

1948 heirateten meine Eltern. Mein Vater wollte wieder Kinder haben, jüdische Kinder. Und er wollte dann als Fünfzigjähriger nicht in ein fremdes Land. Er war eigentlich gern in Deutschland. Und so blieben meine Eltern hier, und wir drei Kinder wuchsen hier auf, als Wunschkinder.

Aber nach all diesen zutiefst erniedrigenden Erfahrungen brauchten auch meine Eltern, wie alle Juden, ein Projekt, auf das sie stolz sein konnten: unser Projekt, unser Land, unser Israel. Sichtbares Zeichen war die blaue KKL-Sammelbüchse, die in jedem jüdischen Wohnzimmer stand: unser Geld für Israel.

Die Familie Barenboim siedelte 1952 von Argentinien nach Israel über. Herrn Barenboims Vater wollte nicht mehr als Minderheit leben, und er sah auch die Chance, die sich für seinen zehnjährigen Sohn als Pianist in Israel bot. Und in der Tat: Israel war stolz auf sein Wunderkind Daniel Barenboim. Ben-Gurion höchstpersönlich war auf Barenboims Hochzeitsfeier 1967 in Jerusalem.

Daniel Barenboim berichtet in einem Interview mit dem Tagesspiegel 2008, er habe bei den Kriegen, die Israel nach seiner Einwanderung führte, 1956, 1967, 1973, immer in Israel Konzerte gegeben. Die Musik, sagt er, sei seine »Waffe« für Israel.

Bei ihm habe es aber im Kopf klick gemacht, als die israelische Premierministerin Golda Meir 1970 sagte: »Palästinenser? Was soll dieses Gerede von den Palästinensern? Das palästinensische Volk sind wir!« Das habe ihn fassungslos gemacht. In seinem eingangs erwähnten Interview in der Zeit fragt er:

»Wie ist das möglich? Bei einem Volk, das Spinoza und Maimonides und Martin Buber hervorgebracht hat? Es sind alles intelligente Menschen. Wenn du mit ihnen über Beethoven oder über Shakespeare oder über Karl Marx sprichst, dann haben sie rationale Argumente, aber wenn du auf das Thema Palästinenser kommst, werden sie total blind. Das ist nicht zu erklären.«

Nebenbei: Sie fragen sich vielleicht, wer ist Maimonides? Ich komme darauf später zurück.

Jedenfalls: Es ist da ein blinder Fleck, eine Denkblockade, die es den meisten Israelis – und auch den meisten aktiven Mitgliedern der heutigen Jüdischen Gemeinden in Deutschland – unmöglich macht zu sehen, was die Israelis, deren Vorfahren in Europa verfolgt wurden, nun den Einwohnern Palästinas antun. Der polnisch-jüdische Schriftsteller und Historiker Isaac Deutscher hatte es 1967 so formuliert:1

»Einmal sprang ein Mann aus dem obersten Stock eines brennenden Hauses, in dem bereits viele seiner Familienangehörigen umgekommen waren. Er konnte sein Leben retten, aber im Herunterfallen schlug er auf jemanden auf, der unten stand, und brach diesem Menschen Arme und Beine. Der Mann, der sprang, hatte keine Wahl, aber für den Mann mit den gebrochenen Gliedern war er die Ursache seines Unglücks.«

Deutscher weiter:

»Was … geschieht, wenn diese beiden Leute sich irrational verhalten? Der Verletzte gibt dem andern die Schuld an seinem Unglück und schwört, dass er ihn dafür bezahlen lassen wird. Der andere, aus Angst vor der Rache des verkrüppelten Mannes, beleidigt, tritt und schlägt ihn, wann immer er ihn trifft. Der getretene Mann schwört erneut Rache und wird wieder geschlagen und bestraft. Die bittere Feindschaft, die zunächst ganz zufällig war, verhärtet sich und überschattet schließlich die gesamte Existenz der beiden Männer und vergiftet ihr Denken.«

Das ist Daniel Barenboim klar. In dem erwähnten Interview fragt die Zeit-Redaktion: »Die israelische Regierung argumentiert mit ihrem Recht auf Selbstverteidigung.« Und Barenboim antwortet: »Natürlich. Wenn du ein anderes Land besetzt, dann musst du dich die ganze Zeit verteidigen.« Die Zeit fragt nach: »Halten Sie die israelische Bedrohungsanalyse nur für Einbildung oder Paranoia?« Und Barenboim: »Nein, die Israelis müssen sich in der Tat verteidigen, aber nur deshalb, weil sie so agieren, wie sie es getan haben und weiterhin tun.«

Isaac Deutscher stellte schon 1967 fest:

»Wenn sich beide rational verhielten, würden sie keine Feinde werden. Der Mann, der aus dem brennenden Haus entkam, würde, sobald er sich erholt hätte, versuchen, dem anderen Betroffenen zu helfen und ihn zu trösten; und jener hätte vielleicht eingesehen, dass er das Opfer von Umständen geworden war, die keiner von beiden unter Kontrolle hatte.«

Daniel Barenboim hat sich dann so verhalten, wie es Isaac Deutscher als Idealbild sah. Deutscher, ganz in der Tradition des aufklärerischen Sozialismus, nannte dieses Verhalten »rational«. Ich nenne dieses Verhalten »moralisch«, ein Verhalten, das ganz in derjüdischen Traditionslinie steht – es gibt leider auch andere –, die sich für die universelle Geltung der Menschenrechte einsetzt.

