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Hydorgol - Inquisition Die letzte große und alles entscheidende Schlacht des Krieges zwischen den Aufständischen und den Truppen der Wächter wurde vor Jahren geschlagen. Die siegreichen Quin-Ho haben sich in der Welt, die nun alleine ihnen gehört, eingelebt. Aber kein Krieg, keine Schlacht bleibt ohne Verlierer. Besonders hart hat es das Volk der Hünen getroffen, ihre ganze Welt wurde von den Menschen in Schutt und Asche gelegt. Den Hünen steht als Mitglied der Kontinuität besonderer Schutz zu und so wird von der Kontinuität die Flotte der Ankläger entsandt. Die Schiffe sind voller Wesen, die mehr als nur bereit sind, ein schweres Amt auf sich zu nehmen, das Amt des Inquisitors. Der Menschheit stehen schwere Zeiten bevor, denn die Inquisition kann dieses schwerwiegende Sakrileg nicht ungesühnt lassen!
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Seitenzahl: 343
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Die Karte der Hauptstadt Nova Delhi:
1. Kinder des Zorns
2. Der Ruf nach Vergeltung
3. Lotus, zum Laudenz
4. Ein merkwürdiger Besucher
5. Waschen, legen, föhnen
6. Im Traumland
7. Der Auftrag
8. Nova Delhi
9. Tee mit der Kaiserin
10. Zu spät zum Tee
11. Zwischen den Sternen verloren
12. Pilgerfahrt zu Frau Lakshmi
13. Audienz bei einer Göttin
14. Die Ankunft
15. Vor dem Inquisitor
16. Das gemütliche Tal
17. Die Karawane zieht weiter
18. Der Gangasee
19. Der Fluss-Jäger
20. Nördliches Terminal
21. Die Augen und Ohren der Kaiserin
22. Die Dienstreise
23. Jäger und Gejagter
24. Im Butterfass
25. Viel zu tun und gutes Personal …
26. Hydara
27. Besuch des Tempels
28. Auf den Spuren Kalis
29. Befragungen
30. Essen und Trinken
31. Frühstück und Aufbruch
32. Die letzte Meile
33. Einzug in Nova Delhi
34. Im Inneren
35. Ungeladene Gäste
36. Die Delegation der Kläger
37. Der Platz der Verteidigung
38. Zu Besuch
39. Im Haus der gütigen Frau Lakshmi
40. Vor dem Inquisitor
41. Unpopuläre Neuigkeiten
42. Wandel interruptus
43. Unter Beschuss
44. Rauchende Trümmer
45. Neue Freunde
46. Reite den Drachen
47. Alte Freunde
48. Großes Wiedersehen
49. Erweiterter Bedarf nach Inquisition
50. Treffen mit dem Professor
51. Zeugen
52. Alte Erinnerungen
53. Der Flottenrat
54. Ein großes Gewitter
55. Tiefer in die Berge
56. Die Aufklärung des Falls
57. Konklusion
58. Ist der Inquisitor aus dem Haus
59. Willkommen zurück
60. Hydorgol errette uns
61. Die Verkündung des Urteils
62. Der weltliche Arm
63. ENDE
Draußen tobte der Mob. Und das war gut so, denn es war sein Mob. Seine Kinder des Zorns, viele von ihm selbst und mit anderen zusammen im Zorn gezeugt und geboren. Ihre Wut entlud sich an den Mauern der großen Ratskammer. So dick die Mauern auch sein mochten, der Horde der Erneuerung würden die Mauern nicht lange standhalten.
Die feinen Pinkel des Meisterrates mochten ihn mit ihrem Standesdünkel von ihren Sitzungen ausgeschlossen halten, so lange sie wollten, seinen Platz auf den Schiffen würden sie ihm nicht verwehren. Nicht, wenn sie selbst den Weg von ihren ach so heiligen Hallen zu den Schiffen des ach so heiligen und dennoch hilflosen Bundes der Völker würden überleben wollen.
Früher hatten einige der Meister ihn als treuen Freund und Helfer geschätzt, aber das war seit langer Zeit vorbei. Seitdem er mit seiner Horde der Erneuerung den Bünden und Bruderschaften, deren Oberhäupter und Vertreter die Meister waren, den Rang abgelaufen hatte. Fraan der Freund, Fraan der Vermittler, Fraan der Füllvater, hatten sie ihn genannt. Nun war er nur noch Fraan der Fürchterliche, Fraan das Monster, Fraan der Verderber. Wie sich das Bild des Edlen doch ändern konnte, je nachdem, ob die eigenen Fähigkeiten und Dienste den Mächtigen nützten oder sich gegen sie wandten. Fast genauso schnell, wie die Katastrophe über sie alle hereingebrochen war.
Täler, Wälder, Berge, alle waren sie im Weltenfeuer verbrannt. Mitsamt der meisten ihrer Bewohner. Nur die Stärksten, die Feigsten und die Abwesenden des einstmals so großen Volkes der Hünen hatten überlebt. Drei große Jahre waren seitdem vergangen. Das erste Große Jahr, das Großjahr des Jammers. Das zweite Große Jahr, das Großjahr der Horden, und dann das dritte Große Jahr, das Großjahr der Restaurierung.
Nun würde mit dem Wandel der Zeiten das vierte Großjahr anbrechen. Wenn es nach den Schwätzern in der Ratskammer ging, das Jahr der Gerechtigkeit und Aussöhnung. Der Mob der Horde schrie dagegen nach dem Jahr der Rache und Vergeltung. Rache und Vergeltung für die verbrannten Eltern, Kinder, Partner, Stecklings-, Knospungs- und Teilungskinder. In Fraan kochte nach all den Jahren die Galle hoch. Mit wütendem Schwanzschlag peitschte er seinen muskulösen und massigen Leib durch die Reihen der Horde und entlud seinen Zorn in einem gewaltigen Schlag der Macht gegen die Mauern des Meisterrates.
Hatte die Mauer bisher nur gebebt, so brach jetzt ein Stück heraus. Jubel und Hochrufe auf den Anführer der Horde erhoben sich aus den Reihen seiner Kinder:
„Fraan, Fraan, Fraan!“
Die Stunden des Meisterrates waren gezählt. Hatten die Bruderschaften und Bünde in den kleinen Jahren des letzten Großjahres Sieg um Sieg gegen die anderen kleinen und großen Horden errungen, so hatte das die Horde der Erneuerung nur noch stärker werden lassen.
