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Hydorgol. Der Alpha-Centauri-Aufstand 3. überarbeitete & lektorierte Auflage Das Umfeld: Die Erde ist komplett überbevölkert und die gesamte Menschheit ist in sogenannten Terra-Arkologien zusammen gepfercht. Auf einer der ersten Expeditionen zu einem anderen Sonnensystem treffen die Menschen auf eine außerirdische Zivilisation, die der Menschheit hilft, im Nachbarsystem Alpha Centauri Platz auf insgesamt 14 Planeten für die 36 Milliarden Menschen zu schaffen. Der Umzug erfolgt mittels der Hydorgol-Maschinen, die einfach die gesamten Terra-Arkologien (bis auf eine) auf die Planeten von Alpha Centauri verteilen. Die Maschinen stehen unter der strengen Aufsicht der Wächter, allerdings kommt, was kommen muss: Die Maschinen gelangen in unbefugte Hände und die Hydorgol-Kriege stürzen die Menschheit mit ihren Zeitparadoxa fast in den Untergang. Die Rettung erfolgt mittels des Hydorgol-Kurzschlusses, der alle Hydorgol-Maschinen verschwinden lässt. Darauf folgen Jahrtausende, in denen sich das Leben in Alpha Centauri normalisiert und auf der Erde der langsame Niedergang einsetzt. Die Handlung: Im Alpha-Centauri-Sonnensystem geht alles seinen üblichen Gang, bis eines Tages der führende Clan des Planeten Lotus auf die Quarantäne-Welt in Verbannung geschickt wird. Dort kommt es zur Revolte und die Wächter werden aus Alpha Centauri vertrieben. Die Wächter ziehen ihre Ressourcen aus den umgebenden Sonnensystemen zusammen und holen zum Gegenschlag aus ...
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Seitenzahl: 401
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Neben all den vielen, die mir Zuversicht und Unterstützung für das Buch gaben, gilt mein besonderer Dank Melanie für ihre Übersetzung von Markus ins Deutsche. Sowie Joachim für eine gnadenlose Ehrlichkeit bei guten und besonders bei den schlechten Stellen.
Teil 1 - Alte Welten
1. Prolog
2. Leichtes Training
3. Böses Erwachen
4. Vor Gericht
5. Botschafter Quolanz
6. Der ungebetene Gast
7. Der unwissende, ungebetene Gast
8. Secundus Al Catraz
9. Gestrandet
10. Der Sprung aufs Festland
11. Es ist noch kein Meister von Himmel
12. In der Wächter-Arkologie
13. In den Bergen
14. Auf nach Westen
15. Im Museum
16. Hebel
17. Hoher Besuch
18. Hohe Diplomatie
19. Zusammenarbeit
20. Tageslicht
21. Die Geister, die man rief ...
Teil 2 - neue Welten
22. Krieg in Alpha Centauri
23. Die Kavallerie kommt!
24. Selbsterkenntnis
25. Neue Welten
26. Zurück in die Realität
27. Im Westen nichts Neues
28. Revanche
29. Wertvolle Beute
30. Eine lange Zeit
31. Die Karawane zieht weiter
32. Am Abend vor der Schlacht
33. Wer wirft den ersten Stein?
34. Eingeigelt
35. Pyrrhussieg
36. Kalter Krieg
37. Neue Wege
38. Auf der Suche nach den Freaks
39. Es geht voran
40. Mehr Ablenkung als erwünscht
41. Universitäres Leben
42. Deus ex Machina
43. Der Friedensvertrag
Teil 3 - Das Ende der alten Ordnung
44. Verdammt-Kalt-Hier
45. Déjà-vu
46. Das Tribunal
47. Spaziergänge
48. Lehrling
49. Lotus
50. Was nun?
51. Träume werden wahr
52. Das Ohr beim Feind
53. Besuch des Vorgesetzten
54. Der Oberpriester
55. Gemeinsame Gespräche
56. Luna
57. Epsilon Eridani
58. Das Erwachen
59. Aus dem Ruder
60. Das Zusammentreffen
61. Das Ende
62. Epilog
Personenregister
1. Sonnensystem
2. Alpha Centauri
3. Proxima Centauri
4. Epsilon Eridani
4.1. Die Flotte/die Wächter
4.2. Hünen
Draußen dämmerte der Morgen, drinnen hatte der Prüfling längst jedes Gefühl für Zeit verloren. Das Werk war fast vollbracht, das Rezept peinlich genau eingehalten, aber das Gerücht über die wahre Prüfung stimmte: Das Rezept enthielt einen Fehler und das mit voller Absicht!
Rezepte befolgen kann jeder Lehrling oder Gesell, aber ein Meister muss es verstehen und die Prinzipien dahinter beherrschen!
So stand er nun da. Das Werk des Gesellen war getan, jetzt musste er beweisen, ob es zum Meistergrad reichte. Große Mächte tobten im Kessel und der daraus resultierende Golem würde die Vernichtung über das Dorf auf der Halbinsel der Prüfung bringen und damit auch über den Prüfling, der dieses verschuldet hatte. Die Aufgabe der Prüfung war es einen Golem zu erschaffen, der nützlich war. Zwölf Jahre dauerte es, die Lehre um die geheimen Künste zu lernen und zu meistern. Schaffte man die Prüfung nicht, hatte man ein Großjahr vertan und würde ein weiteres Großjahr Geselle bleiben, um erneut in die Lehre bei einem Meister zu gehen und um die Wiederholungsprüfung ablegen zu können.
Begründet wurde der gewaltige Abstand zwischen den Prüfungen mit dem Umschwung der kosmischen Gezeiten alle 12 Jahre während der Sonnenwende des Hauptplaneten, um den die kleinen Welten kreisten. Nur zu diesem Punkt war es möglich, die wirklich großen Dinge zu bewirken; alles andere war nur kleines Werk oder zehrte von dem Augenblick der großen Möglichkeit für mindestens zwölf Jahre bis zum nächsten Augenblick der großen Möglichkeit.
Der Augenblick näherte sich und der Prüfling spürte zum zweiten Mal in seinem noch jungen Leben den Augenblick aller Möglichkeiten sich nähern. Beim ersten Mal war er noch kein großes Hauptjahr alt gewesen, 11 der kleinen Jahre und 11 der Monde, zu jung, viel zu jung, um zugelassen zu werden für die Prüfung. Damalshatte er die fehlenden zwei Monde für das volle letzte kleine Jahr, und damit zum ersten vollen großen Jahr, aufs bitterste verflucht. Er war so nah daran gewesen, ein Jungmeister, ohne Pflichten für die Welt, zu werden. Jetzt würde er bald das zweite Hauptjahr vollenden und nur zwei Monde das süße Leben als Meister ohne Pflicht genießen können.
Zorn auf die vom Schicksal Privilegierten flammte in dem Prüfling auf und brachte das schon hell glimmende Feuer des Ehrgeizes in ihm auf nie erreichte Höhen. Er hatte sich geschworen, alle diese Tunichtgute und Faulenzer am Ende weit zu übertrumpfen, und der Augenblick der Möglichkeit kam. Langsam, aber mit aller Macht.
Ruhe und Klarheit kehrte in den Prüfling ein, wo vorher Feuer wild gebrannt hatte. Der offensichtliche Fehler schrie förmlich seine Existenz heraus und überdeckte damit beinahe die anderen unzähligen kleinen Fehler, Schlampereien und bewussten Schwächungen in der Masse im Kessel. Nachdem er seine durch eigene Unzulänglichkeit erzeugten Fehler identifiziert hatte, ging er daran, das zum Schutz der Prüflinge eingefügte Stückwerk der Meister fein säuberlich auseinanderzunehmen. Der Zorn der verschwendeten 11 kleinen Jahre und der Ehrgeiz entflammte in der Ruhe und Klarheit des großen Augenblicks, und der Prüfling wusste nun, was er zu tun hatte. Sein Geist verschmolz mit dem kosmischen Wechsel und der Masse in dem Kessel. Die Fehler und Schwächen brannten aus und zurück blieben Ruhe und Klarheit der großen Möglichkeit. Selbst Zorn und Ehrgeiz verbrannten als charakterliche Fehler, die sie nun mal waren. Dann zeichnete sich das Verschwinden des Augenblicks an. Voller Panik über den Verlust dieses großen Augenblicks ergriff der Prüfling den Roh-Golem, verschmolz ihn mit den kosmischen Gezeiten und verankerte den Golem untrennbar mit seiner Seele, auf dass er selbst nach seinem Ableben immer noch mit den gewaltigen Kräften des Kosmos verbunden sein möge.
