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Im Watt vor St. Peter-Ording wird eine Frauenleiche gefunden, die aber wieder verschwindet. Gleichzeitig taucht in Husum ein unbekannter Roman von Theodor Storm auf. Kurz darauf wird der Vorsitzende der Storm-Gesellschaft mit einem Herzschuss niedergestreckt und auch ein Journalist lebt nicht viel länger. Hauptkommissar Jan Swensen tappt mit seinem Team im Dunkeln. Erst als er eines Abends erneut den »Schimmelreiter« liest, kommt er dem Mörder auf die Spur …
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Seitenzahl: 521
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Wimmer Wilkenloh
Hätschelkind
Der erste Fall für Jan Swensen
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
4. Auflage 2008
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
Unter Verwendung eines Fotos von photocase.com
Gesetzt aus der 9,2/12,4 Punkt GV Garamond
ISBN 978-3-8392-3158-6
Bibliografische Information
der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
»Das dauert mir zu lange«, sagte Häwelmann; »ich will in den Himmel fahren; alle Sterne sollen mich fahren sehen.«
»Junge«, sagte der gute alte Mond, hast du noch nicht genug?«
»Nein«, schrie Häwelmann, »mehr, mehr! Leuchte, alter Mond, leuchte!« und dann blies er die Backen auf, und der gute alte Mond leuchtete, und so fuhren sie zum Walde hinaus, und dann über die Heide bis ans Ende der Welt, und dann grade in den Himmel hinein. Hier war es lustig; alle Sterne waren wach, und hatten die Augen auf, und funkelten, dass der ganze Himmel blitzte.
»Platz da!« schrie Häwelmann und fuhr dann in den hellen Haufen hinein, dass die Sterne rechts und links vor Angst vom Himmel fielen.
»Junge«, sagte der alte gute Mond, »hast du noch nicht genug?«
»Nein«, schrie Häwelmann, »mehr, mehr!« und hast du nicht gesehen! fuhr er dem alten guten Mond grade über die Nase, dass er ganz dunkelbraun im Gesicht wurde.
Leichter Nebel schwebt über dem festen Schlickboden und hüllt das Watt in einen milchigen Dunst. Ein Mann stapft auf die Sandbank hinaus, die jedes Mal bei Ebbe hier auftaucht. Der Wind treibt feinen Dünensand von der Küste wie weißen Rauch über die feuchtglänzenden Rippeln und lässt ihn im diesigen Nichts verschwinden.
Da vorn ist die Welt zu Ende, denkt er. Ich brauche nur noch geradeaus weiterzugehen und komme direkt von der Erde in den Himmel.
Er ist der einzige Mensch weit und breit. Die unendliche Weite dehnt sich respekteinflößend vor ihm aus. Er empfindet ein klammes Gefühl im Magen und versucht es mit dem Verstand beiseite zu schieben.
Ein unheimlicher Ort, wenn man sich hier so weit draußen allein herumtreibt. Im Grunde sollte man Ehrfurcht vor dieser rauen Natur verspüren, die einen ohne Vorwarnung verschlingen und dann einfach irgendwo im All wieder ausspeien könnte.
In der Ferne kann er die Silhouette des Leuchtturms von Westerhever erahnen. Er merkt wie die feuchte Luft unter seine Kleidung kriecht, atmet tief durch und blickt hinter sich. St. Peter-Ording ist von hier aus nicht mehr zu erkennen. Dafür faszinieren ihn das unwirkliche Licht und die filigranen Muster, die vom Wellenschlag und der Gezeitenströmung in den silbergrauen Schlick gezeichnet wurden. Ein faszinierendes Motiv. Er greift zum Fotoapparat. Von rechts dringt kurzes spitzes Kreischen an sein Ohr. In zirka zwanzig Meter Entfernung hat sich eine größere Schar Möwen angesammelt. Mit ihren Schnäbeln hacken die Vögel wütend aufeinander ein. Automatisch nimmt er seine Kamera ans Auge.
Der Fotograf steckt einem einfach in den Knochen, denkt er amüsiert.
Vorsichtig nähert er sich dem Knäuel. Da verstummt das Geschrei. Mit dem zirrenden Geräusch hunderter Flügel hebt sich ein weißer Vorhang in den Himmel. Jetzt ist der Blick frei. Er spürt wie in diesem Augenblick das Blut in seinem Kopf zu pulsieren beginnt. Das Bild im Sucher seiner Kamera verschwimmt vor seinen Augen. Ihm wird schwindelig. Die Knie sacken auf den nassen Schlickboden. Krampfhaft klammert er sich an seine Nikon. Ungläubig hebt er den Kopf und starrt auf die Sandverwehung vor sich, aus der ein blutverschmiertes Gesicht mit zwei leeren Augenhöhlen herausguckt. An den blauen Lippen kleben Reste eines knallroten Lippenstifts. In der Nase steckt ein glitzernder Stein. Er wendet den Blick ab. Sein Atem geht schwer und er friert. Das Meer verharrt bewegungslos, obwohl das Rauschen der Wellen in seinen Ohren dröhnt. Dann erwacht er urplötzlich aus seiner Erstarrung. Angst springt ihn an.
Oh Gott!
Sein Kopf ist nicht mehr leer. Die Gedanken stürzen auf ihn ein.
Eine tote Frau!
Seine Augen tasten das nähere Umfeld ab. In zirka fünf Meter Entfernung zeichnen sich, trotz der Verwehungen, Reifenspuren eines Wendemanövers ab. Von dort zieht sich eine Schleifspur bis hier zum Fundort.
Der Wagen ist also rechts vom Land gekommen, denkt er. Das heißt, er ist bestimmt in St. Peter-Ording auf die Sandbank gefahren.
Der Priel, der hier den geraden Weg zum Festland versperrt, ist ziemlich tief und endet erst an den Pfahlbauten mit den Restaurants, die vor St. Peters Küste im Watt stehen. Dort liegt der von den Umweltschützern umstrittene Autostrand und dort gibt es auch eine Deichüberfahrt. Er wendet seinen Blick ab. Wieder liegt der Leichnam vor ihm. Panik erfasst ihn.
Bloß keine Polizei schießt es ihm durch den Kopf. Was mach’ ich nur, was mach’ ich nur?
Gleichzeitig bemerkt er, wie silberne Wasserzungen den Schlickboden entlang kriechen, Rippel für Rippel überwinden und unaufhaltsam auf die Frau vor seinen Füßen zueilen. Es ist Flut.
In zwanzig Minuten ist hier Land unter!
Er atmet mehrmals tief durch. Dann greift er seine Kamera, die ihm am Ledergurt um den Hals hängt. Während er die Leiche umkreist, drückt er ununterbrochen auf den Auslöser. Erst als der Transport blockiert, erwacht er aus einer Art Trance. Der Film ist voll.
Scheiße! Das muss ja auch unbedingt mir passieren!
Das Wasser hat den toten Körper erreicht. Ohne darüber nachzudenken, ganz mechanisch, nimmt er den vollen Film aus der Kamera und legt einen neuen ein, den er immer lose in der Hosentasche dabei hat. Dann sucht er nach einer deutlichen Reifenspur und schießt davon noch einige Bilder aus verschiedenen Richtungen. Erneut spürt der Mann eine Gänsehaut in seinem Nacken aufsteigen.
Ruckartig wendet er sich von dem grausigen Ort ab. Der Nebel hat sich aufgelöst. Er will so schnell wie möglich ans Festland und watet auf dem direkten Weg in den Priel. Doch in der Mitte läuft ihm das Wasser oben in die Gummistiefel und, obwohl er auf Zehenspitzen weitergeht, hat er sofort nasse Füße. Am anderen Ufer hetzt er in ausladenden Schritten auf den grauen Strich Küste zu, der in der Ferne die Richtung angibt. Mindestens eine halbe Stunde Fußmarsch liegt vor ihm. Bei jedem Schritt quatscht das Wasser in und der Wattschlick unter seinen Stiefeln. Er zieht sich die Wollmütze ins Gesicht und stemmt sich gegen den scharfen Wind, der ihn jetzt von vorne trifft.
Nur weg von hier.
Die beißende Kälte dringt nicht in sein Bewusstsein. Im Inneren versucht er krampfhaft Ordnung in sein Chaos zu bringen. Wenn Irene ihn nicht angerufen hätte, würde er jetzt, wie Nicola, seine Frau, es natürlich annimmt, bei der Eröffnung seiner Ausstellung im New Yorker Soho anwesend sein. Aber vorgestern hatte er mit seinem Galeristen telefoniert und ihm vorgelogen, dass er mit Grippe im Bett läge. Dann hatte er ein Hotelzimmer in St. Peter gebucht und war wie angekündigt abgereist, aber nicht nach New York, sondern mit dem Geländewagen über Itzehoe nach Husum gebrettert, Irene abgeholt und dann sofort weiter nach St. Peter. Und jetzt das hier! Wie sollte er Nicola das je erklären.
Scheiße! Sie wird mir den Geldhahn abdrehen, das ist sicher. Aber irgendwie muss ich die Polizei informieren. Irene braucht ja davon nichts zu erfahren.
Vom Westen her schieben sich die Wolken zu schwarzen Türmen zusammen. Der Himmel verfinstert sich zusehends. Endlich erreicht er den Holzsteg, der durch die Sanddünen führt. Da erfaßt ihn ein innerer Zwang und er dreht sich noch einmal um. Die Leiche ist von hier aus nicht mehr zu erkennen. Im gleichen Moment reißt die Wolkendecke auf. Durch die Lücke fallen die rötlichen Strahlen der Vormittagssonne wie ein Scheinwerferlicht vom Himmel.
