I'll look for you, Everywhere - Cameron Capello - E-Book
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I'll look for you, Everywhere E-Book

Cameron Capello

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Beschreibung

Forbidden Love in einem wunderschönen italienischen Ort - ein neues Romeo und Julia Magdalen und Theo haben für ihr Studium das malerische Chivasso, in dem sie zusammen aufgewachsen sind, verlassen. Jahrelang haben sie sich nicht mehr gesehen, erst eine Hochzeitseinladung bringt die beiden zurück - dorthin, wo ihnen alles so vertraut ist und sich gleichzeitig alles verändert hat. Sie versuchen sich voneinander fernzuhalten, denn Magdalen ist die beste Freundin von Theos kleiner Schwester und sie dürfen sich nicht verlieben. Trotzdem laufen sie sich immer wieder über den Weg und können die knisternde Anziehung zwischen ihnen nicht ignorieren. Als die düsteren Geheimnisse ihrer Familien an die Oberfläche treten, müssen sie sich entscheiden, wie stark die Gefühle füreinander wirklich sind. Emotional, spicy und düster - für alle Fans von »Culpa Mia« und »The Summer I turned pretty« **Mit Character Cards in der 1. Auflage und gestaltetem Farbschnitt**

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Seitenzahl: 608

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Cameron Capello

I'll look for you, Everywhere

Roman

 

Aus dem amerikanischen Englisch von Tanja Hamer

 

Über dieses Buch

 

 

Forbidden Love in einem wunderschönen italienischen Ort - ein neues Romeo und Julia

Magdalen und Theo haben für ihr Studium das malerische Chivasso, in dem sie zusammen aufgewachsen sind, verlassen. Jahrelang haben sie sich nicht mehr gesehen, erst eine Hochzeitseinladung bringt die beiden zurück - dorthin, wo ihnen alles so vertraut ist und sich gleichzeitig alles verändert hat. Sie versuchen sich voneinander fernzuhalten, denn Magdalen ist die beste Freundin von Theos kleiner Schwester und sie dürfen sich nicht verlieben. Trotzdem laufen sie sich immer wieder über den Weg und können die knisternde Anziehung zwischen ihnen nicht ignorieren. Als die düsteren Geheimnisse ihrer Familien an die Oberfläche treten, müssen sie sich entscheiden, wie stark die Gefühle füreinander wirklich sind.

Emotional, spicy und düster - für alle Fans von Brittany C. Cherry und »The Summer I turned pretty«

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Cameron Capello ist ein aufstrebender Social-Media-Star und insbesondere auf TikTok aktiv unter dem Namen @thechamberofsecretbooks. Sie stammt ursprünglich aus Chivasso, dem Schauplatz ihres neuen Romans. Nach ihrem Studium in New York zog sie zurück nach Italien, Florenz, um dort eine Buchhandlung zu eröffnen. Sie betreibt außerdem einen buchthemenbezogenen Podcast und führt einen Buchclub bei Fable mit über 8.000 Mitgliedern.

Tanja Hamer, Jahrgang 1980, hat ihr Anglistikstudium in Mainz absolviert und arbeitet seit 2012 als selbständige Übersetzerin. Sie lebt mit ihrer Familie in München.

Inhalt

[Widmung]

[Disclaimer]

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

Danksagung

[Triggerwarnung]

An meine Little Women.

Danke, dass ihr meine Fantasie beflügelt.

Liebe Leser*innen,

 

dieses Buch erzählt eine emotionale Liebes- und Familiengeschichte und enthält potentiell triggernde Inhalte.

Bitte beachtet daher die ausführliche Auflistung der Inhalte hier. Diese enthält jedoch Spoiler für die gesamte Geschichte.

 

Der S. Fischer Verlag wünscht euch das bestmögliche Leseerlebnis!

1

Magdalen

Ich beobachte, wie der Wein in ihrem Glas mit jedem Lachen schwankt, die Flüssigkeit sich auf den Rand zu bewegt, als wollte sie entkommen, nur um dann doch wieder zurückzusacken. Ich beobachte es verdammte fünfzehn Minuten lang.