Wo andere die Entscheidungsschlacht gesucht und gefunden hatten, oder einfach nur überrascht worden waren, dort war Fraan zurückgewichen. Wo andere marodierten, da hatte Fraan aufgebaut und eingesammelt. Fraan war vom Beruf Füllvater. Ein Lückenfüller, dafür gut, die kleinen und größeren Unzulänglichkeiten im Genpool der Eltern aufzufüllen. Kein hoch angesehener Beruf, knapp über den Lustpaarern, knapp unter dem der Ammen. Aber dennoch nicht, ohne Bindungen zu hinterlassen. So hatte er insgeheim nützliche Talente und Bündnispartner in den Reihen der Bruderschaften und Bünde gesammelt. So manch dankbarer Steckling hatte zur rechten Zeit die eine oder andere, für das Überleben der Horde wichtige Information an ihn weitergegeben. Fraan hatte sich mit Informationen über die eine oder andere konkurrierende Horde revanchiert.
Und nun würde mit der unaufhaltsam näher rückenden Großen Chance seine unermüdliche Arbeit Früchte tragen. Früchte des Zorns. Er würde den Rat der Meister hinwegfegen, die vor Reede liegenden Schiffe der Kontinuität an sich reißen und sie mit seinen Kindern des Zorns bemannen. Mit dem Wechsel der Zeiten würde er in die Welt der Verursacher gelangen und dort den Sturm entladen, den die Verursacher gesät hatten.
Fraan drehte über die Seite nach links ab und glitt auf der Wolkenschichtung zurück, hinter die Reihen seiner Horde, um Kraft und Zorn für den nächsten Anlauf zu sammeln. Der erste Anlauf war einer wilden Eingebung gefolgt und hatte doch ein Stück aus der Mauer gesprengt. Jener Mauer, die der Horde bisher ohne Probleme getrotzt hatte. Die Mauer war angeschlagen, der zweite Anlauf würde sie brechen. Ja hinwegfegen, wenn sie alle gemeinsam zuschlugen. Fraan hob zum Schlachtruf der Horde an:
„Horde der Erneuerung!
Kinder des Zorns!
Gemeinsam!
Gemeinsam!
Gemeinsam!“
Die Hünen direkt an seinem Weg zurück in die hinteren Reihen hörten ihn und griffen den Schlachtruf auf. Er breitete sich durch die Reihen aus, und als Fraan seine Wende für den erneuten Angriff beendet hatte, war die Horde im Schlachtruf vereint.
Immer schneller durcheilte der Anführer die Schneise zur Mauer und tankte Zorn und Kraft von seiner Horde. Die Ebene bebte vom rhythmischen Stampfen der Massen. Fraan konzentrierte sich nur auf den Spalt in der Mauer, der ihm als Schwachstelle erschien. Das war sein Ziel. Auf Höhe der ersten Reihe entlud er seinen Zorn in einem geraden Blitz punktgenau auf den Mauerspalt.
Der Blitz traf genau. Staub und Splitter flogen durch die Luft und Wetterleuchten durchzog die Fugen der Mauer. Fraan flog eine enge Wende über die Reihen seiner Anhänger. Er wich damit dem Ansturm der Hünen aus, die ihm gefolgt waren und denselben Punkt in der Mauer unter Beschuss nahmen, den er vorgegeben hatte. Deren Blitze waren bei weitem nicht so kräftig wie seiner, und nicht alle trafen, aber die Masse der Entladungen ließen die Mauer in gespenstischem Wetterleuchten erstrahlen.
An mehreren Stellen bröckelten Stücke herab. Erst nur wenige, dann mehr und mehr. Die Schneise hatte sich mit voranstürmenden Hünen gefüllt und bald konnte Fraan auf seinem Weg zurück zu den hinteren Reihen die wohlorganisierten Ströme seiner Schar bewundern.
Das Gewitter würde bei so vielen Angreifern über Stunden anhalten, und, wenn es sein musste, sogar über Tage und Wochen mit in Schichten angreifenden Rotten.
Das Manöver hatte der Füllvater aus den Tänzen der alten, streunenden Mobs und den Gesängen der Einheit aus dem Tal der Finru entwickelt. Für seine Kinder war es erst nur Spaß gewesen, dann Stütze in den Zeiten der Dunkelheit. Jetzt war daraus eine furchtbare Waffe geworden.
Fraan flog hinter die Reihen und reihte sich erneut in den reißenden Strom der Angreifer. Sein nächster Blitz sollte die erste große Bresche in die Mauer reißen. Er musste sich anstrengen, mit den jüngeren Hordenmitgliedern mitzuhalten. Fraan war alt und damit viel massiger und schwerer als die Junglinge, dafür bei weitem nicht so wendig und schnell. Fraan schnaufte vor Anstrengung und das bekamen die Junglinge mit. Es spornte sie noch zusätzlich an, schneller vorwärts zu stürmen und damit die Blitze in noch kürzeren Abständen in die Mauer prasseln zu lassen. Es bildete sich eine Blase an vorbeihuschenden Leibern um Fraan. Der stetige Strom Richtung Mauer unterstützte ihn mit seinem Sog. Der alte Hüne nutzte den Rückenwind um seinen Atem zu normalisieren und ließ es kurz etwas ruhiger angehen.
Die Mauer rückte näher. Der Spalt glühte, dass selbst ein Blinder ihn allein durch die verströmende Hitze finden konnte. Der dritte Anlauf würde die Entscheidung bringen.
Die Blase um Fraan herum wurde enger, je näher sie der ersten Reihe kamen.
Bald stieß der Füllvater mit den dicht gedrängten Stürmenden zusammen. Erst war es lästig und irritierend, dann steigerte das Gestoße und Geschubse den Zorn des alten Kolosses in weiße Raserei. Die Kinder des Zornes taten das mit Absicht, wie er den fernen Anfeuerungen entnahm:
„Trommelt auf den alten Sack!
Bringt ihn auf Zack!
Er ist alt, müd und träg.
Aber wehe er wird geweckt!
Dann walzt er alles weg!
Weg, Weg, Weg!“
So kannten sie ihn. Gut, dieses Mal sollten sie ihren Willen bekommen. Racker!
Die erste Reihe war an ihm vorbei gerauscht. Jetzt oder nie. Fraan entlud alles, was er angesammelt hatte und alles, was er an sonstigen Reserven besaß in einem noch nie dagewesenen Donnerschlag in den Mauerspalt. Ein gewaltiger Knall ließ Fraan taumeln. Eine milchige Welle breitete sich mit wahnwitziger Geschwindigkeit vom Auftreffpunkt seines Blitzes aus und ließ auch die Hünen in den Reihen hinter ihm taumeln. Der Aufmarsch geriet ins Stocken und wilde und unkoordinierte Blitze entluden sich in den Himmel und in die eigenen Reihen.