Der Israeli Daniel Barenboim fand auf palästinensischer Seite eine verwandte Seele – Edward Said, ein Weltbürger wie Barenboim, Professor für Englisch und vergleichende Literaturwissenschaft in den USA, Mitglied des palästinensischen Exil-Parlaments und vor allem: ein Liebhaber der Musik. Und zusammen fassten sie den Plan, Barenboims musikalische Gaben zu verknüpfen mit dem Anliegen der Versöhnung: Sie gründeten 1999 das »West-östliche Divan-Orchester«: ein Orchester, in dem Israelis, Palästinenser und Angehörige von Nachbarstaaten Israels zusammen spielen. Und zwar nicht einfach als Ferien- und Freizeit-Folkloregruppe, sondern als ein Klangkörper unter Maestro Barenboim, der sich die höchsten Ansprüche setzt und auch dieses Jahr auf Tournee gehen wird, mit Beethoven-Sinfonien, der 10. Symphonie von Gustav Mahler und dem Kammerkonzert von Alban Berg.

Daniel Barenboim hat sich dabei nicht auf die Musik – die scheinbar unpolitische Kunst – zurückgezogen, sondern er hat ausdrücklich politisch Stellung bezogen. Am deutlichsten wurde das darin, dass er 2007 die palästinensische Staatsbürgerschaft angenommen hat: Er ist Bürger eines Staats, den es überhaupt nicht gibt, und er hat damit die Verpflichtung übernommen, diesen Staat mitzuschaffen.

Israelis, Palästinenser, Deutsche

Ich habe einige Deutsche und viele Israelis getroffen, die ein solches Verhalten überhaupt nicht verstehen können. In einer bizarren Verschiebung der Schuld von Nazi-Deutschland auf die Palästinenser sehen sie die Palästinenser als die Nachfahren Hitlers an. Dazu sagt Barenboim in besagtem Zeit-Interview:

»Sehen Sie, man kann mit Blick auf die Palästinenser bezweifeln, ob sie wirklich das Existenzrecht Israels akzeptieren und ob sie wirklich mit den Juden zusammenleben wollen. Nur hat das, anders als eine verbreitete israelische Interpretation unterstellt, mit den Nazis und dem Holocaust nichts zu tun. Wenn ein Palästinenser, dessen Familie ein Haus in Jaffa oder in Nazareth seit dem 11. Jahrhundert besitzt, nun nicht mehr das Recht hat, dort zu leben, und dieser Mensch hasst dann die Israelis – das hat doch mit Adolf Hitler nichts zu tun.«

Und Isaac Deutscher 1967:

»Die Verantwortung für die Tragödie der europäischen Juden, für Auschwitz, Majdanek und das Gemetzel in den Ghettos liegt einzig bei der westlichen bürgerlichen ›Zivilisation‹, deren rechtmäßiger, wenn auch degenerierter Abkömmling der Nationalsozialismus war. Doch es waren die Araber, die schließlich den Preis für die Verbrechen zahlen mussten, die der Westen an den Juden begangen hat. Man lässt sie auch heute noch zahlen, denn das ›Schuldbewusstsein‹ des Westens ist natürlich pro-israelisch und anti-arabisch.«

Das heißt: Die aufrichtige und ehrenwerte Beklemmung vieler Deutscher über das ungeheuerliche Unrecht, das von Deutschen in deutschem Namen den Juden Europas angetan wurde, führt heute dazu, dass neues Unrecht – lange nicht so ungeheuerlich wie das, was 1941 bis 1945 geschah, aber verheerend und niederträchtig genug und mit katastrophalen Folgen –, dass dieses neue Unrecht schweigend toleriert wird.

Und damit gerät die deutsche öffentliche Meinung heute in einen Widerspruch. Welche Konsequenzen sollen wir aus der Vergangenheit ziehen? Dass das Unrecht von vor 70 Jahren zwangsläufig neues Unrecht legitimiert? Ich fände es daher angebracht, wenn wir deutlich Stellung nehmen würden zur Strangulierung des Gasa-Streifens, zum 43 Jahre andauernden Besatzungsregime im Westjordanland, zur kontinuierlichen Landnahme im Westjordanland, zur Verdrängung der alteingesessenen arabischen Einwohner Jerusalems, zu den gezielten Tötungen, zu den Tausenden Palästinensern, die in israelischen Gefängnissen interniert sind. Israel braucht klare Vorgaben von uns, um die Kraft aufzubringen, sich von seinem nationalistischen Kurs abzuwenden. Mit seiner jetzigen Politik – das hat Daniel Barenboim mehrfach gesagt – läuft Israel in eine Sackgasse.

Daniel Barenboim erhält hier einen Preis für ein Verhalten und für seinen politischen Standpunkt, der nicht mit dem Standpunkt des offiziellen Israels übereinstimmt. Wen lässt man nun die Laudatio halten? Einen anderen Juden. Das hat auf jeden Fall einen positiven Aspekt – darauf komme ich später zurück – und scheinbar einen negativen Aspekt.

Der negative Aspekt scheint zu sein: Es sieht häufig so aus, als würden sich Nichtjuden nicht an dieses schwierige moralische Dilemma und politische Minenfeld herantrauen und deswegen gerne einen Juden vorschicken. Oft genug bekomme ich zu hören, wenn ich meine Meinung vortrage: »Ja, Sie als Jude können das sagen; aber was glauben Sie, was los wäre, wenn wir als Nichtjuden das sagen würden?«

Die Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen hat aber die Entscheidung getroffen, Daniel Barenboim den Otto-Hahn-Friedenspreis zu verleihen. Sie hat das in voller Kenntnis der von mir skizzierten Problematik getan und damit niemanden als Stellvertreter vorgeschickt, sondern verantwortlich eine Entscheidung gefällt.

Man ist ja auch keineswegs gegen Angriffe immun, wenn man sich als Jude gegen Israels nationalistischen Kurs stellt. Selbstverständlich gibt es auch Leute, die sogar Herrn Barenboim für das, was er tut, und für das, was er sagt, einen Feind Israels und einen Antisemiten und einen selbsthassenden Juden nennen. Da muss man durch. Und ich denke, dieser Preis ist eine Bestätigung dafür, dass man da auch durchkommen kann und Anerkennung findet.

