Hungergeist - Wimmer Wilkenloh - E-Book

Hungergeist E-Book

Wimmer Wilkenloh

4,5

Beschreibung

Vor dem Aquarium des Multimar in Tönning stirbt ein Fischer. Der Mann wurde mitten unter den vielen Besuchern erstochen. Die Husumer Kripo ermittelt und Stück für Stück offenbart sich das Geheimnis um die Crew des Fischkutters »Rungholt«, die eine brisante Fracht an Bord genommen hat. Jetzt ist nicht nur ein Killer hinter der Crew her, sondern auch das Misstrauen untereinander bringt alle an den Rand des Abgrunds.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 554

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,5 (18 Bewertungen)
12
3
3
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Wimmer Wilkenloh

Hungergeist

Der sechste Fall für Jan Swensen

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2015 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2015

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © soulstormer / photocase.de

Quellenangabe: © Chögyiam Trungpa: Weltliche Erleuchtung Arbor Verlag Freiamt 2009; www.arbor-verlag.de

Theodor Storm Sämtliche Werke – Zweiter Band – Deutsche Buch-Gemeinschaft

ISBN 978-3-8392-4764-8

Widmung

In Anbindung an die Vision:

GEBURT LEBEN STERBEN

meiner Wurzellehrerin Ursa Paul

Zitat

Der »Hungrige Geist« wird symbolisiert durch …

»einen winzigen Mund von der Größe eines Nadelöhrs, einen dünnen Hals und eine dünne Kehle, abgemagerte Arme und Beine und einen riesigen Bauch. Mund und Hals sind zu klein, um genügend Nahrung durchlassen zu können, damit sein gewaltiger Bauch gefüllt werden könnte. Daher ist er immer hungrig. Und das Bemühen, seinen Hunger zu stillen, ist sehr schmerzhaft, weil es so schwer ist, das Essen hinunterzuschlucken. Die Nahrung symbolisiert natürlich alles, was du dir wünschen könntest, wie etwa Freundschaft, Reichtum, Kleidung, Sex und Macht.«

Chögyam Trungpa, Weltliche Erleuchtung

Vorbemerkung

Die meisten der jetzt Lebenden werden von einer solchen Glocke gehört haben, sie selbst gesehen oder ihren Klang vernommen hat wohl niemand. Man meint zu wissen, sie sei den Kirchenglocken gegenüber nur von winziger Größe gewesen, etwa kaum zwei Schuh hoch, und habe ein feines und heftiges Geläute gehabt, womit sie den Verurteilten auf dem Todeswege begleitete, vom Austritt aus dem Gefängnis in die freie Morgenluft bis hin zur Femstätte und bis er sein armes Leben dem Schwerte oder dem Feuer, dem Galgen oder dem Rade hingegeben. Von wo aber jenes jetzt bis zur Vergessenheit verschwundene Glöcklein seinen Klang erschallen ließ, ob von den Kirchtürmen neben den großen Glocken, ob aus einem eigenen Balkengefüge oder von dem Dache eines Gefängnishauses, das wird kaum jemand zu beantworten wissen.

Theodor Storm, Die Armesünderglocke

Eiderland

Wie das lautlose, gepanzerte Unterwasserfahrzeug von Kapitän Nemo zieht ein riesengroßer Stör in Augenhöhe an Swensens Kopf vorbei. Einen kurzen Augenblick starrt er gebannt auf die zerklüfteten Knochenplatten des Fischleibs, der nur einen Meter von ihm entfernt seine Kreise zieht. Der Kriminalist registriert die mächtige Panoramascheibe, die den kinogleichen Saal wie ein überdimensionales Schaufenster in die Nordsee ausfüllt, bemerkt noch, dass sie bis zur Decke hinaufreicht, als die Wirklichkeit über ihn hereinbricht. Von rechts flammt gerade eine der aufgestellten Tageslichtlampen der Spurensicherung auf, überstrahlt das verzauberte Licht aus dem Seewasseraquarium und taucht den bis eben unwirklich anmutenden Tatort in eine grelle Helle. Der Hauptkommissar schirmt die Augen mit seiner Hand ab. Er ist lustlos und gereizt. Seit Tagen hängt der Himmel in Nordfriesland den Menschen nur drei Meter über dem Kopf. Es ist tagaus und tagein trübe. Die Luft, dick und bleischwer, drückt aufs Gemüt und scheint den Blickwinkel für jede Aufmunterung einzuengen.

Swensen möchte in diesem Moment am liebsten auch Fisch sein und schwerelos durchs Aquarium schwimmen als hier vor der Scheibe an dem Ort eines Verbrechens zu stehen. Jede Bewegung fordert ihm Anstrengung ab. Er muss sich selbst zur Räson bringen, zwingt sich mit Widerwillen zur anstehenden Routine. Sein Blick schweift über die Vermummten in weißen Overalls und bleibt unwillkürlich an dem männlichen Opfer hängen, das rücklings auf dem Boden liegt. Das Fett seines massigen Körpers hat sich zu den Seiten verlagert. Die Jacke und das Hemd sind aufgeknöpft, die schwabbelige Brust liegt frei. In der Herzgegend ist eine kleine Wunde zu sehen, vermutlich von einem Einstich mit einem spitzen Gegenstand. Zwei Rettungssanitäter knien neben dem Mann, einer lässt gerade den Verschluss seiner roten Notfalltasche einklicken, während der andere aufsteht und sich an den Hauptkommissar wendet.

»Sie sind sicher einer von der Kriminalpolizei«, stellt er trocken fest, während er beiläufig Swensens Zivil mustert.

Der nickt.

»Der Mann ist tot. Bis eben haben wir alles versucht, konnten aber nichts mehr für ihn tun«, sagt er ohne Emotionen in der Stimme. »Sieht sehr nach Gewaltverbrechen aus. Deshalb haben wir umgehend die Polizei alarmiert.«

»Haben Sie den Mann so liegend vorgefunden?«

»Nein, er lag auf dem Bauch. Wir mussten ihn umdrehen, um ihn zu reanimieren. Dabei haben wir die Messerwunde entdeckt.«

»Und Sie konnten sofort erkennen, dass die Wunde von einem Messer stammt?«

»Was für eine Frage! Hab schon einige Messerwunden in meinem Leben gesehen. Das war eine auffällig dünne Klinge, könnte ein Filetiermesser gewesen sein, würde ich sagen. Das ist nur eine Vermutung, keine verwertbare Auskunft.«

»Das wird unsere Gerichtsmedizin schon herausbekommen. Haben Sie sonst noch irgendetwas bemerkt?«

»Nein! Als wir kamen, stand hier alles voller Neugieriger. Mussten uns förmlich einen Weg hindurchbahnen. Als dann eine Ihrer Kolleginnen eintraf, wurden die nach dort oben gescheucht«, sagt der Sanitäter und zeigt zur höher gelegenen Ebene hinauf. Swensens Blick folgt dem Finger, schweift über die leeren Reihen der Holzbänke in den oberen Rang. Dort entdeckt er einen breiten Durchbruch in der Wand, in der Hauptkommissarin Haman mit einem Zeugen ins Gespräch vertieft ist. Der Kriminalist realisiert, dass es ein zweiter Eingang ist. Er selbst war durch den, der sich auf ebener Erde befindet, in den Raum hereingekommen.

»Können wir jetzt gehen oder werden wir noch gebraucht?«, hört Swensen den Sanitäter in seinem Rücken fragen.

Er dreht den Kopf, sieht, wie mehrere große Seelachse hinter den Köpfen der beiden Rettungsmänner vorbeiziehen und sagt: »Nein, gehen Sie ruhig, wir brauchen Sie im Moment nicht mehr. Hinterlassen Sie aber bitte bei dem Beamten im Eingangsbereich Ihre Telefonnummer, falls sich von unserer Seite noch Fragen ergeben sollten.«

»Geht in Ordnung«, sagt der andere und stapft mit seinem Kollegen aus dem Raum. Obgleich der neue Mordfall dem Hauptkommissar bereits seine Handlungsweise diktiert, erregt einer der mächtigen Aquariumsinsassen seine Aufmerksamkeit. Ein Kabeljau schwimmt auf einem Fleck, klebt mit seinem Maul beinah an der Scheibe und öffnet und schließt ganz langsam seine Schlundknochen wie in Zeitlupe, als wolle er mit ihm sprechen.

Fische sind mitnichten stumm, sagt sich der Kriminalist und erinnert sich vage an einen Meeresbiologen im Seewasseraquarium in Kiel, der in einem Vortrag mit dem provozierenden Titel ›Sprechende Fische‹ über die Kommunikation der Fische referiert hatte. Zu Swensens Verwunderung wurden dann Tonaufnahmen aus der Welt unter Wasser vorgeführt, in der Merkwürdiges zu hören war. Lautes Knarren von Fischen, die ihre Flossen rieben, die mit den Zähnen knirschten oder an gespannten Sehnen wie an einer Gitarrensaite zupften. Aus einem verrückten Impuls heraus versucht der Kriminalist aus den Kieferbewegungen des Kabeljaus Worte abzulesen.

»Waaass maaachsst duuu dennn hiierr?«

Das frage ich mich auch gerade, antwortet Swensen ihm lautlos, dreht dem gesprächigen Großmaul abrupt den Rücken zu und marschiert die Steigung zu Silvia Haman hinauf. Auf halber Höhe stolpert er über einen der weißverhüllten Spurensicherer, der sich auf den Knien kriechend über Generationen von Fingerabdrücken auf den Holzbänken hermacht.

»Ich sehe den Kollegen Hollmann gar nicht?«, spricht der Hauptkommissar die vermummte Gestalt an. Die dreht ihm den Rücken zu und reagiert nicht. Erst als er ihr mit dem Finger auf die Schulter tippt, schreckt sie herum, und verblüffte Augen schauen unter der Kapuze hervor.

»Ich sehe den Kollegen Hollmann gar nicht«, wiederholt Swensen mit lauter Stimme.