Fraan wandte seinen Blick von den Sterbenden in den eigenen Reihen ab und wieder der Mauer der Ratskammer zu. Dort, wo vorher der Spalt geglüht hatte, klaffte nun ein Loch in der Mauer. Eine Bresche, groß genug, um eine gesamte Sturmrotte in das Gebäude eindringen zu lassen. Dennoch stürmte niemand hindurch.
Niemand, auch nicht Fraan, wagte es.
Denn Schreckliches bahnte sich aus dem Innern der Kammer seinen Weg nach draußen. Ein einzelner Hüne. Hitze und Blitze schienen ihm nichts auszumachen. Schlimmer noch, er selbst strahlte Hitze und elektrische Spannung aus, die die Mauer an der Stelle noch heller aufleuchten ließ.
Kein Hüne würde das auch nur für kurze Zeit überleben. Der Herannahende schien es zu genießen und alle Zeit der Welt zu haben. Das war kein Wesen aus Fleisch und Blut, das war etwas, was lange nicht mehr auf den Welten der Hünen gesehen worden war: ein künstliches, von längst vergangenen mächtigen Zauberern der Altvorderen erschaffenes Wesen.
Ein Golem.
Fraan folgte den Reihen der zurückweichenden Horde und brüllte sie an, standhaft zu sein und die Frontlinie zu halten. Er selbst gab das beste Beispiel und rückte wieder vor. Die Horde war vorsichtiger, aber sie blieb zumindest hinter ihm und floh nicht.
Fraan hatte von diesen künstlichen Wesen gehört und wusste, das war der Grund, weswegen die ersten Horden erschaffen worden waren: wild und gefährlich gewordene Golems zu jagen und zu vernichten.
Der Anführer der Hünen stimmte den Gesang der Golemjagd an. Zaghaft und erst zögerlich stimmten die Kinder des Zornes ein. Bis ihre Angst schwand und Entschlossenheit wich.
Der Golem störte sich nicht daran, das taten diese tumben Kunstwesen der Überlieferung nach nie. Die Horde hatte wieder Formation gebildet und die Liedzeilen näherten sich der Stelle des gemeinsamen Schlages. Sobald das Lied verklungen war, würden alle gleichzeitig auf den Golem feuern. Fraan hielt den Atem an, als es soweit war. Eine gewaltige Welle baute sich auf und entlud sich auf den Golem.
Ein noch heftigerer Gegenschlag erfolgte und eine weitere milchige Schockwelle, wie bei dem Angriff auf die Mauer, durcheilte die Reihen der Horde.
Zwei Dinge aber waren anders als bei der Mauerwelle: zum Ersten war die Horde nun darauf vorbereitet und zum Zweiten, es lag eine Botschaft in der Welle:
„Genug! Schweigt und hört mich, den Golem Hydors, an!“
Stille kehrte schlagartig in die Reihen der Horde ein. Ein Zustand, den es noch nie gegeben hatte. Vollkommen unnatürlich bei der Masse der Hünen, die hier versammelt waren. Fraan wollte sprechen, schreien, aber eine gewaltige Macht hielt ihn stumm. Die Macht des Golems. Hydors Golem? Hydorgol! Es gab ihn wirklich.
Ehrfurcht und Staunen erfüllten Fraan. Dann gelang es ihm, doch noch die magischen Worte zu sprechen:
„Wir fordern Gerechtigkeit und Ausgleich für das erlittene Leid.“
„Mit Gewalt? Ein jeder Hüne konnte über seinen Vertreter vor dem Rat sprechen. Recht kann nicht mit Gewalt genommen werden. Warum spracht ihr nicht vor dem Rat?“
„Man hat uns das Gehör verweigert! Der Rat dient nur noch den eigenen Interessen, nicht mehr allen Hünen.“
„Ist das so? Jede legitime Gruppe hat das Recht, vor dem Abgesandten der Kontinuität zu sprechen. Wer seid ihr?“
„Mein Name ist Fraan der Füllvater. Wir sind die Horde der Erneuerung. Neu entstanden aus den Trümmern der Katastrophe. Ich bin ihr Anführer und Richter. Als solcher verlange ich Gehör vor dem Rat, für die Horde der Erneuerung.“
„Die Kinder des Zorns. Ich habe von euch gehört. Die Horden verweigerten den Frieden und zogen gegen die Zivilisation der Hünen zu Felde. Damit ist der Anspruch auf Gehör verwirkt.“
„Die anderen Horden zogen in den Krieg. Wir nicht, wir wichen vor den Mördern des Rates zurück. Somit haben wir das Recht auf Gehör.“
„Gut, so sei es. Wenn du ein Richter deines Stammes bist, dann steht dir nach altem Recht der Vorderen ein Platz in der Delegation der Ankläger zu. Es wird ein Richter für die Inquisition der Kontinuität benötigt. Wähle Begleiter aus deiner Horde aus. In der Dämmerung vor der Großen Chance brechen die Schiffe der Kontinuität auf. Seid pünktlich an Bord. Die Flut wartet nicht.“
Mit dem Verschwinden des Golems erhob sich Gemurmel in den Reihen der Horde. Fraan hatte nicht gesiegt, aber dennoch erreicht, was er wollte: Er würde mit den Schiffen der Kontinuität zu den Verursachern gelangen und dort sein längst gefälltes Urteil über sie vollstrecken können.
Nur noch etwas Geduld, nur noch ein kleines bisschen.
Hydorgol stand kurz davor, seinen, sich selbst auferlegten Eid zu brechen und seine Fracht über Bord zu werfen. Was bildeten sich diese Wesen aus dem Volk seiner Schöpfer eigentlich ein? Meinten sie, er hätte nichts anderes zu tun, als ihrem kleinlichen Geschwätz zu lauschen, während er versuchte, diese Ansammlung von inaktivem Material durch Zeiten und Dimensionen zum Ort ihrer Bestimmung zu bringen?
Ohne Anker, der den Weg wies? Eine Suche nach einem bestimmten Sonnensystem in einem fremden Universum. Wussten sie nicht, wie aufwändig seine Suche war? Hatte er es ihnen nicht zu erklären versucht, dass er zwischen ihren wachen Augenblicken Äonen seiner Zeit damit verbrachte, Wege zu suchen, zu beschreiten und das Ziel zu untersuchen?
