3,99 €
Die Welt der Hünen ist nicht für Menschen gemacht. Alofan Haragieris Bemühungen bei den Hünen haben einen hohen Preis gefordert. Die aus der Welt der Menschen zurückkehrende Gemeinschaft aus Hünen und Menschen ist dem Rattenfänger des Großen, dem Heiler, erlegen. Das Kloster der Kontinuität und der Übergang zur Menschenwelt wurde von dem Ungeheuer aus der Tiefe der Hünenwelt zerstört. Es sieht nicht gut aus. Zwar ist es dem Inquisitor Fraan-Linia gelungen ins Konglomerat der Menschen zu entkommen, aber die Begeisterung über den Eindringling aus der Außenwelt hält sich dort in Grenzen. Veränderungen stehen an. Der Gastgeber des Konglomerates wird vom Hünen Fraan aus seinem Dämmerschlaf geweckt, während in der Tiefe noch größere Gefahren erwachen. Nicht jedes Artefakt aus der Schlacht von Epsilon Eridani ist in den Tiefen vergangen ...
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 390
Die Webseite des Autors findet sich unter
www.hydorgol.de
In der Hydorgol-Reihe sind erschienen, bzw. in Vorbereitung:
1. Hydorgol – Der Alpha Centauri Aufstand
2. Hydorgol – Inquisition
3. Hydorgol – Die Hünenwelt – Exil
4. Hydorgol – Die Hünenwelt – Flucht
5. Hydorgol – Die Hünenwelt – Erwachen
6. Hydorgol – Die Zeitkriege Anthologie
Erwachen
Bei Fremden
Draußen
Keim
Katzenjammer
Umstände
Umstände
Sicherheit
Neue Herren
Auf der Dragon Kerr
Auf der Rutsche ins Innere
Der Übergang
Auf der anderen Seite
Hoher Besuch
Durchs Portal
Bei Professor Knüpferly
Die Unterwelt
Die Rückkehr des Zwerges
Privat
Eine Urlaubsbekanntschaft
Im Labor
Frettchen
Das Schweigen der Tiefe
Zurückbleiben
Aufschließen
Wieder in Amt und Würden
Der pure Luxus
Blanke Nerven
Reiner Wein
Aufbruch
Der Künstliche
Klemmende KI
Walhan
Der erste Zwischenstopp
Spaziergang
An einem anderen Tag
Warten auf Antwort
Des Pudels Kern
Gelegenheit macht Diebe
Ein paar einfache Fragen
Aufzug in die Tiefe
Wegezoll
Zu spät
Heilige Hallen
Auf der Ebene
Pyramide des Künstlichen
Neue Hardware
Wecken
Muskelkraft
Zurück auf der Dragon Kerr
Im Verkohlten
Auftanken
Kontakt
Übergang
Eine neue Aufgabe
Das Licht im Dunkel
Kalte Luft umströmte ihn und vertrieb den Gestank, den er selbst absonderte. Er hatte geschlafen, lange geschlafen, womöglich viel zu lange geschlafen. Seine Schlafsenke musste kollabiert sein und er trieb nun ungeschützt im Freien. Reflexartig versuchte er, eine neue Senke zu errichten, nur um dann festzustellen, dass er immer noch in seiner Senke weilte.
Eines hatte sich aber geändert, er war nicht mehr allein! Dann fiel ihm ein, dass er nie allein in dieser Senke gewesen war, die Senke musste vor Leben wimmeln. Kleinem Leben. Der andere aber war groß. Ausgezehrt, aber groß.
„Hast du meine Kleinen gefressen, Fremder? Dann wird es dir ans Sein gehen.“
„Ruhig. Es wimmelt hier von Kleinem. Weißt du, wer du bist?“
„Ich bin ich. Aber wer bist du? Was machst du in meiner Domäne? Wer hat dich eingelassen?“
„Der Instinktnavigator.“
„Tama?“
„Tama Sündström.“
„Warum?“
Der Andere ließ sich viel Zeit, seine Frage zu beantworten.
„Instinkt, denke ich. Warum wir hier sind, hat aber andere, entscheidendere Gründe. Kannst du dich an den Anfang erinnern? Den Anfang dieser Senke?“
„Der Anfang? Das ist lange her. Äonen. Drei, vier, nein fünf Zeitenwenden. Es gab einen Moment, den Moment. Die Große Chance, die Prüfung. Ja, die Prüfung. Dort hat es angefangen.“
„Erinnerst du dich? Was ist geschehen?“
Der Gefragte schwieg, ging in sich. Erlebte die Anfänge noch einmal vor seinem inneren Auge neu. Still und für sich. Es waren seine Erinnerungen, sein größter Moment, sein Triumph. Es war der Moment, der den Rest seines Lebens geprägt hatte. Dann ging ihm auf, dass er wohl noch nicht am Ende seines Lebens angekommen war. Er hatte womöglich noch einige Äonen vor sich, in dieser neuen frisch riechenden Welt. Und dieser Andere, das war nicht Tama. Tama kannte er.
„Du bist kein kleines Leben. Tama mag dich eingelassen haben, aber du selbst bist nicht Tama. Wer bist du nun und warum bist du in meiner Domäne, Fremder?“
„Fragen. Ich habe Fragen. Meinen Namen gebe ich dir, wenn du mir deinen gibst. Ist das ein Angebot?“
„Ich könnte dich Frage nennen, dann bräuchte ich dir meinen Namen nicht zu nennen.“
„Seinen Namen zu nennen wäre höflich. Mein Name ist zum Beispiel Fraan. Meines Zeichens Füllvater, Anführer der Horde der Erneuerung, Mitglied der Delegation der Kläger, Angeklagter, Verurteilter, Gesühnter und dann später selbst Inquisitor und nun nicht mehr Anführer der Horde der Erneuerung. Wie ist dein Name?“
Der letzte Satz war mit mehr Schärfe gesprochen und verlangte nach einer Antwort.
„Hydor der Zweite, Gastgeber. Gefangener. Fänger.“
„Gut, Hydor der Zweite. Die Prüfung. Was ist dort geschehen?“
Hydor spürte keinen Zwang mehr, redete aber weiter. Das Schweigen war gebrochen und er hatte sehr lange nicht mit einem seiner eigenen Art kommuniziert.
„Es war der Augenblick der großen Chance. Alles, was vorher schwierig aussieht, schwierig ist, rückt in Griffweite, drängt sich förmlich auf. Die Gilde der Golembeschwörer vollführt jedes Große Jahr ihr sinnlos erscheinendes Ritual. Sinnlos, seitdem Hydor der Erste den einen Augenblick für immer gefangen hat. Kessel werden angeheizt. Bereitgelegte Zutaten aus seit Äonen zerfallenen Rezepten in die Kessel geworfen und die Narren, die meinen, mit ihnen würde das Zeitalter der Golembeschwörer wiederauferstehen, stehen an den Kesseln. Seit einem Gros von Gros Großer Jahre wird die Asche dieser fernen Zeit bewahrt. Auch ich war einer dieser Narren. Gebannt schaue ich in das brodelnde Treiben meines Kessels und lasse Sternenstaub und Zeitenglitzer hineinrieseln. Es formen sich Muster und fast kann man sie greifen. Einen Geist aus einer anderen Welt in Ton bannen und aus dem Kessel ziehen. Fast, wie seit jenem Großen Jahr.
