Hure oder heilig? - Hannah Hingott - E-Book

Hure oder heilig? E-Book

Hannah Hingott

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Beschreibung

"Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm!" - Ein Leben zwischen Vorurteilen und Liebe.
Hannah wird von ihrer Umgebung oft nach ihrem Familienhintergrund beurteilt, der nicht der gesellschaftlichen Norm entspricht. Viele erwarten, dass aus ihr eine problematische Jugendliche und Erwachsene wird. Doch warum ist Hannah in diese schwierige Familie hineingeboren worden? Ihre Vorfahren mussten bereits schwere Zeiten durchstehen, besonders ihre Mutter Edith hat viele Belastungen erlebt. Es überrascht daher nicht, dass Edith Schwierigkeiten hat, sich ausreichend um das Wohl ihrer Kinder zu kümmern.
Im Alter von etwa fünf Jahren nimmt sich Hannah vor, all ihre Erlebnisse festzuhalten und später niederzuschreiben. Sie scheut sich nicht, auch ihre eigenen Fehler und Schwächen offen darzulegen, denn unter den gegebenen Umständen lebt sie nach dem Motto: 'Ist der Ruf erst ruiniert, lebt's sich gänzlich ungeniert!'
Dieses Buch erzählt Hannahs bewegende Geschichte - von ihrer Kindheit, durch die Herausforderungen des Lebens, bis hin zu ihrer persönlichen Entwicklung. Ein ehrlicher und ungeschönter Blick auf ein Leben, das von Widrigkeiten geprägt ist, aber auch von der Stärke, die aus ihnen erwächst.
Altersempfehlung ab 16 Jahren

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Seitenzahl: 454

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Der Sinn des Lebens ist mehr als das Leben selbst.

Stefan Zweig

Inhalt

Vorwort

Das Buch des Lebens

Die Vorfahren

Ur-Oma Marlies

Oma Frieda

Walter, Friedrich, Madita

Edith und ihre Familie

Friedrich und Edith

Marina

Das Leben, das ich selbst gewählt

Hannah, willkommen?!

Die Geburt des Judas und der Schwur

Die Einschulung und das Spiel der Liebe

Das Tagebuch und der kleine Hunger

Wieviel ist Zuviel?

Prädikat: Asoziales Pack

Die diebische Elster und ihr Eisbahngott

Geläutert in die erste Liebe

Verfluchtes Leben!

Laut - und leise eingefärbte Tage

Abschlussfahrt und Liebeswechsel

Saufend in die Frigidität

Augen der Großstadt (Auszug)

Gelegenheit macht den Betrug

Gefährliche Prophezeiungen und Prüfungen

Das Gesetz der Freiheit

Nachwort

Über die Autorin

Vorwort

Wie kommt's, dass ich fremde Menschen bitte, über ihre Urteile und Entscheidungen nachzudenken? Dass ich fremden Menschen auch meine dunkelsten Abgründe offenlegen möchte? Warum kann ich meine Vergangenheit und die meiner Vorfahren nicht einfach ruhen lassen? Die Antwort lautet: Ich muss ein Versprechen einlösen, dass ich mir selbst im Alter von ca. 4-5 Jahren gegeben habe.

In einer der vielen Situationen, die ein Kind nicht sehen, hören oder überhaupt erleben sollte, gab ich mir den Schwur, niemals etwas davon zu vergessen. Stets blieb ich ein Beobachter, um alles in Erinnerung zu behalten und wenn ich groß bin, ein Buch darüber zu schreiben. Auch dieses Vorhaben habe ich nie vergessen. Schon viele Male dachte ich, nun fange ich damit an. Aber war ich in dem einen Jahr viel zu faul, um fleißig Seiten zu verfassen, fragte ich mich im Nächsten, wofür das Ganze? Oder für wen? Ich habe doch alles im Gedächtnis, wen könnten meine Erlebnisse überhaupt interessieren? So hatte ich dieses Vorhaben schon fast aufgegeben.

Doch drei Jahre (2020-2022) mit einer Pandemie, die der Gesellschaft zu schaffen machte, haben mir meine Erinnerungen knallhart an die Oberfläche zurückgeholt. Durch die Maßnahmen zur Bekämpfung der Atemwegserkrankung COVID 19 wurden Kinder und Jugendliche gezwungen, zu Hause zu bleiben. Noch nicht einmal auf den Spielplatz oder zur Schule durften sie zeitweise gehen. Wer dennoch auf dem Spielplatz erwischt wurde, dessen Eltern wurden wie Verbrecher behandelt und mussten Bußgeld bezahlen. Es war eine absurde Zeit.

Und die grausame Gewissheit machte sich bei mir breit: Es gibt auch heute noch genug Elternhäuser, die gnadenlos überfordert sind mit ihrem eigenen Leben und erst recht der Aufrechterhaltung des Wohles und der Erziehung ihrer Kinder. Bei denen durch Süchte und Arbeitslosigkeit Missbrauch, Misshandlungen und Verwahrlosung auf der Tagesordnung stehen. Insolvenzen und Arbeitslosigkeit gab es Maßnahmenbedingt in großer Anzahl, weil Geschäfte schließen mussten, die ohne ein Einkommen ihre Ladenmiete und ihre Beschäftigten nicht mehr zahlen konnten. Die Hilfsgelder vom Staat konnte man vergessen, sie waren zu gering und zu spät geleistet worden und wer noch nicht bankrott war, durfte sie noch nicht einmal behalten, sondern musste sie später sogar komplett zurückzahlen. Viele Existenzen sind daran zerbrochen. Die Zahl der Depressionen bis hin zu Selbstmorden stieg an, unter den Kindern genauso stark wie bei den Erwachsenen.

So oft sind die Kinder die Leidtragenden schwerer Umstände, es macht sie verständlicherweise zu schwierigen, aggressiven oder deutlich verschlossenen Charakteren. Gewiss sind Spielkameraden, Kindergärten und Schulen für diese Seelen täglich benötigter Abstand, um ein wenig durchzuatmen und Kraft zu tanken: Für die leidvollen Momente, die da im Alltag noch über sie hereinbrechen werden.

So jedenfalls habe ich diese Auszeiten in der Schule und die Zeit mit Freunden als Kind empfunden und es macht mich unendlich traurig, wenn Kinder gezwungenermaßen ihren unfähigen Eltern schutzlos ausgeliefert sind. Noch wütender werde ich, wenn Kinder zu Tode kommen und, sobald dies durch die Medien berichtet wird, ganze Hauseingänge vollgestellt sind mit Blumen und Trauerkarten. Die wahrscheinlich von denselben Menschen niedergelegt wurden, die zuvor nur Verachtung für das asoziale Gesocks und deren ungebildete oder unfreundliche Plagen übrighatten. Die meisten Leute sehen auch heute noch lieber weg, teilweise wohl aus trauriger Hilflosigkeit oder der Angst, selbst negative Konsequenzen durch die aggressiven Eltern erfahren zu müssen. Natürlich ist das durchaus verständlich, wer möchte nicht einfach nur in Frieden leben? Ich ertappte mich sogar selbst dabei, nicht immer genügend hingesehen und entsprechend gehandelt zu haben, aus Sorge, zu Unrecht anständige Menschen zu denunzieren und Schuld daran zu tragen, dass Kinder statt bei den Eltern - nicht viel behüteter - in einem Heim aufwachsen müssen. Dort ist es leider auch nicht garantiert, dass Übergriffe übler Art den Kindern erspart bleiben.

Viel Zeit, um das gegebene Versprechen einzulösen, habe ich nicht mehr. Soll das Buch meine Seele entlasten? Auf jeden Fall! Soll ich es nur für mich aufschreiben? Das war auch mein erster Impuls. Meine Geschichte zuklappen und einfach ins Regal stellen. Alle Erinnerungen werde ich allerdings gewiss auch mitnehmen, wenn mein letztes Stündlein geschlagen hat. Das Buch landet dann wohl im Müll, ohne, dass sich je ein anderer Mensch damit beschäftigt hat. Dabei könnte es vielleicht anderen Seelen den Trost spenden, nicht alleine unter so schwierigen Umständen groß geworden zu sein. Wozu dient sonst dieser Schwur? Der macht dann eigentlich gar keinen Sinn. Darum packe ich es jetzt an und überwinde meinen inneren Schweinehund. Jeder von uns hat seine eigene Sicht auf die Dinge, niemand sieht mit den Augen der anderen, hört mit den Ohren des Gegenübers. Jeder gibt sein Bestes, um sein Leben so gut wie möglich zu begehen. Die Ihnen hier überlassenen Gedanken und Erinnerungen sind nach meiner Wahrheit und in bestem Wissen und Gewissen für die Nachwelt aufgeschrieben.