Die Sonne ging auf und die ersten schwachen Strahlen brachen sich im Stundenglas des Zeitmeisters. Die Hähne krähten und wurden vom großen Gong zum Schweigen gebracht, als der Zeitmeister das Zeichen für das Ende der Prüfung gab. Das war das Zeichen für die Prüflinge, ihre Golems zu stabilisieren und ihnen eine feste Form zu geben, um sie mittags dem Prüfungsrat zur Begutachtung vorzustellen. Jeder der hunderte Prüflinge, der einen der Philosophie und Ethik des Rates entsprechenden Golem vorweisen konnte, wurde noch im selben Moment zum Meister ernannt.
Zweifelte ein Meister dagegen einen Golem an, unterzog er diesen einer harten Untersuchung. Überstand der Golem die Verfemungen des Meisters, dann wurde der Titel gewährt, aber je nach Anzahl der Verfemungen wurde jeweils ein Schatten über den neuen Meister verhängt. Forderten alle Meister den Golem des Prüflings heraus, wurde dieser Absolvent zum schwarzen Meister ernannt und auf die kleine Welt der schwarzen Meister verbannt. Für manche mehr als Auszeichnung der Extravaganz und als Schutz der naiven Umwelt, denn als Strafe empfunden.
Zerfiel der Golem, dann blieb einem nur die Chance auf die Prüfung im nächsten Hauptjahr, genau wie den totalen Versagern, die erst gar keinen Golem vorzuweisen hatten. Manche behaupteten, aus diesen gingen dann jene Meister hervor, die es später zu Großmeistern bringen würden, weil sie die doppelte Zeit mit den Meistern verbrachten und ausschließlich mit den besonders Gestrengen, die den schwarzen Meistern gewachsen wären.
So zog denn die Prozession der Prüflinge zur Prüfung und führte die in Tücher gehüllten Geschöpfe mit sich, mal groß wie Elefanten, mal klein wie Spatzen, mal gefestigt wie das Gebirge, mal flatterhaft wie der Wind. Und einige, denen es nicht gelungen war, sich rechtzeitig klammheimlich zu verdrücken, mit schwindenden Geschöpfen oder gar leeren Tüchern. Auf den Gesichtern der Prüflinge war meistens mehr als die in zwölf Jahren anerzogene Gleichmut zu lesen. Auch unser Prüfling schritt mit einem leeren Tuch zum Rat der Meister, allerdings mit einer Aura des Gleichmuts und des Wissens, dass niemand Mitleid oder Spott empfinden konnte, höchstens Verwunderung.
Die Präsentationen waren ein mächtiges Spektakel für alle, denen es gelungen war, einen Platz um den steinernen Ring zu ergattern, in dem die Begutachtung stattfand. Mächtige Schutzgolems sorgten dafür, dass niemand dem Ring zu nahe kam und Schaden erleiden konnte. Triumph, Verfemung und Schande dauerten den ganzen Nachmittag an. Dann endlich war die Reihe an unserem Freund. Er trat in die Mitte des Ringes und ein Raunen ging durch die Reihen der anwesenden Meister.
Einer aus dem Kreis der Meister trat hervor, Faargrest der Erkennende, und erhob das Wort: „Prüfling! Du warst in meinen Augen der vielversprechendste Schüler, den ich in meinem gesamten Leben gesehen habe, der Eifrigste und dabei doch Besonnenste von allen. Nun stehst du mit einem leeren Tuch vor uns und doch stehst du da wie ein Großmeister, der dem Rat der Prüfer keinerlei Rechenschaft schuldig ist, weil ein Rat aus Meistern keinem Großmeister nehmen kann, was sein ist. Innerlich bist du ein Meister, das erkenne ich, aber wenn du den Titel tragen willst, dann zeige dein Werk! Der Abend naht und wir werden der Spielchen der Prüflinge allmählich müde! Prüfling, zeige dein Werk dem Rat, auf dass es begutachtet werden kann!“
„Meister Faargrest, so sei es“, entgegnete der Prüfling und öffnete seine Seele den kosmischen Gezeiten. Er ließ das Tuch emporschweben und eine Kreatur aus Licht und Reinheit füllte den Stoff aus. Ein weiteres Raunen, eher ein Stöhnen, ging durch den Ring der Meister. Meister Faargrest verbeugte sich vor dem Prüfling und proklamierte feierlich: „Meister, sei willkommen in unserer Runde, ich erkenne dich als Meister an und frage dich nach deinem Namen, wenn du ihn uns nennen willst.“
Der erste Meister aus dem Rat hatte den Prüfling somit den Titel anerkannt und weitere folgten sofort im Anschluss.
Alle bis auf den Vorsitzenden und den schwarzen Meister, der als Beobachter und Führer für die möglichen Verbannten zugegen war. Als sich nun der Vorsitzende mit grimmigem, zu allem entschlossenem Gesicht erhob, um das Wort an den neuen Meister zu richten, huschte ein schelmisches, fast schon gieriges Grinsen über das Gesicht des schwarzen Meisters.
„Meister. Du bist wahrlich ein Meister. Die Frage ist nur: was für ein Meister? Einen Golem hast du nicht. Dennoch ist es dir gelungen, eine Kreatur aus dem Nichts zu erschaffen, wie keiner aus diesem Kreise sie jemals aus einem Kessel rufen könnte, und wenn doch, nur zum Zeitpunkt des großen Augenblickes. Möglicherweise ist es Blendwerk! Aber Meister Faargrest ist weit gereist durch weiße, schwarze und alle mit Schatten behafteten Länder, und das hätte er mit seiner Sicht erkannt. Wenn du ihn täuschen konntet, dann hast du deinen Titel selbst mit einer Täuschung rechtmäßig erhalten. Ich spüre Substanz in Eurem Werk, aber ich werde dich nicht ohne Femeprüfung aus diesem Ring entlassen! So frage ich dich, Meister: Was genau hast du getan?“
„Das, was so einfach zu sagen ist, aber schwer zu tun: einen flüchtigen Moment festgehalten. Großer Vorsitzer, du kannst urteilen, wie es dir beliebt: Mich zum Meister ernennen, verfemen oder mich nicht zum Meister ernennen, aber du kannst mir meinen Golem nicht nehmen. Ich kann jederzeit einen beliebigen Golem erzeugen, weiß oder schwarz, ganz wie es beliebt. Aber nun lasst mich meinen Namen wählen:
HYDOR!“
So sprachen die Leute der kleinen Systeme davon, dass für alle nun ein goldenes Zeitalter angebrochen sei. Dies taten die Leute 12 Jahre lang, bis zum Beginn des neuen Hauptjahres, als die Zeit für die neuen Prüflinge gekommen war ...
Niemandem gelang es mehr die Prüfung zu bestehen, kein Meister konnte den großen Augenblick nutzen, um neue Werke zu schaffen, die seinen Ruhm mehren sollten, denn der große Augenblick war gefangen. In Hydors Golem bis zu dessen Vernichtung. Selbst Hydor konnte den Augenblick nicht mehr fangen, er konnte nur das tun, was alle andern Meister tun konnten: Ihre Golems Dinge erschaffen lassen. Solange Hydor existierte, erzeugte er neue Golems.