Dann ändert sich etwas. Nicht auf unserer Welt, in einer anderen Welt. Ein kleiner Funken wird geschlagen. Mit solcher Wucht und Geschwindigkeit, dass er nicht verlöscht, sondern weiterfliegt. Er durchquert den Raum, er durchquert die Zeit, er durchquert Welten. Er schlägt viele Funken, er entfacht Feuer. Feuer brennt, Feuer, das das Fast verbrennt. Es brennt Wege zwischen den Welten.“
„Der Weltenbrand?“
„Nein. Nicht in dem Moment der Möglichkeit, nicht bei uns. Das Feuer kommt von der anderen Seite. Es macht Dinge sichtbar. Fremde Dinge. Schöne Dinge. Dinge, die funkeln. Glänzen. Warmes und kaltes Glitzern. Aber all dies verblasst gegen den einen springenden Kristall. Ich kann andere Hünen spüren. Hünen der Kontinuität. Wächtermönche, die an diesem Glitzern beteiligt sind. Mönche, deren Geist und Körper in anderen Welten weilen. Mönche, die zusammen mit Wesen anderer Art gegen Wesen der gleichen anderen Art kämpfen. Dann hat der Funke die Tiefe der anderen Welt erreicht. Mit einem Feuerstieben brennt diese Tiefe wie eine ganze Ebene voller lichten trockenen Grases in einer gewaltigen Flamme auf. Dieses Feuer bahnt sich seinen Weg über die Verbindung zwischen der anderen Welt und unserer. Etwas verschiebt sich, der Tunnel, der Durchbruch flackert. Die Wächter des Tunnels versuchen, den Weg in die andere Welt offenzuhalten. Risse bilden sich und neue Wege entstehen. Möglichkeiten, die es lange nicht mehr gegeben hat. Das Unmögliche wird wahr. Ehe ich begreife, was ich tue, halte ich das wunderschöne Glitzern, den springenden Kristall in meinen Händen. Ich habe ihn gefangen. Banne ich das Ding in Ton, dann habe ich meinen Golem. Aber das Ding ist zu schön, um es in einem Klumpen Matsch zu verbergen. Es ist meins. Ich nehme es in meine Senke, als ich sehe, wie gierige Blicke von anderen Kesseln mich treffen.
‚Fangt eure eigenen Schätze‘, rufe ich ihnen zu.
Und das tun sie dann. Vieles verbrennt, aber einiges wird aus den Kesseln gezogen. Dann schwindet der Augenblick und das Feuer verlischt. Überall. Bis auf den einen fernen Punkt auf jenen Hügeln, von denen wir wissen, dass dort das gewaltige Kloster der Kontinuität alles überwuchert hat. Dort brennt ein Feuerstrahl in unsere Welt. Die Hitze ist gewaltig, ich kann sie selbst in meiner Senke spüren. Ich sehe, wie die Narren Feuer fangen und ihnen ihre Schätze entgleiten. Ich versuche zu retten, was zu retten ist. Viel wird beschädigt und noch mehr ist endgültig verloren. Dann reißt der Feuersturm mich mit sich. Mit meinen Schätzen versenke ich mich so tief, wie ich kann, bis nur noch ferne Hitze mich berührt. In der Abgeschlossenheit meiner Zuflucht wende ich mich den Wundern der anderen Welt zu. Es ist nicht ein Geist. Es sind viele. Klein, aber stark.
Schwer zu bändigen. Freiheit ist ihr stärkster Drang. Ich zeige ihnen, was sie außerhalb meines Schutzes erwartet. Das Feuer bändigt ihren Drang nach Freiheit. Sie sind mein. Meine kleinen Wunder.
Meine, nicht deine.“
„Was ist, wenn sie nur sich selbst gehören und nicht dir?“
„Dann wären sie nicht mehr mein und ich bräuchte sie nicht mehr zu behüten.“
„Selbst, wenn sie dann vergehen würden?“
„Wenn sie mich nicht mehr wollen? Was würdest du tun?“
„Reden wir darüber, was du tun solltest.“
Sie hatte schon schlechter gewohnt. Der Raum war geschmackvoll eingerichtet. Gemütliche Ledersofas, ein niedriger Beistelltisch aus wertvollem Tropenholz, eine große Vitrine voller alt und mitgenommen aussehender Whiskyflaschen. Weiter im Raum ein gewaltiger Schreibtisch, der nicht nur nach dem Zentrum der Macht aussah, sondern es auch war. Eine Tür, die in eine kleine Suite führte. Ein gewaltiges Panoramafenster mit Blick auf den großen Fischtank, der mal das Schiffsobservatorium gewesen war. Auf dem Boden ein flauschiger Teppich, an den Wänden und der Decke Holz und Seidentapeten.
Es war ein Palast, einer Kaiserin von Lotus angemessen. Linia von Querlitzenfall musste schmunzelten. Es war ihr Schiff. Die Dragon Kerr war von Miles Ibrahim von Querlitzenfall für sie in Auftrag gegeben worden, als Geschenk für die Machtübergabe vom Vater auf die Tochter. Leider hatte es das Schiff als Jungfernfahrt in die Schlacht von Epsilon Eridani verschlagen. Linia hatte das Schiff nur als Holomodell zu sehen bekommen.
Der fette Polanz war nicht begeistert gewesen, als sie ihm die Schiffsplakette hinter einem Wandpanel gezeigt hatte. Womöglich hatte es auch etwas damit zu tun gehabt, dass sie ihren Raum wieder für sich selbst beansprucht hatte und der Organisator nun in dem eigentlich für sie zugedachten Gästequartier schlafen musste. Ohne seinen Whisky und seine Aussicht auf das Aquarium.
Nicht, dass das Gästequartier schlecht gewesen wäre. Kein überbordender Luxus, aber für eine Schiffskabine geräumig und zudem gemütlich und geschmackvoll eingerichtet.
Die Autorität der Inquisition hatte sie nicht verlassen, als es zu diesem kleinen Machtkampf gekommen war. Der schlanke Polanz aus dem Inneren hatte dem Treiben zugesehen und sein Amüsement nur mühsam verbergen können und seiner anderen Instanz sein eigenes Quartier angeboten.
Linia bediente sich aus den Schätzen des Organisators und setzte sich, wieder im Bademantel, in den Sessel mit der besten Aussicht im Observatorium. Der kleine Machtkampf war nicht die einzige Schlacht gewesen, die sie seit ihrer heutigen Ankunft im Konglomerat hatte ausfechten müssen.
Sie war wieder die Neue, die Außenseiterin. Die, die sich durchsetzt, ob verdient oder nicht. Die mit der Macht im Rücken.
„War ich zu hart?“, richtete Linia an das Wort an Ida, die mit einem Glas Wasser in der Hand vor der Glasscheibe stand.
„Polanz kann einem auf die Nerven gehen. Du hast dich verändert und doch bist du dir auf gute Weise treu geblieben. Lieber ein direktes Wort als viele sanfte Umwege.“
„Dafür hab ich dich, oder hatte ich dich. Wir waren immer ein gutes Team. Obwohl das lange her ist und ich dich drei Amtszeiten schmerzlich vermisst habe.“
„Anscheinend bist du gut alleine zurechtgekommen.“
„Scheint so, es gab viel zu tun und wenig Zeit, um Trübsal zu blasen. Und du?“
„Der Aufbau des Konglomerates. Die Inneren Lande. Die Pflegefraktion. Alofan.“
„Alofan?“ Linia verschluckte sich und prustete den teuren, unersetzlichen Fusel in ihrem Glas auf den Teppich.
„Was ist mit Alofan?“
„Vier Große Jahre sind lang. Was, glaubst du, ist passiert? Was ist bei dir passiert?“
„Ich bin ab und zu mal ausgebüxt. Inkognito.“
„Ohne mich? Wer hat auf dich aufgepasst?“ Idas Geschichtsausdruck schwankte zwischen Humor, echter Sorge und verletztem Stolz. Linia beschloss, ehrlich zu antworten.