Meine Augen verlieren den Fokus, bis die klaren Ränder ihres Weinglases verschwommen sind, und meinen Sehsinn verlassend, erlebe ich die Party über das, was ich höre. Leute, die ich nicht kenne, drängen sich in unserer winzigen Wohnung zusammen. Jemand lacht schrill, im Versuch zu flirten, eine Flasche wird entkorkt, jemand lässt seine Schlüssel fallen. Ein Husten reißt mich aus meiner Trance, und ich dehne die Handgelenke, bis sie knacken. Dieses Mädchen mit ihrem Wein zu beobachten, erinnert mich daran, dass sich in meiner Hand nicht ebenfalls ein Glas befindet, sondern ein Brief. Der Umschlag ist zu schwer, um nur ein Blatt Papier zu enthalten, bewusst eierschalenfarben und dick mit vorgetäuschter Wichtigkeit. Okay, ich schätze, er ist wichtig. Ich habe mich auf meiner eigenen Party in eine Bitch verwandelt.

Ich drücke die Ecke des festen Umschlags in meinen Finger, bis der spitze Schmerz mich dazu bringt, nach unten zu sehen. Ich beobachte, wie die Haut gereizt anschwillt, und empfinde eine gewisse Enttäuschung, dass ich sie nicht zum Bluten bringen kann. Die Ecke klappt sich lediglich nach innen, schlapp und harmlos. Ich will, dass der Brief mich verletzt, vielleicht um es als Ausrede zu benutzen, ihn nicht lesen zu müssen. Um meine Mutter anschreien zu können: Dein Brief hat mich verletzt, also konnte ich unmöglich eine Antwort verfassen. Doch da wird mir bewusst, dass das Wein-Mädchen mir noch eine Frage gestellt hat, die mich aus meinen Gedanken reißt. »Chivasso«, wiederhole ich und weiß schon in dem Moment, dass sie mich ein drittes Mal nach dem Namen meiner Heimatstadt fragen wird.

»Sorry«, lallt sie. »Kannst du das noch mal sagen?«

Ihr Gesicht ist genauso burgunderrot wie ihr Wein, und ich weiß, dass sie den Punkt der gepflegten Beschwipstheit längst überschritten hat. Noch nicht hoffnungslos, das muss ich ihr zugutehalten. Ein Glas Wasser und ein starker Kaffee könnten das unausweichliche Kopfweh am Morgen zumindest noch abmildern. Sie reibt sich mit dem Handrücken über die Nase und starrt wartend vor sich hin. Ich kann mir gut vorstellen, wie ihre Augen ihr ein kaleidoskopartiges, sich drehendes Bild von meinem Gesicht liefern, und an der Art und Weise, wie ihr Blick von meinen Augenbrauen zu meinem Mund wandert, erkenne ich, dass sie mich dreimal vor sich sieht. Warte, bis du Grappa probiert hast, würde ich am liebsten sagen, aber natürlich tue ich das nicht. Stattdessen bleibe ich sitzen und warte geduldig, bis ihr Kopf die drei Versionen von mir wieder zu einem einzigen Bild zusammengefügt hat.

Eine Sonate von Liszt hallt aus den Lautsprechern in der Küche, gefolgt von Billy Joel. Wie soll man da nicht die Augen verdrehen? Seine Stimme strömt durch den Raum, in dem sich Oxford-Absolventen unterhalten und sich vergleichen, und sie weist uns an, es langsam angehen zu lassen, weil es uns gut geht. Aber ich fühle mich heute Abend schon verlangsamt genug, und ich bin mir gar nicht sicher, ob es mir je gut gegangen ist.

Das muss auf Emilys Mist gewachsen sein. Ich liebe meine Mitbewohnerin, aber ich darf nicht vergessen, dass sie auch eine Oxfordstudentin ist. Es braucht schon eine gewisse Überheblichkeit, auf einer Party erst Liszt und dann Billy Joel zu spielen.

Mein Blick wandert wieder zu diesem Mädchen, und mir kommt das Wort stupor in den Sinn. Ich unterdrücke ein Lächeln, froh und traurig zugleich. Sie befindet sich in einem Stadium angenehm betrunkener Benommenheit. Sie leckt sich die Lippen, die spröde sind vom exzessiven Alkoholkonsum, und ihre glasigen Augen zeugen von ihrer Unfähigkeit, sich an den eigenen Namen zu erinnern, geschweige denn, den Namen meiner Heimatstadt. Aber sie blinzelt langsam und wartet geduldig, dass ich ihn wiederhole. Es ist ein Ritual unter Oxfordstudenten, sich am Ende des Semesters abzuschießen. Eine komprimierte Zeit der Ausschweifungen, um die in der Bibliothek verbrachten Nächte und das ewige Hausarbeitenschreiben auszugleichen.