Mit der Zeit starben die Meister, die Golems beherrschen oder zumindest bändigen konnten. Ein paar Golems wurden zwangsläufig Stümpern überlassen, aber die Leute murrten und aus Murren entwickelte sich im Verlauf der chancelosen Großjahre Hass auf Hydor den Unglückbringenden, so dass er sich zurückzog und einsam starb.
Hydors Golem starb nicht, er hatte noch zwei alte Meister, die ihn bändigten, aber diese waren fast genauso alt wie sein Schöpfer und gingen auch bald von der Welt. „Hydorgol“ beschloss, da er nun frei war zu tun und zu lassen, was ihm beliebte, dass es an der Zeit wäre herauszufinden, was die Welten boten, die die kleinen Lichter am Himmel umkreisten. So begann das eigentliche Zeitalter des Hydorgol und das Zeitalter der Meister und Golems endete ebenso wie das der 12 kleinen Welten.
Gierig leerte er die letzten Tropfen aus der Wasserflasche. Das Training war für heute beendet und Olywn King ermattet, aber glücklich.
Jedes Mal, wenn es zum Training ging, fragte er sich, warum er sich dieses Programm antat. Eine Wahl hatte er nicht mehr, aber Zweifeln war ja wohl noch erlaubt. Der robotische Schleifer, den er sich ausgesucht hatte, konnte zum Glück keine Gedanken lesen. Leichtes Fitnesstraining hatte auf der Verpackung gestanden, aber so ganz sicher war sich Olywn da nicht mehr, selbst wenn ihn die Leute in der Zentralstelle der Arkologie langsam für verrückt hielten. Die kleingeistige Plage hatte es geschafft, aus einem Schwabbel einen Athleten zu machen, das musste man ihr lassen.
Zurück zur Arkologie ging es mit dem Schweber, gereinigt und in frischen Klamotten. Das Gefährt war ein Expeditionsvehikel mit recht ansehnlicher Ausstattung. King wusste immer noch nicht, wie der Robotrainer das gedeichselt hatte. Aber King würde sich hüten, noch eine Anfrage an die Zentralstelle zu schicken. Das Fahrzeug vermisste wohl keiner, denn beschwert hatte sich bisher niemand. In der Arkologie wurde alles zentral von der gestrengen Verwaltung geregelt, aber sobald man es geschafft hatte, sich der richtigen Worte zu bedienen, kam man mit seinen Wünschen ziemlich weit.
Olywn ließ noch einmal den Blick über die grüne Idylle schweifen und wandte sich dann dem imposanten Anblick des schwarzen Molochs zu, der sein Zuhause war. Seines und das aller anderen Menschen auf diesem Planeten, die sich nicht von den Annehmlichkeiten der zentralen Zivilisation trennen mochten. Selbst wenn man es wollte, ohne kleinen autonomen robotischen Begleiter kam niemand aus dem Haus, also konnte man entweder seine Verteilungspunkte zusammenkratzen und sich in die Wildnis wagen, oder es lassen und es sich im Herzen der Arkologie gutgehen lassen.
Solange man mit seinen Verteilungspunkten auskam, war man frei zu tun und zu lassen, was einem immer in den Sinn kam. Reichten die Punkte nicht, dann nahm sich die Zentralstelle desjenigen an und sorgte dafür, dass dieser wieder ins Gleichgewicht kam. Notorische Störenfriede wurden irgendwann eingefroren und nach einer bestimmten Zeit wieder aufgetaut, um zu überprüfen, ob sie denn nun willens waren, sich der Gemeinschaft wieder anzuschließen.
Hört sich harmlos an, aber wer schon mal leichte Erfrierungen gehabt hat, weiß, wie schmerzhaft das Auftauen ist.
Olywn hatte das einmal als Halbstarker 3 Monate wegen Faulheit und Aufmüpfigkeit durchgemacht und danach beschlossen, sich das in Zukunft zu sparen. Anschließend hatte er seinen Weg gemacht und eine Stelle in der zentralen Verwaltung ergattern können, und war dabei angepasst und fett geworden. Bis zu jenem Tag, an dem er sich aufraffte und sich den Trainer für „leichtes Training“ zulegte.
Das unterschwellig aggressive Summen des Trainers riss Olywn aus seinen Gedanken und ließ ihn zügigen Schrittes zur Dusche im Schweber eilen, bevor er sich noch die angedrohte Erkältung zuzog. In der Arkologie erwartete ihn ein kaltes Bier zum Ausgleich für die heute über das normale Maß hinaus gewonnenen Fitnesspunkte.
Oh Mann, brummte Olywn der Schädel! So langsam klärte sich der Blick und die Frage drängte sich auf: Wo bin ich? Seine Wohnung war das definitiv nicht. Es war überhaupt keine Wohnung und bestimmt auch kein öffentlich zugänglicher Raum, denn hier war alles voller Staub. Und kein einziger Roboter weit und breit, der säubern würde.
Trübe Notbeleuchtung warf etwas Licht auf den Gang, in dem er lag, es war still bis auf das permanente Geräusch der Arkologie-Luftversorgung. Das musste einer der stillgelegten Bereiche sein, der zu den Anfangszeiten des Komplexes vermutlich überfüllt gewesen war. Doch im Laufe der Jahrhunderte waren weite Bereiche wegen der schrumpfenden Bevölkerung eingemottet worden. Nur die „besseren Viertel“ waren noch bewohnt. Massenunterkünfte waren nicht mehr gefragt und sammelten Staub an, selbst in der fast klinisch sauberen Luft der Arkologie. Olywn hatte in der zentralen Verwaltung Übersichten gesehen, auf denen stand, welche Bereiche noch aktiv und welche stillgelegt worden waren. Einer lag in der Nähe der Kneipe, wo er sein Nachtrainingsbier zu trinken pflegte. Eines oder zwei, aber nie so viele, dass er einen solchen Brummschädel davon bekommen könnte, wie er ihn jetzt hatte. Erinnern konnte er sich nur noch an das Erste und wie er mit ein paar Rowdys von der Klimaanlagenwartung ins Gespräch gekommen war.
Wie zum Teufel war er hierhergekommen? Die Bereiche waren gesperrt und jeder, der nicht scharf auf den Froster war, würde auch nur versuchen, hier rein zu kommen. Also hatte er jetzt ein Problem, bei dem ihm seine Versorgungspunkte nichts nützen würden, sollte ihn die zentrale Verwaltung erwischen. Selbst wenn er unbemerkt herauskäme, eine der Inspektionsdrohnen würde das Eindringen in diesen Bereich bestimmt bemerken und melden, insofern die internen Sensoren das nicht längst getan hatten.
Ein leichtes, unterschwellig aggressives Summen, das sich schnell näherte und lauter wurde, bestätigte diese Vermutung. Olywn kannte das nur zu gut und wusste, was nun folgen würde. Panik flammte in ihm auf. Adrenalin schoss durch seine Adern und ließ ihn die Beine unter die Arme nehmen. Olywn wusste, dass er keine Chance hatte zu entkommen, aber er rannte trotzdem los.
Langsam klärte sich sein Kopf und die vielen Übungen machten sich bezahlt. In dieser Umgebung kam Olywn schneller voran als in der Wildnis. Kein weicher matschiger Boden, kein Gestrüpp und umgestürzte Bäume, die das Vorankommen behinderten. Nur, was jetzt? Weiterlaufen würde auf Dauer gegen Maschinen nichts bringen. Olywns „Akku“ würde lange vor dem der Maschinen schlappmachen, denn die hielten unter Volllast Wochen durch, und wenn sie haushalteten, sogar Jahre. Also blieb ihm nur eine Chance, nämlich etwas zu tun, was sie verwirren würde. Irgendetwas, das in der Programmierung nicht vorgesehen war, etwas Schmutziges, völlig Abwegiges.