Das ist ja schon fast unheimlich, denkt er.
Das Grauen ist verschwunden, ein Spuk – vom Wasser überflutet. Vor ihm erstrahlt der Küstenstreifen in einem gedämpften Orange. Ein bedrückend schöner Anblick. Mechanisch nimmt er die Kamera hoch und drückt noch ein paar Mal auf den Auslöser.
Jetzt braucht hier nur noch eine Gestalt mit flatterndem Mantel auf einem hageren Schimmel vorbeizureiten, kommt es ihm in den Sinn, und er muss für einen kurzen Moment lächeln. Dann tanzen die Lichtpunkte auf der Wasseroberfläche ihn wieder in die Wirklichkeit zurück. Er hört, wie sich das blubbernde Geräusch in seinen Stiefeln mit den sandigen Schritten auf den Holzplanken vermischt, bis er die Betontreppe erreicht, die auf den Deich führt. Die Stufen, viel zu niedrig und zu lang, zwingen ihn förmlich dazu, zwei auf einmal zu nehmen. Oben auf der Deichkuppe verschwindet das gespenstische Licht wieder hinter der Wolkendecke. Von unten weht der zarte Ton der Windharfe zu ihm hinauf. Er lauscht kurz ihrer immerwährenden, gleichen Melodie. Unten auf dem Parkplatz steht einsam sein Mitsubishi L2000 Offroader. Außer ihm hat sich niemand hierher verirrt. Der Wagen steht gleich neben dem Kassenhäuschen, das um diese Jahreszeit immer geschlossen ist. Der kleine Glasbau sieht aus wie ein leeres Aquarium. Dahinter steht eine baufällige Scheune, in der Strandkörbe überwintern. Vor dem Deich ist es mit einem Mal wieder friedlich, der Spuk ist verflogen. Durch den zugezogenen Himmel dringt nur noch ein fahles Licht. Wabernder Nebel steigt aus den flachen Wiesen. In der Ferne blöken sich die Schafe an. Mit klammen Fingern braucht es einige Versuche um das Türschloss zu treffen. Kaum sitzt er hinter dem Steuer, beschlägt die Frontscheibe von seinem Atem. Er startet. Das Radio brüllt los.
»Das waren die Nachrichten. Und jetzt das Wetter.«
Ein Druck auf die Taste reduziert die Lautstärke auf ein erträgliches Maß.
»Vom Atlantik her überquert ein Tiefdruckgebiet Norddeutschland. Es ist mit orkanartigen Windböen bis zu Windstärke zehn zu rechnen. Noch heute Nacht wird die Schlechtwetterfront auf die schleswig-holsteinische Westküste treffen. Vor einer Sturmflut wird gewarnt.«
Ich denke, ich breche diesen saublöden Trip hier ab und kurve noch möglichst vor dem Scheißwetter nach Hamburg zurück. Für Irene hat sich bei mir einfach ein wichtiger Termin ergeben und wenn ich die nächsten Tage im Atelier übernachte, merkt Nicola auch nichts von der Sache.
Er dreht die Heizung voll auf und wartet, bis die Sicht durch die Scheibe langsam wiederkehrt.
Es ist Donnerstag, der 16. November 2000.
* * *
Mit einem Mal wird Anna Diete hektisch. Die graublauen Augen der mittelgroßen schlanken Frau sprühen förmlich vor Eifer. Sie spitzt ihren schmalen Mund, so dass sich zwei tiefe Falten an den Mundwinkeln bilden und stößt dem hochgewachsenen Mann, der auffällig gerade neben ihr sitzt, den Ellenbogen in die Seite. Jan Swensen zuckt zusammen und wendet sich erstaunt herum. Er ist vor zwei Monaten dreiundfünfzig geworden, wirkt aber noch wesentlich jünger, trotz seiner leicht gelichteten und grauen Haare. Anna Diete deutet mit einer Kopfbewegung in Richtung Eingangstür, durch die gerade ein elegant gekleideter Mann in den Saal tritt. Swensen schätzt ihn auf Mitte fünfzig. Die dunklen Haare, die mit Gel nach hinten gekämmt am Kopf kleben, glänzen im Lampenlicht.
»Da! Das ist das schwarze Schaf der gesamten Storm-Experten, die da vorne am Podium rumstehen!«
Der Mann steuert direkt auf die kleine Gruppe von Männern zu und begrüßt jeden mit Handschlag, der von fast allen deutlich unwillig erwidert wird.
»Und wer ist das?«, fragt Jan Swensen etwas konfus und registriert die auffällig feingliedrigen Hände des Mannes und seine aalglatte Art sich zu bewegen.
Seit mehreren Jahren hatte Anna Diete vergeblich versucht ihn zu einem der Theodor-Storm-Symposien, die regelmäßig jeden Winter in Husum stattfinden, mitzuschleifen. Dieses Jahr hatte sich ihre penetrante Werbung endlich ausgezahlt und Swensen war mit von der Partie. Nicht gerade einfach für einen Hauptkommissar mit unberechenbarem Dienst. Es brauchte einige Überredungskunst bei seinen Kollegen um noch so kurzfristig seine freien Tage genau auf diese Storm-Veranstaltung zu legen. Seitdem ist Anna schier aus dem Häuschen. Selbst die frühen Anfangszeiten, wie z.B. am heutigen Samstag um 9:00 Uhr, sind für sie als chronische Langschläferin plötzlich kein Problem mehr.
»Wer das ist? Mein Gott, Jan! Du weißt aber auch schlicht gar nichts! Das ist Ruppert Wraage!«
»Wer?«
Er weiß, dass Anna als grandiose, aber leider noch unentdeckt gebliebene Theodor-Storm-Hobby-Koryphäe, bei dieser Frage völlig auskicken wird. Aber was bleibt ihm übrig, wenn er überhaupt irgendetwas von diesem Fachsimpeln hier begreifen will.
»Ruppert Wraage«, faucht sie gereizt, in dem sie durch ihre glatten, naturroten Haare fährt und flehend gen Himmel blickt, »ist der Typ, der seit geraumer Zeit vehement die Meinung vertritt, dass Theodor Storm in seinen letzten Jahren neben dem Schimmelreiter heimlich einen Roman geschrieben hat.«
»Ja, und?«
»Ja und, ja und!«
Jetzt hat er endgültig Annas Nerv getroffen.
»Mensch, Jan! Theodor Storm hat sein Leben lang nur Novellen geschrieben!«
»Aber der Schimmelreiter ist doch ein Roman!«
»Nein, eine Novelle!«
Jan Swensen ist der Unterschied zwischen Novelle und Roman nicht nur egal, er hat auch keine Ahnung. Aber das kann er bei dem Erregungszustand, in dem sich Anna gerade befindet, unmöglich zugeben. Also versucht er, indem er ihr Fachwissen abfragt, sie wieder auf den Boden zurückzuholen.
»Und was würde das bedeuten, wenn Storm einen Roman geschrieben hätte?«
»Das wäre eine Sensation! Was sage ich, eine Weltsensation!«
Jan Swensen kennt Anna Diete, die auf den Tag genau neun Jahre jünger ist als er, seit acht Jahren. Beide wurden am 2. September geboren, er 1947, sie ’56. Während ihrer gemeinsamen Beziehung, die man seit sechs Jahren als fest bezeichnen könnte, hatte ihre Theodor-Storm-Begeisterung nicht einen Hauch nachgelassen.
Er dagegen stand seit seiner Grundschulzeit in Husum mit Theodor Storm auf Kriegsfuß. Im Deutschunterricht wurde der große Sohn der Stadt als die Nummer eins gehandelt. So durfte er den ›Schimmelreiter‹ rauf und runter vorlesen, laut vorlesen. Danach folgten noch ›Carsten Curator‹ und dann ›Hans und Heinz Kirch‹. Wenn er heute an sein Gestotter zurückdenkt, läuft ihm immer noch eine Gänsehaut den Rücken herunter. Die Schulaufführung der ›Regentrude‹ zum 75sten Todestag Storms gab ihm dann den Rest. Wegen seiner hervorragenden Bodenturnleistungen wurde er für die Hauptrolle des ›Feuermanns Eckeneckepenn‹ ausgeguckt. Monatelang hatte er den Text gebüffelt. Am besagten Abend zwängte er sich in sein Kostüm aus roten Stoffstreifen. In der vollbesetzten Turnhalle wirbelte er mit einem Flickflack auf die Bühne, fuchtelte wild herum und dann passierte, was passieren musste, er hatte den Text vergessen. Nach dieser Blamage nahm er nie wieder ein Buch seines Heimatdichters in die Hand.
Mit Annas Storm-Enthusiasmus hat er sich unterdessen, innerlich schmunzelnd, arrangiert, denn sie entwickelt die gleiche Begeisterung auch in ihrem Beruf als Psychologin. Im Laufe der Zeit hatte er so manch guten Tipp für seine Ermittlungen bekommen.
»Meine Damen und Herren! Ich begrüße sie alle recht herzlich zum 18. Theodor-Storm-Symposion.«
Die Mikrofonansage holt Swensen aus seinen Gedanken zurück.
»Das ist Dr. Herbert Kargel, die anerkannteste Storm-Autorität der Storm-Gesellschaft hier in Husum«, flüstert Anna ihm zu.
»Der heutige Abend steht unter einem besonders umstrittenen Thema: Hat Theodor Storm einen Roman geschrieben? Diese These, die fast alle seriösen Storm-Kenner kategorisch ablehnen, wird vertreten von Ruppert Wraage«, sagt Kargel mit unterkühlter Stimme und schaut abschätzig auf Wraage herunter, der rechts neben ihm Platz genommen hat. Seine geballte Abneigung ist bis in die Körperhaltung zu spüren.