Ich seufze, »KI-WA-SO«, spreche ich langsam, absichtlich jeden Konsonanten betonend, jeden Vokal verlängernd. Ich rutsche tiefer in den Ledersessel, ziehe die Knie unters Kinn, so dass der Brief, den ich den ganzen Nachmittag schon mit mir herumtrage, an meine Hüfte gedrückt wird, fest eingeklemmt zwischen meinem Bauch und der Vorderseite meiner Oberschenkel, gut geschützt vor irgendwelchen Partybesuchern mit klebrigen Fingern. Andererseits sollte ich ihn vielleicht einem von ihnen geben. Ein kostenloser Sommer in Italien zu dem geringen Preis, die Hochzeit meiner Schwester besuchen zu müssen. Ich nehme einen Schluck von meinem Bier und wische mir mit dem Handrücken über den Mund wie ein einsamer Cowboy in einem alten Western. Der Abspann wird laufen. Das Leben wird weitergehen. Eine Fortsetzung wird geplant. Wann wird mein Film beginnen?

Ich lasse den Blick über das Wohnzimmer schweifen und stelle fest, dass ich das Interesse verloren habe. Will mich nicht daran erinnern, will eher vermeiden, irgendetwas anzusehen.

Oxford hat etwas Altertümliches an sich, das wunderschön ist. Niemand kann den Reichen absprechen, dass sie nicht wüssten, wie man dekoriert. Die Wände sind in düstere Geschichte getaucht, zusammengehalten von den mächtigen Säulen der Akademie. In die Decken sind die Gesichter genialer Männer geschnitzt. Frauen unter dem Fußboden vergraben. Erfolg sieht für junge Frauen immer anders aus.

Die abgewetzten Holzdielen der Bibliotheken sind eine schöne Erinnerung an die Anwesenheit genialer Köpfe, die zwischen den Bücherregalen hin und her gelaufen sind. Und ich bin hier. Meine Schritte haben denselben Boden ausgetreten; meine leeren Tintenpatronen liegen unter den Mahagonibänken des Vorlesungssaals. Über Oxford liegt die Staubschicht einer fast schon grausamen Intelligenz, die einen bisweilen überwältigen kann.

Aber es ist kein Zuhause. Obwohl es das für meine Mutter Vittoria und meinen Vater Claudio gewesen ist. Ich will noch einen Schluck von meinem Bier nehmen und stelle fest, dass es leer ist.

Die Sonne schafft es nie wirklich, zwischen die verzierten Gebäude vorzudringen. Und mir ist immer kalt, unabhängig von der Jahreszeit oder von der Kleidung, die ich trage, ob ich eine Stunde in der Badewanne liege oder auf dem Campus herumrenne. Ich habe das Gefühl, als würde die Kälte mich jagen. Wie die Erinnerung an einen vom Regen durchweichten Pulli, die ich niemals wirklich abschütteln kann, wie ein permanenter melancholischer Schimmel, der mich verfolgt.

Ehe ich in meinem Blues versinken kann, steht das betrunkene Mädchen zu ruckartig von dem gegenüberstehenden Ledersessel auf, was ein schreckliches Quietschen erzeugt, und ich sehe auf.

»Oh! Kiwajsjo!« Ihre Augen versuchen zu leuchten, aber ihre Betrunkenheit erlaubt ihr nur ein schwerfälliges Kopfnicken. Sie lässt sich auf die Armlehne sinken, und ich lächle, als ich sehe, wie ihre Augenlider sich dem Gewicht des Weines ergeben, so friedlich, so unerschrocken.

»Kiwajsjo!«, wiederholt sie und schlägt sich komisch mit der Hand an die Stirn, während die Erkenntnis sie erstrahlen lässt. Etwas an den Vokalen und der Struktur des Namens erscheint ihr sehr italienisch, und sie springt auf, um alles Wissen, das sie über Italien gesammelt hat, in dem Namen meiner Heimatstadt zusammenzufassen. Das passiert in Oxford; selbst im Rausch müssen sich die Leute immer noch beweisen.