»Der ist nicht hier«, antwortet der Spurensicherer kurz angebunden und wendet sich wieder seiner Arbeit zu. »Ist im Urlaub, soweit ich weiß, irgendwo im Ostblock«, kann Swensen noch vernehmen und nimmt, irritiert über die Auskunft nachsinnend, gemächlich die zweite Hälfte bis zum oberen Rang. Hauptkommissarin Haman dreht den Kopf in seine Richtung, als er die letzte Stufe nimmt.

»Das ist Herr Reck, Jürgen Reck. Er hat den Rettungsdienst informiert«, teilt sie ihm ohne Begrüßung mit. »Und die haben uns gleich informiert, weil der schwer verletzte Mann offensichtlich einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen ist.«

»Weiß ich bereits, hab grad mit den Sanitätern gesprochen.«

»Herr Reck hat zufällig beobachtet, wie das Opfer dort unten in den Raum gekommen ist. Er hat sich auf die Bank gesetzt und ist dann vornüber zu Boden gestürzt.«

»Das heißt, er hat noch gelebt, als er hereingekommen ist?«, stellt Swensen fest.

»Ist er tot?«, fragt Haman.

Der Kriminalist nickt knapp. »Ein Messerstich, nach Meinung des Sanitäters. Es gibt eine deutliche Wunde in der Herzgegend.«

»Also ermitteln wir jetzt in einem Mord?«

Swensen zuckt mit den Achseln. Der Mann, der neben Haman steht, ist bei ihrem Dialog einen Schritt zurückgewichen.

»Sie haben hier oben gestanden, als der Mann hereingekommen ist?«, wendet sich der Hauptkommissar jetzt an den Zeugen. Als der zaghaft nickt, fragt er weiter: »Ist er allein gewesen oder ist ihm jemand gefolgt?«

»Nein, er ist allein gewesen; wirkte beeinträchtigt, also … er bewegte sich irgendwie ruckartig, das war wenigstens mein Eindruck. Es war ziemlich dunkel hier im Raum, bevor die Lampen aufgebaut wurden, Licht kam ja nur aus dem Aquarium. Außerdem war schon alles vorbei, bis ich das so richtig wahrgenommen habe.«

»Waren noch andere Besucher im Raum?«

»Ja, schon.«

»Wie viele?«

»Einige«, sagt der Mann nachdenklich. »Aber wie viele weiß ich nicht genau, wirklich nicht. Die meisten haben sich gleich verdrückt, als der Mann am Boden lag.«

»Sieben Personen konnten wir noch abfangen, als wir eingetroffen sind«, informiert Haman. »Jacobsen und Mielke befragen sie gerade draußen.«

»Und Sie haben dann sofort den Rettungsdienst gerufen?«, wendet sich Swensen an den Zeugen, der jetzt kurzatmig und mit bleichem Gesicht vor ihm steht. »Geht es Ihnen gut, möchten Sie sich hinsetzen?«

Der Mann atmet mehrmals tief durch. »Es geht schon wieder, aber hinsetzen würde ich mich trotzdem gerne.«

»Natürlich«, beruhigt der Hauptkommissar und führt ihn zur nächsten Sitzbank. »Lassen Sie sich Zeit.«

»Um Gottes willen, der Mann ist wirklich tot?« Die Stimme des Zeugen klingt zittrig. »Ich war doch der Einzige, der zu ihm hin ist, der ihn angesprochen hat. Die anderen haben nur gegafft. Er hat aber nur gestöhnt. Und Blut war … an den Fingern war Blut. Als die Sanitäter gekommen sind, hat er noch gestöhnt, da bin ich sicher. Ich bin dann wieder hier hoch, mehr konnte ich ja nicht tun.«

»Herr Reck hat sich gleich bei mir gemeldet, als ich eingetroffen bin«, ergänzt Silvia Haman. »Die Personalien sind schon aufgenommen.«

»Ich denke, wir brauchen Sie hier nicht mehr«, stellt der Hauptkommissar fest. »Sie müssen aber noch einmal in die Husumer Inspektion kommen, um das Protokoll zu unterschreiben. Erst mal vielen Dank für Ihre Mitarbeit, Herr Reck.«

Der Mann nickt, bleibt aber weiterhin wie angewurzelt sitzen.

»Können Sie aufstehen?«, fragt Swensen.

Der Mann nickt abermals.

»Dann dürfen Sie jetzt gehen!«, sagt Silvia Haman mit betont deutlicher Aussprache.

»Ja, dann … dann geh ich wohl besser«, stammelt der Zeuge, erhebt sich mühevoll und geht mit bedächtigen Schritten in Richtung Ausgang.

Silvia Haman verzieht ungeduldig ihr Gesicht, Swensen ignoriert es beflissentlich. »Wieso seid ihr eigentlich immer die Ersten am Tatort?«, fragt er gereizt.

»Wer ist ihr?«, fragt Silvia zurück.

»Du und Stephan natürlich … und Jacobsen selbstverständlich auch. Euch hab ich jedenfalls schon gesehen«, knurrt der Kriminalist.

»Und was meinst du mit ›immer‹?«, bleibt Silvia hartnäckig.

»Weil mir das irgendwie auffällt! Und ich schlechte Laune habe … und und …«

»Klingt nach Symptomen einer schweren N.F.T.«

»Nach was?«

»Der Nordfriesland-Tristesse! Der Friesenhimmel hängt fast bis auf den Boden. Das ewige Grau schlägt dir aufs Gemüt, oder?«

Swensen dämmert zwar, dass er sich verrannt hat, kann aber trotzdem nicht einfach einlenken. »Ob mit N.F.T. oder weil es grau in grau ist, ihr seid nichtsdestotrotz ziemlich schnell am Tatort, finde ich!«

»Lieber Herr Hauptkommissar«, hebt Silvia Haman betont langsam zu einer Erwiderung an. »Ich wohne seit vier Monaten in Tönning, gleich neben dem Schifferhaus. Das ist nur einen Katzensprung vom Wattforum Multimar entfernt. Und die Kollegen, also Jacobsen und Mielke, die waren bei einer Ermittlung am Hemmerdeich. Auch nicht gerade weit entfernt, oder?«

»Okay, okay! Bei mir kommt gerade unausgegorenes Zeug hoch«, lenkt Swensen ein. »Vergiss es einfach, Silvia! Ich glaube, ich will das, was hier passiert ist, nicht wirklich wahrhaben. An solch einem Ort geschieht doch kein Mord. Hier wimmelt es nur so von Zeugen.«

»Das Dumme ist, viele Zeugen sehen nicht unbedingt mehr.« Haman wirkt nicht weniger genervt. »Ich habe zumindest bis jetzt noch nichts wirklich Aufschlussreiches gehört, egal wen ich hier gefragt habe.«

Sie zieht ihr Handy aus der Jackentasche und hält ihrem Kollegen das Display vor die Nase, auf dem das Gesicht des Opfers zu sehen ist.

»Damit war ich an der Kasse. Wollte wissen, ob der Mann sich schon beeinträchtig bewegt hat, als er reinkam. Die Kassiererin hat mich nur groß angeguckt und wollte wissen, wer das denn sei. Ich habe sie gefragt, ob es, trotz der erhöhten Polizeipräsenz, noch nicht bis zu ihr durchgedrungen ist, was hier im Gebäude los ist? Sie sagt, sie hätte nur einen Krankenwagen kommen und die Sanitäter gesehen, aber sonst nichts gehört. Vor diesem Rettungseinsatz seien alle Besucher völlig normal gewesen, niemand sei ihr merkwürdig vorgekommen.«

»Heißt das, die Identität des Toten ist nicht geklärt?«, fragt Swensen.

»Klar doch!«, verkündet Haman hitzig. »Wenn du gleich mit mir geredet hättest, wüsstest du das bereits. Aber der Herr Hauptkommissar befragt halt lieber erst einmal die Unwissenden.«

»Okay, okay! Asche über mein Haupt.« Der gereizte Unterton in Swensens Stimme ist nicht zu überhören. »Wie heißt der Mann, Kollegin Haman?«

»Es ist ein gewisser Peter Jessen. Den Personalausweis haben die Sanis mir in die Hand gedrückt, als ich ankam. Ich habe die Daten zur Inspektion durchgegeben, und Susan hat recherchiert, dass Jessen in Tetenbüll gemeldet ist, Karkenstraat 11, und von Beruf Koch war.«

»Wir bitten alle Besucher des Multimar unverzüglich die Ausstellungsräume zu verlassen und sich in Richtung Ausgang zu bewegen«, tönt es aus der Lautsprecheranlage.

»Hört sich nach einer Maßnahme von Stephan an«, stellt Haman süffisant fest. »Ziemlich spät, um noch ein effektives Ergebnis zu erzielen.«

»Silvia Haman auf dem höchsten Level ihrer Extravaganz! Jetzt kann sie schon mit ihrem Kollegen im Clinch liegen, selbst wenn er gar nicht anwesend ist«, kommentiert Swensen trocken.

»Und du? Hast da dafür gar keine buddhistische Weisheit auf Lager?«, kontert die Hauptkommissarin, und ihr hartes Lächeln ist bis an die Zähne bewaffnet.

Swensen spürt Ärger aufsteigen und sucht nach Widerworten, doch bevor er den Mund aufmachen kann, sieht er zwei Männer in dunklen Anzügen auf der unteren Ebene ein längliches Gestell mit vier Rädern in den Raum schieben, auf dem ein grellgelber Kasten liegt. Die gewölbte Form gleicht der Anatomie eines liegenden Menschen.

»Was ist das denn?«, platzt es aus dem Kriminalisten heraus.

»Noch keinen ›Silentsafe‹ gesehen, Kollege? Dann wird es aber Zeit. Die Zeiten des guten alten Zinksargs sind nämlich gezählt.« Hamans Stimme klingt belustigt und besserwisserisch. »Das Ding ist aus Glasfaser, soweit ich richtig informiert bin, ist leicht und deshalb gut für die Wirbelsäule der Bestatter.«

Einer der Spurensicherer redet mit den Männern, die den Kasten vom Gestell heben und neben der Leiche abstellen. Im selben Moment betritt ein Mann in brauner Leinenjacke mit Fischgrätmuster den Raum. An den glatten, schulterlangen Haaren ist er von Weitem unverkennbar.