Nur um dann wiederum festzustellen, dass es der falsche Ort oder die falsche Zeit waren? Sollten sie vor Ende der Großen Chance doch noch ihr Ziel erreichen, würde er diesen lästigen Klotz am Bein sich selbst überlassen und nichts anderes tun, als den Anker erneut zu errichten. Es war so viel einfacher, von Anker zu Anker zu reisen. Ein einziger Schritt anstatt einer endlosen Suche im Dunkeln von Raum und Zeit.
Sollten sie das Ziel ihrer Reise in Schutt und Asche legen! Es war ihm gleich. Er hatte zu viele Völker der Kontinuität werden, wachsen und vergehen sehen. Ein paar Völker machten sich Verbrechen schuldig, die ihre Auslöschung rechtfertigte. Warum nicht auch das Volk der Menschen? Hatte sie sich nicht schon einmal gegen die Kontinuität und gegen ihn persönlich versündigt? Er hatte die Xelbyhümfskä brennen gesehen. Er hatte die Jonanen brennen gesehen, und viele weitere Völker. Die Zahl der Völker war unüberschaubar, selbst für ihn. Was machte es da aus, wenn ein paar Unwürdige brannten?
Zumal er diese Entscheidung nicht würde treffen müssen. Vor Äonen der Zeit der anderen Geschöpfe hatte er diese Aufgabe den Richtern der Kontinuität überlassen. Was kümmerte es ihn, dass derjenige, der sich auf der Reise zum ersten Kandidaten für das Amt des Inquisitors aufgeschwungen hatte, alle Menschen am Ziel ihrer Reise brennen sehen wollte?
Wollte er, Hydorgol, denn nicht auch seine Last, seinen Klotz am Bein, brennen sehen? Vor allem, wenn sie ihn weiterhin mit Nichtigkeiten während seiner schweren und zermürbenden Arbeit belästigten?
Und hatten die Hünen nicht auch das Recht, jene brennen zu sehen, die sie selbst im Weltenfeuer hatten brennen lassen?
Es war ihm einerlei, er würde diesen verflixten Anker wieder errichten!
Laudenz. Eigentlich Laudes, aber Quintum hatte immer noch die Aussprache der einfachen Leute seiner Heimat im Ohr, wenn es zur Morgenandacht ging. Wie viele der ehemaligen Zellen des Oberpriesters war er mit der Niederlage der Wächter reinkorporiert worden und hatte sich dann ins uralte Kloster der Kontinuität auf Lotus zurückgezogen. Es waren turbulente Zeiten gewesen und viele Veränderungen waren auf die Wächter, aber auch auf die normalen Bürger der Alpha-Centauri-Planeten und sogar auf die siegreichen Quin-Ho zu gekommen. Weit über 30 Jahre lebte Quintum nun schon sein bescheidenes Leben in dem Kloster und ging seinen weltlichen und religiösen Pflichten nach.
Und wie an jedem Tag seit weit über 30 Jahren bereitete ihm das frühe Aufstehen körperliche Qualen. Es war einfach noch nicht seine Zeit. Der Geist war wach, aber der Körper war wie ein plumper Sack mit Reis, den man vom Dachspeicher direkt auf den Dielenboden hinunter geworfen hat. Nun, zumindest stellte sich Quintum vor, dass ein Sack Reis sich nach der Behandlung so fühlen müsste wie er in diesem Moment. Das Wissen, dass es ihm nach dem Tertiamahl wieder bessergehen würde, tröstete ihn nur bedingt.
Es war noch immer stockdunkel draußen und nur die dürftige Straßenbeleuchtung der Verbindungsstraße ins Tal konkurrierte mit den kleinen, gedimmten Handleuchten der wenigen Mönche, die sich auf den Weg in die Morgenkapelle machten. Quintum hatte die frühmorgendliche Katzenwäsche hinter sich gebracht, seine grobe Kutte übergestreift und genoss seinen Tee, den er auf Anraten des Arztes und mit der Sondererlaubnis des Abtes, vor dem gemeinsamen Frühstück zu sich nehmen durfte. Der Becher war fast getrunken und nun machte sich sein Magen mit Rumpeln und Rumoren bemerkbar. Quintum aktivierte seine Handleuchte und machte sich nun eilig auf den Weg zur Morgenkapelle. Natürlich nicht ohne den allmorgendlichen kleinen Umweg zur modernen Hygienekammer, die die Quin-Ho direkt nach der Kapitulation dem Orden der Kontinuität aufgezwungen hatten. Der alte Abt hatte vehement protestiert, aber sich schlussendlich, nach dem Verzicht von weiteren Einmischungen seitens der Quin-Ho in das Klosterleben, gefügt.
Wie immer kam Quintum als einer der Letzten, aber noch vor dem Abt, in die Morgenkapelle und nahm seinen Platz ein. Es war ein in Jahrzehnten fein abgestimmtes Ritual zwischen dem jetzigen Abt, dessen Vorgänger und den Mönchen. Quintum hatte seit Jahren das Amt des Guardian der Viatoren inne, aber das verlieh ihm trotzdem keine Sonderrechte, wenn es um die Einhaltung der Regeln des Klosters ging. Etwas Spielraum gab es in der zeitlichen Gestaltung der Laudes, und ein guter Abt verstand es, die morgendliche Andacht als einen erhebenden und harmonischen Start in den Tag zu gestalten.
Einen Anstandsmoment, nachdem Quintum Platz genommen hatte, betrat der Abt die Kapelle und die Morgengesänge der Kontinuität hoben an. Erst etwas müde, aber dann rasch an Kraft, Klarheit und Erhabenheit gewinnend, bis sich ein Gefühl der gemeinschaftlichen Harmonie und des inneren Friedens in jedem einzelnen Gesicht der Mönche abzeichnete.
Wie an jedem Morgen trat anschließend der Abt vor und verkündete die Aufgaben und Besonderheiten für den nun angebrochenen Tag. Meistens waren es Kleinigkeiten oder anstehende Besucher, aber dieses Mal wusste jeder, was heute bevorstand: Eine Delegation des Klosters würde zum Fest der Großen Chance in das Zentrum der Hauptstadt Lotus entsandt werden. Gleichzeitig war es die Siegesfeier der Quin-Ho und die dritte Reinthronisationsfeier Kaiserin Linias. Fast dreimal zwölf Jahre währte nun schon ihre Regentschaft. Fast direkt nach der gewonnenen Schlacht von Epsilon Eridani und der anschließenden Kapitulation des obersten Gremiums der Wächter, des Flottenrates, war Miles Ibrahim von Querlitzenfall zurückgetreten und hatte gemeinsam mit den anderen Quin-Ho seine Tochter Linia zur Kaiserin von Lotus und der anderen Planeten von Alpha Centauri ausrufen lassen.