»Herr Wraage hat nach eigenen Aussagen schon einige Jahre zum Thema geforscht und versucht nun anhand eines von ihm entdeckten Briefes von Theodor Fontane an Franz Kugler seine These zu untermauern. Herr Wraage hat nun das Wort!«
Im selben Moment, in dem dieser sich von seinen Platz erhebt, summt in Swensens Jackentasche die Melodie: Üb’ immer Treu und Redlichkeit. Das Handy ist ein ironisches Geschenk der Kollegen zu seinem letzten Geburtstag gewesen. Sie wollten ihm damit deutlich machen, dass seine Ablehnung gegen diese Technik in der heutigen Zeit lächerlich ist.
Mindestens die Hälfte der zirka achtzig anwesenden Personen im Saal schauen missbilligend. Swensen setzt ein reuiges Gesicht auf und nimmt das Gespräch entgegen.
»Moment, etwas Geduld!«
Der Unmut wird noch größer, als er die Stuhlreihe verlässt und sich an den unwillig Aufstehenden vorbeiquält. Erst vor der Saaltür nimmt er den Hörer wieder ans Ohr.
»So, jetzt geht’s. Swensen hier.«
»Mielke! ’Schuldigung dass ich dich störe, aber ich hab grade brisante Post erhalten und bräuchte deinen Rat!«
Stephan Mielke schiebt heute Bereitschaftsdienst. Er ist erst neu bei der Kripo Husum und daher noch etwas unsicher. Zu Jan Swensen hat er sofort Vertrauen gefasst, was sich schon allein durch häufige Anrufe außerhalb der Dienstzeit bemerkbar macht.
»Brisante Post?«
»Ja, ich hab hier ’nen Umschlag mit etlichen Fotos zugeschickt bekommen, auf denen eine Leiche zu sehen ist, die irgendwo an der Küste im Watt ’rumliegen muss. Sieht übel zugerichtet aus. Stinkt verdammt nach Mord.«
»Bleib ruhig, ich komm sofort.«
Leise schleicht Swensen in den Saal zurück. Es hört sich an, als wenn Ruppert Wraage gerade zur Höchstform aufläuft. Seine Stimme klingt fast dämonisch, als er wild gestikulierend ins Mikrofon faucht.
»Schließlich hat selbst seine Tochter Gertrud Storm schon behauptet, dass der Dichter ein groß angelegtes autobiografisches Werk schaffen wollte. Es sollte unter dem Titel ›Aus der grauen Stadt am Meer‹ veröffentlicht werden. Der Plan für dieses Gemisch aus Wahrheit und Dichtung fand sich allerdings erst in seinem Nachlass. Und ich sage es hier noch mal ganz deutlich, auch damit hatte vorher kein Stormexperte gerechnet!«
Mit Handzeichen gelingt es Swensen nach geraumer Zeit die Aufmerksamkeit von Anna Diete zu erringen, die offenbar alle Worte von Ruppert Wraage nur so in sich aufsaugt. Sie kapiert sofort, dass er weg muss und verleiht ihrem Ärger mit einer Flappe Ausdruck.
Draußen vor der Tür fegt der Sturm den Regen waagerecht vor sich her. Als Swensen das Innere seines Wagens erreicht, hängen ihm seine wenigen Haare in tropfenden Strähnen ins Gesicht. Die Regenjacke ist voller Wasserflecken.
»Die graue Stadt macht ihrem Namen mal wieder alle Ehre«, denkt er und verfolgt einen Moment gebannt, wie ein Haufen Blätter in skurrilen Formationen über die Straße fegen, rechts auf den Bürgersteig abdrehen und wie Geschosse in die Hecke eines Vorgartens einschlagen.
Die Strecke bis zur Polizeiinspektion ist mit dem Auto nur kurz. Keine zehn Minuten später sitzt er bei Stephan Mielke im Büro, zieht sich Latexhandschuhe über und sieht die Fotos durch.
»Kein Absender, kein Anschreiben, nichts«, sagt der.
Swensen nimmt jeden Abzug einzeln in die Hand, indem er sie nur mit den Fingerspitzen am Rand berührt. Das Motiv zeigt eine tote Frau aus mehreren Perspektiven, deren Körper von einer Sandverwehung zum größten Teil verdeckt wird. Einige Bilder zeigen das Gesicht. Es ist in einem schrecklichen Zustand, wird jedoch abgemildert, weil die Abzüge nur in schwarzweiß sind.
»So was Greuliches hab ich noch nie gesehen«, äußert Stephan Mielke und betrachtet angeekelt die abgelichtete Leiche. »Wer kann jemanden nur so brutal zurichten?«
»Wer sagt denn, dass sie ermordet wurde?«, widerspricht Jan Swensen.
»Na, hör mal. Die Augen sticht sich jemand doch nicht selber aus!«
»Das können genauso gut Vögel gewesen sein! Sieht meiner Meinung nach eher nach einer ahnungslosen Touristin aus, die sich zu weit ins Watt hinaus gewagt hat und dann von der Flut überrascht wurde. Vielleicht ist sie nur ganz banal ertrunken.«
Mielke ist mit neunundzwanzig Jahren der Jüngste in der Abteilung. Sein Gesicht mit der schmalen Stirn und den kräftigen Backenknochen wirkt drahtiger als sein Auftreten.
»Meinst du?«, fragt er überrascht und seine graublauen Augen pendeln unruhig hin und her. »Gut, dass du das sagst. Da fühl ich mich gleich besser. Ich bin nämlich etwas verunsichert was zu tun ist. Wollte schon die Kollegen von der Mordkommission Flensburg anrufen. Die wär’n doch schließlich dafür zuständig.«
»Immer langsam mit den jungen Pferden. Erstmal brauchen wir eine richtige Leiche. Es wäre also von Vorteil so schnell wie möglich rauszukriegen, wo sie liegt, wenn sie sich überhaupt noch da befindet, bei dem Sturm da draußen.«
Stephan Mielke blättert den Fotostapel durch und zieht eine Landschaftstotale heraus.
»Hier, damit können wir wahrscheinlich den Fundort bestimmen. Das Foto muss vom Festland aufgenommen worden sein. Da ist im Hintergrund ein Leuchtturm zu sehen.«
»Das ist Westerhever, der Leuchtturm von Westerhever. Das Bild wurde, soweit ich mich nicht irre, von St. Peter- Ording aus aufgenommen.«
»Und was machen wir jetzt?« Stephan Mielke fährt sich mit einer Hand nervös über seinen Bürstenhaarschnitt, mit der anderen trommelt er auf der Stuhllehne und guckt hilfesuchend zu Swensen herüber.
»Am besten, ich informiere erst mal die Einsatzzentrale, damit die einen Streifenwagen vor Ort schicken. Höchste Zeit, dass sich in Ording jemand umschaut. Und du guckst derweil im Computer nach, ob irgendwo eine Frau vermisst wird. Danach müssen Umschlag und Bilder ins Labor.«
Wie auf Kommando springt Stephan Mielke auf und stürzt an seinen PC. Swensen nimmt das Telefon und tritt ans Fenster. Während er dem Beamten in der Einsatzzentrale mit knappen Worten die Situation schildert, sieht er in den schäbigen Hinterhof. Man hört den prasselnden Regen, der auf die Dächer der parkenden Streifenwagen trommelt, bis hier drinnen. Die zerspringenden Wassertropfen legen einen feinen Nebel über den Asphalt. Hinter der Ziegelmauer, die den gesamten Hof eingrenzt, stehen zwei uralte Eichen mit mächtigen Ästen. Die Zweige werden vom Sturm wie Streichhölzer hin und her gepeitscht. Als Stephan Mielke merkt, dass Jan Swensen bereits aufgelegt hat, aber weiterhin aus dem Fenster schaut, dreht er sich ungeduldig um.
»Ist was?«
»Ja, ich frage mich schon die ganze Zeit, warum uns jemand anonym Fotos von einer Leiche zuschickt, anstatt uns gleich telefonisch zu benachrichtigen?«
»Meinst du, das war der Mörder?«
»Mensch Stephan, noch wissen wir gar nicht ob es ein Mord ist. Gibt es einen Poststempel?«
»Ja, der Umschlag ist in Hamburg eingeworfen worden.«
»Hamburg? Wer fotografiert in St. Peter eine Leiche und schickt uns aus Hamburg die Abzüge? Ziemlich merkwürdig, oder?«
* * *
Hajo Peters merkt, dass ihm das Blut vor Aufregung in den Kopf steigt. Er hat die Statur eines Bodybuilders, breite Schultern, die bedrohlich die Nähte des Sweat-Shirt spannen. Mit seinen klobigen Fingern blättert er die Buchseiten einer Theodor-Storm-Biographie durch, bis er auf die Abbildung eines handgeschriebenen Briefes des Dichters stößt. Er betrachtet die einzelnen Buchstaben ausgiebig und öffnet dann die zerfaserten Bänder, die zwei alte Leinendeckel zusammenhalten. Dazwischen liegt ein Stapel vergilbter Blätter Papier. Wie ein rohes Ei entnimmt der bullige Mann den obersten Bogen und beugt sich darüber. Sein Stiernacken quillt aus dem Kragen. Mit ausgebleichter Tinte steht dort in forscher Handschrift: Detlef Dintefaß. Ein Roman von Theodor Storm und klein am unteren rechten Rand: 23. Oktober 1887.
Akribisch vergleicht Peters die Schriftzüge auf dem Papierbogen mit denen, die der abgebildete Stormbrief im Buch zeigt.