„Erst der Professor, später hatte ich meine Mädels für den Job. Was ist mit Olywn von Querlitzenfall?“
„Vier große Hünenjahre sind eine lange Zeit und Langeweile bekommen weder mir noch ihm gut. Er leidet. Stürzt sich in Projekte, die ihm weder Frieden noch Befriedigung geben.“
„Alofan?“
„Ist auf der Jagd. Spielt um den höchsten Einsatz. Ich glaube, er hat seinen Spaß.“
„Warum ist er dann nicht hier und holt seinen Gewinn ab? Bin ich in den Jahren so fett geworden? Ich war regelmäßig im Nano-Assembler!“
Linia breitete demonstrativ die Arme weit aus, Ida lachte auf und wurde dann wieder ernst.
„Vielleicht hat er ein schlechtes Gewissen? Oder er ist noch nicht am Ziel seiner Jagd angekommen. Frag ihn.“
„Sehr witzig. Wenn er denn hier wäre. Seine Instanz“, Linia zögerte bei dem Wort, „ist tot?“
„Herr Imbrifer? Ja, wahrscheinlich. Er wurde vom Hünen verschlungen, der sich jetzt der Heiler nennt. Du bist ihm schon begegnet.“
„Ja, das war wirklich gruselig. Erst das gewaltige Loch, wo vor kurzem noch das neue Kloster der Kontinuität gestanden hatte. Der Übergang nach Lotus ist ein tröpfelnder Wasserfall. Und dann dieser Rattenfänger, der einfach alles und jeden einsammelt und unter seinen Geist zwingt.“
„Du bist ihm entkommen.“ Idas Aussage stand wie ein Vorwurf im Raum.
„Aus dem Netz geschlüpft. Auf dem Weg getrödelt und zurückgelassen worden. Vergessen. Das trifft es wohl.“ Linia fröstelte es, als sie an das Gefühl des Verlorenseins dachte, das sie bei ihrer schleichenden Flucht von Heiler befallen hatte. Dann raffte sie sich auf und schlug einen geschäftsmäßigeren Ton an.
„Und ihr habt wirklich in dieser Blase gelebt, bevor es das Projekt Fisch gab? Keine Kontakte nach draußen? Keine Versuche, herauszufinden, was dort ist?“
„Verhörst du mich nochmal? Ich dachte, die Befragungen wären für heute beendet, Cousine.“ Ida klang enttäuscht.
„Nimm dir auch was von dem Zeugs, das ist gut.“ Linia deutete auf Polanz‘ Spirituosensammlung.
„Oder hast du Angst, er lässt seinen Unmut an dir aus? Oder du redest Unsinn? Entspann dich. Ich denke nur laut nach.“
Ida kippte ihr Wasser herunter und goss sich demonstrativ viel von der teuren bernsteinfarbenen Flüssigkeit ins Glas und nahm dann einen großen Schluck. Verschluckte sich und musste husten.
„Verdammt, das ist ja Fassstärke. Das wird jetzt wohl ein langer und lustiger Abend.“
„Es gibt Schlimmeres, oder? Du wirkst so, als ob du Entspannung gebrauchen könntest. Viel Arbeit?“
„Ich bin jetzt Teil der Orga. Regelmäßige Gesundheitschecks, Schichtdienst am Projekt Fisch. Wenig Freunde und viel Schlaf.“
„Klingt langweilig und deprimierend.“
„Erwachsen. Das ist das Konglomerat, nicht Nova Dehli. Reales Leben in den äußeren Landen. Ich vermisse Alofan, Rena und manchmal sogar den Zwerg.“
„Die, die Fisch gefressen hat?“
„Wir sind alle im Projekt Fisch aufgegangen.“
„Aber manche sind zurückgekehrt, andere nicht. Warum?“
„Fisch hat uns wieder abgestoßen, alle bis auf Alofan. Hamji und ich arbeiten wieder für das Projekt. Rena ist in den inneren Landen geblieben und Alofan ...“, Ida machte eine Pause und rang sichtlich nach Worten, „ist im Fisch geblieben. Ich glaube nicht, dass er wirklich tot ist. Das passt nicht zum ihm. Ich glaube, er ist, auf irgendeine Weise, noch da draußen und spielt sein Spiel weiter.“
Stimmen. Viele Stimmen. Unsagbar viele Stimmen. Imbrifers Geist drohte zu zerbrechen. Was hatte er getan?
Warum hatte er sich von seinem Stolz dazu treiben lassen von einer einzeln, absolut unwichtigen Stimme zu einer Stimme zu werden, die Gewicht hatte? Er hatte damit nichts gewonnen außer Gewicht und sehr viel mehr verloren. Die Stadthorde, die Stadt, das Kloster, den Weg nach Hause, Linia. Alles gefressen oder in der Horde des Heilers aufgegangen.
Imbrifer musste, dass er auf dem richtigen Weg war. Er war mit seiner Umwelt verschmolzen. Er hatte bewiesen, dass er dazugehörte, ein Teil der Gemeinschaft war, nützlich war. Nicht wegzudenken, aber auch nicht zu auffällig. Dennoch war der Preis hoch gewesen, vielleicht zu hoch.
Es war Imbrifers Wissen gewesen, das den Heiler vor Inquisitor Fraan-Linia und Pleumons Horde zur Klosterstadt geführt hatte. Der Heiler hatte sich nicht mit einer Belagerung aufgehalten. Aus der Tiefe war der Große selbst aufgetaucht.
Gewaltig war nicht das richtige Wort für den Großen. Er hatte mit weit geöffnetem Maul ein Loch in die Welt gestanzt. Vorher war da noch der Berg gewesen, an dessen Fuß sich Klosterstadt mit seinen unzähligen Feuern und der Stadtbarriere auftürmte. Auf seiner Spitze thronte, weit ins Land sichtbar, das neue Kloster der Kontinuität und leuchtete im Zwielicht. Plötzlich durchbrachen Fleisch und Zähne den Boden und eine gewaltige Mauer aus Hünenhaut türmte sich bis in den Himmel. Die Aufwärtsbewegung verlangsamte sich. Für einen Moment stand dieses bizarre Bild einer gewaltigen Mauer aus Fleisch in der Landschaft. Hoch, gewaltig, massiv. Immer schon dagewesen. Wie hatte Imbrifer vermuten können, dass kurz vorher noch an dieser Stelle der Klosterberg mit Kloster und Klosterstadt gestanden hatte?
Imbrifers Geist hatte sich immer noch geweigert, dieses Bild als real anzusehen - trotz des Jubelchors des Stimmenkollektivs mit dem Namen Heiler. Schließlich, wie im Zeitraffer war es, als ob die Zeit selbst an dem monströsen, die Natur und ihre Gesetze verhöhnenden Bauwerk nagte. Ganz langsam, erst unmerklich, dann immer schneller bewegte sich die Mauer wieder in den Boden. Das Bauwerk verjüngte sich immer mehr und bald tat sich eine Lücke zwischen Boden und Turm auf. Der Graben wurde breiter, fraß sich mit schneller werdender Geschwindigkeit auf den Turm zu, der dann so plötzlich verschwunden war, wie die Mauer aufgetaucht war. Zurück blieb nur eines: ein großes Loch in der Landschaft. Ein Loch, in dem man in den freien Himmel unter dem Land schauen konnte und Staunen, Ehrfurcht, Verehrung vor dem Großen selbst empfand.
Imbrifer hatte das Wunder eines großen Hünen aus der Tiefe geschaut. Ein Hüne, der so alt und schwer geworden war, dass er sich nicht mehr in den Höhen halten konnte. Imbrifer kam der Gott Kaanmu aus Pleumons Geschichte in den Sinn. So unwirklich das Bild war, jetzt ergab es einem Sinn. Imbrifer glaubte nun.
Das warme Gefühl breitete sich aus. Imbrifer wurde wahrhaft Teil der Gemeinschaft. Wissen floss aus ihm und Wissen und Zustimmung floss zurück. Imbrifer war Teil des Kollektivbewusstseins.