Quintum war froh, dass ihm das Spektakel dieses Mal erspart bleiben würde. Er hatte den Abt um Dispens gebeten und die Erlaubnis erhalten, sich von seinen Ämtern zurückzuziehen und wieder als einfacher Viator selbst auf Wanderschaft gehen zu dürfen. Das Herumsitzen und Studieren der ganzen Berichte über die Reisen seiner Viatoren hatte ihn mit immer größer werdender Unrast erfüllt. Und nun war es soweit, der Abt erhob sich und breitete mit seiner umständlichen Art die Arme aus, von der jeder wusste, dass nun eine Ansprache folgen würde, die einige Veränderungen bei seiner Herde auslösen würde. Es erhob sich leises Raunen und leichte Unruhe entstand unter den Mönchen. Quintum blieb gelassen und erlaubte sich ein leichtes wissendes Lächeln, bis ihn eine kleine zusätzliche Handbewegung des Abtes stutzig werden ließ. Die Bewegung wurde nur ausgeführt, wenn etwas Unerwartetes eingetreten war und sich der Plan geändert hatte. Nun war auch Quintum aufgeregt und lauschte gebannt den Worten des Abtes:
„Brüder, wie wir alle wissen, nähert sich das Fest der Großen Chance und es ist nun an der Zeit, die Delegation unseres Klosters auf den Weg zu senden. Alle zwölf Jahre sind wir der Kontinuität so nahe und doch ist dies der Zeitpunkt für Veränderungen. Wie einige wissen, weil ich sie eingeweiht habe, und viele mehr vermuten, weil sie die Bewegungen bei uns um das Kloster gemerkt haben, und der Rest durch üble Spekulation und Tratsch zu wissen meint …“, der Abt schaute bei jedem Teilsatz jemand anderes wissend an und dabei zwischen Ernst und mildem Tadel im Blick wechselnd, „… gibt es Veränderungen in der Zusammenstellung der Delegation. Bruder Quintum hat um Dispens vom Amt des Guardian gebeten und ich habe dem zugestimmt. Somit wird sein bisheriger Adlatus Bruder Mahavir das Amt von diesem Tage an übernehmen und während meiner Abwesenheit als Guardian der Viatoren die Tagesgeschäfte im Kloster führen. Die Delegation besteht des Weiteren aus den Brüdern Lai, Christoperus und Tiro vom südlichen Berg, Damodar vom ersten Ring, Devdan aus dem zweiten Ring, Dilip aus dem dritten Ring und Bruder Ganesha aus dem äußeren Ring von Nova Delhi. Bruder Lehrer Mohan wird mit drei Novizen, die es sich durch besonderen Fleiß verdient haben, die Delegation auf die üblichen zwölf Mitglieder verstärken.“
Das war ungewöhnlich, normalerweise begleitete der Guardian der Viatoren den Abt auf der Reise zu den Feierlichkeiten auf dem Forum von Nova Delhi. Bruder Mahavir warf Quintum einen fragenden Blick zu, den Quintum nur ebenso fragend zurückwerfen konnte. Damit aber noch nicht genug der Ungewöhnlichkeiten, der Abt hatte noch mehr zu verkünden:
„Bruder Mahavir und Bruder Quintum, ich möchte euch bitten, mich umgehend nach dem Laudes in mein Arbeitszimmer zu begleiten. Ein etwas seltsamer Gast hat uns aufgesucht und ich möchte euch bitten, euch seiner anzunehmen, während ich den Aufbruch der Delegation noch vor Ende der Prima in die Wege leiten werde. Brüder, lasset uns nun die große Laudes auf die Kontinuität anstimmen und uns dann zügig für den Aufbruch nach Nova Delhi rüsten. Bruder Vorsinger, bitte stimmt an.“
Mit einer feierlichen Geste gebot der Abt dem Vorsinger, anzufangen. Das nervöse Geraune verstummte schlagartig, als alle gemeinsam den Choral zu Ehren der direkten Nähe zur Kontinuität anstimmten. Der Abt hatte somit geschickt die Mönche von wilden Spekulationen abgelenkt und gleichzeitig dafür gesorgt, dass jeder sich Gedanken darüber machte, wie der um über zwei Stunden vorverlegte Aufbruch zu bewerkstelligen sei. Alle, bis auf den Ehemaligen und den aktuellen Guardian der Viatoren.
Der Besucher war wirklich ungewöhnlich für ein Mönchskloster: Es war eine junge Frau. Zudem noch ziemlich aufreizend angezogen, attraktiv und, nach ihrem vielen Goldschmuck zu urteilen, zusätzlich noch ziemlich vermögend. Bruder Quintum und Bruder Mahavir starten betreten auf den Fußboden vor der Frau, allerdings nicht ohne dass ab und an ein Blick zum Abt zuckte.
Dieser wand sich in seinem Stuhl hinter seinem großen Schreibtisch und blickte die Frau fest und ohne erkennbares Interesse an, bevor er seinen Blick auf die beiden Mönche richtete.
„Brüder, was in diesem Raum besprochen werden wird, darf in keiner Weise diesen Raum, noch eure Lippen, in welcher Form auch immer, verlassen. Als euer brüderlicher Vater schmerzt es mich, euch dies jetzt schwören und geloben lassen zu müssen, denn ich kenne und schätze euch beide seit vielen Jahren und hatte niemals Anlass, an eurer Zuverlässigkeit den geringsten Zweifel zu hegen. Nun denn: Bruder Mahavir, schwörst und gelobst du Stillschweigen über das Gesprochene zu wahren und alles zu vergessen, was in diesem Raum geschehen wird, bis du von dieser Pflicht vom mir persönlich entbunden wirst?“
„Ja, Vater Abt. Ich schwöre und gelobe Stillschweigen und Vergessen.“
„Gut. Danke, Bruder Guardian. Bruder Quintum, schwörst du Stillschweigen über alles, was in diesem Raum besprochen und getan werden wird? Gelobst du Treue zur Kontinuität, Treue zu unserem Orden und Treue zur gesamten Menschheit, über die wir zu wachen haben? Selbst wenn diese uns auf die Probe stellen und unsere Dienste öffentlich oder im Geheimen ausdrücklich ablehnen werden?“
„Ja, Vater Abt. Stillschweigen schwöre ich und meine Gelübde der Treue zur Kontinuität, zum Orden und zur Menschheit bestätige und erneuere ich hiermit feierlich.“
„Gut, gut. Werter Besucher, seid Ihr damit zufrieden?“ Der Abt warf der Frau nun einen kalten und abschätzenden Blick zu.