Somit war er aufgeschmissen! Administratoren neigten dazu, sich dem System anzupassen, mit dem ihre berufliche Existenz verbunden war. Irgendwie war er hierhergekommen, also war es logisch, dass es auch einen Weg hinaus geben musste. Panik und logisches Denken kämpften um die Vorherrschaft. Wände, Türen und Wartungsklappen zogen an King vorbei, aber nichts, was ihn anschrie: „Hier geht es raus!“
Dann eine gepanzerte Tür der Aufstandsbekämpfung. Kein Renegat würde freiwillig auch nur in die Nähe der Leute kommen, die ihn umgehend im wahrsten Sinne des Wortes auf Eis legen würden. Aber dieser Sektor war eingemottet und somit auch der Raum, aber der händische Notbetrieb sollte tadellos funktionieren. Olywn handelte schneller als ihm bewusst war: Stoppen, das Schott aufhebeln, sich durch den Spalt zwängen und das Schott hinter sich verriegeln waren eine Bewegung.
Hatte der Drill in der Behörde doch was Gutes. Nun stand er da im Dunkeln und Schweiß drückte sich in Massen aus den Poren, jetzt wo ihn der Luftzug der Laufbewegung nicht mehr kühlte. Die Luft war staubig und stickig, da dieser Raum aus guten Gründen nicht direkt an die öffentliche Belüftung angeschlossen war.
Ersticken würde er nicht sofort. Er könnte die autarke Versorgung manuell wieder in Betrieb nehmen, aber dazu wäre Licht notwendig. Olywn tastete seine Taschen ab. Seine Uhr war verschwunden, ebenso der persönliche KOM und das kleine Multitool, das er seit seinen Ausflügen in die Wildnis immer bei sich hatte. Er war bar aller gewohnten Hilfsmittel. Panik bahnte sich erneut an und wurde nur von dem Gedanken im Zaum gehalten, dass es hier etwas geben musste, was einem Flüchtling helfen würde, der sich in die Aufstandsbekämpfung gerettet hatte. Dazu musste er mangels Licht auf die anderen Sinne zugreifen: Hören und Tasten. Das Pochen des Pulses in den Ohren ließ langsam nach, aber außer den selbst erzeugten Geräuschen war es ruhig. Immerhin nicht unangenehm still, der Raum war akustisch gut gestaltet, um diesbezüglich keine Panik aufkommen zulassen. Also tastete Olywn die Wände ab. Der Raum war nicht übermäßig groß, und als er eine mechanische Schott-Sicherungswelle ertastete, war ihm klar, dass er sich in einer Schleuse befand. Was ihn störte, war, dass er das mechanische Geräusch der Umriegelung nicht vernommen hatte.
Das Außenschott war nicht richtig geschlossen! Eine weitere beherzte Umdrehung des großen Handrads löste das bekannte Geräusch der Umriegelung von Außen- nach Innenschott aus. Gleichzeitig glomm das kalte Licht der chemischen Notbeleuchtung auf. Schwach, aber ausreichend, um sich den Weg durch das nächste Schott der Schleuse zu bahnen.
Das Innenschott war deutlich schwieriger zu öffnen. Die Instruktionen des Behördendrills liefen vor dem inneren Auge des Flüchtlings ab. Eine Schleuse, die eine Gefahr direkt passieren ließ, war nicht wirklich effektiv. Mehrere Gefahrentests waren durchzuführen, bevor sich das Innenschott öffnen würde, also arbeitete der sich auf Abwegen befindende Administrator durch die eingedrillten Abläufe, bis sich die Tür endlich öffnete. Der nächste Raum war größer als erwartet und wurde hell durch das chemische Notlicht ausgeleuchtet. Der Zentralraum war mit der seit Jahrhunderten unveränderten Ausrüstung ausgestattet. Abgesehen vom Staub hätte das auch Olywns Arbeitsstelle sein können. Die Hauptenergiezelle war beim Einmotten vollgeladen und durch Versiegelung gegen Selbstentladung geschützt worden. Olywn brach das Siegel und nahm die Energiezelle in Betrieb. Angenehmes Licht flammte auf und ersetzte das Notlicht, das durch die Hauptenergie chemisch wieder geladen werden würde. Das bekannte und sehr beruhigende Hintergrundgeräusch der Lüftung war nun auch wieder da. Olywn ließ sich in den Sessel vor dem Kommandoschalttisch fallen und wartete darauf, dass die Lampen der Hygienezelle den Selbsttest als erfolgreich abgeschlossen anzeigen würden. Bevor er sich den Weg zurück in die Zivilisation suchen konnte, wollte King erst einmal einen klaren Kopf bekommen und seine Situation in Ruhe überdenken. Dass er in Panik geraten war, konnte man ihm schwerlich vorwerfen, und die Räume der Aufstandsbekämpfung standen jedem braven und vorschriftstreuen Bürger in Fällen wie diesem jederzeit offen. Also nichts, was dem Weg zurück in die geordnete Welt der Arkologie im Weg stehen würde und schon gar kein Grund für den Froster!
Der Geist des Menschen ist heilig.
Das Fundament des Geistes und auch der Seele ist die Freiheit und Uneingeschränktheit, insbesondere das Recht zu denken, was immer einem beliebt. Der Schutz dieser allerheiligsten Sache des Geistes und der Seele ist die allerhöchste Pflicht eines jeden freien Bürgers auf unserem schönen Planeten. Eingriffen in die Privatsphäre, sei es durch verbrecherische Gedankentastmaschinen, Drogen oder dem größtem Übel, der Telepathie, ist durch härteste Maßnahmen entgegenzutreten. Im Kampf gegen dieses Übel sind viele unserer tapferen Vorfahren, aber auch Menschen, die unsere Kinder, Brüder, Schwestern, Freunde u.s.w. waren, gestorben oder seelisch, geistig und oder körperlich verkrüppelt worden. Bedenkt dies bei der Anwendung der Gesetze, Lotusianer!
Präambel des Gesetzbuches der Schwer- und Staatsverbrechen
Lotus, 163.Tag 4630
„Steh auf, Vater. Steh auf.“ Mit diesen Worten schüttelte eine junge Frau, ungefähr 21 Jahre alt, einen alten Mann, der sich nur mühsam aus seinen Kissen im Dogenkabinett des großen Talini-Palastes emporkämpfte. „Vater, in zwei Stunden ist die Urteilsverkündung über unser Haus. Es ist nicht die Zeit, zu schlafen.“
„Mmmmm. Lass mich, noch schlafe ich freiwillig. Die Inquisitoren werden mich morgen auf ewig schlafen schicken.“
„Vater, du weißt ganz genau, dass Todesstrafe und Lobotomie seit über 50 Jahren abgeschafft sind. Wenn wir nicht erscheinen, dann haben wir unser Widerspruchs- und Reintegrationsrecht verwirkt. Du wirst es vielleicht nicht bis zum Ende durchstehen können, aber deine Anwesenheit ist absolut notwendig, wenigstens bei der Eröffnung und Feststellung der Anwesenheit.“
Miles Ibrahim von Querlitzenfall fasste sich ein Herz, stand auf und verscheuchte mit hektischen Handzeichen alle Anwesenden aus seinem Privatgemach, bis auf seinen Leibsklaven.
Eine Stunde später stand der Chef des Clans derer von Querlitzenfall, gehüllt in seine Standestoga über der Uniform eines Raumveteranen-Oberst, mit stolz erhobenem Haupt in der Eingangs- und Empfangshalle seines Palastes. Niemand, nicht einmal seine tolldreiste Tochter Linia hätte es jetzt gewagt, ihn anzusprechen. Selbst der Agitator in der Robe eines Inquisitor-Assistenten zeigte Respekt und Achtung vor dem Angeklagten, der immerhin der mächtigste Bürger war, den es auf Lotus gab und der nun vor der Verkündung seines Urteils stand, das nur einem Todesurteil für ihn und die Seinen nahekommen konnte.