Das ist doch hundertprozentig die gleiche Schrift, murmelt er vor sich hin. In den letzten Tagen hat er diese Prozedur wie unter Zwang, oft mehrmals hintereinander, immer und immer wieder durchgeführt. Nur die Echtheit der Schriftstücke würde sich für ihn auch wirklich auszahlen, darüber ist er sich im Klaren. Nicht auszudenken, wenn er wegen einer Fälschung getötet hätte.
Im Grunde ist die ganze Sache ja einfach nur so passiert, denkt er. So eine Chance konnte ich mir schließlich nicht entgehen lassen. Die Sache war einfach eine unglückliche Verstrickung von Umständen. Da kann man nichts machen. Genau genommen ist es nicht meine Schuld.
In seinem Kopf läuft ein Film ab und zwar einer, den er in- und auswendig kennt, Szene für Szene. Es ist zwar erst ein paar Tage her, aber er hat trotzdem das Gefühl alles läge schon Jahre zurück. Es durchzuckte ihn wie ein feuriger Blitz an dem besagten Abend. Er hatte kurz vor Feierabend noch in seinem Laden vorbeigeschaut. Seine Angestellte Edda Herbst war völlig aufgekratzt gewesen, plapperte ihn mit ihren Geschichten voll. Doch in dem Moment, in dem sie erzählte, sie hätte am Abend zuvor auf ihrem Dachboden eine alte Mappe mit handgeschriebenen Zetteln von Theodor Storm entdeckt, war er wie elektrisiert gewesen. Als sie dann auch noch von einem Roman sprach, wußte er, Edda war auf Gold gestoßen! Er konnte seine Gedanken nicht mehr kontrollieren. Alles drehte sich nur noch um ihren Fund und wie er an ihn herankommen könnte.
Edda, die schon einige Zeit bei ihm in der kleinen Videothek arbeitete, war seiner Meinung nach nicht besonders helle. Aber weil sie so verdammt gut aussah, hatte er sie hauptsächlich wegen der Kunden eingestellt.
Genauso wie er sie schon immer eingeschätzt hatte, stellte sich das Aushorchen ihrer Person als nicht besonders schwierig heraus. Auf die Frage, woher sie denn wüsste, dass es sich um einen Roman von Storm handelt, schaute sie ihn verwundert an und sagte dann einfach nur: »Na, ich kann schließlich lesen! Auf dem ersten Zettel steht klar und deutlich: Ein Roman von Theodor Storm.«
In der Husumer Rundschau hatte er in den letzten Jahren schon öfter Artikel über die Theorie eines gewissen Ruppert Wraage gelesen, der immer wieder seine Meinung von einem unentdeckten Roman des Dichters darlegte. Doch die bissigen Kommentare der hiesigen Experten begleiteten jede seiner Veröffentlichungen im Lokalblatt nur mit Hohn und Spott. Er selber hatte die Vorstellung von einem Roman seines Lieblingsdichters immer spannend gefunden. Und jetzt gab es diesen Roman höchstwahrscheinlich wirklich! Edda hatte offensichtlich keine Ahnung, was ihr da so unverhofft in die Hände gefallen war. Sie hatte zwar mal vor ihm damit geprahlt, dass sie über mehrere Ecken mit Storm verwandt wäre, aber das hatte sie wohl nur getan, weil er öfter während der Arbeit von Storm geschwärmt hatte. Selbst den Laden hatte er aus Vorliebe zum Dichter in einem historischen Haus angemietet. Hier im ehemaligen Schützenhaus in der Süderstraße spielte seinerzeit Storms Novelle ›Pole Poppenspäler‹. Doch diese Tatsache hatte sich in keiner Weise positiv auf das Geschäft ausgewirkt. Seit Jahren war seine Videothek, trotz der rassigen Edda als Galionsfigur, ein Schmuddelladen geblieben, der hauptsächlich durch das Pornogeschäft noch nicht in die Pleite geraten war. Er hatte das finanzielle Gekrebse endgültig dicke. Hätte er diesen Roman in seinem Besitz, da war er sich sicher, wäre seine Geldmisere garantiert für lange Zeit gelöst.
Sein endgültiger Entschluss das Manuskript zu entwenden, fiel genau um 21:30 Uhr. Edda war den ganzen Tag im Laden gewesen. Er ging also fest davon aus, dass sie über ihre Entdeckung noch mit niemand anderem gequatscht hatte. Garantiert war er der Einzige, der bis jetzt davon wusste.
Mit dem Satz: »Du weißt ja genau, wie sehr ich Storm liebe!«, begann er mit seiner Strategie und knuffte Edda dabei leicht gegen den Oberarm. »Wie wär’s, wenn ich morgen früh mit frischen Brötchen zum Frühstück komme und du zeigst mir den Roman. Das wäre echt toll von dir!«
Ein feuchter Dunst lagerte auf der Wasseroberfläche im Hafen.
Er vertieft sich in die erste Seite des Romans. Die altdeutsche Schreibweise ist nicht einfach zu entziffern. Sofort ist die Erinnerung an Edda hinter der geschwungenen Tintenschrift verschwunden.
Der wohlgekleidete Mann im dunklen Überrock stand an der Kaimauer und schaute in den Nebel hinaus. Es war so still, dass er weit hinten die kleinen Wellen an die Bordwände der Halligschiffe schwappen hörte. Eigentlich hieß er Detlef Fedder und war Sohn eines Pfennigmeisters aus Friedrichsstadt; doch alle nannten ihn nur Dintefaß (Tintenfass), weil er die Feder so trefflich gebrauchen konnte.
Ja, das ist eindeutig Storms Stil, denkt Peters bei sich. Ihm läuft unwillkürlich eine Gänsehaut über den Rücken. Als er weiterliest, flimmern vor seinen Augen schon die Schlagzeilen der Zeitungen: Roman von Theodor Storm entdeckt!
»Es bedarf wohl äußerlich der Enge, um innerlich ins Weite zu gehen. Es ist an der Zeit den ewigen Novellisten hinter sich zu lassen. Ein Meisterwerk würde ihm, dem alten Detlef Dintefaß, einfach gut zu Gesicht stehen. In seinen ernsten Augen, in welche sich seine ganze verlorene Jugend gerettet zu haben schien, lag ein plötzlicher Entschluß. Er wurde eifrig und stieß den langen Rohrstock mit dem goldenen Knauf kurz auf den Gehstein. Ein bitteres Lächeln umflog seinen Mund, während er mit Andacht auf alles schaute, was im letzten Hauch des Tages ausgebreitet lag. In der Krämergasse, die er zum Rathausmarkt hinaufging, leuchteten die Lichter aus den Fenstern ihm den Weg. Vor den Giebelhäuschen gleich an der Ecke standen granitne Pfeilersteine, die mit schweren eisernen Ketten verbunden waren. Er liebte die einfachen und sittenstrengen Menschen seiner kleinen Stadt, die jetzt sicher vor dampfendem Tee um ihre Tische saßen.«
Peters kann nicht mehr weiterlesen und legt die durch des Dichters Hand geweihten Schriftstücke wieder zwischen die Leinendeckel, verschnürt die Bänder und verstaut die Kostbarkeit – seine Kostbarkeit – wie eine heilige Reliquie wieder in der Schrankschublade. Nun heißt es weiterhin kühlen Kopf bewahren, beruhigt er sich innerlich. Es muss erst mal Gras über die Sache mit Edda wachsen.
Unwillkürlich sieht er vor seinem inneren Auge wieder, wie er heimlich die Schlaftabletten in den Kaffee fallen ließ. Wie er Eddas schlaffen Körper ins Badezimmer zog, direkt neben die Wanne. Wie er beobachtete, ob sie sich noch rührte. Wie er den Wasserhahn aufdrehte. Wie ihm die Idee kam, Edda ans Meer zu schaffen, damit man glauben würde, dass sie ertrunken war. Wie er in der Küche nach Salzpackungen stöberte und den Inhalt im Wasser auflöste. Wie er die Frau am Hosengürtel packte und sie über den viel zu hohen Wannenrand quälte, ihren Kopf dann solange unter Wasser drückte, bis keine Luftblasen mehr aus ihrem Mund aufstiegen.
Swensen erwacht wie immer kurz bevor der Wecker klingelt. Fünf vor halb sechs. Er kann sich auf seine innere Uhr verlassen. Vom Sturm und Regen draußen ist heute nichts mehr zu hören.
Vielleicht können wir ja endlich einen Hubschrauber einsetzen, denkt er und lässt die letzten beiden Tage noch einmal Revue passieren.
Am Samstagmittag war der Einsatzwagen im Watt vor St. Peter-Ording gewesen. Doch die Beamten konnten nichts Verdächtiges finden und auch kein Anlieger hatte etwas Ungewöhnliches gesehen. Obwohl das Wetter sich genauso mies wie am Vortag präsentierte, war er am Sonntag selbst noch einmal vor Ort gewesen. Sein Marsch durchs Watt förderte aber genauso wenige Erkenntnisse ans Licht wie der seiner Vorgänger. Trotzdem war er hinterher zufrieden. Er hatte immerhin zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen:erstens überzeugte er sich, dass wirklich nichts übersehen worden war und zweitens konnte er die Suche nach der Leiche vorschieben, um nicht noch mal auf Annas Theodor-Storm-Symposium erscheinen zu müssen. Seinem schlechten Gewissen hatte er schon vor der Abfahrt zu der Wattermittlung vorgebeugt und sich mit ihr beim gemeinsamen Lieblings-Italiener zum Abendessen verabredet. Und um sie zusätzlich milde zu stimmen, hörte er dann auch geduldig alle ihre Geschichten von dem angeblichen Brief Fontanes an, mit dem Wraage die Existenz des Storm-Romans beweisen wollte. Allerdings war ihr Wunsch, die Nacht nicht mit ihm zu verbringen, eher ein Zeichen dafür, dass sie noch schmollte.