Diese Beschimpfung als »Selbsthasser« ist einfach das immergleiche Verhalten der bequemen Mehrheitsmeinung, die abweichende Meinungen ausgrenzen möchte. Das Wesentliche dazu hat vor 35 Jahren ein damaliger Bürger, Kritiker und Liebhaber der DDR gesagt. Er sagte es über die DDR, aber er könnte es auch über das Judentum gesagt haben:

»Ich bin zu der Auffassung gelangt, dass es immer dort am schwersten ist zu leben, wo man wirklich lebt, das heißt, wo man kämpft und sich einmischt auf Seiten des Fortschritts, je nachdem wie es in dem Land gerade ist, wo man ist.

›Wir sind Fremdlinge im eigenen Lande‹ – das heißt doch, dass gerade die Aufrichtigsten, Empfindsamsten, Leidenschaftlichsten, die nicht ertragen können das Unrecht, die Barbarei, die Ausbeutung, in dem Lande, in dem sie leben, und nicht in irgendeinem Lande der Welt und sich dort einmischen – dass sie dort, wo sie zu Hause sind, eigentlich am meisten wie Fremdlinge sind:

Ich möchte am liebsten weg sein und bleibe am liebsten hier.«2

Dieser Mann, der das 1976 gesagt hat, ist heute Ehrenbürger Berlins. Wenn man ihm, Wolf Biermann, so zuhört, wie er über seine Probleme mit seiner damaligen Wahlheimat DDR redete, dann wundert es einen nicht, dass er einen jüdischen Vater hat: So könnte ich, so könnte Daniel Barenboim über unsere Probleme mit dem Judentum reden.

»Ich möchte am liebsten weg sein und bleibe am liebsten hier.«

Eine jüdische Laudatio

In diesem Sinne: Wünscht man einen Juden als Laudator, kommt nun der positive Aspekt dieser Wahl. Sie bekommen nun zum Abschluss auch eine wirklich jüdische Laudatio. Sie bekommen einen »Mi ScheBejrach«. Zu Deutsch: einen »Der, der segnete«. Wie ich dazu komme, muss ich erklären. Für Daniel Barenboim – so scheint es mir – ist die wesentliche Verbindung zum Judentum seine Verbindung zu Israel, seine israelische Staatsbürgerschaft. Für mich ist die wesentliche Verbindung die jüdische Tradition, so wie ich sie von meinen Eltern erfahren habe: von meiner deutsch-jüdischen Mutter und meinem polnisch-jüdischen Vater.

Für meine Mutter – hier in Berlin 1925 am Gesundbrunnen aufgewachsen – ist in der deutsch-jüdischen Tradition der wichtigste jüdische Prophet Nathan der Weise, also die von Lessing geschaffene, an seinen Freund Moses Mendelssohn angelehnte literarische Figur, mit dem Plädoyer für Toleranz, für Gleichwertigkeit der Religionen bei Wahrung der Besonderheiten. Das war die Tradition des heute ausgelöschten deutschen Judentums.

Mein Vater stand in der chassidischen Tradition Osteuropas. Judentum – Sie können das bei Martin Buber und Gerschom Scholem nachlesen – hieß die Hoffnung auf Befreiung und Erlösung, auf eine bessere Welt, auf Tikun Olam – auf die Reparatur der Welt, die in Scherben liegt, auf die Reparatur durch unsere richtigen Handlungen im Sinne von Gottes Geboten. Und in diesem Sinne denke ich gerne an jüdische Riten und sage nun den »Mi ScheBeijrach«.

Dieses Gebet ruft Gott an. Wegen all derjenigen, die wie ich mit der Vorstellung eines materiellen, personalisierten Gottes nichts anfangen können, möchte ich doch noch kurz auf Maimonides zu sprechen kommen – den Mann, den Daniel Barenboim, wie vorhin zitiert, in seinem Interview mit der Zeit als Beispiel für jüdische Intelligenz nannte, neben Spinoza und Martin Buber. Dies ist der Rabbi Mosche ben Maimon, 1135 im damals islamischen Spanien geboren, war den größten Teil seines Lebens in Kairo, dort auch Vorsteher der jüdischen Gemeinde, Leibarzt des Sultans und 1204 gestorben. Er war die einflussreichste theologische Autorität des Judentums im Mittelalter. Wegen der Frage eines materiellen, personalisierten Gottes möchte ich hier aus den dreizehn Grundsätzen des Maimonides zitieren, die man als frommer Jude in Versform jeden Morgen spricht. Es beginnt mit:

Groß ist der lebendige Gott.

Das ist die hebräische Übersetzung von »Allahu Akbar«, der traditionellen muslimischen Gebetseinleitung. Dieser Gleichklang zwischen jüdischer und islamischer Sprechweise war eine Selbstverständlichkeit in der islamisch-jüdischen Kultur, in der sich Maimonides bewegte; eine Kultur, an die Daniel Barenboim mit seinem Brückenschlag zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn wieder anknüpfen möchte – ausdrücklich wieder anknüpft unter dem Motto des Goetheschen West-östlichen Divan.

Zurück zu Maimonides und seiner Beschreibung Gottes. Dazu muss ich noch eines anmerken: Es gibt im Hebräischen nur männlich und weiblich – genau wie zum Beispiel im Spanischen: Es gibt nur »er« und »sie«. Rabbi Mosche ben Maimon drückte »es« mit »er« aus. Ich übersetze mit »Es«:

Es existiert, und es gibt kein Zeitmaß für diese Existenz.

Es ist eins, und es gibt nichts Einziges wie diese Einzigkeit.

Es ist verborgen, und es gibt auch kein Ende dieser Einheit.

Es hat keine körperliche Dimension, und es hat keinen Körper.

Wir haben keinen Begriff für seine Heiligkeit.

Das heißt, die göttliche Existenzweise existiert in allem, formlos und körperlos, außerhalb unserer Begriffe. In chassidischer Deutung wurde daraus die Schechina, die göttliche Niederlassung in unserer materiellen Welt, der göttliche Funke.