Diese erwiderte mit einem nervösen Lächeln, nickte und zog ein faustgroßes Gerät aus ihrem Sari. Als das Gerät auf dem Tisch platziert und nach wildem Geblinke schließlich grün leuchtete, entspannte sich die Frau und bedeutete dem Abt mit einer Handbewegung, fortzufahren.
„Unser Besucher bedient sich des Körpers meiner Nichte Mya, die zudem noch Hofdame und Kammerzofe bei unserer geschätzten Kaiserin Linia von Querlitzenfall ist. Mehr wurde selbst mir als Abt dieses Klosters nicht mitgeteilt.“
„Viel mehr Informationen werden es leider auch nicht werden, hoch geschätzter Abt.“
Die Gestik passt nicht zu der Frau, die da sitzt, dachte Quintum, eher zu einem Mann im fortgeschrittenen Alter.
Und wie zur Bestätigung senkte sich die Stimmlage und die Frau nahm eine ziemlich lässige Haltung ein, als sie/er fortfuhr:
„Zur Reinthronisationsfeier unserer hoch ehrwürdigen Kaiserin Linia ist mit, sagen wir, etwas verschrobenen Forderungen zwielichtiger Einzelpersonen, Verrückten und krimineller Gruppierungen aller Couleur zu rechen. Die Quin-Ho sorgen sich natürlich um die Sicherheit unserer geliebten Kaiserin und reagieren in Einzelfällen vielleicht, sagen wir, etwas undiplomatisch. Nun, einen Verrückten oder gar eine Triadengang mehr oder weniger vermisst niemand sonderlich. Aber ich möchte in diesen Hallen der inneren Einkehr nicht weiter von solchen unerfreulichen Dingen sprechen. Lassen Sie mich eine, sagen wir mal - Bitte – vortragen.“
Der Besucher strich sich nun durch seinen imaginären Bart am Kinn. Ein Anblick, der beim Abt und den beiden anwesenden Mönchen Verwunderung und Abscheu auslöste.
Den forschenden Blicken des Besuchers entging das natürlich nicht. Seine unpassenden Gesten wurden ihm offenbar schlagartig bewusst, als die junge Frau imaginäre Staubkörner vom Sari wischen wollte.
Mit einem Räuspern straffte er die Haltung und wurde fast wieder damenhaft. Die Stimmlage wanderte wieder etwas nach oben.
„Ähm, ich bitte um Entschuldigung. Die Situation ist auch für mich ungewöhnlich, aber der zeitliche Rahmen hat etwas Improvisation erforderlich gemacht. Nun zurück zu unserer - Bitte: Wir, das heißt sowohl die Quin-Ho, als auch die Kaiserin selbst, sind etwas überrascht, das Quintum Rasilow dieses Mal nicht persönlich an den Feierlichkeiten teilnehmen soll ...“
Der Abt bekam einen knallroten Kopf und er unterbrach den Besucher lautstark:
„Die Zusammensetzung der Delegation des Ordens der Kontinuität obliegt allein meiner Verantwortung! Der Orden der Kontinuität hat die offizielle und unverrückbare Garantie der Kaiserin persönlich. Und ich sehe nicht, mit welcher Begründung das von einem dahergelaufenen, windigen Lakaien ohne schriftliche Vollmacht aufgehoben werden sollte! Dieses Gespräch betrachte ich als beendet. Falls Sie insistieren, können wir das Gespräch nach der Reinthronisation mit der obersten Hüterin von Anstand, Ordnung und Verlässlichkeit weiter ausführen. Die Zusammenstellung der Delegation ist offiziell verkündet und somit offiziell nicht mehr zu ändern, es sei denn, Quintum soll als Novize teilnehmen. Als Novize mit Bart und Tonsur.“
Der Ausdruck der Besucherin nahm nun einen wirklich damenhaften Ausdruck an und das Bild wurde wieder stimmig. Offenbar hatte der Geist im Körper gewechselt, denn über dem kleinen Gerät prangte nun das offizielle Siegel der Kaiserin.
„Abt, Sie sprechen jetzt direkt mit der Hüterin über Ihre kleinlichen Privilegien. Sie haben einen Eid zur Treue zu Kontinuität, Orden und Menschheit geleistet. Diesen Eid fordere ich nun ein. Quintum Rasilow wird meine Hofdame begleiten, sobald sie diese Stätte der Selbstgefälligkeit verlässt. Ob nun mit Bart und Tonsur oder ohne, aber auf jeden Fall frisch geduscht und in sauberer Kleidung! Die Hygiene lässt offenbar etwas zu wünschen übrig, wenn Männer nur mit ihresgleichen zusammen hausen.“
„Aber ...“
„Kein Aber, ich habe noch andere Aufgaben und Pflichten. Falls Sie wirklich gedenken, neu über die Gewährung Ihrer Privilegien zu verhandeln, wird Ihnen die kaiserliche Kanzlei kurzfristig einen Termin mit einem meiner Sekretäre vermitteln. Bis dahin wünsche ich Ihnen eine sichere Reise zu den Feierlichkeiten.“
Das nächste „Aber“ verhallte ungehört, denn das Gerät stellte schlagartig seine Funktion ein und die Frau im Sari kippte ohnmächtig zur Seite. Noch bevor die Brüder ihre Münder dreimal schließen und wieder öffnen konnten, richtete sich die Frau benommen wieder auf. Der Gesichtsausdruck war nun verwirrt, die Augen weit aufgerissen und sie zitterte am ganzen Körper.
„Onkel Kasili! Äh, ehrwürdiger Abt, ehrwürdige Brüder Mönche. Was mache ich hier bei Ihnen? Wie komme ich hierher? Die Vorbereitungen für das Krönungsfest der Kaiserin laufen und es ist noch so viel zu erledigen. Ah, ich erinnere mich langsam. Oh. Ähm, ja.“
Der Blick der Frau klärte sich und an der roten Gesichtsfarbe ließ sich nun eindeutig die Verwandtschaft zum Abt erkennen. „Waschen, einkleiden und spazieren gehen auf kaiserlichen Befehl“, die Blicke der Frau auf Quintum waren schon fast lüstern, „Onkel, ich hoffe, es gibt einen unauffälligeren Weg mit Bruder Quintum zusammen aus dem Kloster, als an allen Mönchen des Klosters vorbei?“
Die Gesichtsfarbe des Abtes wechselte von Rot zu Purpur. „Geh mir aus den Augen! Verlasse das Kloster auf der Stelle, ich will nichts mehr von dieser Sache wissen. Bruder Mahavir, sollte auch nur ein Wort über diesen Zwischenfall über deine Lippen dringen, werde ich dich und deine ganze Familie exkommunizieren und von Assassinen der Quni-Ho und der Kontinuität bis auf den letzten Säugling auslöschen lassen. Hast du das verstanden?“
Bruder Mahavir wurde kreidebleich und fiel vor dem Abt auf die Knie. Der Abt segnete den Bruder und half ihm wieder die wackeligen Beine.