Niemand aber bemerkte den hellgrauen Schatten in seinem Geist. Hier lag, abgekapselt, der Keim des Widerstands. Er würde in den Momenten der Einsamkeit keimen, aufblühen und so schnell wieder verwelken, wie er gekommen war. Schnell, unauffällig und giftig wie der Secundus-Al-Cartaz-Nebelenzian. Eine schöne Blüte. Imbrifer ließ das Bild schnell im allgemeinen Wohlgefühl verblassen. Schwelgen in einem schönen Bild musste erlaubt sein. Imbrifer lauschte. Ja, es war gestattet. Bilder von schöner Sturmweltflora und Fauna kamen aus dem Stimmenäther zurück.
Alles war schön und in Ordnung. Die Dinge konnten ihren Lauf nehmen. Dann, nicht zu aufdringlich, ließ Imbrifer in sich das Gefühl der Neugierde aufsteigen. Neugierde auf den Gott, den er gesehen hatte. Neugierde auf die Tiefe. Das Gefühl versickerte, wie Wasser im feuchten Boden. Schnell und ohne groß aufzufallen.
Die Saat war gesät und bewässert. Regelmäßig feucht gehalten, würde sie irgendwann aufgehen.
Imbrifer der Regenmacher folgte seiner Natur, wem würde es auffallen oder ihm gar einen Vorwurf daraus machen wollen? Die Saat würde aufgehen.
Imbrifer nahm die Welt, außerhalb des Heilers, nur aus zweiter Hand wahr. Hatte Nunu ihm die Welt der Hünen als für einen Menschen verständliches Bild begreifbar gemacht, so wurde Imbrifer die Welt der Hünen mit dem Schwinden des Nunukonstruktes in seinem Geist fremd. Hünen trugen keine Kleidung, sie benötigten sie nicht. Hünen nutzten keine Werkzeuge, sie benötigten sie nicht. Gedanken formten die Dinge, die sie benötigten. Der Boden war kein Boden, sondern die Grenzschicht zwischen zwei Gasschichten. Berge und Täler folgten der Strömung der Wirbel, die Hoch und Tiefdruckgebiete erzeugten. Nebel und Wolken aus gelösten Ammoniak, Schwefelwasserstoff und sogar Wasser bildeten Barrieren. Gasplankton war ihm als Gras erschienen. Lange Kelpfäden bildeten undurchdringliche Wälder. Das Getier, das in dieser Gaswelt trieb, hatte er in ähnlicher Form in einem Tropfen Wasser unter einem Mikroskop gesehen. Amöben, Wasserflöhe, Pantoffeltierchen. Aber auch Quallen und kleine Korallenlarven.
Strudel bildeten Riffe und auf diesen Riffen tummelte sich das Leben. Imbrifer verstand nun, dass die Hünen nur das Larvenstadium der Hünen waren, der Große hatte gezeigt, wie ein erwachsenes Exemplar wirklich aussah.
So schnell, wie Imbrifers Idee in der Tiefe aufgekeimt war, so schnell verdorrte diese Idee wieder. In den Höhen waren sie sicher, in der Tiefe waren sie nur eine unbedeutende Zwischenmahlzeit. Was trieb nun den Großen dazu, den Heiler auszusenden und eine große Schar von anderen, kleineren Hünen um sich zu scharen?
Imbrifer verstand nun die Gedanken, die rieten, in der Höhe zu bleiben. Aber der Wunsch nach Tiefe hatte schon vor Imbrifers unbedachtem Impuls bestanden.
So schnell, wie diese Sicht auf die Welt gekommen war, so schnell verschwand sie auch wieder. Imbrifer begriff, dass diese Welle von Gedanken aus der Tiefe gekommen war. Der Große hatte dem Heiler neue Anweisungen gegeben, oder besser gesagt, alte erneuert: Vermehre deine Horde. Heile Zwietracht. Heile Konflikt. Bewegt euch wie ein Schwarm. Wachst.
Imbrifer kam das nicht ganz geheuer vor, aber der Befehl des Großen sickerte aus dem Heiler in die Umgebung und beraubte die Hünen in der näheren und weiteren Umgebung ihres klaren Verstandes.
Am hellgrauen Schatten aber glitt er ab, ohne Spuren zu hinterlassen. Imbrifer war noch Herr seiner Gedanken. Der Heiler hatte sich wieder in Bewegung gesetzt. Mit einiger Verzögerung drangen Gesprächsfetzen zu ihm durch. Linia, der Heiler redete mit Linia! Die Macht des Großen verschluckte auch ihren freien Willen und den aller anderen. Selbst der Guardian hatte dem Sturm nicht viel entgegenzusetzen. Imbrifers Schatten spürte aber kleine Keime des Widerstandes, ganz ähnlich dem seinen. Der Guardian würde warten und auf eine günstige Gelegenheit hoffen. Damit war er ein wertvoller Verbündeter. Bei Linia glomm noch etwas von ihrem Feuer, das sie so attraktiv machte und gleichzeitig offenen Widerstand ohne echte Chance bedeutete. Geduld war nicht Linias größte Stärke. Imbrifer sandte sein helles Grau zu Linia. Ihr Widerstand gegen den Heiler schwächte sich ab. Die gewaltsame Konfrontation blieb aus. Linia folgte der Herde. Erst schwamm sie mit, dann wurde sie langsamer. Das helle Grau und ihr inneres Feuer schwächten den Einfluss des Großen. Mit jedem Meter Distanz zum Heiler gewann Linia mehr von ihrem eigenen Willen zurück. Bald war Linia aus dem Sichtfeld des Heilers verschwunden. Imbrifer hütete sich, nachzufassen, er wollte keine unnötige Aufmerksamkeit auf Linia und ihren Gastgeber Fraan lenken.
Fraan-Linia war entkommen. Imbrifers erster Sieg über den Heiler und den Großen. Weitere würden folgen.
Ein nervender Summton riss Linia aus ihrem Schlaf. Dröhnend laut wie Hammerschläge malträtierte das Geräusch ihren Kopf, während ihre Gedanken in Nebel und Watte getaucht um die Frage kreisten, wo sie sich gerade aufhielt. Eine andere Stimme kam ihr bei der Beantwortung ihrer Frage zuvor.
„Verdammt, Linia, haben wir Polanz‘ Whisky ausgesoffen?“
„Ida? Bist du es wirklich? Wo bin ich?“
„In Polanz‘ Reich. Auf seiner Kommandobrücke. An Bord der Dragon Kerr.“
„Dragon Kerr? Das ist verdammt nochmal mein Schiff! Das habe ich von Papa geschenkt bekommen. Mir ist nicht gut.“
Linia rappelte sich auf. Sie hatten es wohl nicht von der Sitzgruppe heruntergeschafft. Linia beschloss langsam und vorsichtig, den Weg ins Badezimmer anzutreten. Schwankend und unsicher ging es immerhin auf zwei Beinen vorwärts.
„Soll ich dir helfen?“
„Nee, lass mal, geht schon. Erkundige du dich, was das Geräusch bedeutet. Bin kurz indisponiert.“
Ida klang nicht sonderlich begeistert.
„Verdammt, Linia, kaum bist du wieder hier, da kommandierst du mich auch schon herum. Das ist dein Schiff, kläre das selbst, sobald du wieder nüchtern bist. Und wenn du eine Sauerei im Bad machst, wischst du das selbst wieder auf, mir ist auch nicht gut!“
Den letzten Satz bekam Linia nur halb mit. Die Tür des Badezimmers hatte sich hinter ihr geschlossen. Der Spiegel über dem Waschbecken zeigte kein schmeichelhaftes Bild. Ein weiblicher Zombie mit rot unterlaufenen Augen blickte Linia von der anderen Seite des Spiegels an. Eine Katzenwäsche ließe das Bild etwas gnädiger werden. Große Schlucke Wasser aus dem Hahn später fühlte sich Linia dann etwas besser. Solange, bis die Blase sich in Erinnerung rief. Den Ort, den sogar eine Kaiserin zu Fuß betrat, aufsuchend, musste Linia lachen.