Diesen göttlichen Funken wollen wir uns erhalten. Daher nun der Segen »Mi ScheBejrach«. Man spricht ihn in der Synagoge für diejenigen, die etwas Gutes getan haben, zum Beispiel einen Aufruf zur Torah-Vorlesung erhalten haben oder etwas gespendet haben. Um den Segen zu sprechen, muss man kein Rabbiner sein, kein Priester, kein Guru. Also:

Mi ScheBeijrach Awotejnu Awraham, Jizchak, weJaakow Der, der segnete unsere Vorväter Awraham, Jizchak und Ja’akow,

hu jeWarech et Daniel Ben Zwi Er segne den Daniel Sohn des Enrique

Baawur scheJaßad uMenahel uMenazeach et Tismoret Diuwan Maaraw-Misrach Dafür, dass er gründete, leitet und dirigiert das Orchester West-östlicher Divan.

uwiSkhar se haKadosch-baruch-hu jiSchmerejhu Und zum Lohn dessen möge ihn der Heilige-Gelobt-sei-Er behüten

wejaZilejhu miKol Zara weZuka, miKol Nega uMachala Und errette ihn aus jeder Bedrängnis und Not, aus jeder Plage und Krankheit

wejiSchlach Bracha weHazlacha beChol Ma’aßej Jadaw Und sende Segen und Gelingen in allen Werken seiner Hände

im Kol Jißrael Echaw Mit ganz Israel, seinen Brüdern.

wenOmar Und wir sagen

Amen.Es werde wahr.

Kapitel 2:

Boykottiert vom Bürgermeister

Der Vize-Laudator

Eigentlich hätte nicht ich die Laudatio für Barenboim halten sollen. Erste Wahl der Gesellschaft der Freunde der Vereinten Nationen war Uri Avnery, Kämpfer für den Frieden zwischen Israelis und Palästinensern seit den 1940er-Jahren. Avnery war nicht nur ein erfahrener Laudator, sondern auch selbst – wie Barenboim – vielfach ausgezeichnet. In Deutschland hatte er 1995 den Erich-Maria-Remarque-Preis der Stadt Osnabrück erhalten, 1997 den Aachener Friedenspreis und 2002 den Carl-von-Ossietzky-Preis der Stadt Oldenburg. Darüber hinaus wurde ihm, seiner Frau Rachel und seiner israelischen Friedensgruppe Gusch-Schalom (Friedensblock) 2001 der Alternative Friedensnobelpreis in Stockholm verliehen.

Selbstverständlich hätte Uri Avnery eine überzeugende Laudatio halten können, gerade auch in Deutschland, denn er war als Helmut Ostermann im westfälischen Beckum geboren. 1933, als er zehn Jahre alt war, wanderte seine Familie wegen der Nazis und aufgrund zionistischer Überzeugung aus Deutschland aus und nach Palästina ein. Mit 15 bis 19 Jahren war er Untergrundkämpfer gegen die dortige britische Mandatsmacht, mit 25 Jahren Soldat im Unabhängigkeitskrieg von 1948, schrieb nach schwerer Verwundung darüber ein Buch und gründete ein Jahr darauf, 1950, die Zeitschrift haOlam haSé (»Diese Welt«).

Wie sich zeitweise die ganze zionistische Bewegung gegen die religiöse Tradition richtete, kann man auch diesen Zeitschriftentitel als antiklerikale Spitze auffassen, denn im Talmud wird »haOlam haSé«, also »diese Welt«, als Gegenpol zu »haOlam haBá, der »kommenden Welt« benutzt. In der Wahl des Zeitschriftentitels klang daher mit, dass man nicht mehr auf diese kommende Welt nach Ankunft des Messias warten solle: Hier und jetzt sollten die Dinge zum Besseren gewendet werden, hier und jetzt sollten Affären aufgedeckt und die Wahrheit enthüllt werden, und zwar auch im Hinblick auf Fotos von leicht bekleideten Frauen – das verschaffte der Zeitschrift, die manchmal mit dem »Stern« verglichen wurde, eine gewisse Verbreitung.

Avnery hat sein Leben lang die Zweistaatenlösung propagiert, also die Gründung eines palästinensischen Staats Seite an Seite mit Israel. Aus all diesen Gründen war die Zeitschrift für viele eine nur schwer erträgliche Provokation. 1953 wurde Avnery von einem Unbekannten überfallen, der ihm beide Hände und alle Finger brach. Für Avnery wurde dies ein großes Glück: Die Person, die für ihn, den zeitweiligen Invaliden, während dieser Zeit die Angelegenheiten erledigte, hieß Rachel und wurde für die nächsten 58 Jahre seine Lebensgefährtin und Ehefrau.

Er war bis 1981 zwölf Jahre lang als gewählter Abgeordneter Mitglied des israelischen Parlaments, war mit Arafat befreundet zu einer Zeit, als Israelis von ihrer Regierung jeder Kontakt mit der PLO (palästinensischen Befreiungsorganisation) verboten war, gründete 1993 als Siebzigjähriger den erwähnten Gusch-Schalom und schreibt seit vielen Jahren unbeirrt seine wöchentliche Kolumne, in der er Israel und der Welt anhand eines ausgewählten Themas in einfachen Worten Israel und die Welt erklärt.

Ich habe Uri Avnery sogar schon einmal als Laudator erlebt, genau an gleicher Stelle, an der Barenboim seinen Preis erhielt, im Berliner Haus der Kulturen der Welt. Das war 2008 beim Carl-von-Ossietzky-Friedenspreis, verliehen von der Internationalen Liga für Menschenrechte an das Bürgerkomitee des palästinensischen Dorfs Bil’in und ihre jüdisch-israelischen Freunde »Anarchisten gegen die Mauer«. (Letztere waren so basisanarchistisch, dass sie sich nur mit Mühe dazu durchringen konnten, zwei Personen zur Preisverleihung zu entsenden, denn eigentlich wollten sie nur als Kollektiv auftreten – das heißt in diesem Fall gar nicht.)