„Bruder Quintum, nimm den geheimen Fluchtweg aus dem Kloster, den wir auf unseren gemeinsamen Streifzügen während unseres Noviziats entdeckt haben, sobald Bruder Mahavir und ich diesen Raum verlassen haben. Danach spute dich und befreie diese geweihten Mauern und den Berg von der Anwesenheit dieser verderbten kaiserlichen Hure, die mal zu meiner Familie gehört hat.“
Die „Flucht“ aus dem Kloster verlief unspektakulär. Der Raum des Abtes hatte eine versteckte Tür hinter dem Bücherregal. Nach einem kleinen Vorraum kam man umgehend zu einer engen Wendeltreppe. Der geheime Hebel war so abgewetzt, dass der Hebel zum Öffnen der Tür nur nicht sofort ins Auge fiel, weil der Rest der Einrichtung ebenfalls einen abgewetzten Eindruck machte.
Mya bediente den Hebel mit einer gelangweilten Selbstverständlichkeit, die zeigte, dass sie diesen Weg nicht nur kannte, sondern ihn wohl schon unzählige Male benutzt hatte. Im Aufstehen griff sie nach dem Apparat und ließ ihn in ihrer Kleidung verschwinden. Auch diese Bewegung wirkte wie schon seit langer Zeit in Fleisch und Blut übergegangen. Die lüstern-nonchalante Kopfbewegung, mit der sie dann Quintum bedeutete, ihr zu folgen, wirkte dagegen zwar selbstbewusst, aber durchaus interessiert.
Quintum schoss das Blut in den Kopf und noch in einen anderen Körperteil. Es war, als ob weit über 30 Jahre des Zölibats und der Enthaltsamkeit mit dem Verlöschen des imperialen Siegels, ebenso wie die paar verirrten Protonen, bedeutungslos geworden waren. Erinnerungen an die Feierlichkeiten vor seiner Aufnahme zum Oberpriester flammten auf.
Uralte menschliche Instinkte veranlassten Quintum, der jungen Frau zu folgen, die gerade fast lautlos hinter der ersten Windung der Wendeltreppe in Richtung Untergrund verschwand.
Er hörte ihre Schritte und ihr Atmen, wie sie die Wendeltreppe abwärts ins Dunkle stürmte. Quintum fluchte leise und eilte ihr im Schein seiner Handleuchte hinterher.
Windung um Windung ging es immer weiter in die Tiefe. Quintums geklonter Körper war zwar noch nicht so alt, wie er sich fühlte, aber das Leben im Kloster war arm an sportlicher Beschäftigung und so geriet Quintum schnell ins Schnaufen. Er war durch die einfache und spärliche Kost beileibe nicht gemästet, aber die unzähligen Stunden am Schreibtisch hatten für einen leicht gepolsterten Bauch gesorgt.
Quintum war schwindelig, als er am Fuße der Treppe in der unterirdischen Kaverne ankam. Die permanente Drehung und die ungewohnte Anstrengung in Verbindung mit dem Blut, das für die Durchblutung eines anderen Körperteils als des Gehirns verwendet wurde, rächte sich sein Körper für die plötzliche sportliche Betätigung. Quintum wurde schwarz vor Augen.
*
Als Quintum wieder zu sich kam, war ihm immer noch schwarz vor Augen. In der Kaverne war es stockdunkel, bei seinem Sturz hatte er sein Handlicht wohl auf dem Boden zerschmettert. Eigentlich unmöglich, denn ein Handlicht war eine Holographie, die von eintätowierten Nanomaschinen in der Handinnenfläche projiziert wurde. Der Schmerz und der verbrannte Geruch, die von seiner rechten Hand ausgingen, ließen nichts Gutes erahnen. Dann zuckte ein Lichtblitz in der Hand auf und ließ Quintum vor Pein aufschreien. Und dann noch einmal, als er Mya direkt vor seinem Gesicht mit einer Art gekrümmten Messer nach seiner Hand schlagen sah.
Er fühlte keinen Schmerz, als die anscheinend kraftfeldversteifte, hauchdünne Klinge die rechte Hand samt Gelenk von Unterarm abtrennte. Blut schoss in einem Schwall aus den Venen des Arms, und Quintum verlor erneut das Bewusstsein.
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Das nächste Mal erlangte Quintum das Bewusstsein, als ein wohliges Gefühl, eindeutig in seiner Leistengegend lokalisiert, ihn weckte. Als er die Augen aufriss und sich zu bewegen versuchte, bemerkte er gleichzeitig zwei Dinge. Erstens: Er war auf einer Liege festgeschnallt, und zweitens: Jemand machte sich unter seiner hochgeschobenen Kutte an seinem besten Stück gekonnt zu schaffen. Dieser, oder besser diejenige bemerkte, dass er wach war, unterbrach ihre Beschäftigung und schaute zu ihm hoch. Quintum war nur teilweise überrascht, dass es Mya war.
Sie grinste ihn an und verspottete ihn mit den Worten:
„Mein tapferer Held, du bist ein ziemliches Weichei. Denke nicht, das hier gibt es jedes Mal, wenn du ohnmächtig wirst, das ist nur eine Wiedergutmachung, bis dir die Hand wieder nachgewachsen ist, mein tapferes, zölibatär lebendes Männchen.“
Als Quintum nach seiner rechten Hand sehen wollte, sah er nur den Verband um den Armstumpf und stöhnte auf, als Mya ihre vorhergehende Tätigkeit wieder aufnahm und dabei noch einen Gang zulegte. Es war eine sehr effektive Ablenkung.