Ihnen werden einige Erlebnisse erzählt, die meinen Wahrnehmungen entstammen, dass Sie sich das eine oder andere Mal vielleicht fragen, ob ich Ihnen - gerade in einer Nervenheilanstalt ( Irrenhaus) sitzend – frei erfundene Fantasiegeschichten erzählen möchte. Diese sind aber mit der Grund für dieses Buch, suche ich doch bereits mein Leben lang erfolglos nach Antworten in der Religion, Psychologie, Quantenphysik oder der spirituellen Szene. Wenn es nur einen einzigen Leser gibt, der mir das eine oder andere davon erklären kann, oder ähnliches erleben durfte, hat sich das Offenlegen meiner verrückten (?!) Erlebnisse bereits mehr als gelohnt. Diese außergewöhnlichen Passagen und die Gedanken, die ich bisher nicht mit anderen Menschen teilte, werden von mir zur besseren Erkennbarkeit durch die Darstellung in kursiver blauer Schriftart herausgehoben, wie hier in diesem Absatz.

Es liegt mir fern, über die Menschen meines Umfelds und ihre Handlungen zu richten, habe ich doch stets ihre Gründe und Ursachen dafür gesucht und zumeist auch gefunden. Nur über meine eigenen Unzulänglichkeiten machte ich mir wenige Gedanken, was meinem Umfeld gegenüber nicht sehr fair war. Darum will ich hier auch unbedingt mit mir selbst ins Gericht gehen, was mir nicht leichtfällt, aber hoffentlich dennoch gelingen wird. Es wäre einfacher gewesen, das alles in einen Roman zu verpacken, das hätte mir aber irgendwie die Verantwortung genommen, mit Anstand und Würde die Menschen zu beschreiben, die mir das Leben gelehrt und bereichert haben.

In der Hoffnung, eine Menge Verständnis, Toleranz und Mitgefühl zu erwirken, freue ich mich und bedanke mich bei Ihnen, wenn Sie gemeinsam mit mir in das Schicksal meiner Familie und Lebensbegleiter eintauchen und die teilweise unglaublichen Erinnerungen mit mir teilen.

Vielleicht fragen Sie sich, wie Sie wohl durch das jeweilige Erlebnis geprägt worden wären. Vielleicht hätten Sie das eine oder andere besser weggesteckt als ich, vielleicht hätten Sie aber auch viel Zeit auf der Couch eines Psychiaters verbracht. Für gänzlich normal halte ich mich gewiss nicht, das würden Ihnen sicher auch viele Menschen meines Freundeskreises bestätigen, die sich manches Mal Sorgen um meinen Geisteszustand gemacht haben. Aber wer ist das schon? Wer entscheidet, was normal oder verrückt ist? Am besten gefällt mir hierzu der tröstende Gedanke: "Genie und Wahnsinn liegen nah beieinander". Da ist vielleicht etwas Wahres dran. Falls ihnen manche Schreibweise seltsam erscheint, kann es daran liegen, dass ich die Vorlesefunktion unterstützen will, damit der Inhalt auch barrierefrei gehört werden kann. Ich verzichte auch auf das heute so gern benutzte Gendern. Bin ich doch überzeugt, dass ein von Eltern, Familienmitgliedern, Lehrern, und allen Freunden und Bekannten gefördertes Selbstbewusstsein mehr Wert hat für ein gut gelebtes Frauenbild als eine seltsame Schreibweise, die mich nicht unterstützt, sondern einen flüssigen Lesefluss verhindert.

Dafür bitte ich auch um Ihr Verständnis und verbleibe mit den besten Wünschen für eine Welt, in der wir gegenseitig auf uns aufpassen, uns gut behandeln, damit jeder von uns diesen Erdball ein kleines Stückchen lebens- und liebenswerter gestaltet. Ganz egal, in welchem Land wir geboren wurden, ob wir blasse oder dunkle Haut am Leib tragen, mit welchem Geschlecht wir uns identifizieren oder in welchem Alter und Gesundheitszustand wir uns gerade befinden. Wenn wir alle unser Bestes geben, wird es uns gelingen. In diesem Sinne, Ihre

Hannah Hingott

Das Buch des Lebens

Jeden Tag lese ich darin,

es ist ein seltsames Buch,

manchmal binär, nur ja und nein,

nur schwarz und weiß,

dann wieder kunterbunt geschwätzig,

mit einem Buchstabenstrom,

so breit wie der Amazonas.

Das Buch spricht nicht jeden Tag

in der gleichen Sprache,

manchmal scheint es widerborstig

und versucht gar sich selbst zu schließen,

die Seiten lassen sich dann

nur mühsam umblättern.

Doch ich möchte weiterlesen, lesen, lesen,

weil es doch so spannend ist.

Gerd Scherm

Die Vorfahren

Bevor ich von meinem eigenen Leben erzählen kann, muss ich meine Ahnen aufführen, auch durch sie und ihre Lebenswege bin ich geworden, was ich heute bin. Manch roter Faden zieht sich durch die Generationen, von Ihnen stammen Talente oder Vorlieben in meiner Person. Ich bin unglaublich stolz auf die Frauen aus der väterlichen Linie. Besonders auf die Standhaftigkeit von Marlies und Frieda, trotz schwerer Schicksalsschläge ihren "Mann" zu stehen und das Wohl der Kinder an erste Stelle zu setzen. Ich bin aber auch zutiefst traurig über die Lebensgeschichte meiner Mutter, die - auch durch meine Oma Betty verursacht -, tiefe, unerlöste Wunden für alle Beteiligten in die Familie brachte. Und unter den körperlichen Behinderungen und Erkrankungen meiner Eltern, die uns zeitweise in arge materielle Not führten, leide ich ebenso. Wir Menschen neigen sehr dazu, Fehler und Eigenheiten der Eltern zu wiederholen, obwohl wir gerade diese an ihnen so gehasst haben. Wir merken es dann noch nicht einmal, wie sehr wir immer mehr ähnliche Handlungen fortführen. Therapeuten können davon ein Lied singen. Das Elternpaar spielt eine so große Rolle, sind sie doch die ersten Menschen, die wir wahrnehmen, denen wir unser kindliches Vertrauen schenken und die uns dafür bedingungslos lieben sollten. Sie und die Großeltern bilden unsere Wurzeln. Sind diese Menschen jedoch selbst kraftlos, schwach und vom Leben gezeichnet, wie soll der neue Spross stark aufwachsen können? Wie auch immer, wir sollten uns alle, wenn es irgendwie möglich ist, auch die Lebenswege unserer Vorfahren verinnerlichen, denn ohne sie wären wir nicht der Mensch, der uns morgens im Spiegel anschaut. Sie leben in uns weiter, ob wir das nun gut finden oder aber nicht wahrhaben wollen.

Ur-Oma Marlies

Meine gute Ur-Oma Marlies väterlicherseits wird mir hoffentlich folgendes verzeihen: Seit ich als Jugendliche erfahren habe, was ihre Todesursache war, erinnere ich mich an sie nur noch in Verbindung mit dem Lied: „Schnaps, das war sein (bzw. ihr) letztes Wort, dann trugen ihn (sie) die Englein fort…“. Was das "Gendern" betrifft, bin ich da scheinbar meiner Zeit voraus gewesen.

Ich war noch klein, gerade 9 Jahre alt, als ich meinen Vater Friedrich auf ihrer Beerdigung zum ersten Mal weinen sah. Er hat sehr an seiner Oma gehangen. Er lebte damals mit ihr, seiner Mutter Frieda und meiner zwei Jahre älteren Schwester Marina in einem Haushalt zusammen. Meine Eltern waren damals schon vier Jahre geschieden. Ich lebte mit meiner Mutter Edith allein und durfte nur mit auf die Beerdigung, weil meine Mutter Ur-Oma Marlies im Gegensatz zu ihrer Schwiegermutter gut leiden konnte. Ich hatte meine Ur-Oma nur zwei, dreimal gesehen, erinnere mich an eine kleine, schmächtige, sehr alte Frau, die wie ein Spatz nur kleinste Portionen verspeiste. Wenn man mir damals gesagt hätte, sie sei 120 Jahre alt, hätte ich es gewiss auch geglaubt.