„Mylord Khan, ich befehle Euch, mir zu folgen, um Euch vor dem Tribunal der Heiligen Gerichtsbarkeit der Inquisition von Lotus einzufinden. Euch wird nun in meiner Eigenschaft als Agitator das Eisen übergeben und Ihr werdet es tragen, bis Euer Name im Protokoll der Anwesenheit verzeichnet ist. Habt Ihr etwas zu sagen oder zu tun, als dass es so wichtig wäre, um die Ehre des Clans derer von Querlitzenfall zu verletzen? Wenn nicht, so folgt mir, mitsamt Eures Clans!“
Ein kurzes, angewidertes Zucken der Oberlippe war die einzige Reaktion des Khans auf die Provokation des Amtsträgers. Der Mann kam Miles Ibrahim von Querlitzenfall bekannt vor, er konnte sich aber beim besten Willen nicht an den Namen des ihn Herausfordernden erinnern. Niemand aus einer der noblen Familien der zweiten Reihe, die sich nun um den freigewordenen Platz an der Spitze stritten. Wohl ein Emporkömmling aus der Mitte der Gesellschaft, der die Chance für eine Spitze gegen das Symbol des bisherigen Establishments genutzt hatte. Sollte er seinen Moment des Ruhms bekommen, Miles hatte genug Herausforderungen in seiner langen Zeit an der Spitze dieses Planeten bestanden, um sich mit staatsmännischen Worten zu erwehren.
„Mylord Agitator, meine Ehre als Clankhan würde es verlangen, die Waffen des Clans gegen mich selbst und meinen Clan zu richten; hingegen verlangt die Ehre, ein Bürger von Lotus zu sein, die Ergebenheit in die Gerichtsbarkeit. Also lassen wir die Ehre aus dem Spiel. Wir alle wissen ganz genau, worum es geht. Schieben wir also das Unvermeidliche nicht länger hinaus, Mylord Agitator. Mit eurer Erlaubnis, Mylord: Aufbruch, Kinder des Clans derer von Querlitzenfall. Es geht zu Gericht über uns.“
Ein Handzeichen des Togaträgers, und der Zug der von Querlitzenfalls setzte sich in Richtung Außentür des Palastes in Bewegung, die sich seit dem letzten Jahr nur noch mit Genehmigung des höchsten Gerichtes auf Lotus geöffnet hatte. Vor dem Panzerstahltor stand ein gepanzertes Großfahrzeug mit laufender Maschine und dem Wappen des Gerichtswesens von Lotus. Wachmänner mit Hochleistungshandfeuerwaffen sicherten den Eingang und das Fahrzeug. Zusätzlich zu den automatischen Verteidigungssystemen des Palastes und des Transporters kreisten noch Flugmaschinen über der Großstadt Nova Delhi. Dies diente nicht nur dem Schutz der Angeklagten, sondern auch dazu, zu verhindern, dass jemand bei seinem letzten Termin vor Gericht noch entwischte oder versuchte, sonstigen Unsinn zu machen.
‚Welch ein Unsinn!‘, dachte Ida von Querlitzenfall laut an ihre Mittelepaten. ‚Dass sie denken, der Clan könnte jetzt noch versuchen, irgendwelche Gefolgsleute und Schläfer vor der Inquisition zu verbergen. Das haben wir viel gründlicher vorbereitet. Sie haben niemanden gefunden, der wirklich als Backup gedacht war! Aber dass der ganze offizielle Clan und unsere Vasallen gefasst wurden, deutet darauf hin, dass die Wächter zu einem viel früheren Zeitpunkt in die Sache verwickelt waren.‘ Dann, aus alter Gewohnheit, laut für neugierige Beobachter:
„Unsere Protektoren haben uns ans Messer geliefert!“
„Ida, Nichte, wie kannst du als unsere Historikerin so einen Schwachsinn von dir geben? Hätten die Wächter es wirklich auf unsere Vernichtung abgesehen, so wären wir jetzt nicht mehr am Leben und Lotus eine glühende Kugel Schlacke. Nein, die Suppe haben wir uns selbst eingebrockt. Wir haben zu hoch gespielt und sind durch die Dummheit meiner Tochter gestrauchelt. Die Wächter protegieren uns noch immer! Sie werden unseren Genen das Überleben ermöglichen, wenn sie schon nicht den Clan erhalten wollen. Aber ich halte es für eher wahrscheinlich, dass uns nun die Möglichkeit geboten wird, uns eine größere Machtbasis zu schaffen. Bringen wir das Kapitel Lotus hinter uns!“
*
Richter Inquisitor van Heerik setzte sich in seinen Stuhl an dem großen Richtertisch in dem mit venusianischer Wurmhaut ausgekleideten Gerichtssaal. Heute hatte er das bisher schwerste Urteil zu fällen, das je ein Richter seit dem Karilow-Regime in seiner Verantwortung hatte. Er hatte bis spät in den Morgen mit seinen Beisitzern über das Urteil und das Strafmaß beraten. Bei dieser Besprechung war auch ein Vertreter des Oberpriesters zugegen gewesen. Das und die schweren Monate zuvor hatten van Heerik sehr ermüdet. Er hielt sich nur noch mit Aufputschmitteln auf den Beinen und mit Ekatzio bei klarem Verstand. Das Verbrechen war klar und die Beweislage auch, aber dieses Urteil würde die gesamte Verwaltung, Regierung und Wirtschaft, wenn schon nicht vollkommen vernichten, so doch entscheidend schwächen. Die von Querlitzenfalls waren seit der Kolonisierung der entscheidende Machtfaktor gewesen und Lotus hatte immer davon profitiert. Und nun hatte sich herausgestellt, dass sie allesamt Telepathen waren. Die Sicherheitspolizei hatte die geächteten Mentalscanner einsetzen müssen, um das Verbrechen festzustellen und um die Angeklagten zu verhören.
„Lord van Heerik, die von Querlitzenfalls.“ Die gewisperte Ermahnung ließ den Richter aufschrecken. Der Beisitzer Lork leeYhue hatte ihn auf die Ankunft der von Querlitzenfalls aufmerksam gemacht. Man sah sie schon auf dem Sicherheitsmonitor aus dem Fahrzeug steigen. In ein paar Augenblicken würde der Agitator eintreffen und die Ankunft der Angeklagten vermelden. Die Verteidigung und die Anklage hatten bereits Platz genommen, die Zuschauer- und Pressebänke waren seit Stunden gut gefüllt. Verständlich bei einem Thema, das ganz Lotus nun schon seit über 13 Monaten auf Trab hielt.
Jetzt trat der Agitator durch die Tür und verkündete die Ankunft der Angeklagten, trat zur Seite und nun erschienen die Hauptpersonen Miles Ibrahim, Linia und Ida von Querlitzenfall samt Gefolge. Die Stimmung im Gerichtssaal schlug von stoischem Langmut in erregte Spannung um und überschritt ihren Höhepunkt mit erregtem Raunen, als ein sehr großer, gutaussehender Mann mit blonden Haaren von vier Wächtersoldaten ins Gerichtsrund geführt wurde. Es war Alofan Haragieri, die Geißel. Entlarvt von Linia von Querlitzenfall und der Kronzeuge, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte.
„Ruhe im Gerichtssaal! Hiermit erkläre ich die Sitzung des Gerichtes im Verfahren des Planeten Lotus gegen das Haus von Querlitzenfall für eröffnet. Der heutige Tagesordnungspunkt sieht als Abschluss des Verfahrens die Verkündung des Urteils vor. Lassen Sie uns anfangen!“
An Bord des Wächterraumers beobachtete Botschafter Quolanz das stetige An- und Abdocken der Shuttles, die seine „Gäste“ und deren „Handgepäck“ an Bord schafften. Ein kompletter Langstreckenraumer wurde bis zum letzten Kubikmeter vollgestopft. Beschwerden über den Frachtumfang gab es sowohl von der Planetenregierung als auch von den von Querlitzenfalls. Mal zu viel, mal zu wenig, aber auf jeden Fall zu teuer! Beschwerden, Beschwerden, Beschwerden! Quolanz war dankbar für die äußerst detaillierten Anweisungen, die er von seinen Vorgesetzten bekommen hatte. Das war es, was ihn selbst am meisten verwunderte, wenn nicht sogar erschreckte. Normalerweise hätte er sich jedwede Einmischung in seinen Arbeitsbereich verbeten. So aber konnte er reinsten Gewissens die Verantwortung für dieses diplomatische Chaos von sich weisen. Im Geiste ging er noch einmal alle Anweisungen en détail durch. Wer immer diesen Plan aufgestellt hatte, war sehr langfristig vorgegangen: Einige Anweisungen waren auf Jahre vordatiert und die Details würden erst entschlüsselt werden, wenn der Zeitpunkt gekommen war.