»Ich liebe Italien! Ich war letztes Semester drüben, und ich meine, es hat mein Leben verändert. Also, echt jetzt, also, die Kultur, dort ist so … anders … so offen, weißt du? Also, die von hier, ich meine Briten, können so …«, sie hält inne, um das richtige Wort zu finden. »Deprimierend sein.« Ein Kichern blubbert aus ihr heraus, stolz auf ihre Dreistigkeit. Beeindruckt, dass sie so etwas Gewagtes und Unorthodoxes gesagt hat, kichert sie wieder, weil sie selbst Britin ist.

»Vielleicht sind Italiener zu offen?«, erwidere ich schwach, in der Hoffnung, dass es ausreicht, damit sie das Gespräch wieder übernimmt. Ich nehme mein leeres Bier in die Hand und beginne vor Unbehagen das feuchte Etikett von meiner Flasche zu kratzen. Wenn ich sie ansehe, wie entspannt und ausgeblichen die Falten um ihren Mund sind, wie verwischt ihre Wimperntusche ist – aber sie ist jung und hat Spaß, also ist es ihr egal –, kriecht mein Blues ohne Vorwarnung in mir hoch.

Meine Unfähigkeit, die Schultern zu entspannen und mich ihrer betrunkenen Benommenheit anzuschließen, macht mich wütend. Ich will albern sein! Aber ich bin auch betrunken, und doch ist mir das Kondenswasser auf meinen Fingerspitzen noch schmerzhaft bewusst. Genau wie die Tatsache, dass meine Haare auf der rechten Seite hinters Ohr gestrichen sind, während die linke Seite mir ins Gesicht hängt, auf die einzelne Sommersprosse aufpasst, die über meiner Augenbraue sitzt. Wobei ich mich frage, ob je jemand bemerkt hat, dass ich diese Sommersprosse habe. Ich schiele in Richtung Küche, um zu erkennen, ob auf dem Tresen noch Bier steht. Oxford ist nicht zu Hause.

Mein Blick findet den Weg zurück zu ihrem Weinglas. Ich atme ein, schließe die Augen, während der Geruch nach Alkohol mich wieder fünfzehn sein lässt und wieder zurückversetzt ins Museum in Turin. Anika und ich sitzen auf den Marmorfliesen unter der Isisstatue, eine geöffnete Flasche Wein zwischen uns, ihr MAC-Lippenstift auf deren Rand tätowiert. Wenn ich mich richtig konzentriere, kann ich ihren Dad, Dexter, hören, der in dem versteckten Büro hinter dem Souvenirladen im dritten Stock mit unterdrückter Frustration Papiere rascheln lässt und uns regelmäßig daran erinnert, dass wir uns benehmen sollen. Dass er immer da ist und alles hören kann.

Wir liebten es, nach Feierabend in der klammen Dunkelheit unseres Museums zu bleiben, da es wirklich unseres war, sobald das GESCHLOSSEN-Schild jeden Abend aufgehängt wurde. Gesichter unbekannter Statuen sahen zu uns nieder, kopfschüttelnd und flüsternd nein, nein, nein, es wird immer unseres sein. Ich rutschte mit der Rückseite meiner Oberschenkel auf dem kühlen Boden herum, um Abkühlung von der Hitze im Museum zu finden, in einem unerträglichen italienischen Sommer.

»Die Statuen hassen die Kälte«, sagte mein Papa immer. »Sie erinnert sie an ihren Tod.«

Persönlich glaube ich eher, dass die Italiener zu geizig sind, eine Klimaanlage zu kaufen. Ich unterdrückte ein Stöhnen und wünschte, die Kühle zu spüren, wenn auch nur für einen Moment. Der wärmende Effekt des Weines vermischte sich mit der unverzeihlichen Hitze, mein Nacken befeuchtete meine Haare. Ich sah auf in die Augen von Isis und dachte mir, dass es wesentlich schlimmer war, sich seiner Sterblichkeit bewusst zu sein, als kurz an den eigenen Tod erinnert zu werden. Anika streifte ihre Schuhe ab und stellte die nackten Füße auf den Sockel der Statue und sah ebenfalls zu Isis auf.