»Jean-Claude! Hallo! Wir sind hier oben«, ruft Swensen durch den weiten Raum.

Der winkt kurz von unten hinauf und ruft zurück: »Ich komme gleich hoch, will nur noch einen kurzen Blick auf den Toten werfen, bevor er weggebracht wird.«

»Fischgrätmuster«, knurrt Haman, »immer passend gekleidet, unser Superchefermittler.«

Zum Glück hört Hauptkommissar Colditz von der Flensburger Mordkommission ihre Bemerkung nicht. Der beugt sich über den Körper des Toten, während die beiden Bestatter im knitterfreien Anzug ihm die Sicht freimachen. Swensen geht über den abschüssigen schmalen Gang an der linken Wand nach unten und Haman folgt ihm in kurzem Abstand.

»Spurenmäßig ist hier leider einiges im Argen«, klärt der Hauptkommissar den Kollegen vom K1 auf. »Der Mann ist hier an Ort und Stelle verstorben. Die Rettungssanitäter haben versucht ihn zu reanimieren und dabei die eigentliche Situation verändert. Der Mann hat nach seinem Zusammenbruch auf dem Bauch gelegen.«

»Ist schon geklärt, wie er gestorben ist?«, fragt Colditz und schielt zu Swensen hinüber.

»Nur dieser kleine Einstich in Nähe des Herzens, wie du erkennen kannst. Ist offensichtlich einer Messerattacke zum Opfer gefallen.«

»Nur dieser eine Einstich?«

»Ja! Der Mann ist noch aufrecht gegangen, als er hier reingekommen ist. Ich würde meinen, die Tat muss ganz in der Nähe passiert sein, sehr wahrscheinlich innerhalb des Gebäudes. Ich könnte mir sogar den abgedunkelten Bereich als Tatort vorstellen, durch den man in diesen Raum gelangt. Der, durch den du auch gerade reingekommen bist. Ohne unsere grellen Lampen wäre es dort bestimmt noch schummriger als ohnehin schon.«

»Ist der Bereich spurentechnisch abgecheckt worden?«

»Nein, die Rettungsleute sind eben erst raus. Außerdem sind wir alle noch dabei, uns ein Bild von den einzelnen Gebäudeteilen zu machen.«

Colditz winkt augenblicklich einen der Spurensicherer heran und weist ihn an, sich den Durchgangsbereich sofort vorzunehmen und dafür zu sorgen, dass dort niemand mehr hereinkommt.

»Wenn dort keine Spuren sind, sieht es mies aus«, meint der Flensburger zu Haman und Swensen. »Ich kann mir nicht vorstellen, bei der hohen Besucherzahl und den unzähligen Räumlichkeiten, noch woanders auf brauchbare Spuren zu stoßen. Wo, in Gottes Namen, sollten wir auch anfangen zu suchen?«

»Da gebe ich dir recht«, stimmt Haman zu. »Die gesamte Fläche soll 2.000 Quadratmeter groß sein. Und bei einem kurzen Rundgang ist mir aufgefallen, dass die gesamte Ausstellungsfläche ziemlich verwinkelt ist, überall gibt es kleine Nischen und dunkle Ecken. Das ist spurentechnisch sowieso nicht in Kürze zu bewältigen. Das würde Monate dauern und wahrscheinlich gar nichts bringen.«

»Unser altbewährtes Motto ›Du hast keine Chance, also nutze sie‹ hilft deiner Meinung nach also nicht weiter?«, schmunzelt Colditz, während Haman und Swensen sich fragend angucken.

»Ein tiefsinniger Satz, finde ich persönlich«, fügt Colditz grinsend hinzu. »Ursprünglich stammt er von Herbert Achternbusch, bayrischer Schriftsteller und Filmemacher. Ist doch wie gemacht für jede polizeiliche Ermittlung.«

»Vielleicht gut für Bayern, aber weniger gut für den hohen Norden«, hält Swensen scherzend dagegen. »Wir ermitteln doch eher friesisch herb, nech Silvia? In diesem Sinn fahren wir jetzt rüber nach Tetenbüll. Da ist laut Ausweis nämlich unser Mordopfer zu Hause.«

»Dann seht zu, dass ihr von dort etwas Brauchbares mitbringt«, mahnt Colditz und zieht sein Handy aus der Jackentasche. »Ich übernehme jetzt die Sache hier vor Ort. Morgen in der Frühbesprechung fassen wir unsere bisherigen Ergebnisse zusammen.«

Swensen dreht sich um und will zum Ausgang hinausmarschieren, als Haman ihn an der Schulter zurückhält. »Der Ausgang ist tabu, Herr Hauptkommissar. Wir müssen oben raus!«

Sie stürmt, wie so oft, davon, trabt ohne sich umzublicken die Steigung in den oberen Rang hinauf. Swensen plagt sich, ihr zu folgen, marschiert mit forschen Schritten durch die dunklen Ausstellungsräume mit den vielen Aquarien, die jetzt menschenleer den Weg freigeben. Aus beleuchteten Becken in den Wänden strahlt in rechteckigen Ausschnitten die Weite des Meeres, voll mit ihren bunten Bewohnern, Nordseefischen, Oktopussen, Krebsen und Quallen. Aus dem Augenwinkel fischt er nach kurzen Eindrücken, während Hamans Schritte vor ihm durch die Räume hallen. Am Hauptausgang treffen sie auf Mielke und Jacobsen, die zusammen mit den gerade eingetroffenen Kollegen vom K1 aus Flensburg alle Hände voll zu tun haben, um die Besuchertraube in eine geordnete Reihe zu bringen. Jede Person muss sich ausweisen, bevor sie den Glasbau des Wattforums verlassen darf. Für den Hauptkommissar und seine Kollegin wird die Menschenschlange von einem Beamten kurzfristig geteilt, damit sie möglichst schnell durch das künstlich geschaffene Nadelöhr hinausschlüpfen können.

»Samsara«, murmelt der Kriminalist unhörbar für andere Ohren, tippt sich an die Stirn und denkt: So ist sie, diese Welt. Ein ewiger Zustand der Verwirrung.

Draußen bläst eine steife Brise, sie müssen sich mit ganzer Körperkraft dagegen stemmen, um den Dienstwagen auf dem Parkplatz zu erreichen. Er steht in unmittelbarer Nähe von Swensens altem Polo, mit dem er aus Witzwort gekommen ist. Haman nimmt den Autoschlüssel aus der Tasche und steuert zielstrebig auf die Fahrerseite zu. Der Hauptkommissar nimmt es schweigend zur Kenntnis. Er fährt eigentlich lieber selbst, wenn er mit Silvia unterwegs ist. Die Beifahrertür, die wie ein Segel vom Wind aufgedrückt wird, lässt sich nur mit äußerster Mühe zuziehen. Der Motor heult auf, Haman fährt an, schleicht, sich ans Tempolimit haltend, durch den Hafen in die Innenstadt, als wäre sie auf einer Sonntagnachmittag-Spitztour. Die St.-Laurentius-Kirche mit ihrem mächtigen Barockturm steht vor den dunklen Wolken, die vom Sturm über den Himmel gepeitscht werden. Die Doppelseite einer Zeitung segelt wie eine kranke Möwe über den Marktplatz, stürzt auf die Straße, kommt unter die Reifen ihres Dienstwagens und wird mit kurzem Geräusch zerfleddert.

Swensen sieht den Toten mit offenem Mund vor dem Aquarium liegen, sieht, wie der Schwarm der Fische stumm an ihm vorbeizieht und hat eine Ahnung, dass der neue Fall anders als alle Fälle sein könnte, in denen er bisher ermittelt hat. Noch nie zuvor ist ein Mord, bei dem er zuständig war, an solch einem belebten Ort verübt worden.

Der Tatort spricht nicht für eine Tat, die im Effekt passiert sein könnte. Es muss einen Plan gegeben haben. Oder es war doch ein Zufall, vielleicht sogar ein Unfall? Je mehr der Hauptkommissar über eventuelle Möglichkeiten nachdenkt, desto düsterer und unübersichtlicher werden seine Überlegungen.

Ihm kommt das freie Wochenende in den Kopf, an dem er mit Anna in St. Peter Dorf über den Holzsteg an den Strand marschiert war. Am Himmel braute sich eine furchterregende, tiefschwarze Wolkenwand zusammen. Die Böen trieben den Regen fast senkrecht ans Ufer, und die Kälte biss sich in ihren Gesichtern fest. Er war mit Anna in einen Strandkorb geflüchtet, der gegen die Windrichtung stand. Wenig später waren sie in rabenschwarze Dunkelheit gehüllt gewesen, sodass Swensen der Gedanke gekommen war, jetzt würde die Welt untergehen.

Etwas von dieser unwirklichen Angst kann der Kriminalist augenblicklich in sich spüren. Er rätselt, was das Gefühl mit diesem neuen Mordfall zu tun haben könnte, und bemerkt, dass ihn etwas blockiert. Um dem Stillstand zu entfliehen, spricht er Silvia an.

»Sag mal, mir geht gerade durch den Kopf, dass Heinz gar nicht vor Ort war.«

»Der Chef? Aber der ist doch gar nicht da!«, antwortet Haman.

Die Hauptkommissarin hat in der Zwischenzeit die B 202 erreicht und die Geschwindigkeit zügig erhöht. Gerade zieht der Dienstwagen an Kotzenbüll vorbei. Der Kirchturm von St. Nikolai ist in ein Baugerüst gehüllt. Es soll ein Leck in der bleiernen Spitze gegeben haben, hatte Swensen vor ein paar Tagen in der Husumer Rundschau gelesen, und Kellerschwamm habe sich kurioserweise ganz oben im Dachstuhl eingenistet.