Aber sie war 84 Jahre alt, als sie wie so oft abends heimlich mit Hilfe eines Schemels in der guten Stube an das oberste Schrankfach wollte. Dort stand eine Flasche Likör für besondere Feierlichkeiten, von dem sie sich abends gerne ein Gläschen genehmigte. Ihre Tochter Frieda, meine Oma, sollte sie dabei keinesfalls erwischen, Frieda umsorgte ihre Mutter liebevoll und bestand auf einer gesunden Ernährungsweise. An diesem Abend jedoch war Marlies ziemlich unsicher auf den Beinen - vielleicht war es doch nicht das erste Gläschen gewesen - und stürzte vom Stuhl. Sie brach sich einen Oberschenkelhals und starb leider kurz darauf nach der Operation im Krankenhaus. Das Objekt ihrer Begierde war zwar Likör und kein Schnaps, trotzdem denke ich immer schmunzelnd an sie, wenn ich dieses Lied höre. Dann ärgere ich mich über mich selbst und meine mangelnde Pietät, kann diese Gedanken aber dennoch nicht unterlassen.

Geboren wurde Marlies 1893 in einem winzigen Ort in der Provinz Hessen-Nassau mit damals etwa 500 Einwohnern. Dort lebten fast ausschließlich Bergarbeiter mit ihren Familien. Der Ort war aufgeteilt in zwei Ortsbereiche: den Bereich des Schieferabbau, was die Arbeit von Marlies' Vater war, und den Ortsteil der Beschäftigten für den Abbau von Metallen, wie Silber, Kupfer, Blei und Eisen. Immerhin gab es eine kleine Kirche und zu dieser Zeit noch recht neu für die Kinder ein Schulhaus. Das stelle ich mir vor wie in der Fernsehserie "Unsere kleine Farm", die ich als Kind liebte und heute immer noch nicht wegschalten kann, wenn sie läuft. Es waren gewiss einfache Menschen, sehr katholisch, dank des Ur-Großvaters, mit dem schönen Namen Hingott (Hinwendung zu Gott?!). Damit sich ein Kreis in diesen Memoiren schließt, habe ich diesen Namen für mich übernommen, meine Ur-Urgroßeltern haben hoffentlich nichts dagegen, sondern freuen sich darüber, wo immer ihre Seelen sein mögen. Marlies' Bruder, von dem ich sonst nichts weiß, soll mal auf Ahnensuche gegangen sein, er hat die Familienzweige ziemlich weit zurückverfolgt. Danach stammt eine Linie von den Hugenotten ab, das müsste die weibliche Linie sein. Die Hugenotten waren Protestanten, die in Frankreich verfolgt und vernichtet wurden und deshalb in verschiedene Himmelsrichtungen geflohen sind. Eine weitere Linie führte nach Polen, das ja sehr katholisch geprägt ist, darum vermute ich die männliche Linie hier. Leider sind diese Unterlagen im Laufe der Zeit unter die Räder gekommen, was ich sehr bedauerlich finde. So ist dies nur mündlich überliefert.

Marlies war ein lebenslustiges Mädchen, ging bis zu ihrem 14. Lebensjahr zur Schule, länger war das für Mädels damals nicht angedacht. Bald darauf ging sie als ungelernte Magd und Putzfrau zum Arbeiten in die Großstadt. In dieser Zeit lernte sie ihren Freund Johannes Harter kennen und lieben, wurde schwanger und heiratete ihn. Im Alter von 21 brachte sie im September 1914 ihr einziges Kind, meine Oma Frieda zur Welt. Ihr Mann blieb nicht lang an ihrer Seite, der Erste Weltkrieg machte ihn zum Soldaten und er wurde einberufen. Die Ehe der beiden lief dadurch ziemlich bald auseinander. Meine Oma erinnerte sich nur an eine einzige Situation im Jahr 1920, in der ihre Mutter Marlies in einer Streitsituation auf ihren Vater losgegangen ist, auf ihn einschlug und ihn schließlich aus der Wohnung rausgeworfen hat. Sie soll die Zwanziger und Teile der dreißiger Jahre mit ihrer Tochter auch ohne ihn recht gut verbracht haben. Marlies war eine fleißige Arbeiterin, zeitlebens putzte sie in Hotels und führte in Anstellung die Haushalte anderer Leute, darunter auch für jüdische Familien. Dadurch mussten sie auch miterleben, wie unter Hitlers Macht immer mehr jüdische Menschen von einem Tag auf den anderen verschwanden und nie mehr gesehen wurden.

Mein Ur-Opa ist während seiner Soldatenlaufbahn zu einem hohen Offizier aufgestiegen, der früh nach Berlin umgezogen ist und im Zweiten Weltkrieg in dem näheren Umfeld von Adolf Hitler gewirkt haben soll. Er soll sogar einmal in einer Zeitung neben dem Führer stehend abgelichtet worden sein, was seiner Frau, aber auch seinen eigenen Geschwistern, die in Marlies‘ Nähe lebten, zuwider war. Die Ehe von ihm und Marlies wurde zwar nicht geschieden, sie haben sich aber auch nie mehr wiedergetroffen. Marlies arbeitete bis zu ihrem 80. Lebensjahr, dann überredete meine Oma sie zum wohlverdienten Ruhestand. Auch die Familie, bei der sie gearbeitet hatte, war froh, als sie aufhörte, hatten sie doch immer ein schlechtes Gewissen wegen ihres hohen Alters. Leider sollte ihr Rentnerdasein dann nur noch vier Jahre dauern. Ein Foto von ihr hängt bei mir im Wohnzimmer. Ich kannte sie kaum, doch verdient sie meine ganze Hochachtung dafür, dass sie sich mit Kind allein durchgeschlagen hat, dafür hart arbeitete und mit einem Nazi nichts zu tun haben wollte. Er und seine Familie waren gut situiert, viele andere Frauen in dieser Lage hätten sicher Ansprüche gestellt, um sich das Leben einfacher zu gestalten. Nicht sie. Sie hat in einem Erbfall sogar für einen einzigen Korb Äpfel auf ein Grundstück verzichtet. Das wurde später Bauland und hätte ihr sicher geholfen, ein etwas angenehmeres Leben zu führen. Sie blieb dennoch ein gutes Vorbild für ihre Tochter Frieda, was den Fleiß und das Durchhaltevermögen betreffen. In Bezug auf ihr Liebesleben ließ sie - was Männer betrifft -, angeblich nichts anbrennen, flirtete viel und gerne, tanzte, trank Alkohol und rauchte. Man könnte sagen, sie war willensstark, selbstbewusst, eine Feministin und damit ihrer Zeit weit voraus.

Oma Frieda

Frieda gab sich als Heranwachsende im Gegensatz zu ihrer Mutter zurückhaltend und konservativ. Sie machte ihrem Sternzeichen Jungfrau alle Ehre. Auch sie besuchte nicht länger als notwendig die Schule. Das war der Wunsch ihrer Mutter, obwohl die Lehrer Marlies empfohlen hatten, das Kind auf eine weiterführende Schule zu geben, da es Frieda nicht an Intelligenz mangelte. Sie wohnten in einem typischen Arbeiterviertel in der Bergstraße 17, im Hinterhaus, zweites Stockwerk unter dem Dach. Dort lagen sich auf der Etage je zwei Wohnungen gegenüber. Eine ca. 40 qm große Zweizimmer-Wohnung links und die kleine Einzimmerwohnung rechts mit ca. 20 qm. Neben den winzigen Zimmern gab es jeweils eine kleine Küche mit fließend kaltem Wasser und für beide Wohnungen war eine Mini-Toilette im Hausflur zwischen den Stockwerken vorhanden. Unten im Hof befand sich eine Autowerkstatt, die sich hauptsächlich auf Oldtimern der Jahrhundertwende spezialisiert hatte, aber auf Wunsch und bei Bedarf auch an den Wagen der Nachbarschaft herumschraubten.

In diesen Häusern des Viertels suchte man Heizungen oder warmes Wasser aus dem Hahn vergebens. War das gesamte Viertel doch nur gebaut worden, um günstigen Wohnraum für die Beschäftigten der noblen Gesellschaft der Stadt zu schaffen. Kleine Ladenbesitzer und Handwerksbetriebe waren dort auch angesiedelt, aber hauptsächlich war es ein Arbeiterviertel. In der Bergstraße gehörten die Wohnhäuser überwiegend Bauern. Nachdem die Stadt dann immer größer wurde, verzichteten sie auf die Landwirtschaftsflächen und bebauten zugunsten der Mieteinnahmen hinter ihre gut ausgestatteten Wohnhäuser auf ihre Grundstücke einfache Häuser, eng aneinandergereiht. In diesen Wohnungen hat man wenig Sonneneinstrahlung und Durchzug für Frischluft, dafür sind sie bis heute noch bezahlbar und günstiger als der allgemeine Mietdurchschnitt.

In dieser Zweizimmer-Wohnung lebten nun meine Oma und ihre Mutter. Marlies arbeitete tagsüber in den Haushalten der feinen Gesellschaft, Frieda bekam nach dem Ende der Schulzeit von einer Nachbarin den Tipp, sich bei dem Verlag der örtlichen Tageszeitung zu bewerben. Es wurden immer Austräger gesucht. Das machte sie dann auch in der Nacht bis in die frühen Morgenstunden und blieb dort bis zu ihrem wohlverdienten Ruhestand. Im höheren Alter allerdings nicht mehr als Austrägerin, sondern in der Halle, in der von Frauen Zeitungsbeilagen und Reklameblätter einsortiert wurden. Dahin durfte ich sie als Kind einmal begleiten, ich malte in der Zeit, während sie stundenlang stehend, dieser immer noch ziemlich anstrengenden Arbeit nachging. Immerhin war sie dort nicht mehr jedem Wind und Wetter ausgesetzt und das Arbeitsende war früher in der Nacht. Als sie sich das erste Mal verliebte, war sie ca. 18 oder 19 Jahre alt. Das war Richard Breugel, mein Opa. Er heiratete Frieda, die bald schwanger wurde. Allerdings verlor sie im siebten Monat das Kind. Das Mädchen wurde recht einfach bestattet, aber niemals vergessen. Frieda muss sehr gelitten haben. Sie ging regelmäßig, auch später mit ihren Kindern, an das Grab. Nach dieser Totgeburt wurde sie zunächst nicht mehr schwanger, ein Arzt unternahm darum einen Eingriff bei ihr vor. Sie und Richard wünschten sich sehnlichst Kinder. Wahrscheinlich wurde sie ausgeschabt, die Gebärmutter von störendem Gewebe befreit, was zu einem vollen Erfolg führte. Das wird heute noch gerne angewendet. Nun kamen jährlich zuerst mein Onkel Walter 1937, dann mein Vater Friedrich 1938, und zuletzt meine Tante Madita 1939 auf die Welt. Schön finde ich die Namensfindung für meinen Vater. Aus Richard und Frieda wurde Friedrich (Friedensreich, und das wollte er tatsächlich sein ganzes Leben sein). Sie bewohnten immer noch die kleine Zweizimmer-Wohnung, jedoch konnte Marlies in die Einzimmerwohnung gegenüber umziehen, so hatte die junge Familie mehr Platz für sich und die stolze Oma konnte der Tochter und den Enkelkindern hilfreich zur Seite stehen. Die Vermieter waren die Eheleute Becker, auch ehemalige Bauernleute, denen mehrere Häuser in der Straße gehörten, die im deutlich besser ausgestatteten Vorderhaus wohnten und in der gleichen Zeit ihren Sohn Gregor bekamen. Dieser wuchs mit den Dreien auf, ging mit ihnen zur Schule und arbeitete später beim gleichen Arbeitgeber wie meine Tante und ich. Er verbrachte viel Zeit bei Frieda und den Kindern, zuhause fühlte er sich nicht besonders wohl. Weil seiner Mutter kein Mädchen gut genug war, das er heimbrachte, und sie Jede in die Flucht schlug, blieb er zeitlebens allein, trank viel zu viel Alkohol und starb nach seinem Gang in den Ruhestand vereinsamt in seiner Wohnung. Zuvor hatte er seine Häuser in geistiger Umnachtung an die Mieter überschrieben, mit denen ich mir ein paar Jahre die Etage und die Toilette teilte, als auch ich in Marlies‘ ehemaliger kleiner Wohnung leben konnte. Als Azubine konnte ich mir das leisten, die Miete lag Ende der 80er nur bei 90 Mark und durch den Anschluss eines mit Strom betriebenen Wasserboilers über der kleinen Spüle und einem Radiator hatte man auch warmes Wasser und eine warme Stube.

Leider hielt das Familienglück für Frieda nicht lange, denn Richard wurde eingezogen und in den Krieg geschickt. Er kam nie mehr nach Hause zurück. Erst nach dem Krieg erfuhr Frieda, dass Richard in einem Lazarett in Russland gestorben ist. Da sie leider noch zu klein waren, als Richard fortging, hatten die Kinder keine Erinnerungen an ihn. Frieda war Mitte 20, mit den drei Kindern allein und hat einmal den Ansatz gewagt, sich und ihre Kinder umzubringen. Ihr Pflichtgefühl hat sie aber glücklicherweise davon abgehalten. Richards bester Freund, Moritz Bitter, kümmerte sich in dieser schweren Zeit um Frieda und die Kinder, er heiratete die Witwe, die Richard amtlich für tot erklären lassen musste. Fortan trug sie den Namen Bitter, die Kinder behielten den Namen des leiblichen Vaters, Breugel. Sie liebten ihren Stiefvater sehr, da er sich rührend um Frieda und die Kinder kümmerte. Alle drei sammelten nur gute Erinnerungen an ihn. Dieses Glück dauerte jedoch auch nicht lange. Moritz erkrankte an TBC (Tuberkulose) und starb im Jahr 1946. Wieder standen sie allein da. Fast über Nacht wurden Friedas Haare grau und mit Anfang 30 hatte sie schneeweiße Haare.

Alle hatten in Kriegszeiten mitbekommen, dass einige Kinder und deren Familien über Nacht verschwanden und nie wieder aufgetaucht sind. Das waren jüdische Familien. Sie glaubten jedoch den Gerüchten nicht, wo diese Menschen geblieben sind. Während des Krieges wurde die Stadt teilweise arg bombardiert. Viele Stunden verbrachten Marlies, Frieda und die Kinder im Luftschutzkeller. Zusammen mit den Nachbarn. Sie mussten erleben, wie eine ganze Bäckerfamilie im Bombenhagel ums Leben kam, die meisten Häuser des Viertels blieben aber unversehrt. Dagegen lag der Marktplatz in Schutt und Asche, auch das Standesamt mit seinen Urkunden zu Geburten, Eheschließungen und Todesfällen war größtenteils zerstört. Einige Menschen nutzten die Gunst der Stunde und gaben sich nach dem Krieg bei der Erfassung der Identität neue Vornamen, wie das auch meine Oma Mütterlicherseits, Betty, die auf den Namen Elise getauft worden war, gemacht hat. Was es bei Frieda niemals gab, war Jammern. Sie arbeitete nachts, versorgte die Kinder tagsüber liebevoll und versuchte, sich selbst alles abzusparen, um den Kindern etwas bieten zu können. Eher hungerte sie, als dass es den Kindern an Nahrung fehlen sollte. Es gab viel Maisbrei zu essen, der günstig war und den Hunger beruhigte. So wie Marlies einst für einen Korb Äpfel auf ein Grundstück verzichtet hatte, so verzichtete Frieda bei einem Erbfall als Tochter des Offiziers Harter auf einen Anteil eines großen Grundstücks in einem nahen gelegenen Waldgebiet, zugunsten eines üppigen Mittagessens mit Braten, Rotkraut und Klößen für sich und die Kinder. Endlich konnten sie sich einmal satt essen. Dort steht heute noch eine Fabrik für Farben und Lacke, die von den Erben gebaut und betrieben wurde in der danach benannten Harterstrasse. Es ist schon bemerkenswert, wenn man daran vorbeifährt und sich überlegt, dass dies mir gänzlich unbekannten Menschen gehörte, deren Ur-Ur-Opa aber derselbe ist wie meiner. Die Welt ist klein und wie führen wohl noch weitere Bande zueinander, ohne dass man es Ahnen kann?

Walter, Friedrich, Madita

Die beiden Jungs, Walter und Friedrich, waren unzertrennlich und beste Freunde. Sie machten alles gemeinsam. Walter wurde kräftig und burschikos, Friedrich eher schmal, zurückhaltend und ruhig. Sie verpassten keine Kerb und keinen Jahrmarkt. Eine der ältesten Kerben der Stadt und eine von drei Kerben im Viertel, die an drei Wochenenden hintereinander stattfanden, war tatsächlich die Bergsträßer Kerb, die von den dort ansässigen Bauern ins Leben gerufen wurde, mit richtigem Kerbe-Verein, eigener Kerbe-Tracht, einem oder zwei Fahrgeschäften für die Kleinsten und Essensständen. Losbuden, gebrannte Mandeln oder kandierte Äpfel und Buden zum Dosenwerfen fand man auch. Es gab viele Rangeleien zwischen den halbstarken Jungs der drei Kerbegesellschaften, bestand doch immer eine Konkurrenz zwischen ihnen wegen des angeblich besseren oder schlechteren Standes der Bauern-, Angestellten- oder Arbeiter-Kerbeburschen.

Meine Tante Madita dagegen war stets an der Seite ihrer Mutter. Sie war für ihr Alter immer zu schnell gewachsen, dafür aber viel zu dünn. Sobald die finanzielle Lage es Frieda ermöglichte, wurde das Kind täglich mit einem Glas Rotwein, darin ein rohes Ei verquirlt, aufgepäppelt. Das war ein angepriesenes Hausmittel und funktionierte gut. Frieda teilte mit dem Mädchen alle Sorgen, sprach mit ihr wie mit einer Erwachsenen und nahm sie ab dem Alter von 10 Jahren mit, um Zeitungen auszutragen. Das war schon damals nicht ungefährlich, es gab einen Mann, der es auf das Kind abgesehen hatte. Um einen Übergriff zu verhindern, ist eine Freundin von Frieda mehrere Male zu Maditas Schutz mitgelaufen und sorgte so dafür, dass der Kerl nicht mehr auf der Lauer lag. Madita war trotz der nächtlichen Anstrengungen sehr gut in der Grundschule und fand dort ihre Freundin Margitta, die für mich auch heute noch zum engen Familienkreis gehört. Beide sind für mich meine Tantchen. Madita ist für mich auch eine beste Freundin geworden, sie hört immer noch gut zu und ich weiß nicht, wie mein Leben verlaufen wäre, hätte sie mir nicht so oft zur Seite gestanden. Margitta ist ein Jahr älter, klein und sehr zierlich und die Beiden sind immer noch unzertrennlich.

Madita half ihrer Mutter, bis sie in die Mittelschule (heutige Gesamtschule) wechselte. Als sie und Margitta in das Alter für die Tanzschule kamen, gab es dort so wenige Jungen, dass mein Vater und Onkel Walter das Opfer als Gasttänzer auf sich nahmen. Die beiden passten auch gut auf die zwei Mädchen auf. Auf der Hochzeit meines Cousins konnte ich später erstaunt zusehen, wie elegant und perfekt meine Tante Madita und ihr Bruder Walter zusammen das Tanzbein schwangen.

Frieda wollte, dass es ihrer Tochter einmal besser geht als ihr, sie bestärkte Madita, weiter zur Schule zu gehen und lehrte sie, immer in der Lage zu sein, für sich selbst sorgen zu können. Sie wusste sehr genau, wie schnell man allein auf sich selbst gestellt sein kann. So ging Madita weiter auf die Höhere Handelsschule, die mit dem heutigen Abitur vergleichbar ist. Sie fing danach in einer Behörde an und legte dort zusätzlich zur Arbeit eine schulische Beamtenlaufbahn ab. Sie und Margitta wohnten später in kleinen Wohnungen in demselben Haus, um Geld zu sparen, da sie sowieso die meiste Zeit zusammen verbrachten. Sie fuhren gemeinsam in Urlaub und gaben sich gegenseitig Trost, wenn die falschen Frösche geküsst wurden. Nach mehreren falschen Prinzen fanden beide doch auch gute Ehemänner. Maditas Mann Theo sollte mir später noch zeitlebens ein sehr guter Gesprächspartner werden, ich liebte es, mit ihm über Gott und die Welt, Religion und Quantenphysik zu diskutieren. Ihre Brüder gingen in die Lehre, Walter wurde Maler und Lackierer, Friedrich begann eine Installateur-Lehre (damals wie heute noch umgangssprachlich "Gas-Wasser-Scheiße" genannt). Beide beendeten die Lehre erfolgreich, aber meinem Vater ist es immer schwerer gefallen, Heizkörper, Waschmaschinen, Keramikbecken und Co. in die hohen Etagen der Altbauten zu tragen. Irgendwas stimmte nicht, zu oft versagten ihm seine Arme den Dienst, er ließ die teuren Gerätschaften fallen, sehr zum Ärger seines Meisters, der zunächst glaubte, Friedrich sei zu unvorsichtig. Frieda ging mit Friedrich von einem Arzt zum anderen, bis die Diagnose für den 19-jährigen letztendlich feststand: Muskeldystrophie, eine seltene Form eines fortschreitenden Muskelschwunds. Zu erkennen an den Augen, die man nicht fest schließen kann, am Mund, Pfeifen geht gar nicht, sowie den Schulterblättern, die nicht am Körper anliegen, sondern wie gebrochene Flügel am Rücken abstehen. Die Arme lassen sich nicht hoch über den Kopf bringen, die Kraft ist dürftig. Das ist der Anfang, im weiteren Verlauf verlieren nach und nach die Hüften und die Beine, die Füße und die Hände, der Nacken und zuletzt die Speise- und Luftröhre ihre Kraft. Das ist dann auch das Todesurteil, will man nicht von Apparaten umgeben im Bett vor sich hinvegetieren. Damit waren sein erlernter Beruf und alle körperlich herausfordernden Tätigkeiten für ihn gestorben. Das war ein großer Schock für alle. Wegen der abstehenden Schulterblätter, "Flügel" wird die Erkrankung umgangssprachlich Engelskrankheit -, wegen der fehlenden Kraft des gesamten Körpers auch Astronautenkrankheit genannt, denn Astronauten verlieren bei ihrer Reise im All eine Menge Muskulatur. Sie ist in dem französischen und empfehlenswerten Film "Ziemlich beste Freunde" sehr gut und anschaulich dargestellt, wobei dieser Patient wenigstens die finanziellen Mittel für eine umfangreiche Rundumpflege und beste technische Hilfsmittel hatte.

An alle Leser, die diesen Film gesehen haben und sich nun fragen, wie ich so einen Unsinn schreiben kann, da Philippe doch beim Paragleiten abstürzte und darum gelähmt war: 2013 , und ein weiteres Mal ein paar Jahre später, sah ich den Film und freute mich sehr darüber, diese seltene Erkrankung dargestellt zu sehen. Wegen dieser Memoiren habe ich ihn mir vor ein paar Wochen ( November 2023 ) noch einmal ansehen wollen und ihn mir sogar gekauft. Seitdem bin ich um eine Kuriosität reicher in meinem Leben. Eine für mich neue Variante dieses Films habe ich erworben ( Sturz beim Paragleiten) und kann es mir beim besten Willen nicht erklären. Erlebe ich zwei Realitäten? Habe ich eine Erinnerung an eine andere Inkarnation in gleicher Person, mit kleinen Abweichungen? Befinden wir uns öfters im gleichen Leben, immer ein klein bisschen klüger als zuvor? Bin ich ein Opfer übler Scherze ( a la Truman- Show)? Springe ich in verschiedenen Dimensionen umher, oder was in aller Welt ist mit mir los? Es ist nicht das erste Mal, dass mir so etwas passiert. Und erst diese Weihnachten habe ich eine weitere Variante von "Eine zauberhafte Nanny" – Teil II, gesehen. In einer älteren Erinnerung laufen am Ende die Mutter und ihre Kinder auf einem Waldweg dem aus dem Krieg nach Hause kommenden Vater in die Arme, während die Nanny den Weg weiterläuft. Diesmal aber liefen sie ihm auf der Anhöhe des Kornfeldes entgegen, beides erlebe ich als absolut richtig!?

Damals gaben die Ärzte Friedrich keine Hoffnung auf eine lange Lebenserwartung. 25, vielleicht 30 Jahre sollte er ihrer Meinung nach werden, je nachdem, wie stark er sich belastet oder schont. Besser wusste das damals niemand und so war die Erkrankung in jeder medizinischen Fachliteratur beschrieben. Außerdem würde die Krankheit in jedem Fall von Mann oder Frau an etwaige Kinder vererbt, da die DNA geschädigt ist, aber zum Ausbruch komme es nur bei Nachkommen mit männlichem Geschlecht. Was bedeutete, dass auch seine Geschwister davon betroffen waren und weitervererben könnten. Frieda war außer sich vor Sorge, sie wollte wissen, von wem der Muskelschwund an ihre Kinder vererbt wurde. Sie forschte bei ihren - und den Verwandten ihres verstorbenen Mannes nach -, fand aber keinen Hinweis auf eine derartige Erkrankung. Die Ärzte bezeichneten den Fall meines Vaters darum als erste Mutation der DNA, jede Weitervererbung würde einen immer schlimmeren Verlauf der Erkrankung nach sich ziehen. Zu hören, man sei ein Mutant, stelle ich mir ziemlich schrecklich vor. Es war ein Rätsel, wodurch diese Mutation ausgelöst wurde, und das ist es bis heute, wobei ich derzeit einen gruseligen Verdacht im Hinterkopf habe: Was, wenn dies eine Nebenwirkung der damals in den 50ern verabreichten Tuberkulose-Impfung war, die auch nicht harmlos war und viele Behinderungen nach sich zog? Dieser Verdacht kam mir allerdings erst in den letzten drei Jahren, nachdem derzeit auch die Krankheit Multiple Sklerose als Diagnose bei Impf-Nebenwirkungen gegen COVID-19 genannt wird, die in diesen Jahrgängen damals auch oft vertreten war. Ebenso erinnern mich die heutigen Lähmungserscheinungen junger Menschen an die damalige Kinderlähmung, die es dank der Schluckimpfung viele Jahrzehnte nicht mehr gab. Diese Impfung wurde den Kindern mit einem Zuckerwürfel verabreicht, den auch ich als Kind mehrmals bekommen habe. Heutzutage kann ich mir sogar vorstellen, dass es wirklich nur ein Zuckerwürfel gewesen sein könnte. Damit hätte man doch prima die Nebenwirkungen der Vergangenheit verschleiern können und obendrein noch viel Geld verdient. Wer hätte es jemals angezweifelt. Bei den heutigen Unsummen, mit denen sich viele Aktienanleger, Pharmariesen, Apotheker und Ärzte in der letzten Pandemie die Taschen füllten, plus der Politiker, die Maskendeals einfädelten und auch Vetternwirtschaft betrieben haben, kann ich mir das zumindest lebhaft vorstellen. Und dass ich dazu neige, alles zu hinterfragen, liegt in meiner Natur. Vielleicht habe ich aber auch nur eine zu große und in diesem Fall zu negative Fantasie.

Glücklicherweise blieben Walter und Madita verschont, das wusste man aber damals ja nicht, da die Ärzte den Ausbruch der Erkrankung bis in das sechste Lebens-Jahrzehnt für wahrscheinlich hielten. Friedrich wechselte die Arbeit, er durfte sich körperlich nicht mehr zu sehr anstrengen, denn ein Muskelkater ist ja nichts anderes als eine Verletzung des Muskelgewebes. Bei gesunden Menschen heilt das in ein paar Tagen, bei dieser Form des Muskelschwunds regeneriert sich die verletzte Faser nicht, sondern wandelt sich in Fett um und wird nach und nach mit der Verdauung abgebaut und ausgeschieden. Das Stoffwechselsystem ist nicht in der Lage, aus der Nahrung gezogene Nährstoffe in Muskelfleisch umzuwandeln. Somit verhungert der Körper über die Jahre, egal wie viel oder was man isst. Man bekommt den Körper, den man sonst nur von unterernährten Kindern auf Fotos sieht, den Blähbauch und die dünnen Arme und Beine. Als Glück im Unglück kann man diese Form des Muskelschwunds dennoch bezeichnen. Es gibt andere Varianten, die bereits im Kleinkindalter auftreten und einen sehr schnellen Verlauf nehmen. Die Lebenserwartung liegt da tatsächlich bei 15 bis 25 Jahren. Das ist für die Eltern dieser Kinder gewiss ein besonders schwer zu ertragenes Leid.

Friedrich nahm eine Stelle in einem Verlag an. Er verteilte dort den Posteingang mithilfe eines Rollwagens von der Poststelle in die verschiedenen Abteilungen und brauchte nicht mehr schwer zu tragen. Das war zumindest einige Jahre für ihn machbar. Der Verlag veröffentlichte Zeitschriften für die Landwirtschaft- und Gartengestaltung sowie Kalender und Bücher künstlerischer Art.

Kurz nachdem er dort angefangen hatte zu arbeiten, haben Walter und er sich in der Freizeit ein paar Straßen weiter auf Feldern, in der Nähe dem Stadtrand herumgetrieben. Durch wen sie dorthin kamen, wüsste ich gerne. Wahrscheinlich hatte mein Vater den gleichaltrigen Markus durch die Untersuchungen zu seiner Erkrankung beim Arzt getroffen. Der hatte auch eine Art des Muskelschwunds, aber eine Athrophie, die nicht wegen der Genetik vererbt wird. Markus lebte in einem Kinderund Jugendheim ein paar Gehminuten von der Bergstraße entfernt. Das war voll von Kindern, die im Krieg den Vater verloren hatten und von der Mutter nicht ernährt werden konnten. Einige waren ihren Eltern auch zu aufsässig, sie galten als "Schwer Erziehbare" und konnten deshalb der Fürsorge übergeben werden. Wieder andere waren wegen ihrer Behinderungen dahin abgeschoben worden, weil - dank Hitlers Politik - in den Köpfen immer noch das Stigma des "Unwerten Lebens", der nutzlosen "Essensverschwender", etc. vorherrschte. Viele Menschen waren auch noch stigmatisiert durch die Zeiten der Manipulation des Nationalsozialismus und den Krieg, der nichts als Tod, Elend und Leid hinterlassen hatte. Jedenfalls freundeten sich mein Vater und Walter mit Markus an, sie verbrachten viel Zeit rund ums Heim, wo es noch viele freie Felder und einen Wald in unmittelbarer Nähe gab. So lernten Friedrich und Walter zwei Mädchen aus dem Heim kennen. Edith und Gertraud. Die Brüder verliebten sich in Edith, sie war eine Schönheit, die oft mit Elizabeth Taylor verglichen wurde, nur mit bernsteinfarben statt blauen Augen. Nicht groß, knappe 1,65 m, mit toller Figur, schlank, aber dennoch mit weiblichen Rundungen. Ihr Haar war kastanienbraun und schulterlang und wenn sie lachte, strahlte die Sonne aus ihr heraus. Und sie lachte viel und gerne, dem Schmerz über ihre Kindheit und ihrer Behinderung zum Trotz. Gertraud war genauso klein, blond, hatte ein markantes Gesicht mit einer Warze neben der Nase. Nicht so hübsch wie Edith, aber dafür sah sie im Alter weiter jung aus, hatte sich nur sehr wenig verändert, während man bei Edith deutlich ihren Lebensweg ablesen konnte. Beide Mädels waren lebenslustig sowie streitsüchtig, ließen sich nichts gefallen und hatten selbstbewusste Charaktere. Nur Gertraud und Markus zählten im Heim zu Ediths Freunden, die sonst nicht mit vielen klarkam. Die Mädels waren gerade 19 Jahre alt, mein Vater 21, Walter 22. Es war das erste, aber auch letzte Mal, dass zwischen Friedrich und Walter eine vergiftete Atmosphäre herrschte. Edith, meine Mutter, erzählte mir, dass Walter sie sogar gefragt habe, was sie mit seinem schwachen Bruder denn anfangen wolle, der könne ihr doch nichts bieten. Das hat Edith sehr wütend werden lassen, sie ergriff die Partei für Friedrich, - immerhin war sie selbst auch behindert -, verteidigte ihn vehement und schlug auf Walter ein. Ab da waren die Fronten klar gesteckt. Walter wendete sich nun doch lieber der ruhigeren Gertraud zu und die Liebe auf den zweiten Blick nahm ihren Lauf. Die Beiden heirateten sogar noch vor meinen Eltern, adoptierten später den kleinen Marco, und blieben ihr ganzes Leben zusammen.

Edith und ihre Familie

Leider weiß ich nicht viel über den Stammbaum meiner Mutter. Aus Geburtsurkunden geht nur hervor, dass die Urgroßmutter unter dem Namen Rosalie Bach geboren wurde und mit dem Tagelöhner Hans Matthes verheiratet war. Beide waren evangelisch getauft. Rosalie brachte 1904 in ihrer Wohnung eine Tochter zur Welt, die den Namen Elise bekommen hat. Das war meine Oma. Wie sie aufgewachsen ist, ob sie Geschwister hatte und wie die Familie die Jahre des ersten Weltkrieges überstanden hat, darüber wurde nie gesprochen und es gab keine Aufzeichnungen. Elise war eine richtig rothaarige Frau (damit meine ich, nicht rotblond oder rotbraun, einfach rot) mit blasser Haut und blaugrauen Augen. Nur so viel ist bekannt, dass Elise noch nicht verheiratet war, als sie im Januar 1940 meine Mutter Edith als zweite Tochter zur Welt brachte. Der Vater Friedrich Greiner, ein Polsterer, war auch zum Kriegsdienst eingezogen worden, heiratete Elise später und nahm die Töchter dann auf seinen Namen. Das war so üblich damals, änderte aber nichts daran, dass sie somit als "Bastarde" geboren wurden. So wurden uneheliche Kinder in dieser Zeit verunglimpft, es galt als Schande und Edith wurde dafür unerbittlich von anderen Kindern gehänselt. Ihre Schwester Eva war ein paar Jahre älter als sie und deutlich ruhiger. Wie Elise mit den Töchtern über die erneuten Kriegsjahre gekommen ist, bleibt ein Geheimnis. Vielleicht verkaufte sie ihren Körper, einige Frauen machten das, um mit ihren Kindern nicht verhungern zu müssen. Denkbar ist es auch deshalb, weil meine Mutter mir sehr oft die Idee mitteilte, dass sie, wenn ich groß bin, einen Puff eröffnet, und meine Schwester und ich dann die Freier bedienen, die vorher von ihr ausprobiert werden. Genauso, wie sie unsere Freunde zuerst vernaschen würde, um zu testen, ob sie im Bett was taugen. Wie kommt man nur auf so eine Idee?

Weil das Standesamt einem Bombenhagel zum Opfer gefallen war, wurde das Geburtsregister weitestgehend vernichtet. Die Bevölkerung musste neu erfasst werden und Elise mochte ihren Vornamen scheinbar nicht besonders. So ging sie zum Amt und nannte dort einfach einen anderen Vornamen, Betty. Ihre Tochter Eva durfte sich auch einen neuen Namen wählen, sie wurde so zu einer Evelyn. Das sollen nicht wenige Leute damals gemacht haben, hat mir eine Standesbeamtin erzählt. Die Gelegenheit war günstig und manche unrühmliche Vergangenheit wurde so mit einem Schlag aus den amtlichen Aufzeichnungen gelöscht. Kurz nach Kriegsende 1945 sammelten Evelyn und Edith von der Straße Zigarettenstummel für die Mutter. Aus den Tabakresten wurden neue Kippen gedreht. Die Stadt war voll von amerikanischen Soldaten, wenn die Kinder Glück hatten, staubten sie von ihnen Schokolade oder Kaugummis ab. Sie fuhren mit großen Autos durch die Stadt, waren überall präsent. Sie waren die Gewinner des Krieges und besetzten deutsche Städte, errichteten Kasernen und gehören bis heute in viele Stadtbilder. Ein Amerikaner übersah Edith, die gerade einen Zigarettenstummel von der Fahrbahn auflesen wollte und überfuhr sie. Das linke Bein des Kindes wurde am Oberschenkel abgetrennt, flog in einem hohen Bogen durch die Luft und der Kopf war auch schwer verletzt. Das war Ediths erster Schädelbasisbruch, es sollte nicht ihr letzter sein. Sie wurde ins Krankenhaus gebracht, der Beinstumpf wurde zugenäht, der Kopf versorgt und dann durfte sie nach Hause. Dort lag sie ein halbes Jahr im Bett, bis alles komplett verheilt war. Dann musste sie neu lernen, mit zwei Krücken zu laufen und sich gegen Spott und Häme zu verteidigen. Nun war sie nicht nur ein Bastard, sondern auch noch ein Krüppel.

In ihr wuchs der Zorn und Hass auf ihre Lage und auf jeden, der das auch noch nutzte, um sie zu hänseln und damit sehr zu verletzen.

Bei der Geburt des jüngsten Kindes Georg im Januar 1946 waren Betty und Friedrich verheiratet. Er ist zumindest aus dem Krieg lebend nach Hause gekommen, ist aber entweder kurz nach Georgs Geburt verstorben oder hat sich aus anderen Gründen aus dem Staub gemacht. Es existiert kein Dokument über ihn. Auch dieser Opa spielte keine echte Rolle mehr in der Familiengeschichte. Betty stand nun mit Evelyn, dem Säugling Georg und der behinderten, wütenden Edith wiederholt alleine da. Betty war restlos überfordert mit der aggressiven Tochter und dem Baby und traf eine grausame, für sie notwendige Entscheidung. Sie wollte nur noch ihre Ruhe, die drei Kinder waren zu viel für sie. Mit der großen Tochter Evelyn konnte sie noch etwas anfangen, aber Edith und Georg übergab sie der Fürsorge. Das war ja auch nicht ungewöhnlich in diesen Zeiten, wurde sogar gern vom Amt befohlen. Georg wurde in ein knapp 100 km entferntes Kinderheim nach Baden-Württemberg verfrachtet, die sechsjährige Edith kam in ein 22 km weit entferntes Heim für schwer erziehbare und behinderte Kinder, ein Gehöft in einer abgeschiedenen kleinen Gemeinde in Hessen. Betty zog daraufhin mit ihrer Ältesten um, weit weg von den kleinen Kindern, nach Nordrhein-Westfalen. Sie fragte nicht mehr nach ihnen, sie schrieb nicht und besuchte sie auch nicht. Ein einziges Mal hatte sie sich Jahre später telefonisch gemeldet und Edith versprochen, zu ihrer Konfirmation zu kommen. Es blieb bei dem Versprechen.

Das Gehöft war ein übler Ort, im Zweiten Weltkrieg wurden dort grausame Medikamenten-Experimente und Tötungen durchgeführt. Aufwieglerische Kinder wurden mit Hilfe von Stromstößen am Gehirn zur Ruhe gebracht. Im Rahmen der Euthanasie wurden sehr viele "unwerte" Leben, die nur als nutzlose Esser der viel zu wenig vorhandenen Lebensmittel galten, umgebracht und teilweise im Garten anonym vergraben. Das waren Kinder mit Behinderungen oder als geisteskrank und schwererziehbar Eingestufte, für die sich niemand interessierte. Solche wie meine Mutter. Bis in die 60er Jahre gab es dort noch Misshandlungen und sexuellen Missbrauch an Kindern. Meine Mutter war eine Weile in dieser Einrichtung. Ich erfuhr es erst 2008, sie hat vorher niemals darüber gesprochen. Wahrscheinlich aus "gutem" Grund. Wer weiß, was sie dort sehen oder selbst überstehen musste, auch darüber schwieg sie eisern. Sie hatte wohl großes Glück, dass sie nach einiger Zeit wieder zurück in ihre Geburtsstadt verlegt wurde, in das Kinder- und Jugendheim, in dem sie dann auf Gertraud, Markus und später den Namensvetter ihres Vaters Friedrich traf. Vielleicht waren es ihre guten Noten, die sie in der Schule bekam. Sie verfügte über Intelligenz und Lernfreude, war ehrgeizig, wollte die Beste sein und der Unterrichtsstoff fiel ihr leicht. In diesem Heim lebte es sich besser, bis zu vier Kinder teilten sich ein Zimmer, überall lag Spielzeug herum. Davon durfte ich mich überzeugen, als meine Mutter mit mir einmal einen Besuch dorthin machte. Obwohl auch dort körperliche Schläge als natürliches Erziehungsmittel an der Tagesordnung waren, vergaß meine Mutter der Familie, die das Heim führte, niemals, dass sie für ihre Konfirmation hübsch zurecht gemacht wurde. Sie durfte ein Kleid der Tochter der Heimleitung tragen, sah wunderschön aus und wurde fotografiert. Das war das einzige Zeugnis ihrer Kindheit und Jugend. Ich war regelrecht verliebt in dieses Bild, so schön sah sie aus, trotz des tiefen Schmerzes, den die nicht erschienene Betty bei Edith ausgelöst hatte. Der Besuch sollte mir zeigen, wie gut ich es habe, im Vergleich zu anderen Kindern. Während meine Mutter einen Kaffee mit der älter gewordenen Hausdame trank, durfte ich herumlaufen und mir alles ansehen. Ganz im Ernst: Ich war begeistert. Überall Bücher, Spielsachen und jede Menge Spielkameraden, ich wäre am liebsten gleich dageblieben. Dann traf ich auf Daniela, ein Kind, mit dem ich die ersten Jahre bis zum sechsten Lebensjahr viel gespielt hatte, in einem der Zimmer, erkannte sie sofort und wollte mich mit ihr unterhalten und spielen. Sie war aber nicht mehr die Alte, sagte zwar, es ginge ihr gut, aber ihre Augen waren emotionslos und trübe und sie wollte auch keinen weiteren Kontakt. Ich ging traurig aus ihrem Zimmer, immer noch überzeugt, wie großartig es sich dort doch leben lassen muss.

Mutter wuchs so all die Jahre im Heim auf, wehrte sich gegen die Hänseleien der anderen, weil sie nur mit einem Bein herumhüpfte. Das konnte sie aber ziemlich schnell und sicher. Dank ihres "Schlappmauls" - so nannte man Leute, die sich übelster Schimpfwörter bedienen und sie ohne jede Scham benutzen - und ihrer Aggressivität, hatten die Anderen meist Angst, zumindest aber Respekt vor ihr. Die Heimleitung hat ihr im Teenageralter eine Reise nach Kufstein in Tirol ermöglicht, wo ihr das erste Holzbein angefertigt wurde. Damit stand sie zwar fester auf zwei Beinen, gewöhnte sich aber zeitlebens nicht richtig daran. Der Oberschenkelstumpf entzündete sich immer wieder wegen der Reibung beim Gehen und es bildeten sich eitrige Furunkel. Auch litt sie ewig unter Phantomschmerzen ihres nicht vorhandenen Fußes und Schenkels. Dann war sie kaum zu ertragen. Sie war oft wütend und ungerecht zu den Menschen, die ihr nichts Böses wollten. Eigentlich ging sie zuerst immer tolerant, aufgeschlossen und fast kindlich naiv auf neue Menschen zu. Sie vertraute sofort Jedem und war erstmal wohlgesonnen. Aber wehe, ein falscher Blick Richtung Bein oder ein unbedachter Satz, den sie in den falschen Hals bekam und die Freundschaft ging in Feindschaft über. Die Prügel, die sie bisher bezogen hatte, gab sie an Ihresgleichen weiter. Sowas machten die Kinder unter sich aus, da wurde nichts an die Heimleitung verpetzt. Wer das doch machte, sollte es übelst bereuen. Der Spruch von Hoffmann von Fallersleben: „Der größte Lump im ganzen Land ist und bleibt der Denunziant“, war ihr in Fleisch und Blut übergegangen, so oft hat sie den noch herausgeschrien, wenn später die Nachbarn mal wieder die Polizei ins Haus gerufen hatten, weil sie ihre Wut lautstark und schlagkräftig an mir ausgelassen hat.

Schulisch war bei Edith wie zuvor nichts auszusetzen, sie bildete sich gerne weiter, ihre guten Zeugnisse hat sie voller Stolz aufgehoben. Als Kind musste ich sie mir immer wieder ansehen, um ihrem Beispiel zu folgen. Obwohl sie sehr sicher war, das ich viel zu blöde bin, um ihr das Wasser zu reichen. Sie konnte 1 A Kopfrechnen, schrieb in altdeutsch und deutsch fehlerfrei, war auch noch kreativ begabt. Sie zeichnete gut und gerne und legte mit Bravour eine Ausbildung zur Damenschneiderin ab. Das Schneidern war ihr wohl genetisch von ihrem Vater, dem Polsterer, in die Wiege gelegt worden.

Betty verbrachte später viele Jahre in Nervenheilanstalten, zweimal habe ich sie gesehen, einmal, als Edith sie dort mit mir besucht hat, obwohl sie ihre Mutter wegen der Abschiebung ins Heim abgrundtief gehasst hat. Ich war so etwa 6 Jahre alt und erinnere mich noch gut an die bedrückte Stimmung, es wurde so gut wie nichts gesprochen und wir sind auch schnell wieder gegangen. Beim zweiten Besuch war ich ca. 10, Betty lebte mittlerweile in einem Altenheim an der Lahn und der Ablauf war der gleiche. Ich merkte allerdings, dass diese Besuche meiner Mutter emotional einiges abforderten. Was beweist, dass sie sich eigentlich auch ein anderes Verhältnis zu ihrer Mutter gewünscht hat. Betty starb in diesem Heim in den neunziger Jahren, erst als ein Baum auf ihrem Grab zu hochgewachsen war, wandte sich die Heimleitung zur Übernahme der Abholzungskosten an Edith. So erfuhr sie vom Tod ihrer Mutter. Ich wurde beauftragt, einen Brief zurückzuschreiben und jeden Kontakt ein für alle Mal zu unterbinden. Das war traurig, aber auch verständlich, wenn man bedenkt, was Betty ihren Kindern angetan hatte. Meine Tante Evelyn habe ich auch nur Mitte der Siebziger einmal gesehen, als meine Mutter mit mir eine Zugfahrt nach Nordrhein-Westfalen für einen Besuch unternahm. Ich erinnere mich noch, dass alle Gebäude dunkelgrau bis schwarz waren in dem Wohngebiet. Das war damals wohl noch normal wegen des Kohleabbaus im Ruhrgebiet. Was war die Freude groß zwischen den Schwestern. Aber auch das sollte nur kurz anhalten. Die beiden Frauen haben mit viel Sekt ordentlich auf ihr Wiedersehen angestoßen, sich viel erzählt. Evelyn war verheiratet gewesen mit Werner Hauer, der wohl im Kohlebergbau gearbeitet hatte. Die Ehe blieb kinderlos und mittlerweile war sie Witwe. Besonders sind mir ihre Hausschuhe im Gedächtnis geblieben, die waren ganz zierlich, aber mit hohem Absatz und Federbüschel über dem Spann, in Rosa. Solche wollte ich später auch mal besitzen. Ich stalkte den ganzen Abend darin herum, während die beiden sich die Kante gaben. Eigentlich wollten wir ja ein paar Tage bleiben, aber in der Nacht kippte die Stimmung und Tante Evelyn und meine Mutter gerieten in fürchterlichen Streit, soweit, dass Evelyn mit einem Messer auf Edith losgehen wollte. Ich war starr vor Schreck und vielleicht war meine Anwesenheit der einzige Grund, warum es nicht zum Ärgsten kam. Meine Mutter sammelte ihre Sachen zusammen und wir verbrachten den Rest der Nacht am Bahnhof. Am Morgen ging es mit dem Zug zurück nach Hause. Evelyn starb 1999 einsam in ihrer Wohnung. Erst im Sommer 2000 machte ein mit ihrem Nachlass beauftragter Notar meine Mutter ausfindig und wollte das Erbe übergeben. Edith wollte es eigentlich nicht annehmen, außerdem gab es ja auch noch den Bruder Georg. Der Notar überzeugte uns dann doch noch, das Erbe anzunehmen, statt es dem Staat zu überlassen. Es war nicht viel, ca. 2500 DM und ein paar Schmuckstücke niedrigen Wertes. Ich, die ja mittlerweile alles Behördliche und Schriftliche für meine Eltern abwickelte, hatte aber ganz schön viel Arbeit damit.

Geburtsurkunden aus verschiedenen Städten anfordern, Briefe schreiben, den Onkel ausfindig machen, der ja auch das Erbe annehmen musste. Das Geld wurde zwischen Georg und Edith aufgeteilt, den Schmuck und die Armbanduhr bekam ich als Dankeschön. Edith überließ das Geld meinem Vater, sie wollte es nicht. Georg war so überrascht und hocherfreut, dass an ihn gedacht wurde, dass er zu meinem Vater zu Besuch kam und für mich fünf noch original eingepackte Schmuckuhren mitbrachte als Geschenk. Das war das einzige Mal, dass ich Onkel Georg sah. Er war allein geblieben und hatte keine Kinder. Was heute mit ihm ist, ob er wohl noch lebt, ich weiss es leider nicht. Er war wie meine Mutter Sozialhilfeempfänger und für ihn war der Geldbetrag ein kleines Vermögen. Und er sah aus wie seine Mutter, die roten Haare, die weiße Haut. Darum konnte er auch nicht seine Schwester Edith besuchen, die tatsächlich "rot" sah, wenn ein Mensch sie an ihre Mutter erinnerte.

Dass ich statt großer Vermögen immer Uhren von meinen Verwandten erhalten habe, finde ich erstaunlich. Haben sie mir vielleicht schon einige Lebensjahre geschenkt? Es verfolgt mich das Gefühl, dass ich eigentlich schon ein paarmal gestorben sein müsste. Gibt es andere Realitäten, in denen das der Fall ist? Ist alles nur eine Illusion? Ein Traum?

Friedrich und Edith

Meine Eltern haben ihre jungen Jahre mit allen Genüssen ausgelebt. Anfangs wurde zusammen mit Walter und Gertraud viel getrunken, geraucht, getanzt und gefeiert. Friedrich wohnte noch bei seiner Mutter und seinen Geschwistern in der Bergstraße. Von dort aus machten sie die Kneipen unsicher. Wenige Male haben sich Madita und Margitta angeschlossen, sie bemerkten aber bald, dass dies nicht ihre Welt ist und gingen lieber ihren eigenen Weg. Die Ausdrücke, die meine Mutter und Gertraud verwendeten, waren hart und ausgesprochen ordinär. Wenn man daran etwas gutheißen konnte, dann höchstens, dass beide