Uri Avnery war brillant und humorvoll wie in seinen Kolumnen und sagte sinngemäß am Ende: Der Kampf der Bil’iner um ihre Felder, die von der illegal verlaufenden israelischen Sperrmauer durchtrennt werden, sei ein Kampf um Menschenrechte und exemplarisch für diesen Kampf. Daher könne man, so wie John F. Kennedy 1961 hier in Berlin gesagt habe, dass »all free men, wherever they may live, are citizens of Berlin, and, therefore, as a free man, I take pride in the words ›Ich bin ein Berliner!‹«, heute sagen »Alle freien Menschen, überall auf der Welt, sind Bürger Bil’ins, und deshalb sage ich als freier Mensch mit Stolz ›Ich bin ein Bil’iner!«

Man kann sicher sein, dass Uri Avnery auch zu Daniel Barenboim etwas Gescheites eingefallen wäre. Aber es sollte nicht sein. Avnerys Frau und langjährige Kampfgefährtin Rachel war im März 2011, als Barenboim den Preis erhielt, schwer krank. Uri Avnery wollte daher nicht verreisen und nahm die Einladung zur Laudatio für Barenboim nicht an. Rachel Avnery starb im Mai 2011.

Ellen Rohlfs, seit den Anfangszeiten von Gusch-Schalom die Übersetzerin von Avnerys Kolumnen und Texten aus dem Englischen ins Deutsche, schlug daraufhin mich der preisverleihenden Körperschaft, der Gesellschaft der Freunde der Vereinten Nationen, als Ersatz für Uri Avnery vor. Tatsächlich erhielt ich die Anfrage, und ich nahm sie gerne an. Glück gehabt!

Der Vize-Preisverleiher

Überraschenderweise änderte sich aber auch der Preisverleiher. Eigentlich hätte nicht der Kulturstaatssekretär Berlins den Preis an Daniel Barenboim verleihen sollen – in der offiziellen Einladung stand ein anderer Name. Kommen sollte Klaus Wowereit, seit 2001 Regierender Bürgermeister Berlins, damals einer der bekanntesten Politiker Deutschlands. Er hätte laut Programmplanung als oberster Repräsentant Berlins am 22. März die Gäste und insbesondere den Preisträger Daniel Barenboim begrüßen sollen, dann sollte ich die Laudatio halten, Wowereit die Preisverleihung vornehmen und schließlich Barenboim die Dankesrede halten.

Vier Tage vorher, am 18. März, bat mich die Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen, ihr vorab den Text meiner Laudatio zu schicken. Begeistert war ich von diesem Ansinnen nicht, denn ich wollte, dass meine Rede für alle Anwesenden neu und überraschend sein sollte – aber gut, ich hatte die Rede ohnehin schon fertig und schickte sie. Wir einigten uns dann darauf, dass ich eine Passage streichen würde, in der ich sehr direkte Forderungen an die Politik stellte – eine Streichung, die der Laudatio nicht schadete.

Am Montag, 21. März, fuhren meine Frau und ich vergnügt nach Berlin, denn ich freute mich auf meine Rede. Außerdem war die Rolle als Laudator mit diversen Annehmlichkeiten verknüpft: Abholung vom Berliner Hauptbahnhof mit einem Porsche, Unterbringung für zwei Nächte im Hotel Adlon, dort Montagabend kleine Pressekonferenz und danach Essen mit den Beteiligten, bevor es Dienstagabend ernst würde. Nachdem wir aber im Hotel Adlon angekommen waren, herrschte bei unseren Gastgebern hektische Unruhe. Denn das Büro Wowereit hatte gerade – einen Tag vor der Veranstaltung – kundgetan, dass der Regierende Bürgermeister für diese Preisverleihung keine Zeit habe, und dieses Terminproblem gelte auch für mögliche Ersatztermine.

Maestro Barenboim war nicht amüsiert. Er sagte, er werde seinerseits den Termin platzen lassen, wenn nicht ein Politiker von Rang und Ansehen die Preisverleihung vornähme. Also glühten die Telefondrähte – doch keiner der Angefragten sagte zu. Wahrscheinlich hatten alle ihrerseits eine Frage gestellt: warum Wowereit dieses plötzliche Terminproblem bekommen habe. Und wahrscheinlich hatten sie eine Antwort erhalten und daraufhin ihre Teilnahme als nicht bekömmlich für ihre weitere politische Laufbahn befunden.

Wowereit hätte seinen Kultursenator schicken können, aber den gab es nicht. Denn Wowereit, stets selbst ein Freund von Kultur und Kunst, war in Personalunion Regierender Bürgermeister und Kultursenator. Ohne Senator wollte Barenboim es nicht machen. Es dauerte bis in den Abend hinein – weniger als 24 Stunden vor der Verleihung –, bis man sich schließlich auf Wowereits Stellvertreter in der Senatsverwaltung für Kultur geeinigt hatte, Kulturstaatssekretär André Schmitz – er war ja sozusagen der Kultursenator. Ich fragte mich natürlich als im hanseatischen Lübeck beheimateter Provinzler, den es in unsere Hauptstadt Berlin verschlagen hat: Was ist hier eigentlich los? Spinnen die alle hier?

Letzte Zweifel, um wen es bei diesem Geplänkel eigentlich ging, wurden mir aber am Abend der Preisverleihung genommen: Kulturstaatssekretär Schmitz änderte das Programm. Geplant war ja, dass zuerst Schmitz die Begrüßung vornehmen, ich die Laudatio halten, dann wieder Schmitz den Preis verleihen und Barenboim die Dankesrede halten sollte. Schmitz änderte das dahingehend, dass er direkt nach der Begrüßung an Barenboim den Preis verlieh – dabei wurde natürlich viel fotografiert – und ich erst danach mit der Laudatio die Begründung für den Preis gab und abschließend Barenboim die Dankesrede hielt. Das war nicht besonders sinnvoll. Aber der wesentliche Vorteil für Schmitz war, dass er es dadurch vermeiden konnte, mit mir zusammen fotografiert zu werden.