Kaiserin, das war zwei Große Chancen her. Mit dem Mist musste sich jetzt Jolan herumplagen. Der Fall vom Thron war tief gewesen. Angeklagt der willentlichen Vernichtung einer ganzen Welt und dem Großteil aller ihrer Bewohner, hatte sie die Flucht nach vorne angetreten und abgedankt. Ein ganzes Großes Jahr hatte Linia im gelben Büßergewand verbringen müssen. Alles, was sie an Kleidung angezogen hatte, war schlagartig gelb geworden und auch geblieben. Linia-Gelb hatte sich sogar eine Zeitlang einiger Beliebtheit erfreut. Umgefärbte Kleidungsstücke hatten für einigen Reichtum gesorgt. Nicht dass sie das Geld gebraucht hätte, Jolan hatte ihr eine großzügige Apanage samt Gefolge und kostenlosen Transport gewährt. Aber die Wohltaten der gelben Frau hatten ihr Ansehen als aufopfernde Mutter von Lotus weiterhin hochgehalten. Ein oder zwei Viktors des Professors hatten dann unauffällig dafür gesorgt, dass nicht wohlgesonnene Zeitgenossen ihr von der Wäsche blieben. Nach Ablauf ihres großen Bußjahres hatte Linia sich dann den Wächtern angeschlossen und war schließlich zusammen mit Fraan zum Inquisitor bestimmt worden. Und nun saß sie auf ihrem lange verschollenen Porzellanthron.
Nur das Regieren würde von hier aus schwerfallen.
Eine Dusche später und in einen frischen Schiffsoverall gekleidet, war Linia dann bereit, sich dem Konglomerat zustellen.
Zurück im Empfangszimmer ihrer Suite erwartete Linia die geballte Prominenz der Schiffsführung. Der dicke Polanz erdolchte sie mit Blicken, während er auf die leer getrunkenen Flaschen auf dem Tisch starrte.
Die anderen Gesichter sahen bis auf den grinsenden Tama eher betreten bis fragend aus. Ida fühlte sich erkennbar unwohl, trug ihren angeschlagenen Zustand aber mit Fassung.
Linia beschloss, ein Zeichen zu setzen, und trat die Flucht nach vorne an.
„Aqua vitae. In vino veritas. Als die lautet: Nihil sub sole perpetuum. Nichts unter der Sonne hat Bestand. Besonders wenn die Sonne ein sterbender Hüne ist. Die Tage des Konstruktes namens Konglomerat sind gezählt. In dieses Schiff und diese Umgebung wurden viel Zeit und Ressourcen gesteckt. Sieht es überall im Konglomerat genau so aus? Alte Reste, gefundenes und liebevoll repariertes Strandgut?
Soll das ewig so weitergehen? Wie lange wird es dauern, bis das Konglomerat stirbt? Polanz? Tama? Olywn?“
Streng blickte sie die drei, die sie ins Konglomerat geholt hatten, an. Dann richtete sie ihren Blick auf den dicken Polanz.
„Polanz?“
„Das sechste Jahr des Übergangs ist angebrochen. Jeder gibt sein Bestes für das Konglomerat. Und jeder richtet es sich im einzigen Leben, das er hat, so gut ein, wie es geht. Projekt Fisch hat uns neuen Wind gebracht, auch wenn es ein durstiger Wind zu sein scheint.“
„Durstig wie die Reaktoren, die einen sehr durstigen Fisch mit seltenem schweren Wasser versorgen.“
„Wir treiben in einer Atmosphäre, die zum größten Teil aus Wasserstoff besteht. Die Versorgung ist sichergestellt.“
„Ich habe die Zahlen gesehen. Es war knapp. Die Reserven sehen so leer aus wie die Flaschen auf dem Tisch. In nächster Zeit gibt es keine Energie für teure Schlachten im Draußen. Geschweige denn jemanden, der sie schlagen wird.“
Im Raum war es schlagartig still. Selbst Tamas fröhlicher Gesichtsausdruck war verschwunden. Linia hatte eine weitere Schlacht gewonnen.
„Man muss nicht jede Schlacht schlagen, nur die, die es zu gewinnen lohnt. Es gibt keine Welt, in der alle Ressourcen auf Dauer unerschöpflich sind. Weder Energie, Materialien, Menschen, noch Motivation. Hoffnung ist alles, was zählt.“
Die leise Stimme aus dem Hintergrund gehörte Olywn.
„Was bietest du uns an Hoffnung an, Linia von Querlitzenfall? So sehr ich das jetzt auch bereuen werde: Der Rat sollte zum weiteren Schicksal des Konglomerates gehört werden. Das Konglomerat ist das Produkt der gemeinsamen Anstrengung aller Gestrandeten. Treibgut gehört demjenigen, der es findet und birgt.“
„Jede Seite hat gesucht und gefunden. Es gibt einen Weg zwischen den Welten. Hydorgol hat ihn gefunden, ich war mit dabei. Der neue Orden der Kontinuität kann ihn nach Bedarf öffnen und schließen.“
„Wenn es die Umstände erlauben.“
„Wenn es die Umstände erlauben.“
Polanz war nicht glücklich. Sie hatten ihm sein Schiff genommen, seine Heimat. Widerstand war sinnlos gewesen, wen kümmerten seine Mühen, seine Arbeit, sein Leben? Es gab nichts mehr, was ihn noch hielt. Er war gedemütigt und entrechtet.
Erst die geballte Prominenz aus dem Inneren, dann diese versoffene Schnepfe, die seine rarsten Schätze in sich hineingeschüttet und ihn dann noch verspottet hatte.
Von seiner Absteige aus machte er sich auf den Weg in die Maschinensektion des Schiffes. Bald verließ er die wohnlichen Gegenden und näherte sich den Versorgungs- und Recyclingdecks. Es gab unzählige Möglichkeiten, das Schiff unbewohnbar zu machen. Sabotage der Lebenserhaltung, der Nahrung, des Trinkwassers. Schließlich blieb sein Blick auf dem großen Hauptenergiemeiler hängen. Er war sehr lange Zeit der Herr dieses Schiffes gewesen und seine Kommandocodes und die seiner Vorgänger hatten noch ihre Gültigkeit. Ein kleines Programm und der Meiler würde unweigerlich auf Überlast gehen. Trotz aller Sicherungsmaßnahmen. Die von Querlitzenfalls waren vorsichtige Leute, aber hatten sich diesen letzten Ausweg gelassen, falls das Schiff in die Hand des Feindes fallen sollte.
Vorbei an Abwasseraufbereitungstanks und den großen UV- und Ozon-Sterilisatoren für Trink- und Brauchwasser näherte sich Polanz dem Zutrittsbereich zum Meiler. Seine Schritte hallten von den Wänden wider. Hier war es sehr technisch, aber immer noch blitzblank und gepflegt. Seine Kontakte zu den Ausschlachtern hatten sich bezahlt gemacht. Der alte Nikwy hatte fähige Jungs aufgetan, die den Laden in Schuss hielten. Die Dragon Kerr war vollgetankt und abflugbereit.
„Düstere Blick auf Reaktor? Ist alles gut in Reaktor! Rumpelt ab und zu. Teile nicht neu, brauchen Liebe, damit alles funktioniert. Wir gute Leute, alles funktionieren.“
Verdammt! Polanz hatte nicht gehört, wie sich Awndo genähert hatte. Es würde keinen ungestörten Augenblick mit dem Hauptreaktor geben. Die Jungs aus den Eingeweiden des Konglomerates waren vorsichtig und hatten einen sechsten und siebten Sinn für Gefahr.