»Sie will mich ficken«, seufzte sie und strich mit intimer Langsamkeit mit ihrem großen Zeh über den geschnitzten Fuß von Isis. »Ich weiß es einfach.«

Wir lachten. Anika beschrieb mir ihre letzte sexuelle Eroberung. Ich hörte zu und wusste, dass ihr Vater auch zuhörte, was sich komisch anfühlte, aber ich sagte nichts.

Versunken in meine Jugenderinnerungen rutscht mir der Brief aus der Hand. Ich springe vom Sessel auf und beeile mich, ihn vom Boden aufzuheben. Es ist nicht der erste, den sie geschickt hat. Drei identische Umschläge liegen ungeöffnet da, verborgen zwischen meinen Winterpullis, nur Staub als Antwort.

Die Hochzeit meiner Schwester.

Zugegebenermaßen etwas, wo ich hingehen wollen sollte. Aber etwas an dieser Feier lässt meine Finger zucken. Die umnebelten Erinnerungen daran, wie ich mit Anika barfuß durchs Museum gekrochen bin, kehren zurück. Meine Haut kribbelt, als ich bemerke, was passiert – ich denke darüber nach, zurückzukehren.

Nein!, schreit mein Unterbewusstsein. Oxford ist dein sicherer Hafen. Denk daran, warum du gegangen bist. Wen du zurückgelassen hast. Denk daran, wie lange du traurig warst. Ich seufze. Vielleicht mag ich einfach keine Partys. Ich neige dazu, in geselligem Umfeld übertrieben melodramatisch zu sein, deshalb ist es schwierig zu sagen, wann ich wirklich meine, was ich denke.

Ich setze mich etwas im Sessel auf und sehe mich wieder in der Wohnung um. Der zerkratzte Dielenboden, die abgeplatzte Kante unserer Küchentheke, wo Emily eine Bierflasche an der Keramik zerbrochen hat. Die Erinnerung lässt mich unwillkürlich nach ihr suchen. Wilde Locken wippen ihr um den Kopf, während sie über einfache Nichtigkeiten diskutiert mit dem Mann, in den sie verliebt ist. Ein Professor, tricky. Aber er ist äußerst charmant und scheint ihr zuzuhören, wenn sie redet. Normalerweise würde mich das zum Lächeln bringen. Aber ich betrachte alle diese Dinge von außerhalb meiner selbst. Ich sehe sie, fühle aber nichts.

Meine Rippen brennen. Das betrunkene Mädchen reibt sich immer noch die Nase, bis diese sich gereizt rötet. Das Mädchen ist namenlos, glücklich und frei. Gib mir etwas davon ab!, schreit mein Kopf. Ich will am liebsten die Hand ausstrecken, mir ihre Sorglosigkeit schnappen, sie runterschlucken und in ihrer Benommenheit waten. Aber ich kann nicht.

Ich denke an die Stadtmauern von Chivasso, permanent und unergründlich vor Alter. Wegzulaufen hat nichts geändert, außer meinen Blues in ein anderes Land zu verlagern. Meine Schwester sollte nicht den Preis für etwas zahlen, das ich vor Jahren schon hätte verarbeiten sollen. Die Luft wird schwer vor Traurigkeit, und ich fühle mich bedrückt. Meine Finger graben sich in den Brief.

Warum bin ich immer die, die zurückbleibt? Mit so viel Angst vor allem, und dabei der Angst so überdrüssig.

Ein tiefes Seufzen entweicht mir, fühlt sich an, als würde meine Haut selbst vom Verlust des Atems in sich zusammenfallen. Ich habe kein Kleid. Keinen Schal für meine potenziell entblößten Schultern.

Ich spüre, wie mein Herz sich so fest zusammenzieht, dass ich denke, ich müsste sterben. Ich warte einen Moment und versuche, den Atem zu fühlen. Warte auf einen Puls unter der Haut meines Handgelenks. Meine Ohren dröhnen vor weißem Rauschen, als ich auf den Brief hinabsehe.

Doch da fühle ich es; das Rauschen des Bluts sammelt sich in meinen Fingerspitzen, lässt mich wissen, dass ich nicht sterbe, nur eine Pussy bin.