Ich hätte über all das zornig und deprimiert sein können. Aber es war mir völlig egal. Ich war wie in Trance. Ich wusste, dass meine Rede gut sein würde. Ich wusste, dass Barenboim und die Preisverleiher und ich den Humanismus vertreten und daher auf der richtigen Seite stehen. Und nach meinen ersten Sätzen wusste das auch jeder im Saal. So wurde diese Rede für mich zu einer persönlichen Sternstunde. Und zu einer Feierstunde der Demokratie gegen Engstirnigkeit und Nur-nicht-anecken-Wollen.

Vorauseilender Gehorsam

Wer da nun interveniert und Herrn Wowereit klargemacht hat, wie überaus inopportun es wäre, sich mit mir zusammenzutun – ich weiß es nicht sicher. Ich weiß aber, dass in vergleichbaren Fällen, die ich selbst erlebt habe, üblicherweise eine Allianz von Freunden der aktuellen israelischen Politik antritt: israelische Botschaft, jüdische Gemeinden und entsprechende Servicevereine, etwa die Deutsch-Israelische Gesellschaft, »honestly concerned«, neuerdings das American Jewish Committee in Berlin und andere.

So war ich im Mai 2013 zu einem Vortrag an die deutschsprachige Andrássy-Universität in Budapest eingeladen und wollte über das Thema »Weltkrieg um Palästina – von Lord Balfour bis John Kerry« sprechen. Fünf Tage zuvor meldete sich ein Herr Ilan Mor telefonisch beim Rektor der Universität. Er sprach sich scharf gegen meine Person aus: Mit mir könne man nicht diskutieren. Daher möge der Rektor bitte diesen Vortrag absagen. Ansonsten könnte er, der Herr Ilan Mor, ernsthaft verstimmt sein. Aber er rufe hier nur als Privatmann an. Mein Vortrag wurde aufgrund dieser Intervention des Privatmanns abgesagt. Herr Mor hielt sich aber durchaus beruflich in Ungarn auf: Er war der Botschafter Israels.

Dass es sich bei solchen und ähnlichen Interventionen nicht notwendigerweise um Einzelfälle handelt, zeigen die Recherchen von Al-Jazeera, die 2016 in der israelischen Botschaft in London einen verdeckten Journalisten eingeschleust hatten. Die Reportageserie The Lobby, Erstausstrahlung im Januar 2017, deckte auf, wie von dort systematisch Einfluss auf die britische Politik ausgeübt wurde, durchaus mit dem konkreten Ziel, einzelne Politiker bis hinauf zu Staatssekretären zu demontieren und genehme politische Strömungen zu befördern. Der verantwortliche Referatsleiter in der Botschaft, der dies selbstverständlich »nur als Privatmann« getan hatte, wurde daraufhin nach Israel zurückbeordert.

Genauso leidenschaftlich mischen sich Vorstände von jüdischen Gemeinden ein, um Vorträge zu verhindern – beispielsweise als ich in Hechingen eine Rede halten sollte. Dort, auf der Schwäbischen Alb, nicht weit von Tübingen, gibt es eine wunderschöne Synagoge, eine Erinnerung an das schwäbisch-jüdische Bürgertum, von dem die Nazis nichts übrig gelassen haben. Der Verein Initiative Hechinger Synagoge führt hier regelmäßig Veranstaltungen durch und hatte mich zum März 2015 für einen Vortrag eingeladen mit dem Titel »Sympathisieren Deutsche mit Palästina aus Abneigung gegen Juden?« Zwei Wochen vorher schrieb mir der Vorstand:

»Auf Grund diverser kritischer und skeptischer Äußerungen in den letzten Wochen … und eines scharfen Protestes der Israelitischen Religionsgemeinschaft Stuttgart,3 die uns als Vorstand zu einem beratenden Gespräch in Stuttgart einlud, sieht sich der Vorstand der Initiative Hechinger Synagoge leider gezwungen, Ihren für den 24. 3. 2015 vorgesehenen Vortrag bei uns, bei dem Sie von unserem Beirat als Referent vorgeschlagen worden waren, abzusagen. … seit Renovierung und Wiedereröffnung der Alten Synagoge 1986 … haben wir ablehnende Reaktionen dieser Art und dieses Ausmaßes im Vorfeld einer Veranstaltung nicht erlebt.«

Aufgrund dieser Absage des Vorstands trat der für das Programm verantwortliche Beirat des Vereins geschlossen zurück und organisierte meinen Vortrag zum vorgesehenen Termin an einem anderen Veranstaltungsort in Hechingen, der Villa Eugenia. Es war so voll, dass mein Vortrag in die zwei angrenzenden Säle per Lautsprecher übertragen werden musste. Das Echo war groß, die regionale Presse berichtete mehrfach.

Worum geht es dabei eigentlich? Was ist falsch an meinen Meinungen zu Judentum und Israel, wie ich sie in der Laudatio vorgetragen habe? Was ist daran so fundamental verkehrt, dass Politiker es vorziehen, damit bloß nicht in Verbindung gebracht zu werden? Selbstverständlich geht es dabei nicht nur um mich, sondern die Sache hat System. Hier einige Beispiele:4

Als Rupert Neudeck 2006 in Frankfurt in den Räumen des Evangelischen Regionalverbands sein Buch zum Palästinakonflikt Ich will nicht mehr schweigen. Über Recht und Gerechtigkeit in Palästina vorstellen wollte, organisierte der Historiker Arno Lustiger eine Protestveranstaltung. Die Raumzusage wurde zurückgenommen, die Buchvorstellung fiel aus.