Das KOM-Implantat war da unerbittlich. In den vergangen 30 Jahren seiner bewusst miterlebten Zeit hatte es sich nichts vorzeitig entlocken lassen. Seine eigenen Erinnerungen waren bruchstückhaft, das war Quolanz in den Jahren der Selbsterforschung mehr als einmal bewusstgeworden. Angefangen damit, dass er sich an sein komplettes Privatleben auf Epsilon Eridani erinnern konnte, aber in keiner Weise daran, wer sein Vorgesetzter überhaupt war. Nach den Enthüllungen der von Querlitzenfall-Affäre ein verdächtig glücklicher Umstand, zumal ihn ein enges Band der Freundschaft mit dem Clan verband. So hatte er weder bewusst noch unbewusst Geheimnisse verraten können.
Selbst die Rede, die er vor versammelter Presse des gesamten zivilisierten Planetensystems halten sollte, würde er erst in dem Moment kennen, in dem es Zeit war sie zu halten. Einige seiner eigenen Reden kannte er erst aus der Presse, was zugegeben etwas peinlich war, wenn man vorher über Wochen standhaft leugnen konnte, diese Rede je gehalten zu haben. Aber niemand hatte behauptet, es sei einfach, der Botschafter der Wächter zu sein! Und so blieben ihm immer noch genügend Herausforderungen für sein diplomatisches Geschick übrig.
Glücklicherweise hatte er noch die Chance, mit Miles ausführlich zu sprechen, bevor sich wieder die Büchse der Pandora für ihn öffnen würde. Ein Vorteil des Außendienstes, wie es auf der alten Erde schon hieß: „Russland ist groß und der Zar weit“, und seine Vorgesetzten waren Lichtjahre weit weg, dreißig Jahre im Kälteschlaf.
Miles Ibrahim war offensichtlich immer noch sehr verstimmt, dass Quolanz ihn zu sich zitiert hatte, es würde eine sehr höfliche und sehr diplomatische Beschwerde werden, die ihn jedoch mehr als jede direkte Beleidigung treffen würde, deutete es doch auf seinen „Zombiestatus“ hin. Dieses Mal hatte sich der Botschafter vorgenommen, es nicht dazu kommen zu lassen:
„Miles, was immer du mir sagen willst, schluck es hinunter, ich möchte mein letztes bisschen an privater, eigener Zeit nicht unnütz verschwenden! Wer weiß, ob wir noch einmal eine Gelegenheit bekommen werden, als Privatleute miteinander zu sprechen.
Als Erstes möchte ich mich dafür entschuldigen, dass ich dir aus Unwissenheit falsche Hoffnungen gemacht habe. Du wirst jetzt nicht mehr leugnen können, dass du genau weißt, was es bedeutet, ein Botschafter der Wächter zu sein. Was die Anweisungen meiner Vorgesetzten betrifft, habe ich weniger Wahl als der geringste der Sklaven, die es immer noch auf Lotus gibt.“ Quolanz hob seine Hand, um das Aufbrausen seines Freundes, auf Grund dieses Themas, zu unterbinden.
„Ich wollte dich darauf vorbereiten, dass es, sobald alle Shuttles an Bord sind, eine Ankündigung meiner Vorgesetzten geben wird, was genau, kann ich dir nicht sagen, nur den Zeitpunkt.“
„Mein Freund Quolanz, du hast mir die Freude an Überraschungen gründlich verdorben. Aber ich bin dir dankbar, dass du mich vorgewarnt hast. Du hast recht, es wäre kindisch, über verschüttete Milch zu lamentieren. Immerhin leben wir alle noch und wir konnten einen kleinen, aber doch recht ansehnlichen Bruchteil unseres Vermögens mit in die Verbannung nehmen. Was uns nicht viel nützen wird, sollten wir zufällig unterwegs verloren gehen ...“
„Ich wünschte, ich könnte dir sagen, dass ich mit dir in den Tod gehen würde, aber wie du weißt, gibt es von mir Backups. Der Tod hat definitiv noch seinen Schrecken, das kann ich dir aus erster Hand versichern, aber er ist in meinem Fall nicht endgültig.
Aber die Möglichkeit, dass ihr unterwegs verloren geht, halte ich für relativ unwahrscheinlich. Die Wächter sind dazu da, um eine sichere und neutrale Instanz zu bilden. Auf einem Transporter der Regierung von Lotus oder einem privaten Unternehmen stünde die Wahrscheinlichkeit dafür deutlich höher. Die Anweisungen meiner Vorgesetzten sind Langzeitpläne, niemals Kurzschlusshandlungen oder gar böswillig, selbst wenn einige Leute hart von den Auswirkungen getroffen werden.
Und immerhin haben euch Wächtereinheiten sicher durch den tobenden Mob auf Lotus in den Orbit geschafft. Ohne unsere Organisation hätte es ein Blutbad gegeben.“
„Wohl wahr, eure Kampfmaschinen haben den Mob wirkungsvoll auf Abstand gehalten. Eine ganze Kohorte, welch eine Ehre! Davor habe ich nie auch nur mehr als 30 Einheiten zusammen gesehen. Böse Zungen behaupten, das wäre alles, was die Wächter haben.“
„Nur absolute Dummköpfe oder Größenwahnsinnige würden sich mit den Wächtern anlegen. Bis auf die Unverbesserlichen von Chamina hat das seit langer Zeit niemand ernsthaft versucht. Du solltest dir, wenn, dann Sorgen um den Insassen des letzten Shuttles machen. Seine Laune wird nicht die Beste sein.“
Quolanz konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Alofan hatte wohl als Kronzeuge mit etwas ganz anderem gerechnet. Aber eine erneute unbescholtene Heimkehr auf seinen Heimatplaneten hatte der Botschafter dieses Mal unterbunden, denn das Ganze war mehr als einmal zu oft vorgekommen. Bilaterale Vereinbarungen zwischen den Planeten hin oder her.
„Sag bloß nicht, dass wir diese bluttrinkende Geißel mit an Bord haben!“ Miles Ibrahims Gesichtsausdruck konnte sich nicht zwischen Wut und ernsthafter Besorgnis entscheiden.
„In Ketten und permanent bewacht von einer Dekurie. Ich habe ihm klargemacht, dass er dieses Mal durch die Luftschleuse wandert, sollte er auch nur an irgendeine Aktion denken. Und das meine ich ernst! Er steht unter permanenter Überwachung durch Mentalscanner.“
„Wie hast du das hinbekommen? Jeder bilaterale Vertrag unter den Planeten und zwischen den Wächtern garantiert Alofan ein Erster-Klasse-Ticket zurück nach Chamina. Wie hast du das geschafft, ohne die Verträge zu beugen oder zu massivem Druck zu greifen?“
„Ein simpler juristischer Winkelzug. Einfach und elegant. Auf Lotus ist er als Kronzeuge mit einer komplett sauberen Akte aus dem Verfahren gegangen, systemweit. Dummerweise gab es damit keinerlei Grund mehr, dem Auslieferungsantrag der Wächter einen vorrangigen Auslieferungsantrag nach Chamina vorzuschieben.