Nach der kalten Dusche am Montagmorgen ist Swensen hellwach. Im Wohnzimmer entzündet er ein Räucherstäbchen, legt eine CD mit Mantras vom Lama Gyurme auf, zieht das Meditationskissen in die Mitte des Raums und versucht darauf den Lotossitz einzunehmen. Die Kissenfüllung aus Buchweizenhülsen knirscht leise unter seinem Hintern. Swensen schließt die Augen. Die feinen Schwingungen des Obertongesangs wollen heute einfach nicht in ihn hineinfließen. Er merkt, wie sich seine Stirn allmählich in Furchen legt.
Alles noch mal zurück auf Los! Störende Gedanken liebevoll zur Seite schieben. Genau! Und jetzt beginnen sie sich langsam in einem orangenen Licht aufzulösen.
Bis auf die Fotos gibt es einfach nicht das geringste Anzeichen für eine Leiche.
Swensen etwas mehr Gelöstheit! Beobachte deine Gefühle!
Außerdem wird schließlich keine Frau im Husumer Umfeld vermisst.
Lass endlich los, Swensen!
Oder ob das Ganze mit den Fotos nur ein übler Scherz ist?
Nach einem kräftigen Fußtritt trudelt das Meditationskissen in die Zimmerecke zurück und der Anlage wird ärgerlich der Saft abgewürgt.
Zwanzig Minuten später steuert der Kommissar über den Flur der Polizeiinspektion auf sein Büro zu. Vor der Frühbesprechung um acht ist noch etwas Zeit. Nachdem er seine Regenjacke in den Schrank verstaut hat, schnappt er sich die Packung mit dem grünen Tee und geht gleich gegenüber in den Gemeinschaftsraum um sich eine Kanne aufzubrühen. Punkt acht sitzt er, die dampfende Tasse Tee vor sich, im Konferenzraum. Das anfängliche Gefeixe seiner Kaffeekollegen, warum er denn unbedingt heißes Wasser trinken muss oder weshalb er Haschisch nicht wie jeder normale Kiffer raucht, ist schon lange verstummt.
»Hat jemand Peter Hollmann gesehen? Warum ist er noch nicht da?«
Heinz Püchel knöpft sein tadellos sitzendes Galliano-Jackett auf und blickt demonstrativ in die Runde.
Wie immer einen Hauch zu dramatisch, denkt Swensen, der seinem zirka fünfzehn Jahre jüngeren, etwas klein geratenen Chef in solchen Situationen etwas mehr Gelassenheit wünscht.
»Hat wahrscheinlich Grippe!«
Susan Biehls Stimme schwebt wie ein gregorianischer Gesang durch den Raum. Die Blondine von der Anmeldung ist gerade einundzwanzig geworden und erst seit drei Monaten in der Inspektion.
»Er geht heute Morgen noch zum Arzt. Hörte sich am Telefon aber schon so an, dass wir ihn erst mal eine Zeitlang nicht sehen werden.«
Ob die allgemeine Heiterkeit, die plötzlich in der Runde herrscht, nun durch Susans Formulierung oder ihre Säuselstimme hervorgerufen wird, kann Swensen nicht entscheiden.
»Okay!«
Püchel schlägt mit dem Kugelschreiber auf den Tisch.
»Was ist mit der Leiche vor St. Peter, Jan?«
»Stephan hatte Dienst, ich bin nur dazugekommen. Erzähl du was passiert ist.«
Swensen guckt zu Mielke rüber.
»Am Samstag wurden uns in einem Umschlag mehrere Fotos einer Frauenleiche zugeschickt.«
Stephan Mielke öffnet eine Mappe und verteilt die Abzüge auf dem Tisch.
»Kein Absender auf dem Umschlag. Abgestempelt am Freitag in Hamburg. Nachforschung am mutmaßlichen Fundort hat bis jetzt nichts ergeben. Keine Leiche. Niemand hat etwas gesehen und gehört. Deshalb haben wir auch Flensburg noch nicht hinzugezogen.«
»Dazu kommt, dass keine Frau in unserem Umfeld vermisst wird«, ergänzt Swensen und Stephan Mielke fährt fort.
»Dann war das Wetter, wie ihr ja alle wisst, hundsmiserabel. Wir konnten noch nicht mal einen Hubschrauber zur Suche raufschicken.«
»Na, heute klappt das bestimmt!«
Heinz Püchel beugt sich mit den anderen über die Fotos und Swensen bemerkt: »Wir gehen erst einmal davon aus, dass die Bilder echt sind. Mit dem bloßen Auge sind zumindest keine Manipulationen zu erkennen, aber ich lasse sie noch einmal von einem Spezialisten überprüfen.«
Rudolf Jacobsen wiegt seinen Kopf hin und her.
Professionelle Abzüge! 20 x 30 in Schwarzweiß! Wer macht denn so was heutzutage noch?«
Stephan Mielke zuckt die Achseln.
»Wahrscheinlich privat abgezogen«, fährt Rudolf Jacobsen fort. »Oder in einem Spezialstudio. Ich bin zwar nicht der begnadete Fotoexperte wie unser kranker Kollege Hollmann, aber wenn jemand Schwarz-Weiß-Bilder hier in Husum in Auftrag gegeben hat, ist das bestimmt aufgefallen.«
»Vielleicht sollten wir sicherheitshalber in allen Fotoläden nachfragen!«
Püchel hebt den Kopf und blickt zu Silvia Haman, die mit ihren einmeterneunzig selbst im Sitzen die Männerrunde deutlich überragt.
»Wäre das nichts für dich, Silvia?«
Die dunkelblonde Beamtin grinst übers ganze Gesicht.
»Aber sicher Heinz! Eine verantwortungsvolle Aufgabe für eine Kommissarin im besten Alter.«
Püchel verzieht genervt seinen Mund und brummelt kaum hörbar.
»Einer muss es ja machen!«
»Du meinsteine muss es ja machen!«
Püchel blickt flehend nach oben.
»Noch gibt es bei der Kriminalpolizei keine Frauenquote für die Befragungen in Fotogeschäften, liebe Kollegin Haman.«
»Dafür gab es hier schon immer eine Männerquote für dumme Sprüche!«
»Wie wär’s, wenn ihr beide einfach wahrnehmt, dass ihr Mann und Frau seid!«
Jan Swensen Stimme hat mit einem Mal eine sanfte Bestimmtheit. Doch als die beiden ihn daraufhin verständnislos ansehen, knurrt er: »Leute, könnt ihr euer Mann-Frau-Gerangel nicht nach Feierabend austragen?«
»Genau meine Rede!«
Heinz Püchel füllt seine Brust hörbar mit Luft.
»Wir müssen die mutmaßliche Leiche finden und dazu dürfen wir noch eine unerledigte Brandstiftung, zwei Körperverletzungen und Einbrüche aufklären! Swensen übernimmt vorerst die Fotoleiche, Mielke und Haman bleiben mit dran. Ich kümmere mich um den Hubschrauber. Der Rest weiß was er zu tun hat. Also, an die Arbeit, Kollegen und liebe Kollegin!«
In dem jetzt einsetzenden Gemurmel und Stühlerücken gibt Swensen per Handzeichen Stephan Mielke zu verstehen, dass er noch warten soll.
»Sag’ mal, Stephan, wie heißt noch der junge Neue bei den Streifenkollegen, dieser Computerfreak?”
»Jan-Erik Metz!«
»Gibt es Irgendetwas, wovon ich nichts wissen soll?«
Silvia Haman hat sich von hinten an die beiden Männer herangepirscht. Stephan zuckt erschreckt zusammen und dreht sich ärgerlich um.
»Nein, liebste Silvia!«, zischt er aufbrausend. »Wir arbeiten hier nicht beim Geheimdienst.”
»Und warum dann dieses konspirative Treffen, null null Mielke?«
»Silvia!« Mielkes Augen blitzen zwischen den leicht zusammengekniffenen Lidern. »Ich gebe ja zu, dass vor 6000 Jahren der Ackerbau von den Männern übernommen wurde und die Frauen sich deshalb mucksch hinter den Herd zurückzogen haben. Aber heute ist heute. Frauen dürften in der Zwischenzeit immerhin so qualifiziert sein, dass sie die Stelle einer Kriminalbeamtin auch ohne Komplexe ausfüllen können, oder?«
Silvia Haman starrt Mielke fassungslos an, ringt angestrengt nach einer Antwort, doch ihre sprichwörtliche Schlagfertigkeit scheint wie weggeblasen.
»Und noch eins, Silvia, und das gilt ein für alle Mal. Selbst wenn ich noch nicht lange dabei bin, sehe ich den IQ-Quantensprung ins kriminaltechnische Zeitalter für Frauen als abgeschlossen an.«
»Das versteh’ ich nicht.«
Silvia dreht sich Hilfe suchend zu Swensen. Der zuckt nur stumm mit den Achseln und es entsteht ein drückendes Schweigen. Er ist über Mielkes unvermittelten Ausbruch irritiert. Er hatte ihn in der kurzen Zeit ihrer Zusammenarbeit immer als eher unsicher erlebt. Warum plötzlich dieser vehemente Angriff gegen Silvia? Wie ist Mielkes Beziehung zu Frauen eigentlich, hat er überhaupt eine Beziehung? Im Grunde wissen wir nichts voneinander. Obwohl wir so viel Zeit miteinander verbringen, arbeiten wir meistens nur nebeneinander her.