2009 untersagte die Stadt München einen Vortrag des israelischen Historikers Ilan Pappe, Autor unter anderem des Buchs Die ethnische Säuberung Palästinas«, nach Protesten der Deutsch-Israelischen Gesellschaft München. Professor Pappe schrieb damals in einem offenen Brief an Oberbürgermeister Christian Ude, dass in den 1930er-Jahren sein Vater, ein deutscher Jude, auf ähnliche Art zum Schweigen gebracht worden sei und es traurig sei, nun 2009 wieder mit einem Redeverbot konfrontiert zu sein.

2014 wurde in Berlin ein Vortrag der amerikanischen und israelischen Journalisten und Buchautoren Max Blumenthal und David Sheen über die Situation in Gasa abgesagt. Zuvor hatte Volker Beck, Vorsitzender der Deutsch-Israelischen Parlamentariergruppe im Bundestag, in einem Schreiben an die Betreiber des Vortragssaals geltend gemacht, der Vortrag würde antisemitische Vorurteile fördern – obwohl beide Vortragende Juden waren.

2015 wurde in Köln eine Ausstellung von Schowrim Schtika (Breaking the Silence) nach Protesten der israelischen Botschaft abgesetzt. Breaking the Silence ist eine Organisation israelischer Ex-Soldaten, die das Vorgehen ihrer Armee in den besetzten Gebieten dokumentiert.

2016 wurde in Heidelberg eine Ausstellung mit Malereien palästinensischer Kinder abgesetzt. Die Bilder waren in einem Trauma-Rehabilitationszentrum von Kindern, die Bombenangriffe auf Gasa erlebt hatten, entstanden. Eine ungenannt gebliebene Organisation hatte sich bei der Stadt Heidelberg beschwert; daraufhin entschied die Stadtverwaltung, die Bilder in öffentlichen Gebäuden nicht zu zeigen.

Im September 2016 wurden in München nacheinander an drei Veranstaltungsorten bereits zugesagte Räume für einen Vortrag des jüdischen Publizisten Abraham Melzer zum Thema »Antisemitismus heute« auf Druck der Stadt abgesagt. Melzer klagte danach erfolgreich gegen die diese Aktion begleitende Argumentation der Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde München, er sei »für seinen Antisemitismus berüchtigt«.

In November 2016 wurde an der Universität Göttingen die Eröffnung einer Ausstellung über die Nakba (Flucht und Vertreibung der Palästinenser 1948) nach Protesten proisraelischer Studenten mehrfach verschoben, sodass sie schließlich an einem anderen Ort stattfinden musste.

So ist es also plausibel anzunehmen, dass auch bei der Barenboim-Laudatio Meinungsäußerungen aus der israelischen Botschaft oder der Jüdischen Gemeinde Berlin an Bürgermeister Wowereit herangetragen wurden. Als Politiker muss man viele ernüchternde Kompromisse schließen, das liegt in der Natur der Sache. Aber hatten Wowereit oder Schmitz das wirklich nötig, sich im Konflikt zwischen der israelisch-nationalistischen Staatsräson und einer menschenrechtsorientierten Sichtweise gegen die Menschenrechte zu entscheiden?

Kapitel 3:

Meine Eltern: Scheite, aus dem Feuer gerettet

»Ist dieser nicht ein Scheit, aus dem Feuer gerettet?« So beschreibt in einer Vision des Propheten Secharja (Zacharias) Gott den Hohepriester Jeschua, als er ihn, dessen Kleider besudelt sind und dem durch das babylonische Exil übel mitgespielt wurde, wieder in sein Recht setzt.

Ich lernte diesen Vers kennen, als ich zehn Jahre alt war. Die Vision war Bestandteil des Prophetenabschnitts, den mein älterer Bruder im Herbst 1962 übte, damit er ihn am Schabbat des Laubhüttenfestes vortragen könnte, wenn er als Bar-Mizwah zum ersten Mal zur Torah aufgerufen würde. Solche Scheite, gerettet aus dem Feuer des verglühten deutschen und europäischen Judentums, waren auch meine Eltern – das war uns Kindern klar, auch wenn vor unseren Ohren nicht über diese Ereignisse geredet wurde.

Mein Vater

Mein Vater, Ernst Jissruel-Jossef Verleger, kam als Fünfjähriger 1905 mit seinen Eltern und Geschwistern aus seinem Geburtsort Bendzin im Russischen Reich5 nach Falkenstein ins sächsische Vogtland. Dort half er bald seinem Vater, der dort dem Vertrieb vogtländischer Spitze nach Berlin begonnen hatte, offenbar recht tatkräftig, während seine vier Brüder schöngeistigen Beschäftigungen nachgingen: Der älteste Bruder Jonathan brachte in den 1920er-Jahren im Selbstverlag in Leipzig eine neue Talmudausgabe im aramäisch-hebräischen Urtext heraus, der jüngere Bruder Pinchas Elijahu ging von Berlin an die Jeschiwe (Talmudschule) nach Lublin, wo er als »Pinsche Berliner« zum herausragenden Studenten avancierte. Heinrich Jechiel – offenbar das schwarze Schaf – verdiente sein Geld in Berlin als Eintänzer, und der jüngste, bereits in Berlin geborene Adolf Jehuda Arje konnte dort sein Abitur machen. Für meine Tanten, die drei Schwestern Berta, Paula und Laura, war von ihren konservativen Eltern die Hausfrauenrolle vorbestimmt. Kennengelernt habe ich bis auf Onkel Arje keinen dieser Onkel und Tanten, denn sie sind alle mit ihren Ehegatten in den Vernichtungslagern umgekommen, außer Pinchas Elijahu: Er wurde in Lublin von der SS auf offener Straße erschossen.

Auch keinen meiner Großeltern habe ich kennengelernt. Mein Großvater Jizchak-Meir Verleger ist der Einzige von ihnen, der ein Grab hat. Er starb schon 1928 und liegt auf dem großen Berliner Friedhof in Weißensee. Seine Frau, meine Großmutter Miriam, starb nach der Deportation aus Berlin alt und wahrscheinlich aufgrund mangelnder medizinischer und allgemeiner Versorgung 1942 im KZ Theresienstadt.

Nach dem Tod meines Großvaters 1928 führte mein Vater eigenständig einen Stickereibetrieb im Vogtland und in Berlin. 1932 ging ein Zulieferbetrieb in Konkurs und versuchte zunächst erfolgreich, die erheblichen Schulden bei meinem Vater durch Anschuldigungen gegen ihn loszuwerden. Unter anderem wurde ein Prozess losgetreten, dass er von anderen patentierte Stickmuster verwendet habe. Zweimal, 1933 und 1935, wurde er in diesem Zusammenhang in Haft genommen, aber beide Male kam er aufgrund der Haltlosigkeit der Anschuldigungen frei.

Mein Vater hatte Ende 1920, mit knapp 21 Jahren, seine zwei Jahre ältere Cousine Rosa geheiratet. Zwei Töchter starben als kleine Kinder an Diphtherie und an Meningitis. Die drei Söhne waren 1938 elf, acht und drei Jahre alt, als die Familie Deutschland verlassen musste. Ich weiß nicht, ob die Familie angesichts der Hetze gegen Juden freiwillig ausreiste oder Deutschland erst verließ, als Juden ohne deutsche Staatsbürgerschaft in der »Polenaktion« Oktober 1938 gewaltsam ausgewiesen wurden – und von Polen nicht aufgenommen wurden, wodurch die Ausgewiesenen wochenlang im Niemandsland kampieren mussten wie die Eltern von Hersch Grynszpan. Der schoss deswegen in Paris den deutschen Botschaftsmitarbeiter Ernst von Rath nieder und gab damit Goebbels den Anlass für das staatlich gelenkte Pogrom der »Reichskristallnacht«.

Mein Vater ließ sich mit seiner Familie in seinem Geburtsort Bdzin nieder, zusammen mit seinem Bruder Arje sowie dessen Frau und kleinem Sohn. Als im September 1939 die Deutschen einmarschierten, brachte Onkel Arje seinen Vogtländer Schulkameraden Alfred Rossner nach Bdzin, weil Juden keine Geschäfte mehr führen durften. Rossner wurde in Bdzin zum Helden. Er leitete eine große Fabrik für Uniformnäherei, beschäftigte darin viele Juden und half ihnen zu überleben. Er selbst jedoch überlebte das nicht: Anfang 1944 wurde er von der Gestapo erhängt. Wahrscheinlich ist es ihm zu verdanken, dass Arje, seine Frau und sein Sohn, mein Cousin Meir, überlebten. Mein Vater leitete seinerseits in Bdzin eine Sattlerei und Seilerei und hatte, als er sich nichtjüdische Geschäftsführer besorgen musste, nicht so viel Glück wie sein Bruder mit Rossner. Die in seinem Betrieb eingesetzten Geschäftsführer wollten nicht für andere arbeiten und unternahmen daher nichts dagegen, als mein Vater, seine Frau und die drei Söhne deportiert wurden.

Meines Vaters Frau Rosa und seine drei Söhne Heinrich, Max und Henoch starben in Auschwitz, wahrscheinlich im Gas. Mein Vater bekam eine Nummer ins Handgelenk eingebrannt und wurde Arbeitssklave, zuerst in Monowitz, ab April 1944 im Zwangsarbeitslager Blechhammer, einer Außenstelle von Auschwitz westlich von Kattowitz. Im Januar 1945 wurde er mit Tausenden von anderen noch Lebenden nach Westen zurückgetrieben, damit sie nicht von der vorrückenden Roten Armee befreit würden, und kam in das Arbeits- und Vernichtungslager Zwieberge bei Halberstadt, dort Ende März sterbenskrank in die Krankenbaracke. Als die SS am 10. und 11. April 1945 das Lager räumte und die Insassen auf den letzten Todesmarsch schickte, versteckte er sich in der Krankenbaracke mit anderen Häftlingen unter dem Boden und schleppte sich am Folgetag, weniger als 40 Kilogramm wiegend, drei Kilometer weit nach Langenstein. Dort wurde er im Haus des Saatgutdirektors Rudolf Berninger sieben Wochen lang gesund gepflegt. Schließlich ging er mit Agnes, einer Frau, die er dort kennengelernt hatte, zurück in seine Heimat.

Zurück im Vogtland bemühte sich mein Vater um seine finanzielle Entschädigung. Im Juni 1945, noch unter amerikanischer Besatzung – erst ab 1. Juli kam Sachsen unter sowjetische Hoheit –, verständigten er und andere Opfer des NS-Staats sich mit dem örtlichen Leiter des US-Militärgeheimdienstes CIC darauf, dass sie sich unter dem Schutz der Besatzungsmacht an Personen, die sich während der Nazizeit an ihnen bereichert hatten, schadlos halten könnten. Dies tat er, sowohl an dem Besitzer des Zulieferbetriebs, der ihm seit 1932 Geld schuldig geblieben war,6 als auch an der Anwaltskanzlei, die ihn dabei mit einem falschen, antisemitisch unterlegten Meineidsvorwurf in Untersuchungshaft gebracht hatte, sowie an den beiden Vogtländern, die 1940 in Bdzin den Betrieb übernommen hatten. So wurde er wieder ein wohlhabender Mann.

Er eröffnete einen neuen Textilbetrieb und kaufte ein freistehendes Haus mit großem Garten und Blick ins Göltzschtal. Er spendete in großem Maßstab,7 schon zu Weihnachten 1945 150 Paar Schuhe, 90 Zentner Weizen, 70 Zentner Mohrrüben und 80 Zentner Kartoffeln,8