„Ja, ihr habt ein Wunder vollbracht. Die Dragon Kerr ist eines der besten Schiffe des Konglomerates. Sehr gute Arbeit, Awndo.“
„Ist bestes Schiff! Du und wir haben zu bestem Schiff gemacht. Warum düstere Gedanken? Du stolz auf dein Schiff!“
„Es ist nicht mehr mein Schiff. Ich muss gehen. In meiner Kabine sind zu viele Herren und diese Frau.“
„Ah, Frau. Ich kenne. Kommt mit Brechstange und schlagen alle kaputt! Wir umgezogen in Keller. Du auch umziehen in Keller? Kein Raum für Mann wie dich. Du dich nicht verkriechen. Du musst gehen, suchen neues Schiff. Nehmen Anzug Drei aus Reaktor. Nehmen! Du wirst finden neues Heim nur für dich. Wenn gefunden, du rufen, wir kommen und helfen! Guter Chef, zahlen gut, gute Arbeit.“
„Die Bezahlung wird nicht so gut sein wie hier.“
„Egal. Fertiges Schiff langweilig. Dieses Mal wir teilen Schnaps, dann alles gut. Wir erzählen Geschichten und trinken.“
Polanz war nicht so dumm, Awndo bedingungslos zu vertrauen. Anzug Drei tauchte zu oft auf den Reparaturlisten auf.
„Ich will Anzug Fünf und neue Brennstoffzellen.“
„Ha, sehr gute Wahl. Sieht nicht gut aus, aber funktioniert immer. Gut für Abbaugebiet. Kein Neid, keine Probleme.“
Awndo spuckte in die Hand und hielt sie Polanz hin.
„Ich werde Chefingenieur auf neuem Schiff, versprochen?“
„Versprochen, wenn du eine gute Crew mitbringst.“
„Aye, Kapitan.“
Polanz schlug ein, ohne in die Hand zu spucken. Es war der erste Handschlag, den er mit Awndo überhaupt ausgetauscht hatte. Der äußerst sehnige Mann schien zufrieden und öffnete die Eingangsschleuse mit den Einsatzanzügen. Es gab sechs Halterungen, aber Anzug sechs und eins fehlten. Beide Anzüge waren der Preis für Anzug Fünf gewesen.
Der Anzug sah schäbig aus und war brutal klobig, wohingegen die anderen Schutzanzüge elegant wirkten. Und es war der einzige Anzug mit eigener Energiequelle anstatt Speicherzellen und hatte zusätzlich noch ein Schwerlastexoskelett.
Mit Awndos Hilfe war Polanz schnell im Anzug und auf dem Weg zur unteren Polschleuse der Dragon Kerr. Als Polanz mit Anzug und vollgepacktem Seesack auf die Schleuse zu stampfte, fühlte er sich befreit. Keine Verantwortung mehr. Keine nervenden Untergebenen, die geführt und bei Laune gehalten werden wollten. Es war ein leichter Abschied.
Die Dragon Kerr war für jetzt verloren, aber er würde sie sich wiederholen und noch ein großes Stück des Konglomerates mehr. Das letzte Wort war noch nicht gesprochen.
Aber das lag in weiter Ferne, ermahnte sich der verstoßene Polanz, erst gab es nähere Ziele. Und einen langen Marsch durch die Stützen und Wartungsschächte des Konglomerates. Ganz hinunter bis zum Grund des Bodensatzes. Bis zu den Außenwelt-Einschleusern.
Trotz der Servounterstützung brannte Polanz der Schweiß in den Augen. Die Jahre hinter dem Schreibtisch, zu wenig Bewegung und zu viele Genüsse hatten ihren Tribut gefordert. Mit seiner Kondition stand es nicht zu Besten und die Anzuglüftung lief schon auf Maximum.
Neben dem stundenlangen Abstieg konnte natürlich auch die Aussicht etwas damit zu tun haben. Es ging zwölfhundert Meter durch die entkernte Flanke 78.962 senkrecht nach unten. Das Schiff war nur noch ein zerschmolzenes Gerippe. Bei der Zündung von Epsilon Eridani C hatte der Rückschlag aus dem Einschlagskanal des relativistischen Geschosses das Schiff gestreift. Die Besatzung und viele der Maschinen waren schlagartig verbrannt. Die Panzerung und die innere Stützstruktur waren unlösbar zu einer gewaltigen Röhre verbacken. Bar jeder verwertbaren Technik, aber gut genug, um als Stützelement des Schiffes zu dienen.
Polanz hangelte sich an überstehenden Trägern zur nächsten Nische vor. Die Kombination aus Magneten und Mikrosaugnäpfen in Handschuhen und Stiefeln sorgten für einen sicheren Halt. Das Exoskelett sorgte, trotz erschöpfter Muskeln, für die nötige Haltung.
Wofür der Anzug nicht sorgte, war sein Kreislauf. Polanz brauchte eine Pause. Über schwarze, verzunderte Metallwände und spiegelglatte Keramik zu klettern und dabei noch dauernd in den Abgrund zu blicken war nichts für schwache Nerven. Er hoffte inständig, dass der alte Nikwy sein Wort gehalten hatte und die ganzen Mittel, die Polanz für seinen Plan B von seiner geliebten Dragon Kerr abgezweigt hatte, auch für die vereinbarten Ausweichstützpunkte verwendet hatte. Die Schwerkraft zerrte seinen, für diese Verwendung viel zu schweren Anzug, mit ihm darin, unbarmherzig Richtung Abgrund. Zunder knirschte, als Polanz die Adhäsionswerte des linken Fußes reduzierte und der Fuß ins Gleiten kam. Sofort erhöhte der kletternde Flüchtling die Haftung wieder auf das Maximum. Genau davor hatte ihn Nikwy gewarnt. Gleiten erzeugte Schrammen, blanke Stellen im Metall, das eine weithin und deutlich sichtbare Spur hinterließ. Beim rechten Fuß schaltete er erst das Exoskelett auf Zug, bevor er die Haftung schlagartig auf Null reduzierte. Das Skelett stand unter Spannung, bewegte sich aber nur ganz leicht. Sanft die Spannung lösend bewegte sich der rechte Fuß damit und im geringeren Maße auch Polanz ein gutes Stück weiter nach unten. Langsam das Skelett wieder versteifend suchte sich Polanz eine brauchbar erscheinende Stelle und verankerte den Fuß dort wieder fest. Die linke und rechte Hand folgten dann abwechselnd. In genau der Reihenfolge linker Fuß, rechter Fuß, linke Hand, rechte Hand ging es weiter. Einen Schritt nach dem anderen, bis die Erschöpfung auf Kosten der Konzentration ging. Der rechte Fuß ging ins Leere. Adrenalin pumpte durch Polanz‘ Adern. Das rechte Bein wieder anhebend tastete Polanz mit dem Fuß nach Widerstand. Der Fuß stieß gegen einen Überhang. Nach rechts und links den Sturz abtastend fand Polanz keine Begrenzung. Er hatte eine Einbuchtung gefunden. Den Rand des Bug- oder Heckhangars. Ab hier ging es in der offeneren, inneren Schiffszelle des Wächterliners weiter. Die inneren und äußeren Lamellenschotte waren bei der Havarie herausgesprengt worden und der Mehrzweckfrachtraum hatte seine Module wie eine gewaltige Konfettikanone durch den gesamten Schiffsrumpf und die andere Beibootaufhängung ins All hinausgeblasen. Zurück war die fast unzerstörbare Hauptröhre des Raumers geblieben. Polanz stand ein schwieriges Manöver bevor. Er musste herausfinden, an welcher Seite er eine Säule finden würde, um sicher in den Hohlraum einzusteigen. Tasten würde ewig dauern. Also beschloss Polanz, etwas Verrücktes zu tun: Er würde sich auf den Kopf stellen.
Im gewohnten links, rechts, links, rechts Muster setzte er nun zu einer Drehung um seinen Bauchnabel an. Langsam, aber stetig näherte sich sein Helm dem Rand der Ausbuchtung.
Als er senkrecht mit dem Kopf nach unten stand, schaltete Polanz mit dem Mundhebel die Helmscheinwerfer ein. Auch hier war alles schwarz verzundert, aber er konnte eine große Ausbuchtung erkennen, und was noch wichtiger war: Zur nun Linken eine Wand. Langsam und methodisch ging es im Krebsgang kopfüber nach links. An der senkrechten Wand zur Ausbuchtung angekommen kletterte Polanz in den Raum hinein weiter nach unten, bis er mit dem Fuße die Decke ertasten konnte. Dann schob er sich weiter in die Bucht hinein und drehte sich, bis er wieder mit dem Kopf nach oben an der Wand hing. Weitere fünf Meter tiefer erreichte er endlich festen Boden. Langsam an der Wand hinabgleitend, verankerte sich Polanz fest in sitzender Position, schloss seine Augen und ließ den Puls zur Ruhe kommen. Er hatte den Einstieg zur Schatzkammer der Ausschlachter gefunden.
Vollkommen erschöpft, übermannte ihn die Müdigkeit, und Polanz fiel in traumlosen Erschöpfungsschlaf. Hier war er fürs Erste wieder in Sicherheit.
Rieselnder Zunder weckte Polanz aus seiner vermeintlichen Sicherheit. Die Wände hatten sich bewegt. Das passierte jedes Mal, wenn von Tag auf Nachtschicht umgeschaltet wurde. Die fehlende Beleuchtung ließ die Umgebung und besonderes die Wände abkühlen. Kaltes Material zog sich zusammen. Je nach Art unterschiedlich stark und schnell. So entstanden nicht nur globale Spannungen, sondern auch eng lokal begrenzte an den Stellen, an denen zwei Materialien mit verschiedenem Verhalten bei Temperaturänderung aufeinandertrafen. Metall und Keramik war da eine besonders ungünstige Kombination. Besonders, wenn es zufällig miteinander verschmolzen wurde und Bewegungen nicht konstruktionsbedingt ausgeglichen werden konnten.
Dieser Raum stand deutlich unter Spannung und die Wände hatten sich sichtbar verbogen. Daher das von der Decke riesende Metalloxid.
Polanz schüttelte die Flocken von seinem Anzug und bewegte sich mit Hilfe des Exoskeletts und der magnetischen Schuhe vom Sitz in den Stand. Das musste spektakulär aussehen, war aber die sicherste Methode ohne großartige Rutschgefahr. Die Magnetfelder um die Schuhe herum erzeugten interessante Muster im sich aufstellenden schwarzen Rost. Immer einen Fuß entmagnetisierend und Druckluft zum Wegblasen des losen Metalls ausstoßend bewegte sich Polanz in Richtung des im gedimmten Scheinwerferlicht sichtbaren Durchlass. Dabei machte er einigen Radau, aber das war ihm lieber als die Vorstellung, noch mal in den abgrundtiefen Schlund des Wächterraumers schauen zu müssen, oder gar in ihn hineinzurutschen. Erst als er sich im Gang hinter dem Durchlass befand, schaltete er die Magnetisierung der Schuhe ab. Die Farbe des Rostes änderte sich langsam aber sicher mehr ins rötliche, je tiefer er in das Innere der Röhrenstruktur vorstieß.
Nach einigen Abzweigungen stand Polanz dann vor etwas, was nicht direkt aus der Umgebung herausstach, aber in einem ausgeglühten Wrack wie der Flanke 78.962 eigentlich nicht zu erwarten war: ein gesichertes Schott. Das gesicherte Schott, auf das Polanz gehofft hatte. Oberflächlich angerostet und verwittert, aber dennoch gut in Schuss. Die Abdeckung zum manuellen Bedienpanel fehlte. Polanz rief sich die Ausführungen des alten Nikwys ins Gedächtnis: Reset, Zahlencode, Reset, Reset und dann auf Schließen drücken. Öffnen würde einen Reset auslösen, wenn er sich vertippt hatte. Die Jungs hatten das Panel so verkabelt, das es defekt aussah und Manipulationsversuchen eine Zeit lang widerstehen konnte, bevor es sich für eine geraume Weile selbst deaktivieren würde.
Polanz ging die Routine im Geiste noch ein paar Mal durch, bevor er sich daran machte, das Schott zu öffnen. Im Rhythmus des alten Nikwy führte er die Anweisungen aus. Danach dauerte es einen Moment, dann lief eine Energiequelle an, beleuchtete das Bedienfeld und erstaunlich leise schob sich das alte Schott auseinander. Polanz trat im Licht des Anzugscheinwerfers hindurch. Wenig elegant auf der Stelle stampfend drehte er sich mit seinem klobigen Exoskelett um und schloss das Schott mit einem Tipp auf das „Öffnen“-Feld. Das Schott glitt ebenso geschmeidig zu, wie es sich geöffnet hatte. Mit einem metallischen Knacken zogen sich die Türen in ihre Verankerungen und dann öffnete sich das Innenschott, das den Weg in eine große, düstere Halle freigab. Es blieb einen Moment still, dann ging eine provisorisch angebrachte Beleuchtung an und in den Tiefen des vollgestellten Raumes begann eine Maschinerie, die auf mehreren Paletten zusammenstand, mit ihrer Arbeit. Es war eine Lebenserhaltungsanlage, die aus einem Shuttle oder einem anderen, kleineren Raumschiff stammen musste.
Polanz staunte über die Mengen an Material, die hier zusammengetragen worden waren. Der alte Nikwy hatte wohl nicht gelogen, als er von einem großen Joint Venture gesprochen hatte. Jede der Paletten war sauber einer Art Insel zugeordnet und vor jeder Insel stand ein Schild mit einer Codebezeichnung. P-DK-17. Das war sein Material. Unzählige versiegelte Kisten stapelten sich dort, aber auch die eine oder andere größere Maschinerie. Das, was Polanz nach den Tagen im Anzug aktuell am meisten interessierte, stand etwas abseits in einer Nische. Ein Anzuggerüst und eine halbwegs gemütlich aussehende Wohnecke unter Schutzfolien. Näher stampfend fiel Polanz noch die zusammengefaltete Abtrennung zum Raum mit seiner aufgesprühten Kennung auf. Ein genauerer Blick offenbarte ein paar abgeschottete Nischen mehr.
„P-DK-17 und die anderen 40 Räuber“, lachte Polanz auf. Halbwegs guter Laune stampfte er in das Gestell und ließ sich von der Automatik aus dem Anzug helfen. Alleine wäre er nie oder nur unter größten Mühen aus dem Monstrum gekommen.
Es war Zeit, sich frisch zu machen, etwas zu ruhen und dann die Optionen in seinem neuen Leben zu sichten. Auf dem Weg zu Hygienezelle, die eindeutig aus einem Außeneinsatzset der Wächter stammte, bemerkte er ein festverdrahtetes Terminal mit einem Codebuch aus Papier drauf. Vierzig Teilhaber schienen es nicht ganz zu sein, aber es waren deutlich mehr als zehn, plus noch ein paar Gruppen, die als Nischenbesitzer eingetragen waren. Polanz hatte wohl eine der kleineren Nischen bekommen. Es war sein privater Rückzugsort, nur für ihn selbst.
Ein Geräusch aus der Halle ließ Polanz herumfahren. Eine große Nische hatte sich geöffnet und ein Haufen wild aussehender Gestalten kam auf ihn zu. Als Polanz den alten Nikwy erkannte, entspannte er sich etwas, aber nur kurz.