Einsamkeit ist der Wassertropfen im Meer. Der Satz seines Meisters Lama Rhinto Rinpoche fällt Swensen ein und sein Blick verliert sich im Leeren. Er sieht sich, wie er vor über 30 Jahren mitten in einem buddhistischen Tempel eines kleinen Schweizer Dörfchens meditiert. In Hamburg hatte er kurz zuvor ein Philosophiestudium begonnen und war gerade im dritten Semester, als einige Kommilitonen ihn mit dem Spruchband ›Unter den Talaren, der Muff von tausend Jahren‹ aus seinem Studentenschlendrian befreiten. Ab da schaffte er nur noch weitere drei Semester und die 68er hatten ihm seine drohende spießige Karriere ausgeredet. Er schmiss sein Studium, wollte unbedingt seinem bürgerlichen Trott entfliehen um sich dann für drei Jahre in einer noch festeren Norm wieder zu finden. Vor Tagesanbruch aufstehen, waschen, zwei Stunden meditieren, Frühstück, wieder meditieren, Mittagessen und so weiter, Tag für Tag, Woche für Woche.
Bleib achtsam, sagt eine innere Stimme. Intuitiv bemerkt er im Augenwinkel, wie Mielke Luft holt, um zu einer wahrscheinlich neuen Attacke gegen Silvia anzusetzen. Mit ruhiger Stimme kommt Swensen ihm zuvor.
»Ich würde mich freuen, wenn wir in Zukunft bei der Arbeit alle ein wenig mehr in uns ruhen könnten.«
Um die Wirkung seiner Worte zu unterstützen setzt er eine gezielte Pause.
»Momentan haben wir genug andere Dinge zu tun, als die Unterschiede zwischen Frauen und Männern zu ergründen.«
Dann dreht er sich zu Silvia.
»Außerdem können wir uns die abtörnende Klappertour durch die Fotoläden der Provinz ja teilen. Du fährst nach Heide rüber und ich mache Husum.«
»Und was wolltest du jetzt von Metz?« fragte Stephan Mielke sichtlich entspannter.
»Mir ist die Idee gekommen, das Foto von der Leiche im Computer so weit bearbeiten zu lassen, dass wir ein brauchbares Fahndungsfoto veröffentlichen können.«
»Klar, selbst wenn wir die fehlenden Augen nicht 100%ig rekonstruieren, reicht es vielleicht aus, dass jemand die Frau erkennt! Ich schätze, der Metz kriegt das ziemlich schnell hin.«
Mielke stürmt los, Swensen und Silvia Haman hasten hinterher. In der Flurmitte werden sie von Heinz Püchel gestoppt.
»Übrigens, das mit dem Hubschrauber wird auch heute nichts! In Flensburg ist der Hund los, aber das habt ihr sicher schon selber im Fernsehen mitbekommen. Es geht um die kleine Beatrix aus Glücksburg, die seit drei Tagen vermisst wird. Im Moment brauchen die da oben alle Dinger, die sie kriegen können.«
Bei dem Namen Beatrix durchzuckt das Fernsehbild der Eltern Swensens Kopf. Tagesthemen, Sonntagabend 23 Uhr 15. Das Ehepaar steht benommen hinter einem Mikrofonwall.
»Wenn du uns hörst, Beatrix, Bleib stark! Wir suchen so lange, bis wir dich finden!«
Nach dem Essen mit Anna hatte Swensen den Fernseher wegen der Nachrichten angeschaltet. Wie aus dem Nichts sprang ihn das geballte Leid an. Bei dem Fall Beatrix waren seine Augen feucht geworden und er ertappte sich dabei froh zu sein nichts mit dem Fall zu tun zu haben. Zuständigkeitsbereich Flensburg.
»Na, Hauptsache sie finden die Kleine.«
Swensen spürt, wie ihm bei den Gedanken an die Zuständigkeit der Flensburger Kollegen das schlechte Gewissen in den Nacken schleicht.
»Ja, und nun?« fragt Püchel etwas irritiert. »Wir können hier doch nicht einfach abwarten und Tee trinken!«
»Was sollen wir denn machen? Die Kollegen vom Wasserschutz kommen nicht weit genug ins flache Watt. Außerdem kann man eine im Wasser schwimmende Leiche von einem Boot aus sowieso kaum sehen.«
Swensens Ausführungen machen Püchel sichtlich nervös. Er zieht hastig seine Zigaretten aus der Jackentasche und zündet sich eine davon an.
»Dazu kommt, dass es nicht klar ist, wohin sie durch die Gezeitenströmung und bei dem Unwetter am Wochenende getrieben worden ist. Vielleicht müssen wir einfach solange warten, bis die Frau irgendwo angeschwemmt wird. Aber diesbezüglich kennen sich die Kollegen vom Wasserschutz bestimmt aus. Die ›Sylt‹ liegt im Husumer Hafen. Ich ruf da einfach mal an. Es wird sowieso höchste Zeit, dass wir mal langsam die Küstenpolizei informieren!«
»Ja, Jan mach das!« Keine 10 Sekunden und Püchel ist schon von einer großen Wolke umgeben. Swensen weicht automatisch zurück, näher an Silvia Haman und Stephan Mielke heran, die sich auch schon auf Distanz begeben haben.
»Macht das mit dem Foto bitte schon mal allein, ich geh’ erst mal telefonieren und komm dann gleich nach.«
»Danke, Jan! Ich sehe, die Sache ist bei dir gut aufgehoben.«
Im selben Moment ist Püchel wieder in seinem Büro verschwunden, nur sein Zigarettenrauch steht noch im Raum und schwebt in feinen Spiralen langsam zur Decke.
* * *
Es ist zehn Uhr vorbei. Feierabend. Gerade hat er die Eingangstür seiner Videothek verschlossen, die Kasse geöffnet und begonnen, die Einnahmen zu prüfen. In dem Moment, als er das Kassenbuch aus der Schublade nehmen will, dringt ein leises Stöhnen an sein Ohr.
Der Laden besteht aus drei ehemaligen Zimmern, die er durch das Aushängen der großen Durchgangstüren zu einer Gesamtfläche vereint hat.
Das absonderliche Geräusch kommt eindeutig aus dem hintersten Raum. Er merkt, wie die Angst ihn unwillkürlich im Nacken packt und spürt dabei gleichzeitig den zwanghaften Drang nachzusehen. Irgendetwas treibt ihn voran, Schritt für Schritt. Im schummrigen Licht schweben die grellbunten Kassettencover in den Regalen an seinen Augen vorbei, erst die üblichen Hollywoodstars in ihren Heldenposen, dann die unbekannten Mädchen mit den gespreizten Schenkeln. Hier hinten ist das Geräusch mit einem Mal verstummt. Dafür bemerkt er eine Tür in der Wand, die ihm bis heute noch nie aufgefallen war. Mit den Händen fegt er die Pornokassetten vom Regal, die wild durcheinander zu Boden poltern. Ein Griff wird sichtbar. Doch bevor er ihn herunterdrücken kann, springt die Tür auf. Wie besessen reißt er einige Regalbretter aus der Verankerung und zwängt sich mühsam durch die entstandene Lücke. Eine schmale Treppe führt nach oben ins Dunkle. Das Holz knarrt unter seinem Gewicht. Er ertastet ein Loch in der Decke. Vorsichtig hebt er seinen Kopf über die Kante und blickt in einen großen Saal. Ganz am anderen Ende dringt ein schwaches, flackerndes Licht durch die Ritzen eines mächtigen Samtvorhangs.
Ein Kino, durchzuckt es ihn. Nein, ein Marionettentheater, genau, das kann nur das Marionettentheater aus Storms ›Pole Poppenspäler‹ sein.
Langsam gewöhnen sich seine Augen an die Dunkelheit. Er kann die purpurrote Farbe des Stoffes erkennen.
»Komm herbei, Hajo Peters, komm herbei!«, krächzt eine unwirkliche Stimme, die ihm das Blut in den Adern gefrieren lässt. Trotzdem wird er von ihr willenlos angezogen.
»Ja, Peters, hierher! Hierher du erbärmlicher Feigling!«
Schrecken und Neugier kämpfen in ihm. Jetzt steht er direkt vor dem Vorhang, genau in der Mitte, wo sich beide Hälften treffen. Seine Hände dringen durch den Spalt und teilen ihn. Vor ihm, auf Augenhöhe, baumelt an feinen Schnüren aufgehängt eine Holzfigur. Sie trägt einen gelben Nankinganzug und ihr Kopf ist vornüber gesunken. Die Nase, die groß wie eine Wurst ist, liegt auf der Brust.
»Der Kasperl!«, stammelt er. Da hebt sich ruckartig der Kopf der Marionette.
»Freili, der is allimal dabei!«
Die Figur klappt ihren hölzernen Mund auf und zu und das Holz knackt dabei wie eine alte Eule mit ihren Kinnbackenknochen.
»Bist also kommen um auch noch deinen alten Freund zu bestehlen? Peters du elender Dieb!«
In Panik schließt er den Spalt. Sein einziger Gedanke ist Flucht. Doch bevor er sich umdrehen kann, geht ein helles Licht an. Im selben Moment öffnet sich der Vorhang und die Vorstellung beginnt mit einem Gong. Der Kasperle auf der Bühne wirkt auf einmal noch größer und lebendiger. Unter seinem rechten Arm klemmen die Pappdeckel mit den Romanblättern des Theodor Storms.
»Wie kommst du Wicht an mein Eigentum!?«, schreit er zornig und stürzt sich auf die Holzfigur, um ihr die Schriftstücke zu entreißen. Doch Kasperles Arm ist hart wie Eisen. Er zerrt aus Leibeskräften an der Umklammerung. Auf einmal tut es einen leisen Krach im Innern der Figur.