Lotus war sehr kooperativ, was nicht allzu verwunderlich ist. Bei Chamina musste ich leider eine totale Quarantäne verhängen. Dieser Planet hat definitiv die zulässigen Parameter verlassen. Ich hätte das schon vor langer Zeit tun sollen.“
„Eine totale Quarantäne?“ Jetzt hatte Besorgnis mit Entsetzen eindeutig die Oberhand in Miles Gesicht gewonnen. „Damit kommst du nie durch!“
„Das bin ich schon, mein Freund! Der Rat der Planeten hat das mit 11 zu einer Stimme ratifiziert. Manchmal ist Demokratie, wenn 11 Schafe einen Wolf fressen. Nur meine Vorgesetzten können das wieder aufheben, sobald sie davon erfahren. 15 Jahre, um meinen Bericht zu empfangen, und 15 Jahre, um die Antwort zurückzuschicken. Im allerschnellsten Fall, falls sie die Quarantäne überhaupt aufheben wollen. Und wenn, dann wird es lange dauern, den gemeinsamen Beschluss der Planeten aufzuheben. Chamina ist für sehr lange Zeit aus dem Rennen.“
„Und das alles nur, um Alofan in die Finger zu bekommen? Du bist wahnsinnig! Was hast du mit ihm vor?“
„Alofan ist nur ein Bauernopfer, das gebracht werden musste, um die Dame opfern zu können. Sein Auftritt ist vorbei. Ich hätte ihn nach Chamina ausweisen lassen können und dann erst die Quarantäne verhängen. Aber dann wäre der ‚Held von Lotus‘ nach Hause gekommen und hätte den Planeten fest in seiner Hand gehabt, ohne irgendeine Störung von außen. Nach dem Ende der Quarantäne wäre alles noch schlimmer als vorher. Leider kann ich ihn nicht ohne triftigen Grund aus der Schleuse werfen lassen. So, befürchte ich, wird er dein Problem werden.“
„Was? Du kannst uns doch nicht die Geißel in den Pelz setzen. Er wird ein Blutbad unter den von Querlitzenfalls anrichten! Du solltest uns unterwegs aus der Luftschleuse werfen, das wäre humaner.“
„Ja, wahrscheinlich, aber das kann ich nicht tun. Das Einzige, was ich tun kann, ist, Alofans Gedächtnis auszuradieren und ihn einer Therapie zu unterwerfen. Mehr ist leider nicht möglich.“
„Welch ein Trost! Ein sauberer Neustart für das Monster, das derart auf Lotus gewütet hat.“
„Ich verstehe deinen Zorn, aber wie gesagt, kann ich nicht ... Hm, doch! Ich werde das umgehend veranlassen, bevor ich die neuen Anweisungen meiner Vorgesetzten bekomme und ausführen muss.“
„Du schickst uns in die Hölle auf Secundus Al Catraz, welcher deiner wohlwollenden Pläne steckt da dahinter?“
„Na, so schlimm ist Secundus Al Catraz nicht. Eigentlich paradiesisch, man kommt nur eben nie wieder von dort weg. Planet Nr. 13 steht seit Tausenden von Jahren unter Quarantäne. Die Fernaufklärung der Blockade-Maschinerie zeigt ein recht idyllisches Bild. Nicht einmal ich kann dich von dort befreien. Es sei denn, die Quarantäne wird aufgehoben. Die Chancen sollten langfristig nicht schlecht dafür stehen, zumal es jetzt einen neuen Verbannungsort gibt, der wirklich die Hölle ist.“
„Oh Herr, steh uns bei! Wer dich zum Freund hat, braucht keine Feinde mehr. Aber dich wirklich zum Feind haben wollte ich beim besten Willen nicht. Ich hoffe, du hast nicht noch mehr ‚Gute Nachrichten‘ für mich, mehr verkrafte ich nicht.“
„Ruh dich aus, alter Freund. Hier an Bord ist es eng, aber ihr habt noch viel Zeit, euch auf Secundus Al Catraz vorzubereiten. Höre auf den Rat eines wirklich Weitgereisten: Ruh dich aus, solange du kannst, sammle Kraft und Ideen für den Moment, da das Heft des Handelns wieder in deiner Hand liegt. So, und nun muss ich die tickende Zeitbombe entschärfen, die gerade das Rendezvous-Manöver eingeleitet hat. Oh, wie ich diesen Chaminier hasse, er wird sich wünschen, mich nie getötet zu haben!“
„Vater, diese Situation als besorgniserregend zu bezeichnen, ist untertrieben! Wenn die Wächter dieses Monster nicht aus der Luftschleuse werfen, dann werde ich das tun! Selbst wenn sie mich dann gleich hinterherwerfen!“ Linia von Querlitzenfall zeigte einen derart sturen Blick, dass Miles nur noch einen verzweifelten Seufzer ausstoßen konnte.
„Nein, Tochter, du hast schon weiß Gott genug Unheil mit überstürzten Aktionen angerichtet. Du wirst dich auf dieser Reise äußerst vorbildlich verhalten und keinen Einzigen von Querlitzenfall und insbesondere nicht dich selbst in Gefahr bringen! Zügle dein Temperament, wir werden unsere ganze Kraft für den Neuanfang auf unserer neuen Heimatwelt benötigen. Dennoch es kann nicht schaden, wenn wir alle wachsam bleiben und ein Auge auf den unwillkommenen Gast werfen. Der Botschafter hat an seiner Person ein sehr persönliches Interesse und ich hoffe sehr, dass du unsere, wenn auch hypothetische, Hoffnung auf Rückkehr für die nächsten Generationen nicht aufs Spiel setzt. Quolanz hat uns langfristig Hoffnung gemacht.“
„Quolanz, Quolanz, Quolanz! Der Botschafter der Wächter spielt sein eigenes Spiel mit allen. Er ist wahrscheinlich ein noch größeres Übel als selbst dieser ... dieser Chaminianer.“
„Tochter, Tochter, du beschimpfst den Herrn dieses Schiffs. Aber wenn man bedenkt, was mit Chamina passiert ist, ist deine Meinung verständlich. Ich wünschte, du könntest dich nützlich machen und den anderen Clanangehörigen dabei helfen, sich an Bord zurecht zu finden. Das würde deine Stellung in der Familie wieder festigen. Und schick mir Ida, wenn du sie triffst, ich benötige einen zweiten Mentaten, um die Strategie für das weitere Vorgehen zu erörtern.“
„Du rechnest mit permanentem Bedarf an Mentatentscheidungen auf strategischer Basis?“
„Ja, du verkennst die Situation. Alles wird neu sein und nicht einmal ich kann erahnen, was es wirklich bedeutet, ohne ein Netzwerk an Kontakten auskommen zu müssen, oder eines zu haben, das uns möglicherweise sogar feindlich gesinnt ist. Wir werden Eindringlinge sein, die letzte Verbannung von einem der Planeten in dieser Größenordnung muss Jahrhunderte zurückliegen. Ich brauche im Moment einen Gegenmentaten, der mir das Leben zu Hölle macht.“
„Ja Vater, ich spute mich.“ Linia verließ die Gesprächsnische und verschwand eilig hinter der nächsten Gangbiegung. Miles Ibrahims geschulter Geist versetzte sich umgehend in Gedankentrance und ein schier endloses Muster an Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten baute sich vor seinem inneren Auge auf.