»Heinz ist nicht da?«, fragt er erstaunt, während der Kirchturm aus seinem Blickfeld verschwindet. »Wo ist er denn? Ich wusste gar nicht, dass er weg ist.«

»Der ist zusammen mit Peter in Sankt Petersburg«, informiert Haman in einem Tonfall, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt.

Swensen sieht seine Kollegin ungläubig von der Seite an.

»Heinz ist in Russland? Eine Dienstreise nach Petersburg? Und Peter ist auch mit von der Partie?« Er atmet tief durch, während Silvia zu seinen Fragen schweigt. »Die außergewöhnlichen Dinge scheinen an mir vorbeizugehen.« Es klingt verschnupft.

»Die Entscheidung ist hinter den Kulissen gefällt worden, das hat in der ganzen Inspektion kaum jemand mitbekommen«, fühlt Haman sich bemüßigt, auf den verstimmten Tonfall ihres Kollegen zu reagieren.

»Und wieso weißt du das?«

»Ich war nur zufällig beim Chef, als der Anruf vom LKA kam. Im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit sind zwei Delegierte für die ›Internationale Tagung für Kriminalitätsbekämpfung‹ in Russland ausgefallen, und in Kiel haben sie in der Kürze keinen Ersatz gefunden.«

»Und da haben die bei Heinz angefragt?«

»Ich nehme mal an, das war ein alter Kumpel vom Chef, der ihn für die Reise empfohlen hat. Du weißt doch, eine Hand wäscht die andere.«

»Und Peter? Wie kommt Peter zu dem Vergnügen, dass man seine Hände wäscht?«

Haman zuckt mit den Achseln. »Höre ich bei dir da so etwas wie Neid, Kollege Swensen? Vielleicht wollten die Russen nur gerne einen Spurensicherer dabeihaben. Das nächste Mal kommst du bestimmt mit auf die Liste.«

»Ein Hauptkommissar sollte doch über jeden Neid erhaben sein, oder? Ich bin jedenfalls ganz zufrieden, mit dir hier auf Eiderstedt herumzukurven. Wir müssen übrigens gleich rechts abbiegen, liebe Kollegin Haman.«

»Ich bin jetzt sechs Jahre bei euch in Husum. Du brauchst mir nicht mehr zu sagen, wann ich abbiegen muss.«

Kurz vor Katharinenheerd kommt das Richtungsschild nach Tetenbüll in Sicht. Haman biegt mit rasantem Tempo in die Katharinenheerder Landstraße ein und lässt dabei demonstrativ die Reifen quietschen. Swensen bleibt gelassen und guckt stoisch geradeaus. Wahrscheinlich hat Silvia sogar nicht ganz unrecht mit dem Neid, gesteht er sich ein.

Vielleicht ärgert es mich insgeheim nur, dass Heinz Püchel mich nicht zumindestens gefragt hat, ob ich nicht auf solch eine interessante Dienstreise mitkommen möchte.

›Alles Leid der Welt entsteht aus falscher Einstellung. Der Hungergeist treibt unser unbewusstes Ich in ein stetes Verlangen. Doch Neid verschwindet nicht dadurch, dass sich unsere Wünsche erfüllen, sondern nur dadurch, dass wir unseren Neid loslassen.‹

Die Worte seines Meisters Rinpoche gehen mahnend durch seinen Kopf, als der Kriminalist und seine Kollegin auf der schnurgeraden Straße auf Tetenbüll zufahren. Der Kirchturm schaut schon von Weitem über alle Bäume und Gebäude. Kurz bevor das Dorf erreicht ist, hinter dem Ehrendenkmal der gefallenen Soldaten, wird die Katharinenheerder Landstraße nach der Rechtskurve zur Karkenstraat. Die Nummer 11 ist ein Ziegelsteingebäude, das mit Sicherheit einmal ein Reetdach besessen hat. Jetzt ist es mit gewellten Bitumplatten gedeckt, dessen verwittertes Grau einiges von der alten Schönheit vermissen lässt. Die Hauptkommissarin steuert den Wagen auf die Auffahrt. Sie steigen aus und gehen auf das Haus zu, dessen renovierte Fenster viel zu groß für die Proportionen der Fassade sind. Ein Hund schlägt an, die Eingangstür öffnet sich und eine Frau schiebt ihren Kopf heraus.

»Wo möchten Sie denn hin?«, ruft sie Haman und Swensen zu.

»Wir wollen zu Herrn Jessen. Der wohnt doch hier, oder?«

»Herr Jessen ist unser Untermieter. Er wohnt in der rechten Seite des Gebäudes. Sie müssen ums Haus herumgehen. Ich glaube aber nicht, dass er zu Hause ist. Sein Wagen steht nicht in der Auffahrt.«

»Wissen Sie zufällig, wann er das Haus verlassen hat?«

»Warum wollen Sie das denn alles wissen?«

»Wir sind von der Kriminalpolizei Husum, Hauptkommissarin Haman und Hauptkommissar Swensen«, stellt Swensen sie vor und zeigt den Dienstausweis.

»Kriminalpolizei? Ist irgendetwas passiert?«, fragt die Frau mit besorgtem Gesicht und öffnet die Tür. Ein Golden Retriever drängt durch ihre Beine hindurch und stürzt schwanzwedelnd auf die Kriminalisten zu.

»Basti! Nein! … Nein! … Nein!« Der Druck in ihrer Stimme ist nicht zu überhören, doch gleichzeitig schwingt etwas Resignatives mit, als wüsste die Frau bereits, dass sich das Tier von ihrem Befehl nicht im Geringsten beeinflussen lässt.

Der Rüde schnüffelt Haman zwischen den Beinen. Sie tätschelt ihm den Kopf, er leckt ihr die Hand, und eine Windbö kämmt dem Tier das goldbraune Fell gegen den Strich.

»Herr Jessen ist tot. Wir gehen von einem Verbrechen aus«, sagt der Hauptkommissar ohne Umschweife.

»Oh, mein Gott«, stößt die Frau hervor, und ihre Hand schnellt vor den Mund. Sie wirkt versteinert, die Augen bekommen einen glänzenden Schimmer, und eine erneute Bö lässt ihre langen blonden Haare flattern, als wäre sie eine Vogelscheuche.

»Wir müssen uns die Wohnung von Herrn Jessen anschauen.« Swensens Stimme ist zurückhaltend, als wolle er die Frau in ihrer Erstarrung nicht stören. »Könnten Sie uns bitte seine Wohnungstür aufschließen?«

Die Frau reagiert nicht, eine Träne rollt über die Wange und tropft auf ihre Hand.

»Haben Sie mich gehört? Wir müssen in die Wohnung von Herrn Jessen, Frau … Hallo!«

Die Hauptkommissarin geht auf die Frau zu und legt ihr eine Hand auf die Schulter. Der Golden Retriever springt fröhlich bellend um die beiden Frauen herum.

»Können Sie uns Ihren Namen sagen?«, fragt Haman sanft.

»Ingwersen, Marianne Ingwersen«, haucht die Frau.

»Frau Ingwersen, können Sie uns die Wohnung von Herrn Jessen aufschließen? Sie haben als Vermieterin doch sicherlich einen Schlüssel.«

»Ja doch, ja.« Ihre Stimme ist wieder da, als wäre sie aus einer tiefen Trance erwacht. »Ich hole nur schnell den Schlüssel.«

Kurze Zeit später folgen Haman und Swensen der Frau ums Haus. Auf der anderen Seite des Gebäudes heult der Sturm mit aller Macht. Dem Golden Retriever, der ihnen bis hierhin gefolgt ist, scheint der kalte Westwind nicht zu gefallen. Er macht kehrt und trottet zurück. Starke Böen fegen durch die Obstbäume und reißen kleine Zweige herunter. Als sie vor der Wohnungstür stehen, ist diese offen und wird vom Luftzug hin und her bewegt.

»Herr Jessen hat noch nie die Tür offen gelassen«, stellt die Frau fest. »Der ist doch immer so gewissenhaft.«

»Waren Sie den ganzen Tag im Haus, Frau Ingwersen?«, fragt der Kriminalist.

»Nein, ich arbeite bis zum frühen Nachmittag bei einem Futtermittelhändler in Vollerwiek. Bin gerade erst eineinhalb Stunden daheim.«

»Wir gehen jetzt hinein, Frau Ingwersen. Sie bleiben unter allen Umständen draußen. Am besten gehen Sie in Ihre Wohnung zurück und warten, bis wir hier fertig sind«, befiehlt Swensen, greift unter seine Regenjacke und zieht seine Sig-Sauer aus dem Holster. Während er mit gezogener Waffe einen Schritt ins Innere macht, zieht Haman ebenfalls ihre Waffe. Sein Schatten verschwindet im dunklen Flur. Haman geht hinterher.

»Sauber!«, meldet Swensen wenige Augenblicke später mit lauter Stimme. »Komm rein und schau dir die Sauerei an.«

Der Wind seufzt über das Dach, und die Balken über ihren Köpfen knarren wie die Spanten eines alten Kahns. Das Wohnzimmer sieht aus, als hätte vor Kurzem eine Bombe eingeschlagen. Die Schranktüren sind offen, zerbrochene Gläser liegen am Boden verstreut. Die Schubladen des Schreibtischs sind herausgerissen. Alles scheint von unten nach oben gestülpt worden zu sein. Im Schlafzimmer bietet sich dasselbe Bild. Die Bettbezüge liegen neben dem Bett. Die Türen vom Kleiderschrank stehen sperrangelweit auf. Eine bunte Mischung von T-Shirts, Socken, Unterhosen, Hemden und Pullovern ziert den Teppichboden.

»Da hat einer etwas gesucht«, stellt Haman fest.

»Das sehe ich auch so«, bestätigt Swensen. »Aber was in aller Welt kann Jessen gehabt haben, dass man hier alles in Trümmer gelegt hat?«

Pieter

Das Gesicht der Frau muss mit großer Wucht auf das ausgeprägte Bodenmosaik aufgeschlagen sein. Auf der Stirn schillert ein bläulich-rotes Hämatom. Der Kopf liegt mit der rechten Wange auf dem nackten Oberkörper eines Zentauren, der eine Lanze und Pflanzenschale in den Händen hält. Das den halben Raum ausfüllende Achteck hat acht trapezförmige Bildmotive aus der Mythologie, auf denen sich die verschiedensten Fabelwesen und Krieger tummeln, die, aus Tausenden ockerfarbenen, roten und grünen Steintupfern zusammengesetzt, der makabren Szene eine grellbunte Unterlage bieten. Die Arme der Toten sind ausgebreitet, erwecken den Anschein einer Gekreuzigten. Mit ihren Fingern berührt sie zwei Wasserdrachen, die sich neben dem Mischwesen aus Mensch und Pferd in den Fluten tummeln. Aus dem Zentrum des Mosaiks blickt das Schlangenhaupt der Medusa unheilvoll auf das Geschehen.

Der rechte Fuß der Toten ist offensichtlich beim Sturz an einer der goldenen Stangen des Absperrzauns hängengeblieben, der die Museumsbesucher am Betreten des Kunstwerks hindern soll. Das linke Bein ist in der Totenstarre merkwürdig verdreht. Ihr fülliger Körper steckt in einem schwarzen Faltenrock, der bis über die Oberschenkel hinaufgerutscht ist. Die dunkelblaue Samtbluse sitzt noch korrekt. An beiden Handgelenken schimmern goldene Armreifen. Die Haare sind kurz geschnitten, und in den Ohrläppchen stecken glitzernde Strass-Ohrstecker. Das Gesicht ist auffällig geschminkt, der Lippenstift leicht verwischt.

Der lichtdurchflutete Saal wird von marmornen Säulenbögen flankiert. Ein zentnerschwerer, goldener Kronleuchter hängt über dem Ort des Schreckens. Er verleiht dem Ganzen den morbiden Charme eines Dracula-Films, geht es Heinz Püchel durch den Kopf. Bei all dem Glanz um ihn herum gelingt es ihm nicht, sich längere Zeit ausschließlich auf den Fundort der Frauenleiche zu konzentrieren. Sein Blick schweift zu einer nicht weit entfernten, überdimensionalen Pfauenuhr. Das Prachtkleid des Pfaus, der auf einem goldenen Baumstumpf in seinem Glaskäfig hockt, verzaubert ihn so sehr, dass seine Augen magisch daran kleben bleiben. Pures Gold, nach dem doch alles drängt und an dem doch alles hängt.

Dem Goldvogel zur Seite steht ein genauso goldener Hahn. Das kleine bronzefarbene Eichhörnchen kann er jedoch kaum erkennen, und die silberne Eule mit den dunklen Edelsteinaugen, von der er aus dem Reiseführer weiß, kann er aus der Entfernung gar nicht entdecken.

Das berühmte Prunkstück der kleinen Ermitage hat ein englischer Mechaniker angefertigt, war dort ebenfalls zu lesen gewesen, der sein Wunderwerk bis ins Detail mit vergoldeter Bronze verzieren ließ. Sein Name war James …

James Cook, ist der erste Gedanke des Polizeirats. Quatsch, das ist dieser Seefahrer. James Cox hieß der Kerl, der die Uhr gebaut haben soll. Und der Geliebte Katharina der Großen, Fürst Grigorij Potëmkin, hat sie 1780 gekauft und seiner Angebeteten geschenkt. Allein ein Raum in diesem Palast, erkennt er bewundernd an, lässt das gesamte Husumer Schloss wie den Stall von Bethlehem erscheinen.

Als der deutsche Polizeibeamte gerade darüber nachgrübeln will, was er hier eigentlich macht und wie er überhaupt hierhergekommen ist, holt ihn die Stimme seines russischen Begleiters in die bittere Realität von Mord und Totschlag zurück.

»Der da, Heinz! Der große Mann dort drüben, der mit der eleganten Uniformmütze, das ist Nikolaj Matwejew, der Chef der Stadtbezirksverwaltung für Inneres.«

Boris Fishenski spricht gedämpft, als wolle er sichergehen, dass niemand seiner Kollegen die Worte mitanhören kann. Außerdem hat er seinen Mund in unmittelbare Nähe von Heinz Püchels Ohrmuschel gebracht. Der Polizeirat wirft einen unauffälligen Blick zu dem Hünen in Uniform hinüber und dreht den Kopf zurück zu seinem Begleiter, der ihn spitzbübisch anstrahlt.

»Wenn die Stadtbezirksverwaltung für Inneres vor Ort ist, dann ist bestimmt etwas Besonderes los.«

Um die Absperrung hat sich mittlerweile eine Handvoll Beamte der Miliz eingefunden, die sich augenscheinlich mehr im Wege steht, als dass sie mit der Ermittlung beginnt. Sie sehen sich ratlos um, als warteten sie auf eine entscheidende Person, die Verantwortung übernimmt. Auch hat Püchel noch keinen Menschen entdeckt, der nach einem Spurensicherer oder Mediziner aussieht. Beim Kriminalrat schleicht sich das merkwürdige Gefühl ein, er würde völlig neben sich stehen, als müsste ihn jetzt jemand nur in den Arm kneifen, damit er aus einem Traum erwacht. Er ist es normalerweise gewöhnt, an einem Tatort immer derjenige zu sein, der alles sofort unter Kontrolle bekommen muss. Hier ist er nur ein Statist, zum Beobachter degradiert; fühlt sich nur als Anhängsel in einer Inszenierung, in die er ohne sein Zutun hineingeraten ist. Die Hauptperson in diesem Stück ist eindeutig Hauptmann Boris Fishenski, sein Begleiter.

Er hatte den russischen Kriminalbeamten von der St. Petersburger Kommission vor zwei Jahren auf einem Kongress in Frankfurt kennengelernt, bei dem es um die internationale polizeiliche Zusammenarbeit in Europa und den baltischen Ländern ging. Für diesen ersten breit angelegten Informationsaustausch war auch eine russische Delegation angereist, die von dem Minister für öffentliche Sicherheit aus Sankt Petersburg begleitet wurde.

»Internationale polizeiliche Zusammenarbeit ist zu etwas Unverzichtbarem geworden«, hatte ein russischer Kollege in perfektem Deutsch bei einer Podiumsdiskussion geäußert und damit den deutschen Polizeirat auf sich aufmerksam gemacht. »Diese Zusammenarbeit genießt in meinem Heimatland einen hohen Stellenwert und wird in Zukunft an Bedeutung gewinnen. Nicht zuletzt die offenen Grenzen ermöglichen es Kriminellen immer schneller in andere Länder zu wechseln.«

Püchel hatte Boris, den sympathischen Redner vom Vormittag, am selben Abend an der Hotelbar wiedergetroffen. Seine Art zu sprechen und sein kleiner Oberlippenbart hatten den Polizeirat an den Grafen Wronskij aus Anna Karenina erinnert, einer der wenigen von ihm gelesenen russischen Romane. Sie waren ins Plaudern geraten, hatten wie die Schlote deutsche und russische Zigaretten geraucht und nebenbei etliche Wodka heruntergespült. Boris’ Zunge war immer lockerer geworden. Er vertraute dem deutschen Kollegen seine ganze Lebensgeschichte an. Püchel erfuhr von seiner Wehrpflicht in der damaligen DDR, wie er in den 24 Monaten in der Nähe von Rostock Deutsch gelernt und danach sein Glück in der Petersburger Miliz gesucht hatte. Am Ende des Abends tauschten sie obligatorisch ihre Telefonnummern aus. Doch die Erinnerung an den russischen Kollegen war Heinz Püchel im Berufsalltag verlorengegangen, bis er vor einem Vierteljahr völlig unerwartet einen Anruf von Boris erhielt, der nach einem Mafiosi aus der Stadt Ushghoolij fahndete, der neuerdings Aufträge in Norddeutschland erledigen solle. Trotz vieler Bemühungen und Anrufe bei Kollegen und seinem Kumpel Claus Heitmann im LKA Kiel, konnte Püchel seinem russischen Bekannten jedoch im Fall dieses Georgiers nicht weiterhelfen. Damals ahnte er noch nicht, dass sich ihre Wege bald kreuzen würden.

Vor wenigen Tagen war dem Polizeirat der Kontakt zu Boris auf der ersten Station seiner Delegationsreise wieder eingefallen. Er saß, von motorischer Unruhe geplagt, am späten Nachmittag in seinem Moskauer Hotelzimmer. Sein rechtes Bein ratterte wie die Nadel einer Nähmaschine auf und ab, während er die Rubelscheine in seiner Brieftasche zählte und dabei auf die zerknitterte Visitenkarte des Petersburger Kollegen stieß. Und weil die Stille unerträglich war, hatte er spontan die Nummer auf seinem Handy gewählt. Boris meldete sich sofort, und der Polizeirat berichtete ihm, dass er in zwei Tagen in Petersburg sein würde. Dann fragte er den Kollegen ohne Umschweife, ob dieser ihm nicht unter der Hand einen kleinen Anschauungsunterricht seiner alltäglichen Praxis geben könne. Bei den Kollegen in Moskau, hatte er sich bei Boris beschwert, sei es bis jetzt ziemlich langweilig gewesen.

»Verlassen Sie in der Nacht nicht Ihr Zweibettabteil«, warnte der Leiter der deutschen Delegation, während Püchel und Hollmann mit den anderen Abgeordneten in den Roten Express gestiegen waren. Die Husumer Beamten waren bis zur Dämmerung aus dem Staunen nicht herausgekommen und hatten nur gebannt aus dem Abteilfenster geschaut, während der Zug durch das flache Land gerast war, das wie eine riesige weiße Tischdecke neben den Gleisen lag. Am nächsten Morgen waren sie mit wenig Schlaf und müden Augen auf dem Moskauer Bahnhof in Sankt Petersburg angekommen, dann mit ratternden Rollkoffern und im Gänsemarsch auf den Newski-Prospekt hinausmarschiert und mitten in einer Gruppe zerlumpter Straßenkinder gelandet. Die Bahnhofsuhr zeigte 7.40 Uhr. Es war frostig kalt.