»Mörder!«, kreischt eine Frauenstimme hinter ihm. Entsetzt fährt er herum. Vor ihm steht Edda und hält ihm eine Pistole unter die Nase.
»Woher hast du die Waffe?«
»Aus deiner Schublade, unten im Laden!«
»Edda, so lass dir doch alles erklären!«
»Was willst du noch erklären, Hajo? Einmal Mörder, immer Mörder!«
»Nein, das ist doch alles so nicht wahr! Neiiiin!!!«
Schweißgebadet schießt er im Bett hoch. Seine Augen tasten durch den dunklen Raum. Keine Edda, kein Kasper, kein Theater, nur sein Schlafzimmer. Benommen sieht er auf die Leuchtanzeige des Weckers, drei Uhr fünfzehn. Der Sekundenzeiger scheint zu stehen. Langsam dämmert es ihm, dass er nur einem Albtraum entkommen ist. Die nächste halbe Stunde verbringt er mit dem Versuch, wieder einzuschlafen. Er wirft sich ärgerlich von einer Seite auf die andere. Es nützt nichts, er ist und bleibt hellwach.
Wo ist sie bloß geblieben, die Edda, denkt er und macht für diese Ungewissheit seine Dämonen in der Nacht verantwortlich. Tag für Tag hatte er in der letzten Woche jede Zeitung, die ihm unter die Finger kam, nach einer Nachricht über einen Leichenfund im Watt durchgeforstet, ohne Erfolg. Edda bleibt wie vom Erdboden verschwunden.
Das unerwartete Vakuum verunsichert ihn zutiefst. Manchmal hat er das Gefühl, als fiebere er der Entdeckung förmlich entgegen.
»Höchste Zeit, dass der Trubel endlich losgeht«, murmelt er und steigt aus dem Bett. Nachtwandlerisch tappt er durch die Dunkelheit bis in die Küche, öffnet den Kühlschrank und greift sich eine Flasche ›Flens‹. Mit dem rechten Daumen schnippt er den Bügelverschluss auf und nimmt einen kräftigen Schluck. Der Alkohol wirkt sofort. Er lässt sich rückwärts auf das Sofa fallen. Ohne abzusetzen fließt der Rest der Flasche durch seine Kehle. Eine wohlige Wärme breitet sich im Körper aus und er starrt grübelnd durch das Fenster in die Nacht hinaus. Nur die feine Mondsichel blitzt einmal kurz hinter pechschwarzen Wolken hervor.
Bald ist Neumond, denkt er beiläufig, während eine düstere Ahnung in ihm aufsteigt.
Eins ist sicher, irgendwann werden sie vor der Tür stehen!
In der ersten Zeit war er bei jedem Geräusch zusammengezuckt und dachte, dass die Polizei an seiner Wohnungstür klingeln würde. Doch nichts passierte.
Dabei fühlt er sich bestens präpariert. Er hat sich seine Antworten genau überlegt, ist sie sorgfältig immer wieder durchgegangen.
»Edda, natürlich kenn’ ich Edda Herbst! Die arbeitet schließlich bei mir in der Videothek.«
»Wann ich sie das letzte Mal gesehen hab? Lassen Sie mich nachdenken. Das muss vorige Woche Montag gewesen sein. Genau, das war Montag, der 13. November.«
»Woher ich das so genau weiß? Weil sie am nächsten Tag für drei Wochen in Urlaub gehen wollte. Warum fragen Sie denn das alles?«
»Was, sie ist tot? Das ist ja entsetzlich! Ich kann das gar nicht glauben, die arme Edda. Was ist denn passiert?«
»Ertrunken im Watt. Furchtbar. Sie war so ein fröhlicher Mensch. Was für ein schrecklicher Unfall!«
Edda, Edda, Edda! Scheiße, kriege ich dieses dämliche Weibsbild denn überhaupt nicht mehr aus dem Kopf, denkt er. Während er sich eine zweite Flasche holt, fühlt er Zorn auf die tote Frau. Er setzt die Flasche an den Mund und leert auch sie in einem Zug. Doch die quälenden Bilder der Mordnacht wollen einfach nicht verschwinden.
Da liegt sie wieder deutlich vor ihm, in ihren klitschnassen Klamotten auf dem Bauch in der Wanne, nachdem er das Wasser abgelassen hatte. Über eine halbe Stunde saß er regungslos auf dem Wannenrand und sah auf den toten Körper, aus Angst, Edda könne plötzlich doch noch aufstehen. Dann gab er sich einen Ruck, bewegte langsam seine Hände, dann seine Füße. Er schwankte in die Küche und setzte sich bewusst auf den Stuhl, auf dem er schon vor der Tat gesessen hatte. Wie von selbst entwarf etwas in seinem Hirn einen Plan. Eddas Haus war ein kleines, heruntergekommenes Ziegelsteinhaus, das dicht an dicht mit anderen Häusern an einer Durchfahrtsstraße lag. Glücklicherweise gab es auf der rechten Seite einen kleinen kopfsteingepflasterten Innenhof. Da sah er seine Chance. Er räumte sein Besteck und Geschirr vom Tisch, wusch es ab, verstaute alles im Küchenschrank und verließ das Haus durch den Nebeneingang zum Hof um ihn gründlich zu inspizieren. Ein Auto hatte hier bequem Platz. Die Wand vom Nebenhaus hatte keine Fenster. Ein großes Holztor versperrte den Blick zur Straße. Das müsste klappen. Er wusste, dass Edda allein lebte, von ihrem Freund hatte sie sich vor zirka einem halben Jahr getrennt. Ihr Beziehungsstress war häufig Thema am Arbeitsplatz gewesen. Danach hatte sie nie von einer neuen Affäre gesprochen. Ihre Eltern waren schon vor Jahren bei einem Unfall umgekommen, weshalb sie auch dieses Haus besaß. Bis auf ein paar entfernte Bekannte würde sie nach seiner Überzeugung erst mal niemand vermissen.
Beste Voraussetzungen also, dachte er, um sie bis heute Nacht einfach hier liegen zulassen.
Dass Edda durch irgendeinen blöden Zufall gefunden werden könnte, blieb sein Restrisiko, ein Risiko, dass allerdings nicht sehr groß war. Jetzt brauchte er nur noch den Tag wie immer ablaufen zu lassen. Pünktlich öffnete er seine Videothek. Nachdem er den ganzen Tag seinen Job so unauffällig wie möglich durchgezogen hatte, fuhr er nach Hause. Dort wartete er bis es drei Uhr war. Um diese Zeit, das wusste er genau, sind Husums Straßen so gut wie ausgestorben. Nur das Mondlicht verursachte ihm ein mulmiges Gefühl im Magen. Es überzog die ganze Stadt mit einem weißlich hellen Schein.
Wie ein Leichentuch, dachte er und geriet in der Kurve zum Binnenhafen sogar einige Sekunden in Panik, dass man ihn heimlich beobachten könnte. Doch jetzt gab es kein Zurück mehr. Er bog rechts in die Deichstraße, stoppte und schaute sich um. In der gesamten Häuserreihe waren alle Fenster dunkel. Niemand war weit und breit in Sicht. Er stieg aus, öffnete das Holztor und bugsierte seinen alten Bundeswehr-Jeep rückwärts in Eddas Hof.
Er erwacht gegen neun Uhr völlig verdreht auf dem Sofa. Ein stechender Schmerz zieht sich vom Nacken hinauf in seinen Hinterkopf. Benommen schleicht er ins Bad und sieht ein bleigraues Gesicht mit tiefen Rändern unter den Augen, das ihm aus dem Spiegel entgegen blickt. Erst als er seinen Kopf unter den kalten Wasserstrahl hält, kommt er langsam wieder zu sich.
Dreißig Minuten später parkt er seinen Wagen in der Süderstraße, genau gegenüber der Videothek. Als er die Eingangstür öffnet, steckt die ›Husumer Rundschau‹ schon im Briefschlitz. Der beleuchtete Getränkeschrank wirft ein fahles Licht an die gegenüberliegende Wand. Er legt die Zeitung auf den Tresen, dessen Umrisse er im Halbdunkel gerade noch erkennen kann und nimmt sich eine Fanta. Dann knipst er Licht an und erschrickt unwillkürlich. Die Räume haben sich in seinen Traum aus der vergangenen Nacht verwandelt. Mit einem mulmigen Gefühl fingert er seinen Schlüsselbund aus der Jackentasche und schließt die Tresenschublade auf. Sein Herz pocht bis zum Hals. Neben dem Kassenbuch liegt seine ›Walther 7,65 mm‹, wie immer. Auch wenn er eigentlich nichts anderes erwartet hatte, braucht er längere Zeit, bis er sich wieder ganz beruhigt hat. Er ist zutiefst erstaunt, wie schnell ihn so ein Hirngespinst aus der Bahn werfen kann. Irgendwie muss er sich jetzt selbst etwas beweisen. Demonstrativ durchquert er den gesamten Laden bis in den hintersten Raum und zurück.
So, das Thema ist endgültig abgehakt, denkt er, nimmt eine Getränkedose und reißt sie auf. Als er sie gerade an den Mund setzen will, fällt sein Blick auf die Titelseite der Zeitung.
Mädchen bleibt verschwunden. Trotz intensiver Suche der Flensburger Polizei gibt es weiterhin kein Lebenszeichen von der kleinen Beatrix aus Glücksburg.
Ich werde nie begreifen, wer so was fertig bringt! Wie kann man sich nur an einem kleinen Mädchen vergreifen, denkt er, als wenn jemand in seinem Kopf einen Hebel umgelegt hat.
Solche Menschen sind doch krank. Der wusste 100%ig, was er gemacht hat.
Aufgebracht schlägt er die Zeitungsseiten um. Er freut sich über seine Wut, sie erzeugt ein gutes Gefühl im Bauch.
Was ist meine Tat gegen so etwas Abscheuliches. Ich bin da schließlich nur wegen ein paar fehlender Kröten reingeschlittert. Und überhaupt ist das Ganze sowieso nicht zu vergleichen!
Da werden seine Gedanken jäh gestoppt. Gerade hat er den Lokalteil der Zeitung aufgeschlagen. Knallhart springt ihm seine Realität ins Auge. Ein Bild von Edda.
Wer kennt diese Frau? Für sachdienliche Hinweise wenden Sie sich bitte an die Husumer Kriminalpolizei.
Woher haben die ein Bild von Edda, schießt es ihm durch den Kopf. Wieso steht da nichts von einer Leiche? Wenn sie ein Bild haben, müssen sie doch eine Leiche haben!
Fragen, die auf ihn einstürmen, aufdringlich und beklemmend zugleich. Doch so sehr er auch nachdenkt, logische Antworten bleiben ihm verborgen. Hilflos trommelt er mit den Fingern auf der Tischplatte. Seine Schläfen schmerzen. Er fühlt ein zentnerschweres Gewicht auf seinen Schultern. Alles, was er sich zurechtgelegt hatte, kann er ab sofort vergessen. Ihm ist klar: er muss unbedingt handeln. Wenn er nicht in Kürze die Polizei informiert, wird man über kurz oder lang rauskriegen, dass Edda bei ihm angestellt ist. Dann tauchen sie auf und werden ihm sehr unangenehme Fragen stellen.
Also, los! Angriff war noch immer die beste Verteidigung!
Er nimmt sein Handy und wählt die Nummer der Husumer Kriminalpolizei.
* * *
Kurz hinter der Post kommt erst der Bertelsmann Bücherclub und dann der Fotoladen Adolf Dallmann. Im Vorbeigehen bleibt Swensens Blick am Schaufenster hängen. Die großen gerahmten Hochzeitsbilder waren noch in wärmeren Zeiten entstanden, wahrscheinlich im hiesigen Schlosspark. Swensen muss unwillkürlich grinsen. Auf dem Farbfoto unten rechts hat die Braut sich in ihrem weißen Samt ausladend ins Gras gehockt und der Bräutigam steht in Siegerpose hinter ihr wie ein Großwildjäger, der mit seiner erlegten Trophäe abgelichtet wird.
Das Bild macht ihm ein ungutes Gefühl in der Magengegend. Er merkt, dass seine Abneigung gegen das Heiraten und die Ehe für ihn immer noch ein Thema zu sein scheint. Frauen in Brautkleidern haben für ihn etwas zutiefst bürgerliches, etwas wovon er sich sein Leben lang beharrlich abgrenzen wollte. Doch das Hochzeitsfoto, das ahnt er, ist nicht der Auslöser für sein mulmiges Gefühl. Es erinnert ihn nur an den gestrigen Abend, an dem Anna seine Hand nahm, ihn mit großen Augen ansah und fragte, ob er sich vorstellen könne mit in ihr Haus einzuziehen. Er hatte die Hand fast reflexartig zurückgezogen. Die Frage kam ihm vor wie ein Skalpell, das brutal in seinen gewohnten Alltag eindringen wollte, in seinen morgendlichen Blick aus dem Fenster, in seinen plötzlichen Drang ein Saxofonsolo von Branford Marsalis zu hören, in seinen meditativen Zustand von innerer Leere.
Es geht um meine Freiheit, hatte er gedacht und gleichzeitig flüsterte ihm die Stimme seines Meisters zu: Alles was du festhältst, wird dein Leben verwirren. Und da war es, das kleine Ich, das Ich des Jan Swensen. Es rebellierte, bäumte sich auf. Er saß da, verwirrt und unfähig auf Anna einzugehen. Sie fing an zu weinen. Auch seine beruhigenden Worte halfen nichts mehr, ihr Gesicht versteinerte.
»Typisch männliche Angst vor Nähe!«, sagte sie mit harter Stimme und schmiss ihn raus.
Swensen öffnet die Ladentür und tritt an den Tresen.
»Moin, Moin, ich hab eine Frage. Kann man bei Ihnen noch Schwarz-Weiß-Fotos machen lassen?«
Er grinst die junge Brünette an und merkt sofort, dass seine Frage nicht gerade präzise ausgefallen ist.
»Natürlich! Was brauchen Sie? Passbilder oder soll es ein Porträt sein?«
»Keins von beiden. ’Schuldigung, Jan Swensen von der Kripo Husum. Ich möchte nur wissen, ob jemand inihrem Laden vor zirka ein oder zwei Wochen Schwarz-Weiß-Abzüge in Auftrag gegeben hat.«
»Die Leute machen heutzutage nur Farbbilder. Ich kann mich nicht erinnern, dass hier jemals einer Schwarz-Weiß-Abzüge haben wollte.«
»Gilt das nur fürsie oder gibt es noch andere Verkäuferinnen?«
»Ich kann kurz den Chef rufen, der muss das auf alle Fälle wissen. Herr Dallmann, kommen Sie bitte!«
Ein kleiner glatzköpfiger Kopf taucht hinter einem Vorhang auf.
»Ich habihre Frage hier hinten schon mitgehört. Schwarz-Weiß-Abzüge macht in Husum keiner mehr.«
»Danke, das war’s schon.«
Als Swensen gerade den Laden verlässt, macht sich sein Handy bemerkbar. Er drückt sich an eine Hauswand und hält sich mit der linken Hand das Ohr zu. Diese verbogene Körperhaltung kommt ihm bei anderen immer albern vor.
Der Mensch in der Digitalen, denkt er und meldet sich gleichzeitig. »Hier Swensen!«
»Mielke! Halt dich fest, Jan. Ich hab gerade mit einem gewissen Hajo Peters gesprochen. Der hat das Bild von unserer Frau in der Husumer Rundschau gesehen, und sie erkannt. Es soll eine Mitarbeiterin von ihm sein, mit Namen Edda Herbst. Sie wohnt in der Deichstraße 22.«
»Schick’ sofort das gesamte Team raus!«
»Ist schon veranlasst! Der Typ führt eine Videothek in der Süderstraße, und ist da jetzt auch zu erreichen.«
»Okay! Ich bin in der Nähe. Ich geh’ sofort mal rüber und sprech’ mit ihm und komm danach gleich in die Deichstraße. Bis dann!«
Swensen drückt die Taste mit dem roten Hörer und nimmt wieder Normalhaltung an. Er überlegt einen Moment und geht dann noch mal zurück in den Fotoladen.
»Ich sehe gerade im Fenster, Sie verkaufen auch Handys. Ist es möglich die Melodie gegen ein normales Klingeln auszutauschen?«
»Klar! Sie gehen einfach ins Menü, und dann …!«
»Menü?«, unterbricht Swensen.
»Geben Sie mal her!«
Die Brünette nimmt ihm das Handy aus der Hand. Ihr rechter Zeigefinger drückt in einem rasanten Tempo auf unzählige Knöpfe. Es piept ein paar Mal und Swensen hat sein Gerät wieder. Er lächelt verlegen.
»Dankeschön!«
* * *
Von der Süderstraße bis zur Deichstraße sind es zirka 15 Minuten zu Fuß. Auf dem Weg dorthin holt Swensen sich im Fischhaus Loof ein Krabbenbrötchen, die Besten in Husum, sagt man. Er sieht sich zwar als Vegetarier, aber bei Krabben drückt er öfter beide Augen zu. Weil mal wieder eine Touristenschar alle Tische belegt hat, lehnt er sich vor dem Laden an die Hauswand. Hier ist es windstill. Die Sonne wärmt sogar ein wenig. Gegenüber steht das neue Fischrestaurant, das direkt neben das Hafenbecken gesetzt wurde. Der futuristische Glaskasten stört sein ästhetisches Empfinden. Für ihn ist diese gewollt moderne Architektur eher hässlich und banal. Vor der Eingangstür kämpft eine kleine Gruppe Frauen und Kinder mit einem Schwarm Möwen. Eine große Lachmöwe versucht das Fischbrötchen eines kleinen Mädchens im Sturzflug zu erbeuten. Der mächtige signalgelbe Schnabel verfehlt den Leckerbissen nur knapp. Das Kind lässt das Brötchen erschreckt zu Boden fallen und brüllt. Sofort balgt sich die restliche Vogelhorde mit wilden Flügelschlägen darum. Die Lachmöwe kreist im großen Bogen über der Straße und landet unmittelbar neben Swensen auf einer Plastikmülltonne. Er wirft ihr von seinem letzten Happen eine Krabbe hinüber, die sie geschickt auffängt. Schmunzelnd steckt er sich den Rest in den Mund, wischt sich mit der Serviette die Finger und den Mund ab und wirft das zusammengeknüllte Papier in die Mülltonne, nachdem er die Möwe vom Deckel hochgescheucht hat.
Als er nach zirka 30 Metern in die Deichstraße einbiegt, sieht er schon zwei Streifenwagen und Mielkes Twingo auf dem Parkplatz vor der Gepäckannahme stehen. Der leere Ziegelbau auf dem Gelände des stillgelegten Güterbahnhofs liegt genau gegenüber von Haus 22, ebenfalls ein Ziegelbau und mindestens genauso heruntergekommen. Die neu eingesetzte Aluminiumtür gibt der schäbigen Fassade den Rest. Der Bürgersteig ist auf der gesamten Länge des Hauses und dem angrenzenden Holztor daneben mit rot-weißem Plastikband abgesperrt.