„P-DK-17! Sie hätten hier mit Anzug 3 auftauchen sollen! Das Ungetüm dort im Gestell wird auf der Außenseite überall deutliche Spuren und Schrammen hinterlassen haben. Wir als Teilhaber würden es begrüßen, wenn die Diskretion gewahrt bleibt, oder sehen Sie das anders, P-DK-17?“
Polanz schluckte kurz.
„Natürlich ... wie soll ich Sie anreden?“
„A-1, Verwalter oder auch Väterchen.“
Den letzten Satz hatte der Alte mit einem versöhnlichen Schmunzeln ausgesprochen.
„Nichts für ungut, Herr P. Entspann dich. Wir sind hier eine verschworene Gemeinschaft. Komm mit, wir haben einen Umtrunk und ein Gemeinschaftsessen vorbereitet. Die Verstoßenen werden bald hier sein.“
„Die Verstoßenen?“
„Du wirst sie kennenlernen wollen. Sie haben auch noch ein Hühnchen mit einer neuen Herrin des Landes zu rupfen.“
„Klingt interessant. Ich bin neugierig.“
Polanz staunte nicht schlecht, als er sah, was der alte Nikwy für ihn und die anderen Gäste aufgefahren hatte. Originale Wächterrationen mit gültigen Siegeln, frisches Obst und Gemüse aus dem Perimeter. Ein uralter, aber unglaublich gut gepflegter Wasseraufbereiter, sowie eine reichhaltige Auswahl von Getränken aller Art, sowohl vor Strandungszeit als auch aus dem Perimeter. Aufgetafelt war in der Mitte der Lagerhalle.
Der Tisch selbst rundete das Bild ab. Echtes, antikes Holz an einigen Stellen mit täuschend echt aussehendem Kunstholz geflickt und auf metallenen Schwerlastträgern aufgebockt. Polanz konnte nicht widerstehen und rüttelte an der Tischplatte. Nichts rührte sich, die Stützen unter dem Tisch waren perfekt austariert.
„Perfekte Arbeit“, murmelte der gefallene Organisator in den nichtvorhanden Bart.
„Haben Sie etwas anderes erwartet, Herr P?“ Der alte Nikwy gesellte sich zu ihm.
„Erwarte das Beste, sei auf das Schlimmste vorbereitet. Das hält wach“, konterte Polanz freundlich lächelnd.
„Und ein echtes Schiff schlingert, stampft und rollt nun mal. Was aber nicht heißt, dass man an Land jeden Tisch überprüfen sollte.“ Väterchen Nikwy nahm die Situation offenbar mit Humor, fuhr aber ernster fort:
„Wir kennen uns schon lange und kommen gut zurecht, Herr P. Lass mich dir einen guten Rat in Bezug auf die Verstoßenen geben. Das sind beileibe keine Engel. Unten, in den noch nicht erschlossenen Regionen, darf man nicht zimperlich sein. Dorthin traut sich kein normaler Organisator und setzt sein Leben aufs Spiel. Ich habe selbst lange dort gegraben. Als junger Mann natürlich. Solange, bis ich verstanden hatte, dass das Leben als ...“ Väterchen Nikwy machte eine gewichtige Kunstpause. „… Vermittler, und, wenn man es großzügig auslegt, auch als Organisator deutlich angenehmer ist.“
Polanz winkte ab.
„Die Aufgabe des Organisators ist zu organisieren. Und verzeih mir das offene Wort: Nur ein dummer Organisator delegiert nicht. Unsere Zusammenarbeit war immer von beiderseitigem Nutzen bestimmt. Es gab keine gravierenden Beanstandungen und ich bin von deinem Entgegenkommen in meiner etwas ungünstigen Lage mehr als angenehm ... nun, überrascht ist hier vielleicht das falsche Wort. Bleiben wir in den Details flexibel und in den Grundsätzen standhaft. Langfristig bewährt sich das immer.“
„Solange die Welt bleibt, wie sie ist, und selbst wenn sie sich gravierend ändern sollte. Es gärt im Untergrund. Die unerschlossenen Gebiete werden weniger, die Bezahlung ist äußerst unregelmäßig und die Kundschaft leider etwas exklusiv. Den meisten reicht das, was aus den Hydroponiken kommt, vollkommen.“
„Wie schlimm ist es?“
„Die Lager sind gut gefüllt, auf der abgehenden Seite wird es auf längere Sicht kein Problem geben, aber wie gesagt, die Situation verändert sich und bald wird es keine unerschlossenen Gebiete mehr geben. Die Ausschlachter sind in einer Situation ohne Perspektive. Diese Art zu leben steht vor dem Ende. Es gab schon unschöne Ereignisse, und wie gesagt, die Stimmung ist nicht die Beste.“
„Es gibt immer Bedarf an guten Leuten, die die Maschinerie und damit uns alle am Leben erhalten. Ich hatte ein gutes Gespräch mit Awndo.“
„Awndo. Ja, das ist ein guter Mann. Aber es ist wie in den unerschlossenen Gebieten, nicht jede alte Flasche Whisky, die man dort findet, entlockt einem Organisator Polanz einen guten Gewinn.“
„Ich verstehe, was du meinst. Zumal nicht jeder den wahren Wert ein- und zu schätzen weiß. Auf was für Raritäten muss ich mich zukünftig einstellen? Ich vermisse den 4500er Glen Nova Hyderabad.“
„Einen oder zwei habe ich in meiner persönlichen eisernen Reserve, aber die sind aktuell unverkäuflich. Du wirst dich auf neueres Material umstellen und gewöhnen müssen.“
„Gibt es nichts, was du dafür eintauschen würdest?“
„Die Dragon Kerr vielleicht, aber ich glaube, die steht nicht zur Verfügung.“
„Die ist Eigentum der Orga. Die kann ich nicht hergeben. Selbst wenn ich dort noch an der Macht wäre. Zudem: Es gibt mehr potente Konkurrenz als uns allen lieb sein kann.“
„Ich sehe, dir fehlen die Mittel für derart Exklusives. Um der alten Zeiten willen kann ich dich durch den einen oder anderen Lagerraum auf der Flanke 78.962 führen. Bis du eine neue Quelle von Tauschobjekten aufgetan hast, kann ich dir nur das anbieten, was auf der Tafel steht. Auf der Plaza del Fosilios gibt es aber einen Kontakt, der vielversprechend zu werden scheint.“
„Du meinst doch hoffentlich nicht den Fusel, den der örtliche Befrager vor Ort jedem in den Tee füllt, der es nicht verhindert?“
„Er behauptet immer noch, das Zeugs käme von Lotus, dabei greift er ab, was selbst Senke 5 nicht haben will.“
„Mich schaudert es.“
„Zu Recht, aber Senke 5 hat einen neuen Brennmeister und der alte Befrager sitzt auf mittlerweile dem einen oder anderen Stück altem Holz.“
„Dem richtigen Holz?“
„Same, same, but different. Etwas Gensplicing war nötig. Die Ressourcen im Konglomerat sind beschränkt, aber ab und zu ergibt sich eine Gelegenheit.“
„Wenn man die nötige Zeit und Geduld hat.“
„Wenn man die nötige Zeit, Geduld und vor allem die nötige Phantasie hat.“
„Du meinst, ich sollte also an deine anderen Gäste mit der nötigen Phantasie herangehen?“
„Ich bitte darum. Timing und Geduld schaden natürlich ebenso wenig. Wobei wir beim Thema sind. Du hast das alles hier bezahlt.“
„Das Festessen?“
„Diese ganze Lagerhalle, mein Freund.“
Der Alte schmunzelte, als er Polanz entsetztes Gesicht sah.
„Dein Pfund für ein neues Leben. Als gütiger Mäzen bedarf es einiger Ressourcen.“
„Ist das nicht deine Rolle?“