In der Ermitage scharen sich immer mehr Milizionäre um die Leiche auf dem Mosaik. Es herrscht nach wie vor ein undurchschaubares Chaos. Der Polizeirat hat es inzwischen aufgegeben, die Abläufe der praktischen Arbeit seiner russischen Kollegen zu verstehen. Er hängt weiterhin den Tagträumen von seiner Ankunft in der goldenen Stadt nach. Er sieht sich am Ende der deutschen Delegiertenreihe vor dem Bahnhof auf dem Bürgersteig stehen.

»Hallo Heinz!«, ruft eine Stimme.

Als der Polizeirat sich umschaut, springt ihm ein geparkter Lada Shiguli ins Auge. Der große blonde Mann mit dem gepflegten Schnurrbart, der neben dem Wagen steht, trägt Jeans und eine abgestoßene Lederjacke und grinst schelmisch wie ein kleiner Junge.

»Willkommen in der absichtlichsten Stadt der Welt!«, sagt Boris, nimmt gierig noch einen letzten Zug aus der Zigarette, wirft den glühenden Stummel vor sich auf die Straße und tritt ihn aus. Mit kräftigem Griff schüttelt er Püchel ausgiebig die Hand. Dann streckt er ihm ein Päckchen Risk entgegen. »Bei uns in der Miliz hat ein nichtrauchender Kriminalbeamter etwas tragisch Absurdes.«

Der Polizeirat zieht eine Zigarette heraus. Boris gibt ihm Feuer, legt eine Hand auf seine Schulter und verkündet mit humorvoller Stimme: »Steig ein, Heinz, meine Ermittlungslimousine steht für dich bereit. Ich hole dich ab, weil der Zufall es will, dass ich dir gleich etwas Aufregendes zum Willkommen bieten kann. Du sollst dich in Pieter doch nicht so langweilen wie in Moskau!«

»Aber die Delegation, ich muss doch bei den Kollegen bleiben …« Püchel muss husten, der Rauch kratzt im Hals.

Schlimmer als eine französische Gauloises, denkt er und blickt über die Schulter zu Hollmann hinüber, der in diesem Moment mit den anderen in einen dunkelgrünen Mannschaftswagen klettert.

»Die haben doch einen Bus für uns.«

»Ich habe natürlich schon mit der Organisation gesprochen, die weiß Bescheid. Es geht alles in Ordnung. Du machst mit mir jetzt eine kriminalistische Spritztour, Genosse Polizeirat!« Boris lacht laut über seinen eigenen Witz und reiht sich im Kreisverkehr um den Newski-Prospekt in die Blechkarawane ein. »Ich fahr dich danach in dein Hotel. Du kannst mir vertrauen, du gehst deinen Leute schon nicht verloren.«

Die breite Straße führt schnurgerade an vier- bis fünfstöckigen Häuserzeilen vorbei. Der Bürgersteig ist vollgestopft mit Ständen, Verkäufern und Touristen in unterschiedlichster Kleidung. Vor ihnen fährt ein klappriger Trolleybus und nimmt die Sicht nach vorn. Püchel staunt aus dem Seitenfenster hinaus, an dem gerade bronzene Pferdeskulpturen auftauchen, die auf einer mächtigen Steinbrücke stehen. Auf der anderen Seite, in der Mitte der Fahrbahn, rattert eine vollbesetzte Straßenbahn in gleicher Höhe nebenher, genauso klapprig wie der Bus.

»Wohin du auch schaust, Heinz! St. Petersburg ist eine materialisierte Wahnvorstellung. Das Produkt der Laune eines Mannes. Es ist auf einem Sumpf erbaut und ist ein Sumpf geblieben. Kannst du dir vorstellen, dass wir hier über 200 bewaffnete Mafiabanden haben? Das organisierte Verbrechen ist die größte Gefahr in unserem Land. Sie kann uns die noch junge Demokratie kosten, wenn wir nicht aufpassen.«

»200? Wirklich? Na, da wundert es mich, dass eure goldenen Dächer alle noch da sind«, scherzt der Polizeirat und lässt sich von den goldenen Kuppeln, Zwiebeltürmen und Brückengeländern in den Bann ziehen, die unentwegt in sein Blickfeld geraten. Wenig später öffnet sich rechts vor seinen Augen ein riesiger Platz, in dessen Mitte eine mächtige Säule aus rotem Stein emporragt. Die Spitze krönt ein Engel. Dahinter das Wahrzeichen der Stadt, der Winterpalast und die Ermitage, ein prachtvoller Gebäudekomplex mit barocker Fassade, weißen Säulen vor grünem Hintergrund und vergoldeten Kapitellen.

»Der Schlossplatz mit der Alexandersäule. Die besteht aus einem einzigen Stück roten Rapakivigranit«, erklärt Boris kurz in Fremdenführermanier. »Jetzt sind wir gleich an Ort und Stelle, an dem du russische Polizeiarbeit live erleben kannst.«

Der Hauptmann chauffiert den Wagen um den Prunkbau herum, ein Stück an der Newa hinauf und unter einen Torbogen zu einem Seiteneingang, der von einer ganzen Einheit Milizpolizisten abgesichert zu sein scheint. Er stellt seinen Wagen an den Rand, legt Püchel nach dem Aussteigen eine Hand auf die Schulter und bugsiert den Deutschen durch die versammelte russische Miliz, indem er seinen Dienstausweis am ausgestreckten Arm in die Höhe hält.

Die Erinnerung des Polizeirats ist wieder dort angekommen, wo er sich gerade befindet. Der russische Ermittlungsapparat im Pavillonsaal der Ermitage agiert vor seinen Augen in Echtzeit. Beim Anblick der Milizionäre, die mittlerweile anscheinend auf Touren gekommen sind, fühlt sich der Polizeirat aber immer noch ausgebremst. Dabei würde er am liebsten sofort bei der Ermittlung mitmischen und alle rumstehenden Russen anweisen, gefälligst in die Hufe zu kommen. Immerhin ist in der Zwischenzeit jemand eingetroffen, der Fotos von der Toten gemacht hat. Boris gibt seinem deutschen Gast ein Zeichen, dass er sich nicht von der Stelle rühren soll, und geht zu einem Untersuchungsführer, der offenkundig die Fäden in der Hand hält und sich am Rande des Bodenmosaiks aufhält.

Ein Untersuchungsführer hat hier den Status eines ermittelnden Kriminalbeamten, glaubt Püchel verstanden zu haben und verfolgt gespannt, wie Boris seinen Kollegen auszuhorchen versucht. Er deutet mit der Hand ein paar Mal zu dem Polizeirat herüber, redet auf den Mann ein und weicht ihm auch nicht von der Seite, als ein vermeintlicher Gerichtsmediziner eintrifft, der die Leichenschau vornimmt. Die Hände in Gummihandschuhen, tastet er methodisch den Kopf der Toten ab, hebt die Lider an und schaut sich die Pupillen an. Boris redet mittlerweile mit der schicken Uniformmütze, dem Mann aus der Stadtbezirksverwaltung für Inneres. Der gibt ihm einige Papiere zu lesen, die er aus einer Mappe gefischt hat. Wenig später ist sein Fremdenführer plötzlich ganz verschwunden. Püchel wartet ungeduldig an seinem Platz, klopft mit seinem Fuß in schnellem Rhythmus auf den Boden und muss sich zusammenreißen, dass er sich in diesen Räumen keine Zigarette anzündet. Auch die russischen Kollegen scheinen sich das nicht zu trauen, beruhigt er sich, dabei hatte Boris ihm doch versichert, dass ein nichtrauchender Milizionär etwas Absurdes ausstrahlt.

»Es sieht leider so aus, als müsste ich dich enttäuschen«, informiert Boris mit einem reumütigen Blick. »Die brisante Identität unserer Leiche wurde mir nämlich durchgegeben, als ich auf dem Weg zum Bahnhof war, um dich abzuholen. Und ich dachte natürlich sofort, ich könnte dir einen spektakulären Mordfall zum Willkommen bieten. Aber wie es scheint, ist die Frau nur an einem Herzversagen gestorben. Wer konnte vorausahnen, dass jemand im Pavillonsaal der Ermitage an so etwas Profanem sterben könnte.«

»Menschen sterben überall, auf Zeit und Ort haben sie keinen Einfluss«, kommentiert Püchel lakonisch.

»Aber die Tote war eine besondere Frau. Da haben bei mir sofort alle Alarmglocken geläutet.«

»Und wer ist so wichtig, dass die Glocken zu läuten beginnen?«

»Oberkustodin Irina Kotschetowa!«

»Und was macht diese Frau zu einer besonderen Frau?«, fragt Heinz Püchel und schaut seinen Berufskollegen erwartungsvoll an.

»Sie verwaltet die gesamten Bestände der russischen Abteilung der Ermitage. Zu den Exponaten gehören unter anderem Email des 15. bis 19. Jahrhunderts, Einfassungen von vergoldeten Ikonen, altrussische Schöpfkellen und Becher. Das ist heute alles unbezahlbar.«

»Und? Ist durch den Tod der Frau irgendetwas davon abhandengekommen?«

»Das kann niemand beantworten, nicht einmal der Direktor des Museums. Ich habe mit ihm gesprochen. Er hat mir gesagt, dass allein die gezeigte Sammlung aus circa drei Millionen Exponaten besteht und der Rest in den Archiven untergebracht ist.«

»Und wegen dieser Schätze tretet ihr euch hier alle gegenseitig auf die Füße und braucht Stunden, bis ihr bemerkt, dass die Frau eines natürlichen Todes gestorben ist?«

»Genau das ist das Problem, Heinz. Persönlich glaube ich nicht daran, dass das schon gesichert ist. Es gibt keine Fremdeinwirkung, behauptet der Arzt. Aber das ist eben nur eine Behauptung.«

»Wieso, gibt es Zweifel?«

»Nun, unser Doktor wurde direkt von einer Hochzeitsfeier geholt. Und die hat, wenn mich mein Eindruck nicht täuscht, nicht erst heute Morgen begonnen. Wodka macht zwar kaum eine Fahne, aber seinen ausgiebigen Konsum konnte man an seinen Bewegungen ablesen.«

Püchel schüttelt ungläubig den Kopf und schaut dabei Fishenski an. Doch der zuckt ratlos mit den Achseln und grinst: »Vielleicht kommt die Obduktion ja zu einem anderen Ergebnis. Wir werden sehen. Ich schätze, für dich gibt es hier nichts Interessantes mehr zu sehen. Tut mir leid.«

»Geht schon in Ordnung. Zumindest habe ich einen Eindruck von eurer Arbeit bekommen«, beruhigt der Polizeirat und schlägt die Richtung ein, aus der er mit Boris in den Saal gekommen ist.

»Nicht dort hin. Wir machen einen kleinen Rundgang, bevor wir gehen«, stoppt ihn der Russe und deutet zum gegenüberliegenden Ausgang. »Ab jetzt bist du nur noch Tourist und ich führe dich durch die russische Seele.«

Er drängt sich mit seinem Gast im Schlepptau durch die Reihe Milizpolizisten hinein in ein funkelndes Meer aus Gold und Machtinsignien, vorbei an der Prunkkutsche des Zaren, hinein in Wohn- und Prunkgemächer mit bizarren Barockdekoren, Marmorsäulen, monumentalen Deckenornamenten, silberverzierten Thronstühlen, doppelköpfigen Adlern, Kaiserkronen, bis in die Diamantenschatzkammer mit dem 46-teiligen Service der Zarin Elisabeth aus purem Gold.

»Schau dir diese prächtigen Pferdegeschirre an«, drängt der Russe und zieht den Husumer Polizeirat nah an die Exponate heran. »Das erste ist mit 8.000 Brillanten besetzt, das andere sogar mit 16.000 Diamanten. Was sagst du nun?«

»Ich frage mich, wann eine von euren vielen Mafiabanden jemanden vorbeischickt, um einige der Klunker abzuzweigen?«

»Das wird nicht passieren. Selbst die größten Schurkis wagen es nicht, aus dem Petersburger Desant auszuscheren.«

»Dem was? Dem Petersburger Desant?«

»Du musst wissen, Putin ist Petersburger. Seine Seilschaften stehen für eine ungezügelte Günstlingswirtschaft. Die Kapitalströme, die bisher nach Moskau geflossen sind, werden mit Putins Einverständnis nach Petersburg umgeleitet, er fördert die ihm zugetanen Oligarchen dieser Stadt und schreckt auch vor engen Mafiakontakten nicht zurück. Und die Oligarchen lieben diesen Glanz von Gold und Edelsteinen, der Russlands Macht präsentiert. In diesem Glanz laufen alle ihre Geschäfte besser. Deswegen werden sie sich an diesem Glanz nicht vergreifen.«

»Wenn du dich da mal nicht täuschst, Boris, Gauner bleibt auf jeden Fall Gauner.«

Eiderland

Als Swensen erwacht, ist er allein im Bett. Anna ist schon aufgestanden, ohne dass er es mitbekommen hat. Dass die notorische Langschläferin vor ihm aus den Federn kommt, ist etwas, was nur ganz selten passiert. Der Morgen wischt sich gerade erst die Augen, schickt trübes Licht durch den Vorhangschlitz in den Raum. Der Digitalwecker verkündet die Zeit als einen ewigen Schwebezustand in roten Leuchtzahlen: 8.24 Uhr.

Er war erst spät am Abend von den Ermittlungen aus Tönning, wo er auch noch den Wagen abholen musste, nach Hause gekommen, hatte sich in aller Stille ausgezogen, war nackt unter die Bettdecke geschlüpft und hatte sich vorsichtig auf Annas Seite geschoben. Sein rechtes Bein war zu ihrer Hüfte hinaufgekrochen. Sie atmete tief, lag vollkommen still. Ihre Haut fühlte sich glatt und weich an seiner Haut an. Er hatte seinen Arm um ihren Nacken gelegt. Dann muss er eingeschlafen sein.

Der erste Gedanke, nachdem ihm einen Moment lang jegliche Erinnerung fehlt, ist nicht die Leiche vor dem Riesenaquarium in Tönning, und auch nicht die Gewissheit, dass es einen neuen Mordfall für die Husumer Kripo gibt. Nein, er muss an das Skelett des Pottwals denken, das er gestern im Vorbeigehen auf dem Weg zum Tatort wahrgenommen hat und das ihm danach immer wieder in Erinnerung gekommen ist.

Der Hauptkommissar schlägt die Bettdecke zurück und stellt beide Beine auf den Boden. Als er noch unentschlossen auf der Bettkante hockt, hat er plötzlich die Bilder der drei Pottwale vor Augen, die im Dezember 97 an der Küste vor Westerhever gestrandet waren. Ein Skelett der Tiere wurde später ins Multimar geschafft.

Damals war er mit Anna, genau wie eine Unzahl von Anwohnern und Touristen, ins Watt hinausgepilgert, um sich das Ereignis aus nächster Nähe anzusehen. Vom Deich aus wirkten die Tiere in der weiten Landschaft noch ziemlich klein. Doch bei dem langen Fußmarsch nahmen die Körper langsam ihre wahren Dimensionen an, wuchsen auf 15 bis 17 Meter Länge.

Swensen erinnert sich, wie traurig und zugleich staunend er vor dem riesigen Maul stand, das sich schlaff auf den ausgetrockneten Wattboden gepresst hatte. Ein verirrtes Meereswesen, das durch die Gesetze der Schwerkraft von seinem eigenen Gewicht plattgedrückt wurde. Das Drama schien allerdings einige anwesende Säugetiere der Gattung Homo sapiens nicht sonderlich zu erreichen. Erst kletterte ein Jugendlicher von der Schwanzflosse aus auf den Rückenberg eines Wals. Und als der Bann gebrochen war, setzte ein regelrechter Herdentrieb ein. Es machten sich selbst Kleinfamilien mit Kindern auf den Weg, um einen Fußmarsch über die dicken Speckschichten bis zum Kopf zu unternehmen. Der makabre Totentanz hatte etwas unmenschlich Menschliches. Der Hauptkommissar war mit Anna stumm zurück zum Deich geflohen.

In der Menge scheint der Mensch mit einer Art Blindheit seiner Sinne geschlagen zu sein, grübelt Swensen, erhebt sich, schlurft über den Flur zum Bad hinüber und macht sich für den kommenden Tag fertig. Der Gedanke lässt ihn nicht los.

In der Menge verschwindet der Umriss. Wenn genügend Augen da sind, ist ein einzelner Mensch nahezu unsichtbar. Der Mörder, der auf einem einsamen Feldweg mordet, wird wahrscheinlich genauer beschrieben, als der Mörder, der in der Menge verschwindet. Irgendwas in diese Richtung muss gestern im Multimar passiert sein.

Das schmutzige Grau drückt den Himmel herab, lässt nur noch wenig Platz zum Atmen. Auf der Fahrt durch den verdunkelten Morgen plagt sich der Hauptkommissar weiterhin mit den Problemen der menschlichen Kommunikation herum. Wie viel Zeit hatte es gebraucht, um aus Marianne Ingwersen die mageren Informationen über ihren Mieter Peter Jessen herauszubekommen. Sie könne doch nicht einfach irgendwelche Dinge von ihm in die Welt setzen, die sie so genau ja gar nicht wüsste, hatte sie immer wieder betont. Das meiste hätte sie nur von Nachbarn gehört, und das sei mit Vorsicht zu genießen. Silvia hatte mit Engelszungen auf die Frau eingeredet, bis sie endlich mit ein paar Brocken herausgerückt war.

»Herr Jessen fährt … äh … fuhr auf ’nem Kutter, Fischkutter. War als Smutje … als Schiffskoch tätig, in der Kombüse, hat er mir mal erzählt. Früher war er hier im Ort in der Gastronomie, als Chefkoch. Er hat in unserem Kirchspielkrug die Küche geleitet. Aber vor drei Jahren, da … da hat man ihn rausgeschmissen, wurde jedenfalls im Dorf gemunkelt. Aber Genaues weiß man nicht. Ansonsten war er ein ruhiger Mieter, war fast immer allein, keinen Damenbesuch oder so was.«

»War nie jemand hier? Auch in letzter Zeit nicht?«

»Nur mal einer dieser Fischer vom Kutter. Hat Herr Jessen mir wenigstens gesagt, dass der ab und zu vorbeikommt. Ich habe den nie gesehen. Timmann heißt der, glaube ich, Hauke Timmann. Der ist nicht hier aus dem Dorf. Vielleicht wohnt der ja in Tönning. Könnte doch sein, oder? Weil da auch der Kutter im Hafen liegt.«

Swensen hat die Husumer Inspektion erreicht und biegt mit seinem Polo auf den Hinterhof, während er die Aussage der Frau mit dem Wunder der Kommunikation von Walen vergleicht. Die verständigen sich mit ihren Gesängen im Ozean über Hunderte von Kilometern und können die Melodien ihrer Artgenossen exakt bis ins Detail wiedergeben. Der Hauptkommissar pfeift leise lang gezogene Töne vor sich hin, als er die Treppe zum Gruppenraum hinaufsteigt, wo sich das Team gleich zur Frühbesprechung einfinden wird. Es ist schon so spät, dass er es nicht mehr schaffen würde, einen Tee aufzubrühen. Deshalb steuert er direkt auf die offene Tür zu, aus der Stimmengewirr zu hören ist. Haman und Mielke sind in einen Plausch vertieft, als wären sie ein Herz und eine Seele. Jacobsen sitzt allein am anderen Ende und blättert lustlos in der Husumer Rundschau, während drei Flensburger vom K1 mit einem Automagazin an der Fensterbank stehen und über Sinn und Zweck von Radzierblenden streiten.

Mit einem lauten »Moin, Moin!« würgt Swensen den Geräuschpegel ab. Im selben Moment tritt Jean-Claude Colditz mit forschem Schritt herein, legt eine Mappe vor sich auf den Tisch und fingert, nur mit einem Kopfnicken zur Begrüßung, einige Fotos daraus hervor. Mit schwarzen Pinnwandnadeln befestigt er sie nebeneinander auf der Korkplatte.

»Unser Mordopfer Peter Jessen! Was wissen wir? Wir haben seinen Wagen, einen schwarzen Audi S4, auf dem Parkplatz vor dem Wattforum sichergestellt und zur weiteren Spurensicherung in unsere Werkstatt gebracht. Es wird noch etwas dauern, bis wir Ergebnisse bekommen. Ich verspreche mir davon aber keine durchschlagenden Fahndungshinweise. Auf den ersten Blick waren keine Blutspuren auf den Sitzen zu sehen. Weiter zur Leiche! Die Obduktion hat eine eineinhalb Zentimeter lange Stichwunde in der Wand der rechten Herzkammer ergeben. Er ist also innerlich verblutet.«

Die Worte rauschen dahin wie mantrische Verse, bereits tausendmal gesprochen. Swensen ringt mit seiner Konzentration, als würde er lustlos auf seinem Sitzkissen meditieren. Die tägliche Übung, nur praxisnah ausgeführt. Einatmen, ausatmen. Eins sein mit dem Wesen der Natur.

›Wir sind von Natur aus gut‹, verspricht Meister Rinpoche ihm in seinen Gedanken. ›Ohne Ausnahme. Ohne uns analysieren zu müssen haben wir ganz von selbst Buddha in uns. Das ist die Buddha-Natur oder Bodhichitta, das Herz des Buddha.‹

»Der stete Blutverlust hat letztendlich zum Kreislaufstillstand geführt. Einer der Rettungssanitäter gab zu Protokoll, den Patienten kollabiert vorgefunden zu haben. Er war bleich und kaltschweißig und nicht bei Bewusstsein. Wichtig erscheinen mir der ungewöhnliche Ort und die Umstände des Todes. Warum ist das Opfer, nachdem ihm der Messerstich versetzt wurde, ausgerechnet in den großen Aquariumraum geflüchtet? War der Mörder noch hinter dem Mann her? Oder suchte das Opfer nach anderen Menschen, um Hilfe zu bekommen? Die Spurensicherung hat den Eingangsbereich genauestens nach Blutspuren abgesucht und nichts gefunden. Stichwunden bluten allerdings in den meisten Fällen nicht sehr stark. Bleibt die Frage, warum hat der Täter seinem Opfer in den Ausstellungsräumen vom Multimar aufgelauert? Er musste doch befürchten, bei seiner Tat beobachtet zu werden. In den Räumen marschieren ständig irgendwelche Menschen herum.«

Wenn der Chef beginnt, Fragen zu stellen, ist Swensen sofort wieder bei der Sache.

»Ich nehme an, dieselben Fragen sind allen Kollegen auch schon durch den Kopf gegangen«, sagt er und schaut demonstrativ in die Runde. »Da aber keiner von uns kluge Antworten parat zu haben scheint, sollten wir den Stand der Dinge zunächst akzeptieren. Nur durch mehr Nachdenken können wir die Antworten nicht erzwingen. Ich für meinen Teil bin dafür, dass alle Fragen, die sich um den Tatort drehen, erst einmal hintenan gestellt werden. Ich denke, wir sollten uns verstärkt auf das Umfeld des Opfers konzentrieren.«

»Das ist deine Meinung, Jan«, erwidert Colditz und wirft mit einer kurzen Kopfdrehung die langen Haare zur Seite, als wolle er die Ansicht des Kollegen abschütteln, »ich sehe das anders. Das Wie und Warum bleiben immer gleich wichtig. Hast du denn schon etwas aus dem Umfeld des Opfers zu bieten?«

»Jessen ist auf einem Fischkutter gefahren, der ›Rungholt‹. Das wusste seine Vermieterin in Tetenbüll. Und sie wusste auch, dass der Kahn im Tönninger Hafen liegt. Silvia und ich sind gestern auf dem Rückweg dort vorbeigefahren. Wir haben den Kapitän Per Timmann an Bord angetroffen. Der zeigte sich sehr bestürzt über den Tod seines Schiffskochs.«

»Zumindest hat er alle Register gezogen«, ergänzt Haman abfällig. »Ich fand seinen Gefühlsausbruch ziemlich theatralisch, er wirkte wie einstudiert. Für meinen Geschmack allerdings eher schlechtes Schmierentheater, oder hat er dich etwa überzeugt, Jan?«

»Schwer einzuschätzen, finde ich. Ich habe mir abgewöhnt, Menschen, die eine Todesnachricht bekommen, sofort in eine psychologische Schublade zu stecken. Solch schreckliche Mitteilungen machen mit jedem etwas anderes. Das muss nicht gleich was bedeuten.«

»Vielleicht gehören Seemänner für Silvia auch automatisch in die Kategorie Macho?«, wirft Mielke trocken ein.

Silvia holt tief Luft.

»Ich möchte nicht, dass die unqualifizierte Meinung von Kollege Mielke in irgendeiner Form kommentiert wird!«, fährt Colditz dazwischen, bevor Haman zu einer ihrer berüchtigten Attacken ansetzen kann.

Swensen registriert perplex, wie schnell die Vertrautheit, die ihm gerade noch beim Hereinkommen aufgefallen war, zu Bruch gehen kann. Colditz schüttelt nur mit dem Kopf und hält Mielke dabei mit einem strengen Blick in Schach, damit der nicht erneut auf dumme Gedanken kommt.

»Der Kapitän heißt also Per Timmann!«, sagt er dann. »Und wer, außer diesem Jessen, gehört noch zur Crew?«

»Der Decksmann, ein gewisser Henning Bischoff und der Bruder vom Käpt’n, Hauke Timmann. Der ist anscheinend so eine Art Mädchen für alles.«

»Habt ihr die beiden gesprochen?«

»Nein, die waren nicht an Bord und wir haben dann abgebrochen, es war bereits nach zehn. Der Kapitän hat uns Adressen und Telefonnummern der beiden Männer gegeben. Hauke Timmann wohnt in Osterhever, Henning Bischoff in Tönning. Wir wollen sie gleich nach der Besprechung aufsuchen.«

»Ich habe mal ein bisschen recherchiert«, wirft Jacobsen ein. »Jessens Vater ist früh gestorben, und die Mutter hat zwei Jahre später einen gewissen Wolfgang Lütke geheiratet. Der hat einen Sohn aus erster Ehe mit in die Familie gebracht. Jessens Stiefbruder heißt Andreas Lütke und betreibt ein Feinschmeckerrestaurant in St. Peter-Ording, ›Die Eiderente‹. Ziemlich bekannt, kennen vielleicht auch einige von euch. 1972 hat Jessen das Elternhaus verlassen und mehrere Jahre in Lübeck gelebt. Dort heiratete er eine gewisse Enna Kröger und eröffnete mit ihr das Restaurant ›Bethsy‹. Das ist aber kurze Zeit später pleitegegangen, und seine Frau hat 1975 die Scheidung eingereicht. Was allerdings aus ihr geworden ist, habe ich noch nicht rausgefunden.«

»Wir stehen ja erst am Anfang«, beruhigt Colditz, »besten Dank, Rudolf, dass du dich so schnell hinter Jessens Identität geklemmt hast. Ich weiß, dass es gestern ein harter Tag für euch alle war. Swensen, Haman, Mielke und Jacobsen, ihr nehmt euch die Fischercrew und das Umfeld von Jessen vor. Die Flensburger Kollegen nehmen sich die Personen auf der Besucherliste vor, die gestern im Multimar erstellt wurde. Wir brauchen uns jetzt nicht länger mit Reden aufzuhalten. Es gibt Arbeit genug.«

Eine allgemeine Unruhe kommt auf, Stühle werden gerückt und die Beamten drängen aus dem Raum. Swensen steht als Letzter auf. Als er bemerkt, dass Jacobsen seine Zeitung liegengelassen hat, nimmt er sie mit, um sie ihm zu geben. Auf dem Flur ist von dem Kollegen jedoch nichts mehr zu sehen. Er klemmt die Husumer Rundschau unter den Arm, bespricht mit Haman, wann sie zur Ermittlung starten wollen, und geht dann gemächlich in sein Büro. Auch mit der eingeschalteten Schreibtischlampe ist es nicht richtig hell im Raum. Eine gewisse Lustlosigkeit überfällt ihn. Es ist das erste Mal, dass ein neuer Mordfall ihn nicht sonderlich in Schwung bringt. Irgendwie hat er das Gefühl, er kann es diesmal gelassen angehen.

Die Sache wird sich wie von selbst auflösen, denkt er. Vielleicht nur eine banale Streitigkeit, Jessen ist jemandem blöd gekommen und der hat im Affekt zugestochen. Etwas, was in Großstädten tagtäglich passiert. Die Lösung müsste im unmittelbaren Bekanntenkreis liegen, und dazu gehört in erster Linie die Crew der ›Rungholt‹. Der Hauptkommissar setzt sich an den Schreibtisch, legt die Zeitung beiläufig neben den Bildschirm des Computers und wartet, bis dieser hochgefahren ist. Dann klickt er sich in das Polizei Auskunftsystem ›INPOL-Land‹ ein. Er gibt den Namen Henning Bischoff ein. Nach wenigen Sekunden werden mehrere Eintragungen aufgelistet, die aber nichts mit einem Henning Bischoff aus Tönning zu tun haben. Swensen wiederholt seine Aktion mit dem Namen Hauke Timmann. Wieder erscheint eine Reihe von Eintragungen. Swensens Blick verengt sich. Er starrt gebannt auf den Fang seiner digitalen Schleppnetzfahndung.