*
„Waschen, legen, föhnen. Und das im kaiserlichen Auftrag.” Mya grinste Quintum verschmitzt an, als dieser wieder einigermaßen normal atmete. „Gewaschen habe ich deine Wunde, hingelegt habe ich dich auch. Nur das Föhnen muss warten, bis das Zeugs aus meinen Haaren gewaschen ist. So, mein Guter, schlaf noch eine Runde. Du brauchst noch etwas Ruhe, damit der Restaurationsverband seine Arbeit tun kann. Das Handlichttatoo des Ordens hätte so oder so weg gemusst, bevor wir den anderen - wirklich geheimen - Weg hätten nehmen können. Na, eigentlich habe ich dich den ganzen Weg getragen und du warst dabei keine große Hilfe. Ich beschwere mich ja nicht, schließlich habe ich dir eine volle Sedierung verpasst, aber das ist nicht die feine Art eines gebildeten Mannes, sich von einer Frau ins traute Versteck tragen zulassen. Nun denn, sobald Mami sich frisch gemacht hat, bindet sie dich wieder los. Aber schlaf vorher noch etwas, mein Schatz.“
Bevor Quintum protestieren konnte, hatte ihm Mya ein Pflaster an die Halsschlagader geklebt. Wohlige Dämmerung umfing ihn und schickte ihn ins Land der Träume.
Mit diesem Traum stimmte etwas nicht. Er träumte, aber nicht seinen eigenen Traum. Quintum hatte den Abt über solche Dinge predigen gehört: Traum-Konserven. Es war ein Laster und eine Seuche, das Lotus und die anderen Planeten Alpha Centauris heimsuchte. Die Virtuellen von der Freistatt TA-0 überschwemmten den Markt mit dieser billigen und psychisch stark süchtig machenden Droge. Die preislichen und qualitativen Unterschiede beruhten auf der Art und Güte des verwenden Trägermaterials, die Träume selber waren immer perfekt und hochwertig gemacht.
Täglich wurden irgendwo Süchtige, Verkäufer und Schmuggler auf kaiserlichen Befehl öffentlich hingerichtet und nun klebte diese aus der Art geschlagene Zofe der Kaiserin ihm eine solche Konserve? Nun, er würde den Grund dafür wohl nicht herausfinden, solange er sich nicht auf den Traum einließ ...
„Eure Majestät, nun kommen wir zu einem ... Mann, der es durch seine bescheidene, aber dennoch äußerst beharrliche Art durch alle Instanzen der kaiserlichen Verwaltung geschafft hat, mit seinem Anliegen vor Eurem Thron vorsprechen zu dürfen.“
Quintum kann die Stimme bekannt vor, er hatte sie schon im Zimmer des Abtes durch Mya sprechen hören: Es war der Kanzler der Kaiserin. Aus dem servilen Blick und der Tatsache, dass der Mann am Fuße der Stufen eines Podestes stand, ließ sich unschwer erschließen, dass der Kanzler zu einer ihm höher gestellten Person sprechen musste. Viel Auswahl gab es da nicht: Es musste die Kaiserin Linia selbst sein, denn der Kanzler war die rechte Hand der Kaiserin und niemand sonst wagte es, ihm Befehle zu erteilen. Also verfolgte Quintum das nun folgende Geschehen mit den Augen, Ohren und sonstigen Sinnen der Kaiserin selbst.
In serviler und tief gebückter Haltung stand ein verkrüppelter Zwerg neben dem Kanzler und verbeugte sich tief vor der Kaiserin.
„Kanzler, wer ist dieser Mann und was ist sein Anliegen?“ Die Stimme und der gereizte Tonfall gehörten eindeutig zur Kaiserin selbst. Nach fast 36 Jahren im Amt gab es wohl niemanden auf Lotus, der die Kaiserin nicht erkannte, wenn sie ihre Stimme erhob.
„Nun, zu meinem Bedauern muss ich gestehen, dass er das persönlich vortragen muss, da er sich über sein Anliegen nur indirekt geäußert hat.“ Dem Kanzler war diese Tatsache sichtlich unangenehm, aber er wahrte die Form.
Die Kaiserin zog eine Augenbraue hoch und schenkte dem Kanzler ein spöttisches Lächeln.
„Kanzler, das ist erstaunlich wenig. Aber da der Mann es anscheinend durch den gesamten kaiserlichen Apparat geschafft hat, ohne Namen und Anliegen zu nennen, bin ich neugierig. Zu einem späteren Zeitpunkt werde ich wohl einen verschärfen Blick auf den kaiserlichen Apparat und Eure Führung desselben werfen müssen, Kanzler. Aber zu unserem Gast, ich wiederhole meine Frage vor vorhin:
Wie ist dein Name und was ist dein Anliegen?“
Linia bedeutete dem Kanzler mit einer Handbewegung, sich in den Hintergrund zu bewegen und fixierte den Kleinwüchsigen mit gespielt strengem Blick.
Der Kleinwüchsige verbeugte sich abermals tief und sprach dann mit erstaunlich tiefer und sonorer Stimme: „Höchstedle Kaiserin, erlaubt einem armen und rechtschaffenen Mann eine bescheidene Bitte. Mein Name ist Zwerg Vamana und ich bitte Euch um drei meiner Schritte Eures Landes für meine Feuerstätte.“
Der Kanzler stieß ein wütendes Schnauben aus, stürzte sich auf den so genannten Zwerg Vamana und warf ihn zu Boden.
Kaiserin Linia stoppte den Kanzler mit einem „Kanzler!“ und einer abwehrenden Handbewegung, anschließend richtete sie ihr Wort an den so genannten Zwerg Vamana.
„So, der Zwerg Vamana willst du sein? Drei deiner Schritte Land für deine Feuerstelle möchtest du von mir? Es gibt kein Kind auf Lotus, das die Geschichten über die zehn Avatare Vishnus nicht kennt. Was sollte mich dazu bewegen, den Kanzler daran zu hindern, dich vom Dach der Kaiserlichen Arkologie auf das acht Kilometer tiefer liegende Forum werfen zu lassen? Ich bin nicht der tugendhafte König Bali aus der Geschichte über den Zwerg Vamana. Sprich, aber wähle deine Worte mit Bedacht.“
„Deswegen bin ich hier.“ Mit diesen Worten stand der verwachsene Kleinwüchsige auf und warf den deutlich größeren und ziemlich beleibten Kanzler ab, als ob dieser nur eine leichte Decke wäre. Automatisch spannen sich starke Schutzschilde zwischen der Kaiserin und dem Zwerg auf. Die im Podest eingebauten Generatoren fixierten zudem den Zwerg noch mit starken Dämpfungsfeldern. Obwohl diese Felder so stark waren, dass sich nicht einmal ein Shuttle hätte bewegen können, verbeugte sich der Zwerg vollkommen unberührt ein weiteres Mal und setzte zu seiner Erklärung an: