Hundert Jahre Zärtlichkeit - Pierre-Héli Monot - E-Book

Hundert Jahre Zärtlichkeit E-Book

Pierre-Héli Monot

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Beschreibung

Im politisch so umkämpften wie ereignisreichen 20. Jahrhundert kommt dem Surrealismus, wie ihn André Breton 1924 in seinem Ersten Surrealistischen Manifest entwarf, eine Sonderstellung zu: Obwohl er heute selten anders denn als künstlerische Avantgarde rezipiert und erzählt wird, handelte es sich tatsächlich um eine bürgerliche Aufbruchsbewegung, die das Bürgertum selbst vor seine Widersprüche zu stellen versuchte. In Romanen, Aufsätzen und Gedichten konzipierten die Surrealisten eine Politik der minimalen Ansprüche, die das Bürgertum an sich selbst zwingend stellen soll: falls das Bürgertum diesen minimalen Redlichkeits- und Folgerichtigkeitsansprüchen nicht gerecht werden sollte, so gehörte es abgeschafft. In beiden Fällen würden sich nämlich die Werte von Freiheit, Gleichheit und Solidarität realisieren, indem bürgerliche Privilegien aufgegeben und gemeinsame Werte erkämpft werden könnten. Hundert Jahre nach seiner Ausrufung ist der Surrealismus brandaktuell für unsere krisengebeutelte Gegenwart, in der die bürgerliche Klasse nicht nur verkennt, dass sie kaum noch gemeinsame Klasseninteressen hat, sondern auch angesichts steigender Ungleichheit ganz und gar historisch gelähmt ist. Der radikale Freiheitsbegriff, der sich aus dem surrealistischen Programm ergibt, erlaubt uns heute, eine Politik der Möglichkeiten angesichts apokalyptischer Aussichten zu denken – wenn wir den Surrealismus nicht nur feiernd historisieren, sondern erneut als konkreten Ausgangspunkt politischer Bewegungen begreifen. Doch dies ist schließlich ein Buch über einen historischen Präzedenzfall: bürgerliche Revolten gegen das Bürgertum sind immer auch Enthemmungsmomente, deren Preis die Gesellschaft unter Umständen schließlich zahlen muss.

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Hundert Jahre Zärtlichkeit

Pierre-Héli Monot

Hundert Jahre Zärtlichkeit

Surrealismus, Bürgertum, Revolution

»Dann war es ein Donnerstag, und ich bin immer donnerstags mit einer Freundin in die Sauna gegangen. Also bin ich in die Sauna gegangen. Als ich mit meiner Saunatasche zurückkam in die Schönhauser Allee in Berlin, direkt an der Bornholmer Straße, da sah ich, wie die Leute herunterliefen. Dann werde ich nie vergessen, es war vielleicht halb elf, elf Uhr, vielleicht auch ein bisschen später: Dann bin ich einfach den Leuten hinterher. Ich war alleine, aber ich bin immer hinterher.«1

Angela Merkel über den 9. November 1989

»Ich bin wie Robespierre. Er saß eines Tages im Café und sah eine Menschenmenge vorbeilaufen. Da hat er seinen Kaffee stehenlassen und hat sich an den Kopf der rennenden Menge gestellt. Man fragte ihn: Aber warum, wo gehen Sie denn hin? Ich weiß es nicht, sagte er, aber ich muss bei allem, was passiert, immer vorneweg sein.«2

Salvador Dalí, 1966

»Nicht durch ihre Originalität zeichnen sich die Zivilisationen aus, sondern durch den hohen Grad ihrer Universalität, ihre Kohärenz, das heißt durch das geringe Maß an Heuchelei, das ihre Großmut enthält.«3

Emmanuel Levinas, 1963

Inhalt

1. Kapitulation: Zum bürgerlichen Selbstmord

2. Rekapitulation: Kurzer systematischer Abriss einer Insurrektion

a) Dialektisch

b) Historisch

c) Dogmatisch

3. Realismus™: Eine Logik der Lähmung

a) Heuchelei als Herrschaftsprinzip

b) Heuchelei als Besitzprinzip

c) Heuchelei als Realitätsprinzip

4. Kenntnis der Knechtschaft: Von der Illusion

a) Organisierte Heuchelei: Von der Animal Farm zur Animal Firm

b) Kleine Märchenkunde

5. Ein radikaler Freiheitsbegriff: Wenn alles verboten ist, wird alles möglich

a) Mord

b) Selbstmord

c) Zierde und Zerwürfnis

6. »In eigener Sache«: Bürgerlicher Bürgerhass

7. Im Angesicht apokalyptischer Aussichten: Figuren einer Politik der Möglichkeiten

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

1.

Kapitulation: Zum bürgerlichen Selbstmord

»wie will man da irgendwelche Zärtlichkeit oder Toleranz zeigen gegenüber einem wie auch immer gearteten sozialen Konservierungsapparat? Das wäre wirklich der einzige Wahnsinn, der für uns unannehmbar wäre.«4

André Breton, Zweites Manifest des Surrealismus, 1930

Unter welchen Bedingungen verschreibt sich die intellektuelle Bourgeoisie eigenmächtig und glaubwürdig der Revolution? Welche historischen, politischen, ökonomischen und kulturellen Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit ideologisch und ökonomisch dominante Schichten (Ärzte und künftige Ärzte, Funktionäre und künftige Funktionäre, Gelehrte und wohlgelahrte Stipendiaten, Journalisten und Volontäre) gerade diejenigen Strukturen angreifen, die ihre Herrschaftsansprüche begründen? Wann und warum erklärt sich der bourgeois, der Bürger und Bildungsbürger, der sozial dominante citoyen, zum Selbstmörder und Opfertier?

Unter den heute noch halbwegs geläufigen westeuropäischen intellektuellen Bewegungen des 20. Jahrhunderts ist der Surrealismus die historisch letzte, die sich als bürgerliches Klassengebilde ihrer Selbstsabotage eigenmächtig und glaubwürdig hingegeben hat. Beide Adjektive sind hier essenziell. Ob die Surrealisten in ihrer Hingabe zur Revolution erfolgreich oder nachahmenswert gewesen sind, spielt in diesem Buch dagegen eine untergeordnete Rolle.

Dennoch markiert das surrealistische Experiment eine historische und ideologische Zäsur im politischen Bewusstsein der intellektuellen Klasse. Spätere bürgerliche Bewegungen der Nachkriegszeit (Mai 19685, die überwiegend akademischen Traditionen der 1980er und 1990er Jahre, der europäische und US-amerikanische Neokonservatismus) waren nicht (bzw. waren nicht sehr und waren somit letztlich kaum) revolutionär.6 Auch inthronisierten sie unter ihren Vordenkern ausgerechnet jene, die zwar die teils obszönsten revolutionären Sehnsüchte bedienten, aber für eine ausgesprochen reformistische Politik warben (Michel Foucault statt Cornelius Castoriadis, Judith Butler statt Luce Irigaray usw.). Effektiv revolutionäre Bewegungen der jüngeren Gegenwart (zahlreiche territoriale Unabhängigkeitsbewegungen, die erste, linke Welle der Gilets Jaunes, die autonomen Gruppierungen in Chiapas), das heißt solche, in denen aus den theoretischen Ambitionen auch praktische Mittel folgen, sind wiederum nicht bürgerlich. Auch inthronisieren sie keine Intellektuellen. Die Surrealisten allein erfüllten Anfang der 1920er Jahre das doppelte Kriterium einer bürgerlichen und revolutionären Bewegung gegen das europäische Bürgertum. Als Letzte schrieben sie sich das Programm einer totalen Veränderung menschlicher Existenz auf die Fahnen, durch die sie alle Prärogative ihres bürgerlichen Intellektuellentums verloren hätten. Warum?

Diese erste Frage lädt dazu ein, eine zweite zu stellen: Warum gelingt es den bürgerlichen Schichten westlicher, hochtechnologischer, kapitalistischer, liberaler, demokratischer Gesellschaften nicht, jene grundlegende Transformation zu bewerkstelligen, der, schenkt man den Beteiligten Glauben, die politische Wirklichkeit dringend unterzogen werden müsste? Tatsächlich scheint es für Grundlegendes nicht an Motivation zu mangeln, trotz einer prächtigen und unzweifelhaften Fortschrittsgeschichte – für Frauen, für Minderheiten und für Leute wie mich. Alles: die steigende Ungleichheit der Kapitalverteilung und der Lebenserwartung zwischen Ländern, Klassen, Ethnien und Individuen, die Privatisierung der Gewinne, die Sozialisierung der Verluste, die Fiktivität ökonomischer Maßeinheiten (Übung: definiere die nichtfiduziarische Substanzialität eines »Dollars« und definiere den Wert dieser Substanzialität selbst), allgemein die Esoterik der Wirtschaftswissenschaften (eine Disziplin, deren prognostische Verlässlichkeit bestenfalls mit der der Astrologie der Renaissance vergleichbar ist), der neuerliche Rückgang der Lesefertigkeit bei Akademikern in Europa und den Vereinigten Staaten,7 die sinkende durchschnittliche Lebenserwartung in westlichen Gesellschaften seit 2018, die funktional-dysfunktionale Neutralisierung des Protests zu teils verbalen, teils symbolischen, allenfalls kostenneutralen Ansprüchen auf Gerechtigkeit, die mondäne Vereinnahmung realer sozialer Fortschritte, die obszöne Geschichtsvergessenheit der managerialen Amtssprache (Henri de Castries, damals CEO von Axa, im Jahr 2012: »Arbeit ist Freiheit«8; de Castries ist im Übrigen ein Nachfahre des Marquis de Sade9), die Tabuisierung des Extremismus der Mitte10, die unaufhaltsame Zerstörung von Biosphäre und Biodiversität, die Zersetzung sozialer Gemeinschaften durch Flexibilitäts- und Disponibilitätsansprüche, die Privatisierung öffentlich finanzierter Forschungsergebnisse, die Überwachung, das Abhören, die Lohnabhängigkeit als Schicksal, die Massenarbeitslosigkeit, die militärischen Nichtinterventionen im Namen der geopolitischen Multipolarität, die Migrantenhavarien und so weiter und so fort. Die Begründbarkeit solcher Klagen (es sind die quasi aller, mit denen ich beruflich verkehren könnte) ist hier nebensächlich. Am Promoviertenstammtisch, wie auch in den dominanten Schichten der westlichen Gesellschaft im Allgemeinen, ist die Katze aus dem Sack. Empirischen Erhebungen zufolge halten 74 Prozent der Besserverdienenden mit akademischem Abschluss den Kapitalismus für ein ungerechtes System. 56 Prozent halten ihn sogar für schädlich.11 Man müsste hier allerdings eine logische Schlussfolgerung hinzufügen: 18 Prozent der Besserverdienenden mit akademischem Abschluss halten also einen ungerechten Kapitalismus für unschädlich.

Die Unfähigkeit, sich effektiv und angemessen solchen apokalyptischen Problemen zu stellen, ist für die gegenwärtige Formation des Kapitalismus ebenso kennzeichnend, wie es diese Probleme selbst sind. Das ist, historisch betrachtet, faszinierend genug. Die langsame Zersetzung aller politischen Handlungsfähigkeit scheint sowohl zu den objektiven politischen Strukturen der Gesellschaft als auch zum subjektiven politischen Fatum ihrer mündigen, gelähmten Bürger zu gehören: Sie können nicht. Bürgerlichkeit verpflichtet höchstens zu einer kollektiven, verbalen Ablehnung des Unrechten und des Unhaltbaren; doch nur in den seltensten Fällen zieht das Bürgertum aus dieser Haltung praktische Konsequenzen, die zu einer effektiven, sei es auch nur reformistischen Klärung und Durchsetzung jener gesellschaftlichen Transformationen führen könnten, die allseits als notwendig erachtet werden. Das Phänomen wurde lärmend als reflexive impotence tituliert, also als eine subjektive Inkorporation objektiver Strukturen in Zeiten des »kapitalistischen Realismus«12 gedeutet: Weil es uns leichter fällt, uns das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus, werden wir ihm ausgeliefert bleiben; weil wir etwas nicht tun, glauben wir, dass wir es ohnehin nicht tun könnten. Das wusste allerdings schon Spinoza – mit gewitzteren philosophischen und politischen Schlussfolgerungen.13

Auf diese Lähmungsdiagnosen folgten die wunderlichsten scholastischen Inversionen: Es sei der Kapitalismus selbst, nicht die Bürger, der sich aus politischen Belangen zurückgezogen habe.14 Der Ambivalenz des Phänomens wird das schwerlich gerecht. Wie es zu dieser Kopplung von gesellschaftlicher Einsicht und politischer Passivität kommen konnte, wie dieses Zusammenspiel von bürgerlicher Entrüstung und politischer Tetanie zum primären Realitätsbezug eines wesentlichen Teils der westlichen, sich selbst als »bildungsnah« bezeichnenden Schichten werden konnte, davon vermitteln diese Großerzählungen kein historisches Verständnis. Westliche Gesellschaften sind besser als je zuvor über ihre eigene Dysfunktionalität informiert; noch nie haben Menschen so souverän über das Elend der Welt sprechen können. Zugleich ist die Möglichkeit einer effektiven, diesem Elend angemessenen Handlungsfähigkeit nie so stringent verneint worden. Wieso will man, kann aber nicht? Wieso wollte André Breton, inwiefern konnte er? Wichtiger noch: Wieso hatte er überhaupt die Vorstellung, es zu können?

Wäre der Surrealismus nicht schulisch, kunstgeschichtlich und politisch verschüttet, würde er in der gegenwärtigen Konstellation entscheidend sein. Schon immer wird er systematisch von den je hegemonialen Gelehrtenkulturen abfällig behandelt, und dies schon seit Erscheinen der ersten surrealistischen Manifeste. Dagegen kamen auch Walter Benjamin und die Situationisten nicht an. Es reicht ein Blick auf die pädagogische Zurichtung einer literarischen Bewegung, die in Frankreich zur Schullektüre gehört und die neben Louis-Ferdinand Céline oft die Einzige ist, die junge Bürger nicht vehement ablehnen. Auf dem Stundenplan: zwei Theoreme und zwei Lektionen, allesamt tautologisch. Erstes Theorem: Die bürgerliche Revolution des Surrealismus war deswegen nicht revolutionär, weil sie bürgerlich war. Erste Lektion: Bürger dürfen ihre Bürgerlichkeit weder ablegen wollen noch ablegen können. Zweites Theorem: Die bürgerliche Revolution des Surrealismus war deswegen nicht bürgerlich, weil sie revolutionär war. Zweite Lektion: Käme es wieder zu einer Revolution, würden die Bürger an ihr weder teilhaben können noch teilhaben wollen. André Breton wusste das: »Meines Erachtens geht es viel zu weit, dass der Surrealismus nun in Schulen unterrichtet wird. Ich habe keinen Zweifel daran, dass man ihn dadurch einengen will.«15

Der pubertierende deutsche Bürger der intellektuellen Oberschicht liest, wenn ich recht unterrichtet bin, Franz Kafka und Joan Didion*; der pubertierende französische Bürger liest André Breton und Antonin Artaud. Als liturgische Einweihung, als rituelle Initiation in den Kreis der mäßig Lesekundigen und der maßlos Vermehrungs- und Akkumulationswilligen16 nimmt sich das vielleicht nicht viel, obgleich sich die heiligen Texte unterscheiden. In beiden Fällen stellt das verschulte Zeremoniell sicher, dass die scheinbaren Paradoxien bürgerliche Revolution gegen das Bürgertum bzw. ritueller Selbstmord der magistrierten Bourgeoisie aus der Riege der rhetorischen Figuren ausscheiden, die die Zukunft dieser jungen Existenzen strukturieren werden.

Stattdessen, und allen voran unter diesen rhetorischen Schlüsselfiguren moderner Bürgerlichkeit, sei das Oxymoron genannt. Für die Bescheidenen: die unvoreingenommene Meinung, das less is more und die Tragikomik. Für die Fortgeschrittenen: die docta ignorantia, das beredte Schweigen und die Nacht der lebenden Toten. Von einer freiwilligen Knechtschaft zur nächsten ist nun der junge Bürger – A damned saint, an honourable villain!17 – in der Kunst unterwiesen worden, sich ausschließlich solche Paradoxien zu Herzen zu nehmen, die sozial sanktioniert sind und einen vollends kalzifizierten, niemals überwindbaren politischen Horizont umschließen.

Junge Einsichtige, junge Nichtkönnende; mir selbst sind – als waschechtem Demokraten, als ambigem Kapitalisten, als bekennendem Reformisten, als habituellem Kosmopoliten, als grundlegend liberalem Individuum, als weitherzigem Humanisten, als Rationalisten und Künstler – die Grundzüge des Surrealismus immer fremd, gar zuwider gewesen: die Lobreden auf den Marquis de Sade (seine metaphysischen Demonstrationen aus Kinderleichen; Paz, Foucault, Bataille, Blanchot, Barthes sind da viel raffiniertere, viel kasuistischere Leser des »göttlichen Marquis«), die pauschale Verteufelung antinomischen Denkens, die Steifheit ihrer Vernunftkritik, die Gewaltbereitschaft, die verallgemeinerte Kapitalismuskritik, der Sammelfimmel (Masken, Pfeifen, Schachbretter, Frauen), die mittelguten Romane Louis Aragons, die politische Backfischdichtung Paul Éluards, die Unfähigkeit, das Böse zu benennen, der Eifer, sich der Methoden des Feindes zu bedienen. Die Bürgertumskritik selbst ist nicht Teil meines üblichen Repertoriums. Ich gehöre nun mal zu jenen, die von den sozialethischen und bürgerrechtlichen Reformen der letzten Jahrzehnte profitiert haben. Leute wie ich sind etwas besser geschützt, als sie es vielleicht jemals gewesen sind. Man weiß hier also nicht mehr so recht, was davon signifikanter ist: die Gewaltbereitschaft des Surrealismus oder ihre Trivialisierung im Kern der bürgerlichen Kultur.

Das surrealistische Ethos geistert aber noch immer durch das Imaginäre der intellektuellen Klasse Europas. Man hat revolutionäre Versuchungen und kann sich für die aktuelle Problemlage keine andere Lösung mehr vorstellen als die einer absoluten Politik. Man sehnt einen »Umsturz« herbei, dieses hässlichste aller Wörter in der deutschen Sprache. Allerdings hat der stets auf Effektivität bedachte Radikalismus eines André Breton oder eines Benjamin Péret zwischenzeitlich einen verharmlosenden, der Epoche konformen linguistic turn erfahren. Den Surrealisten war es eminent wichtig, dass ihre Lust zur Diffamierung und zur Rufschädigung von konkreten Straftaten begleitet wurde.

Das Bürgertum hingegen trennt das Erzählte und das Erlebte immer mit Emphase; es hat im 18. Jahrhundert die Autobiografie erfunden, um die konstitutive Trennung von Dichtung und Wahrheit quasitotemistisch zu zelebrieren. Die Surrealisten waren um einen angemessenen Abgleich beider Ordnungen, des Erzählten und des Erlebten, stets peinlichst bemüht. Kein Begriff ohne Denotat, kein Manifest ohne Sachbeschädigung, keine Invektive ohne Körperverletzung, kein Weltentwurf ohne Weltzerstörung, keine Weltzerstörung ohne Weltentwurf. Damit stehen sie in der revolutionären Tradition, die mit der Pariser Kommune beginnt und sich in Chiapas fortsetzt.

Die Viktorianischen Bürger, das gediegene Bürgertum des Deutschen Kaiserreichs und die bourgeoisie der Dritten Republik konnten noch getrost die Existenz der Arbeiterslums, die sich in ihrer eigenen Stadt, vor ihrer eigenen Haustür ausbreiteten, romantisieren, ignorieren, gar vehement leugnen. Dafür war die List des Vernünftelns erforderlich. In Europa wurde moralisiert und entpolitisiert. Soziales Leiden, Marginalität und politischer Dissens wurden auf fehlende bürgerliche Werte zurückgeführt. Es wurden Abstinenzlervereine gegründet, Homosexuelle kastriert und Stempeluhren aufgestellt. In den Vereinigten Staaten konnte wiederum die Sklaverei dadurch legitimiert werden, dass sie seit der Antike einen Menschenbegriff vorausgesetzt habe, dem die afroamerikanische Bevölkerung (es waren eben keine Bürger) niemals gerecht werden könne. Dass ein Sklave sogar von dem Pferd, auf dem er ritt, vom Hund, den er streichelte, als Mensch anerkannt wurde, reichte partout nicht aus, um ihm den Dreiklang von whipping, branding und hanging zu ersparen.18 Pervers, aber wahr. So waren die Bürger. Sie konnten selten Sklavenhalter sein, ohne auch ein wenig Verfassungsrechtler und Altphilologen zu sein, und vice versa. Auch später noch konnte sich das Bürgertum einiges an Humanitäts-, Einsichts- und Schuldabwehr leisten, sich darin sogar selbst übertreffen. Routiniert wurde ungeschehen und -gewusst gemacht.

Heute ist das nicht mehr möglich. Uneinsichtigkeit ist offiziell diskreditiert. Man hat – völlig zu Recht – in Sack und Asche zu gehen. Gleichzeitig haben aber viele der neuen Verbrechen, in die sich das Bürgertum Einsicht verschafft hat, an Substanz, an Glaubwürdigkeit, schlicht an Realität verloren, und zwar für das Bürgertum selbst. Es scheint, als schließen sich die Erkennbarkeit und die Nachdrücklichkeit der politischen Realität gegenseitig aus. Man ist hin- und hergerissen. Man wägt dann die Bedingungen ab, unter welchen die Errichtung eines Elektrozauns um Europa mit unsren Werten vielleicht doch vereinbar wäre; man träumt von Käfigen, dann träumt man von Kultur, dann wieder von Käfigen. Zwar wird die Abschaffung der Not als Ziel erkannt, doch werden die notwendigen Konsequenzen nicht gezogen. Wie ist diese Lähmung entstanden?

Auffällig ist vor allem, dass wahrlich jeder Bürger eine Theorie dazu hat, sich also Theoriebildung zutraut. Einmal sind es die irdischen Leidenschaften (für Frankophile: die attachements passionnels), die Menschen daran hindern, das Notwendige auf das Erkannte folgen zu lassen. Einmal wird beklagt, die anderen – die Mitbürger – seien zur kollektiven Handlung nicht zu bewegen. Das Theoretisieren-Können der eigenen historischen Passivität, die Abstraktion eines Weltbildes aus der Welt der ungeschehenen Geschehnisse, die »Phantomisierung«19 des politischen Realen gehören somit dem gegenwärtigen Selbstverständnis des Bürgertums selbst an. Doch das Verdrängte, das Ungeschehen-Gemachte hat immer das letzte Wort, mag das Bürgertum auch in Zukunft noch so viele Mauerfälle in der Sauna verschlafen, noch so oft »den Leuten« hinterherhumpeln.

Mir geht es in diesem Buch darum, diese Widersprüche zu verstehen, ohne sie durch den Fleischwolf der scholastischen Rationalisierung zu jagen. Ich versuche zu erklären – mir selbst zu erklären –, warum in der jüngeren Gegenwart trotz konstanter Heraufbeschwörung kein bürgerlich-revolutionäres Subjekt entstanden ist. Dem kommenden Umbruch wird nachgesagt, er sei so nah, dass man ihn fast riechen könne; nicht mehr verständlich sei nur, dass dieser Umbruch nicht stattfindet.20

Den Surrealisten ist einst diese Vollstreckung gelungen, mit teils katastrophalen, teils prophetischen Konsequenzen. Auf den folgenden Seiten argumentiere ich, dass die Kritik des Bürgertums, die die Surrealisten zum Kern ihres Projekts erklärten, für ihre politische Radikalisierung entscheidend gewesen ist. Dabei greifen sie mit der Kritik der bürgerlichen Heuchelei auf eine klassische Figur der politischen Philosophie zurück, die sie noch radikaler fassen, als ihre Vorgänger – die Jakobiner, Hegel, Baudelaire – es jemals vermochten. Aus der Kritik dissoziativer Bewusstseinsstrukturen konzipieren die Surrealisten eine Politik der minimalen Ansprüche, die das Bürgertum an sich selbst zwingend stellen soll: Falls das Bürgertum diesen minimalen Redlichkeits- und Folgerichtigkeitsansprüchen nicht gerecht werden sollte, so gehörte es abgeschafft. Zugleich vertreten die Surrealisten, dass politische Möglichkeiten und ein nichttriviales Realitätsverständnis die höchsten revolutionären Güter bilden: Das Bürgertum wird nicht in dem Moment revolutionär, in dem es sich das Ende des Kapitalismus vorzustellen lernt, sondern überhaupt das Ende der Welt.

Dies ist schließlich ein Buch über einen historischen Präzedenzfall. Bürgerliche Revolten gegen das Bürgertum sind Enthemmungsmomente, deren Preis schließlich die Gesellschaft zahlen muss. Die surrealistische Bürgerlichkeitskritik und ihre Kritik des bürgerlichen Realitätsverständnisses waren dabei nicht lediglich Pose; auch waren sie kein Artefakt, das im Fegefeuer der Kunstgeschichte verweilen muss. Bürgerlichkeitskritik war der wesentliche Leitgedanke einer der wichtigsten bürgerlichen Bewegungen des 20. Jahrhunderts. 2024 wird der Surrealismus hundert Jahre alt. Das Bürgertum wird ihn feiern.

* »Das war mal so«, versichern mir die unzähligen Kulturpessimisten, die mein Privatleben belagern, »Jungbürger lesen heute höchstens Tolkien und Die Memoiren einer Geisha.« Gut möglich; für das vorliegende Argument aber nur bedingt stichhaltig.

2.

Rekapitulation: Kurzer systematischer Abriss einer Insurrektion

»aber wie kann ich tugendhaft sein, wenn ich nicht bin, wie ein gutes Gewissen haben, wenn ich nichts weiß?«21

Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, 1844

Ich gehe hier, wie auch im weiteren Verlauf meiner Argumentation, ohne allzu regen Austausch mit der Surrealismusforschung vor. Das, was unbedingt belegt werden sollte, ist in der einschlägigen Literatur hundert Mal belegt worden. Ich skizziere hier lediglich eine Interpretationshypothese, die je nach Antizipationshaltung sowohl im Namen der kulturgeschichtlichen Wahrheit verworfen als auch im Namen der von ihr aufgezeigten politischen Möglichkeiten geduldet werden kann. Meine Argumentation verlangt der Leserin ab, weitgehend aufs Wort geglaubt zu werden. Ich lasse den ganzen avantgardistischen Kitsch beiseite; keine weichen Uhren, keine franko-hispano-russischen Liebestriangel. Dafür rezipiere ich einen politischen Surrealismus – einen interessanten, obszönen, heimlich prägenden Surrealismus –, dessen Hauptquellen noch nicht einmal ins Deutsche übersetzt worden sind. Glücklich die deutsche Leserin, die diese schönen, skrupellosen Texte noch nicht kennt! Ich schicke, hier wie überall, Thesen voraus, die erst einige Seiten, manchmal einige Kapitel später mit historischem Material unterfüttert werden. Surrealistische Grundbegriffe wie »Bürgertum«, »Kapitalismus« und »Demokratie« werden samt ihrer Bestimmungsdefizite, das heißt samt ihrer sozialen Wahrheit als windige Lexeme verwendet; für die Surrealisten wie auch für ihre Opponenten ist diese Windigkeit funktionsrelevant. Sie macht manche Peinlichkeiten, manche analytischen und strategischen Schwächen wett. In den abschließenden Kapiteln werden diese Begriffe allerdings eingehegt, und zwar rein instrumentell. Es geht mir schließlich darum, die praktischen Zwecke und Kosten dieser Interpretationshypothese zu explizieren.

a) Dialektisch

»Ich könnte auf der 5th Avenue stehen und jemanden erschießen und würde trotzdem keine Wähler verlieren.«22

Donald Trump, Wahlkampfveranstaltung in Iowa, 2016

Heute gehören solche Sätze zum gnadenlosen Horizont jener liberalen, demokratischen, kapitalistischen Gesellschaften, die so gut wie jede Wehrhaftigkeit eingebüßt haben. Damit gewinnt man heute Wahlen. Vor hundert Jahren war dieses kill-and-win-Szenario wiederum die verruchteste Leitmaxime des Pariser Surrealismus: »Die einfachste surrealistische Handlung besteht darin, mit Revolvern in den Fäusten auf die Straße zu gehen und blindlings soviel wie möglich in die Menge zu schießen.« 23

Seit den 1970er Jahren gehört es zum guten ideengeschichtlichen Ton, solche paroxystischen Sätze aus dem Zweiten Manifest des Surrealismus (1930) blindlings zu überbieten: entweder aus Empörung, wie Karl-Heinz Bohrer, der die Surrealisten des »Bürgerhasses« und des »Terrors«24 bezichtigte, oder aus koketter Gleichgültigkeit, wie der Situationist Raoul Vaneigem, der hier die Surrealisten umgekehrt der »Bürgerlichkeit« und des »Reformismus«25 verdächtigte. Etwas dialektischer formuliert, gegen solche scholastischen Symmetrien, und im Namen des ausgeschlossenen Dritten: Die Surrealisten entwerfen einen bürgerlichen Bürgerhass, der sich gegen den gerne suggerierten reformistischen Terror der politischen Moderne und jenen ihrer künftigen Nachfahren richtete, die nun unsere Gegenwart vorgeblich bilden.

Scheinbar antithetische, von der Ideengeschichte verworfene, kraft der politischen Fantasie wiedergewonnene Konstruktionen wie bürgerlicher Bürgerhass und reformistischer Terror sind weder weiße Schimmel noch schwarze – weder Pleonasmen noch Oxymora. Bürgerlichkeit impliziert weder zwingend Bürgerhass (obwohl Bürgerhass zur bürgerlichen Folklore gehört), noch schließt Bürgerlichkeit prinzipiell jede Selbstanklage aus (obwohl das Bürgertum dabei in der Regel selbst paroxystisch, das heißt selbstschonend vorgeht; neuerdings wird neben maximalistischen Begriffen wie »Bürgertum« und »Kapitalismus« nun hochtrabend das »Anthropozän«, also der anthropos im Allgemeinen gerügt und nicht nur jene pathologisch industrie- und konsumfreundlichen anthropoi, die empirisch betrachtet den Löwenanteil dieser ökologischen Sauerei verschuldet haben: Bei der Schuldzuweisung geizt das Bürgertum niemals rum, ist in der Regel sogar erst dort richtig selbstlos). Andererseits impliziert Reformismus weder zwingend Terror (obwohl deindustrialisierte Demokratien nicht mehr ohne militarisierte Sicherheitsdienste auskommen), noch schließt Reformismus prinzipiell jeden Terror aus.

Bürgerlicher Bürgerhass und reformistischer Terror sind dialektische Figuren und theoretische Fiktionen, die uns vor der Lähmung bewahren, die uns angesichts übertroffener Erwartungen heimsucht. Ausschlaggebend ist nämlich, dass der Surrealismus historisch prägend gewesen ist und den Augenblick seiner Verwirklichung nicht versäumt hat. Das, was Breton, Aragon, Éluard, Max Ernst einst als radikale Kritik der politischen Moderne entwarfen, ist längst von der politischen Moderne inkorporiert worden, genau wie es die Pariser Kerngruppe selbst verlangte: »die halluzinatorische Macht« der surrealistischen Schöpfungen sollte künftig jenen »handfesten Charakter annehmen, der die Grenzen der sogenannten Wirklichkeit verrückt«.26 Profaner: Das, was einst »automatisches Schreiben« und Emanzipation war, ist heute zu brainstorming und Disziplinierung verkommen, wie Guy Debord in der ersten Ausgabe der Internationale Situationniste bemerkte. Auch ist es schwer – sicher schwerer, als für andere intellektuelle und künstlerische Bewegungen des 20. Jahrhunderts –, überhaupt ein wahres Bild des Surrealismus zu zeichnen und der Geschichte einer Bewegung gerecht zu werden, die ebenso sehr aus programmatischem Denken und theoretischen Armierungen bestand wie aus bloßen Verirrungen, Aspirationen, Attitüden und praktischen Experimenten.27 Konstruktionen wie bürgerlicher Bürgerhass und reformistischer Terror sind historisch schwach begründet, aber theoretisch notwendig, um dem Surrealismus überhaupt noch das abzugewinnen, was nicht schon längst in unserer liberal-demokratischen Realität assimiliert worden ist – weil es nicht assimiliert werden konnte. Walter Benjamin, Kristin Ross, Cornelius Castoriadis und einige andere sehen das mit dem für ihre Epochen jeweils typischen Gemisch aus Leichtfertigkeit und Radikalität: Vergangenes zu verstehen und für eine Gegenwart aufzuzeigen heißt, »sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt«. Wenn die Geschichte uns darüber belehrt, dass der surrealistische Ausnahmezustand nun die Regel geworden ist, dann wird uns »als unsere Aufgabe die Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustandes vor Augen stehen«.28

b) Historisch

»Wer nicht wenigstens einmal im Leben Lust gehabt hat, auf diese Weise mit dem derzeitigen kleinen System der Erniedrigung und Verdummung aufzuräumen, der gehört eindeutig selbst in diese Menge, mit dem Bauch in Schusshöhe.«29

André Breton, Zweites Manifest des Surrealismus, 1930

Die Bedeutung des Surrealismus als Drehscheibe der Moderne ist unterdessen nie unterschätzt worden – Drehscheibe: Kreuzungspunkt und Selektionsmaschine zugleich. Kreuzungspunkt, weil zwischen 1919 und 1969, zwischen den ersten »automatischen« Texten und den letzten Flugblättern gegen den französischen Kolonialismus der Surrealismus die gesamte westliche Moderne streift, von Dada bis Asger Jorn. Selektionsmaschine, weil der Surrealismus sich anmaßt, über diese westliche Moderne zu urteilen. Die Reichweite und Virulenz der Bewegung bringen evidente definitorische Probleme mit sich sowie die Gelegenheit, einige Grundlinien des Surrealismus kursorisch aufzuzeigen.

Die zehn, zwölf Figuren im Kern des Pariser Surrealismus erleben den Ersten Weltkrieg als gutbetuchte, gut ausgebildete, aussichtsreiche junge Männer. Breton hat ein Medizinstudium begonnen und wird als Soldat einem Krankenhaus in Nantes zugewiesen. Philippe Soupault, Neffe des vermögenden Automobilindustriellen Fernand Renault, besteht vor dem Fronteinsatz noch sein Abitur, Leistungsfächer Römisches Recht und Seerecht. Paul Éluard ist erst Sanatoriumspatient in Davos, dann Sanitäter an der Front. Louis Aragon ist der uneheliche Sohn eines ehemaligen Pariser Polizeipräsidenten. Francis Picabia stammt aus einer adligen kubanischen Familie. Die Surrealisten sind Bürger.30 Die Schlusszeilen des Manifests der Kommunistischen Partei betonen 1848 noch, die Proletarier hätten in einer kommunistischen Revolution nichts zu verlieren »als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen.«31 Für die Surrealisten – wie einst für Marx selbst – war es 1924 andersherum: eine Welt zu verlieren, Ketten zu gewinnen. Sie waren zumindest bereit, sich selbst als Klassengebilde zu schaden.

Diese Herkunft begründet soziale Erwartungshaltungen, die – so verlangen es sowohl die Arbeitsteilung der III. Republik als auch ihre Soziologie – prinzipiell befriedigt sein wollen. Der 1924 noch unangefochtene Pakt zwischen Bürgertum und Gesellschaft verheißt jedem Bürger, der nicht mehr von seinem Vermögen lebt, wie es noch der bourgeoise Typus des 19. Jahrhunderts konnte (siehe Thomas Mann, Henry James, Gustave Flaubert), sondern nun von seiner Arbeit leben muss (siehe den Banker T. S. Eliot, den Kolonialpolizisten George Orwell), eine Reihe an sekundären Entschädigungen. Hier wird der Bürger mit einer etwas freieren Verfügung über seine Arbeitszeit und die Gewährung einer täglichen Zeitspanne entschädigt, die nominell der kontemplativen Betätigung und dem otium gewidmet ist (in etwa Ciceros otium cum dignitate, das heißt die würdevolle Muße des Bürgers, der abends seinen Karl Ove Knausgård oder neuerdings seinen gerade entdeckten James Baldwin durchblättert – das gute Leben32); dort erhält der Bürger einen Lohnüberschuss, der seine soziale Stellung materiell ermöglicht. Schließlich führen Lohn- und Zeitüberschuss zu einem gut definierbaren, gut erträglichen bürgerlichen Lebensstil. Der Pakt sichert die Loyalität und, wichtiger noch, politische Berechenbarkeit dieser stets wachsenden Klasse.33

An diesen sekundären Entschädigungen (otium und Lohnüberschuss) lässt sich auch eine spezifische Relevanz des Surrealismus für die Gegenwart historisch demonstrieren. Damals wie heute war dieser Pakt dem Bürgertum exklusiv vorbehalten, nicht aber in jener dazwischenliegenden Periode zwischen circa 1950 und 1970, die sowohl für die Konsolidierung des gelehrten Diskurses über den Surrealismus als auch für die Konsolidierung eines weiten, inklusiveren Bürgerlichkeitsbegriffs ausschlaggebend gewesen ist. Ab dem Nachkriegsaufschwung und bis zu den Rezessionen Ende der 1960er Jahre schien es nämlich für manch einen realistisch, dass diese sekundären Entschädigungen künftig sowohl klassenübergreifend verteilt als auch von ihrer Funktion als politische Stabilisationsmechanismen abgekoppelt werden könnten. Dementsprechend, im Angesicht rosiger Aussichten, konnte Jürgen Habermas 1968 beteuern: »Die Stabilisierung des staatlich geregelten kapitalistischen Gesellschaftssystems hängt davon ab, daß die Loyalität der Massen an sozialen Entschädigungen der unpolitischen Form (von Einkommen und arbeitsfreier Zeit) festgemacht wird […].«34 Doch 1924 wie in der jüngeren Gegenwart, anders als in der Blütezeit des posthitler’schen Aufschwungs ab circa 1950, galten diese Entschädigungen nicht der »Masse«, sondern dem Bürgertum. Sie fungierten nicht, wie wir sehen werden, als unpolitische Entschädigungen, sondern als essenzielle Stabilisationsmechanismen, die sowohl die Dauerhaftigkeit der politisch-ökonomischen Ordnung garantierten als auch ihre behutsame Infragestellung durch das Bürgertum ermöglichten. Damals wie heute – aber nicht während des sogenannten Wirtschaftswunders – band dieser Pakt eine spezifische Klasse, das Bürgertum, an ein spezifisches Gesellschaftssystem, den »Kapitalismus« (Habermas).

Bürgerlich ist man im Übrigen nie allein. In der Prähistorie der Bewegung, zwischen 1917 und 1924, sind die angehenden Surrealisten ultrasozialisiert. Durch Guillaume Apollinaire lernt André Breton 1917 Philippe Soupault kennen. Beiläufig schenkt Apollinaire der aufkommenden Bewegung auch ihren Namen: »sur-réalisme«, ein esprit nouveau, der »die Künste und die Sitten von Grund auf verändern soll«.35 Apollinaire führt aus: »Als der Mensch das Gehen nachahmen wollte, erfand er das Rad, das einem Bein nicht ähnelt. Er machte Surrealismus, ohne es zu wissen.«36 1920 veröffentlichen Breton und Soupault Die magnetischen Felder, die ersten Eruptionen des »automatischen Schreibens«, der unzensierten, assoziativen Federführung anstatt der verhassten »Literatur«. Sie lesen Freud, Poe, Hegel, Sade, Rimbaud. Sie nähern sich Tristan Tzara und den Pariser Dadaisten, bis die Surrealisten um 1921 die pure Negationskraft Dadas um ein artikuliertes revolutionäres Programm zu ergänzen beginnen. Breton veröffentlicht drei Manifeste des Surrealismus