*
Mit weit aufgerissenen Augen dagegen wurde der Chaminaner Alofan durch den Shuttle-Hangar in die nächste Arrestzelle geschleift. Trotz der Aussichtslosigkeit, gegen die schweren Kampfroboter etwas ausrichten zu können, wand er sich in den Ketten. Erst als eine der Maschinen die lapidare Mitteilung machte, dass die Wahrscheinlichkeit für eine Kursänderung in Richtung Luftschleuse 90% betrug, wurde Alofan schlagartig lammfromm. Auf den Gängen und im Hangar begegnete er keinem einzigen anderen Menschen, obwohl das Schiff überfüllt sein musste. Die Arrestzelle war ein etwa 6 m2kleiner, komplett kahler Raum. Wände, Decke und Boden bestanden offensichtlich aus Flussmemometall, denn die Öffnung zum Wachraum hatte sich nahtlos hinter ihm geschlossen. Ein sanfter Luftstrom kam gleichmäßig aus dem Boden und verschwand durch die Decke wieder hinaus. Mit bloßem Auge waren keine Öffnungen zu erkennen. Ein perfektes, hermetisch abgeschlossenes Gefängnis. Alofan hatte nichts anderes erwartet, als die gleiche Technik vorzufinden, die ihn schon seit seiner Festnahme auf Lotus in seine Schranken wies. Die Kosten mussten enorm sein, aber die Wächter hatten aus seinem letzten Ausbruch dazugelernt. Der ganze Raum war zwar aus Metall, aber angenehm warm und der Boden passte sich seinem Körper perfekt an, so dass es kein Problem war, sich auf den Boden zu legen und zu schlafen. Wäre dieser Raum kein Gefängnis, hätte Alofan sich seine ganze Festung auf Chamina so eingerichtet; welche Möglichkeiten! Nur hätte sich kein anderer Chaminaner freiwillig so ausgeliefert.
Das Leben auf Chamina war geprägt von der ständigen Wachsamkeit vor seinen Feinden. Feinde, die man sich unweigerlich machte, sobald man auch nur das Licht der Welt erblickte. Alofan schwelgte in Erinnerungen. Ein Assassinen-Mentat wie er sollte eigentlich Pläne schmieden, allerdings hatte er alle Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten ziemlich erschöpfend abgehandelt. Ein Assassinen-Mentat würde nie einen Kontramentaten benutzen, die Gefahr des Verrats war zu groß und zu viel Vorausplanung tilgte Improvisationsfähigkeit und Inspiration, das hatten ihn seine Lehrjahre auf Chamina schmerzlich vor Augen geführt. Und man konnte von den ganzen Wenn und Aber wahnsinnig werden. Es gab genügend verrückte Mentaten auf Chamina, die normalen Paranoiden nicht mitgezählt.
So ließ Alofan sein Leben und seine Taten an sich vorüberziehen. Einige waren wahre Kunstwerke gewesen, auch wenn diese Banausen auf den anderen Planeten das anders sahen. Auf Chamina war er ein Held und eine Berühmtheit. Er könnte ohne Probleme seine eigene Schule aufmachen und würde sich vor zahlenden Schülern nicht retten können. Wenn er denn als er selbst nach Chamina zurückkehren würde. Der Botschafter der Wächter hatte vor, ihn zu brechen; noch so ein Banause und verquerer Gutmensch!
Wenn man vom Teufel sprach, das Kräuseln einer Wand kündigte den Besuch des Botschafters an.
„Wie ich sehe, haben Sie es sich in Ihrer Zelle gemütlich gemacht. Wie gefällt Ihnen Ihr Domizil für die nächsten Monate?“
„Monate? Sie sind sehr kreativ, Umwege zu fliegen!“
„Nicht wirklich. Dieses Mal haben Sie kein Ticket nach Chamina gewonnen. Ihr Planet steht unter Quarantäne, ein bedauerlicher Unfall mit Biowaffen. Ein ‚Kunstunfall‘, wie Sie es poetisch nennen würden.“
„Ich lasse mich da von Ihnen, wie jedes Mal, überraschen. Sie sind wirklich nachtragend, Quolanz! Ihnen fehlt einfach das Gespür für die Kunst in meinem Handwerk. Das habe ich Ihnen auf Ihren eigenen Wunsch hin zu vermitteln versucht.“
„Ja, das haben Sie geschafft, nur finde ich nichts Anziehendes an Ihrer ‚Kunst‘. Ich werde diese Gespräche nicht vermissen, genauso wenig, wie Sie dazu in der Lage sein werden.“
„Was wollen Sie tun? Mich aus der Luftschleuse werfen lassen? Wie einfallslos!“
„Nein. Sehen Sie das grüne Gas, das jetzt aus den Boden strömt? Keine Angst, es wird Sie nicht umbringen oder mehr als nötig körperlich oder geistig beschädigen, aber es wird Sie definitiv nicht kalt lassen.“
Alofan konnte nicht verhindern, dass er erbleichte, eine Reaktion, die sein emotionales Training eigentlich verhindern sollte.
„Was haben Sie für eine Wächterschweinerei vor? Kein Vertrag zwischen Ihnen und den Planeten wird das abdecken!“
„Der Vertrag mit Secundus Al Catraz schon. Sie werden noch dahinter kommen. Das grüne Gas ist harmlos. Es wird Sie nur für die anschließende Behandlung sedieren, entspannen Sie sich. Das wird das letzte Kapitel von Alofan Haragieri, dem Meister-Assassinen-Mentaten von Chamina sein. Wenn Sie erwachen, werden Sie ein neuer Mensch sein.“
Quolanz setzte sich und genoss sein Werk. Nie hätte er erahnen können, dass so niedere Instinkte im höchsten Vertreter der Wächter über die Menschheit im Alpha-Centauri-System stecken könnten, aber er genoss es wirklich, Alofan schreien und toben zu sehen. Die Gasabdichtung schluckte jedes Geräusch aus der Zelle, aber er konnte sich die Aufnahmen der Zellenüberwachung später mit Ton anschauen, falls es ihn danach gelüsten sollte. Quolanz kamen Zweifel, ob er das wirklich wollte, und drückte die Taste für Schnellsedierung, um diesem Schauspiel ein schnelles Ende zu setzen. Morgen früh würde der Mann in dieser Zelle zwar noch denselben Körper und Geist haben, aber nicht mehr das Gift der chaminischen Erziehung in sich tragen. Sämtliche Erinnerungen würden unwiederbringlich zersetzt sein.
Danach würde eine intensive Einzeltherapie zeigen, was noch an Bösem in der neuronalen Struktur des Gehirns selbst steckte. Quolanz würde den Ausblick in das wahrhaftig Böse vermissen, obwohl ihm klar wurde, dass er schon viel zu viel davon abbekommen hatte.
„Wer bin ich? Wo bin ich?“ Der Mann schreckte von seinem Lager hoch. Eine Lampe auf dem Pult vor ihm leuchtete auf und eine eindeutig künstliche Stimme erwiderte:
„Da Sie kein KOM-Gerät bei sich tragen und meine Verbindungen zu anderen Knotenrechnern unterbrochen sind, kann ich Ihnen diese Frage leider nicht beantworten.“
„Was ist mit mir passiert?“
„Ihr Betreten dieser Station wurde als Akt der Infiltration durch unbefugtes Personal gewertet und Sie wurden mittels eines langsam wirkenden KO-Gases außer Gefecht gesetzt. Da keinerlei Verbindung zu übergeordneten Instanzen möglich war, wurde eine gedächtnisblockierende Substanz verabreicht. Ich spreche Ihnen mein Bedauern über die Notwendigkeit dieser Maßnahme aus, kann Ihnen aber gleichzeitig versichern, dass dies reversibel ist. Leider ist die Reversion der Maßnahme nur von einer übergeordneten Instanz aus zu autorisieren, da Ihre Motivation in Bezug auf diese Einrichtung nicht als einwandfrei zu bewerten ist.“
„Hm, das wird schwierig, wenn keine Verbindung zu einer übergeordneten Instanz besteht, oder?“
„Diese Einschätzung ist nicht ganz zutreffend. Unmöglich, bis zur Änderung des Kommunikationszustandes.“
„Wann ist mit einer solchen Änderung zu rechnen?“
„Unbekannt.“
„Wie lange besteht dieser Zustand schon?“
„Die letzte erfolgreiche Kommunikation mit einer übergeordneten Instanz erfolgte vor 68 Milliarden 275 Millionen 439 Tausend und 368 Sekunden.“