Meine Nägel gleiten durch das gehärtete Wachssiegel, Finger packen die Einladung, spüren die ausgebeulten Buchstaben des Namens meiner Schwester. Fühle mich egoistisch, weil ich zuerst nicht hingehen wollte.

Also stopfe ich mein Melodrama in den Umschlag zurück und verschließe ihn wieder. Ich muss zu einer Hochzeit.

2

Magdalen

Die Party war vor einer Woche, und Emily ist immer noch wütend. Meine Mitbewohnerin, die mit dem Professor schläft, ist wütend auf mich! Wir haben die Tickets schon gekauft, um gemeinsam durch Peru zu backpacken, und sie kann einfach nicht verstehen, warum ich um alles in der Welt zurück nach Hause will. Sie sagt nach Hause voller Abscheu, verbittert und nachtragend, wo das Wort doch so viel bedeuten kann. Aber nicht für sie.

Emily hatte ihren jährlichen Krach mit ihrer Mutter vor fünf Monaten, und diese Reise würde ihr weitere drei Monate garantieren, die sie sich nicht wiedersehen müssten.

»Frag doch Professor Cal«, kichere ich.

»Hör auf, ihn so zu nennen.«

»Was? Er sollte stolz sein auf seine Ausbildung. Und machst du ihn nicht auch stolz, Emily?«

»Oft genug, glaub mir.« Sie zwinkerte.

»Ekelhaft. Es ist zu früh, um so ekelhaft zu sein!«

Sie fällt vor dem Ledersessel, der immer noch klebrig ist von verschüttetem Alkohol, auf die Knie und nimmt mein Gesicht in die Hände. »Ach, Männer. Die ekeln mich an!« Ihre schwarzen Locken fallen ihr wild ums Gesicht und werfen Schatten auf die Wand.

»Du und dein Zuhause.« Ihr Blick sucht meinen, und sie seufzt. »Ich verstehe dich nicht.« Meine Wange wärmt sich in ihrer Handfläche, als ich mich in ihre Berührung sinken lasse.

»Da sind wir schon zwei, Schwester.« Ich zucke mit den Schultern. »Ich bin komplex.«

»Du bist verschlossen.«

»Bin ich nicht! Weißt du noch, wie ich dir von dem Pickel an meinem Arsch erzählt habe?«

»Der einzige Grund, dass du das getan hast, war, weil ich ihn dir ausdrücken sollte.«

»Ekelhaft, Emily, schon wieder! Zu früh für ekelhaft.«

Emily zwickt mir in die Wange und erhebt sich mit schmollender Miene. »Keine Chance, dich zu überreden, Maggie? Peruanische Männer, peruanischer Wein, Machu Picchu? Erleuchtung?«

»Ich habe noch nicht mal einen englischen Kerl kennengelernt, und du reichst mich schon an die Peruaner weiter?« Ich lache, erleichtert, dass sie mir verziehen hat. Mit Emily ist es immer so einfach.

»Was du sagen willst, ist, dass du noch gar keinen Mann hattest, liebste Maggie. Was ich verdammt nie verstehen werde. Du musst es einfach mal hinter dich bringen, wie eine Grippeimpfung.« Sie tappt in die Küche, auf der Suche nach einer Flasche Wein, die sie öffnen kann, obwohl in ein paar Minuten erst die Mittagsglocke erklingen wird. »Du bist so verdammt schön und klug, und weißt du, ich wette, du fickst wie ein …«

Ich zucke innerlich zusammen. »Ah, sta zitto! Halt die Klappe!« Ich vergrabe das Gesicht in den Händen, die Abfolge an Komplimenten hassend, wie alle Komplimente, immer. Daran ist meine Mutter schuld.

Emily sieht mich an und lacht. »Du kannst dich nicht ewig verstecken«, lächelt sie, hüpft auf den Küchentresen, um an ihre geheime Weinflasche heranzukommen. Ich folge ihr, bleibe unter dem Türbogen stehen.

»Jemand da draußen hat es verdient, zu erkennen, wie genial du bist.« Sie knurrt und stellt sich auf den Tresen. Als sie sich zu mir umdreht, lächelt Emily nicht mehr. Es ist, als könnte ich ihre Gedanken lesen, als sie die Stirn runzelt und sich fragt, wie immer fragt, warum ich so bin, wie ich bin.

Meine Wangen röten sich vor Scham angesichts ihrer netten Worte; ich fürchte, ich werde es immer hassen, auf diese Weise gesehen zu werden.

»Warum besucht du und Cal mich nicht in Chivasso, nach eurer peruanischen Auszeit? Ich würde mich sehr freuen, euch herumzuführen.« Ich kratze an der abgeplatzten Farbe der Küchenwand. Ich denke, wir wissen beide, dass das nie passieren wird, aber es erscheint mir wichtig, das Angebot zu machen.

Sie verdreht die Augen über mein geschicktes Ablenkungsmanöver und hält inne, um über meinen Vorschlag nachzudenken.

»Ach, scheiß drauf. Ich frage Cal. Ich muss meiner lieben alten Mutter noch die Neuigkeiten verkünden.« Vorsichtig geht sie über den Tresen, um ein Glas zu holen, und lacht bitter. »Sie wird so enttäuscht sein!«

Hilflos streckt sie sich nach dem obersten Regal, und es juckt mir in den Fingern, ihr zu zeigen, wie viel sie mir bedeutet. In einem für Magdalen Savoy seltenen, sehr untypischen Moment stoße ich mich vom Türbogen ab und durchquere die Küche über einen Boden, der – befleckt von Rotwein und verschüttetem Nagellack – sowohl das unaufhaltsame Lachen nach einer Ausgehnacht als auch das Beweinen einer verhauenen Klausur absorbiert hat. Ich umarme Emily, aber sie steht noch auf dem Tresen, also umschlingen meine Arme bloß ihre Waden.

»Was würde ich nur ohne dich tun, Emily?« Ich bin verzweifelt und hoffe inbrünstig, dass meine Worte ausreichen, um ihr zu zeigen, wie dankbar ich bin. Dass ohne sie ein Teil von mir nicht existieren würde. Das sind ziemlich große Geständnisse vor dem Mittag. Also belasse ich es bei der stummen Schwere unserer Umarmung, presse meine Liebe für sie in den Raum zwischen unseren Körpern.

Emily hält einen Moment inne, ehe sie sich nach unten beugt und die Umarmung erwidert. Sie drückt liebevoll meine Schultern, und dann tätschelt sie sanft meinen Kopf und seufzt.

»Ich weiß nicht, was du ohne mich tun würdest, aber die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass du auch noch nicht flachgelegt worden wärst.«

Sie zwickt mich in die Seite, und ich quietsche auf.

»Du Bitch!«, sage ich und lache. »Du weißt doch, dass ich nur warte!«

Sie legt lachend den Kopf in den Nacken und versucht, einen italienischen Akzent zu imitieren, was ihr aber nicht gelingt. »Du, meine liebe Freundin, wartest darauf, dass da Vinci aus seinem Grab rollt und dir die Kleider vom Leib reißt! Du versaute, kleine …«

»Denk nicht mal daran, das zu beenden!«

Sie hüpft vom Tresen und jagt mich durch die Wohnung. Wir lachen und quietschen wie kleine Schulmädchen. Ich hätte Oxford nie überlebt, wenn Emily nicht gewesen wäre, die Gott mir geschickt hat, um mich zu leiten, da bin ich mir sicher.

Ich traf sie an meinem fünften Tag an der Uni. Ich war gerade auf der Suche nach dem nächsten Klo, um meiner Isolation zu entfliehen, auf einer Party, die von jemandem geschmissen wurde, den ich nicht kannte. Ich hatte mich gezwungen hinzugehen, nachdem meine Mutter angerufen und gefragt hatte, ob ich in meiner ersten Woche ausgehen würde, ihr Tonfall schon bereit zu trösten, weil sie davon ausging, dass ich Nein sagen würde.

»Ja, tue ich. Bin schon auf dem Sprung, ehrlich gesagt«, hatte ich geantwortet, während ich auf meinem Bett lag, das Kissen noch feucht von Tränen.

»Ach, wie schön. Dann will ich dich nicht aufhalten.« Damit legte sie auf.

Emily traf ich zufällig mit ihrer Unterwäsche um die Knöchel, als sie in der Toilette gerade lauten und grotesken Sex mit einem Mann hatte, der viel älter war als sie. Sie hat definitiv einen Typ, was Männer angeht. Ich war so baff, dass ich in schierer Panik erstarrte und ihre nackten und verdrehten Körper nur anstarren konnte, wie hypnotisiert und extrem erschrocken zugleich. Ein Opfer von Medusas Blick.

»Willst du übernehmen?«, fragte Emily, als sie mich sah. Ihre Haare klebten ihr am verschwitzten Gesicht, sie atmete laut durch den Mund, aber ihre Augen blitzten belustigt. Fand sie das etwa komisch? Es kam mir so vor, als hätte sie damit gerechnet, dass ich hereinplatze. Es war ihr niemals peinlich, erwischt zu werden.

»Ich warne dich, sein Schwanz tut höllisch weh«, grinste sie und stupste den Mann hinter ihr an. Er gab ein seltsames Grunzen von sich, was vermutlich wie ein Lachen klingen sollte. Ich atmete aus, weil ich den Atem angehalten hatte, und kniff die Augen zusammen.

»Nein, nein, du siehst so aus, als wärst du wunderbar in der Lage, das selbst zu Ende zu bringen!« Ich konnte nicht verhindern, dass mir ein Lachen entwich. »Vielleicht versucht ihr es nächstes Mal mit Zuschließen?«

Ich schloss schnell die Tür hinter mir und schlug mir die Hand vor den Mund. Es war ihr nicht einen Moment peinlich gewesen. Selbst rückblickend schäme ich mich noch. Und ich war nicht diejenige, die nackt war!

Aber Emily hat recht. Ich habe Angst vor einem Gefühl, für das ich noch keinen Namen habe. Ich kann einen Mann nicht einmal ansehen, ohne dass es mir sauer aufstößt. Ein kurzes Aufblitzen von Schmerz in den Rippen. Ich schließe die Augen und lasse es vorübergehen. Bei dem Gedanken wird mir schlecht, denn insgeheim weiß ich, dass trotz Emilys netter Worte der Bestätigung nie jemand mir so nah sein wollen würde. Mein Problem ist nicht rein körperlich. Vielleicht halten mich andere nicht unbedingt für hässlich, okay. Aber ich halte mich nicht für wichtig. Ich bin groß, möglicherweise zu groß, und in der siebten Klasse hat mich Lorenzo als flachbrüstig bezeichnet, obwohl ich davon ausgehe, dass er mich insgeheim mochte. Meine Haare sind lang und braun, aber manchmal schimmern sie in der Sonne auch rot. Meine Haare stören mich nicht. Und ich bin im vergangenen Jahr dünner geworden, ich weiß jetzt schon, dass Anika etwas dazu sagen wird. Etliche Männer und Frauen haben schon versucht, mich im dämmerigen und warmen Umfeld der Bars von Oxford zu verführen. Und wenn es nach Einbruch der Dunkelheit geschieht, zählt das dann?

Es scheint, mein Körper ist gerade weiblich genug, dass mich die Leute nach Mitternacht attraktiv finden.

Die Wahrheit? Ich fühle mich ungewollt.

Wie sagt man das jemandem, ohne zu klingen, als würde man sich selbst runtermachen, ohne dass man mitleidheischend wirkt? Ich erinnere mich daran, wie ich als Teenager am Fenster saß und Anika beobachtete, wie sie einen Jungen aus der Stadt unter der Veranda küsste, und dachte, dass ich schreien würde, wenn jemand meinem Gesicht je so nahe käme.

Und das ist es, was Emily nie verstehen wird, diese Sache, die in mir existiert und mich jeden Tag daran erinnert, dass ich immer einen Schritt hinter allen anderen zurück sein werde.

Jedenfalls kam Emily aus der Toilette, mit roten Wangen und strahlendem Blick (»Das war kein Scherz, er war riesig«, beklagte sie sich), nahm meine Hand (»Keine Sorge, hab mir die Hände gewaschen.«) und fragte: »Willst du meine Mitbewohnerin sein? Meine ist eine verdammte Schlampe.«

Vor Schreck konnte ich nicht antworten.

»Ich meine, du hast mich schon nackt gesehen, das wäre also kein Problem mehr für uns.« Sie starrte mich an, wartete, vielleicht schon ahnend, dass ich Ja sagen würde.

»Ja, ich schätze schon«, erwiderte ich und errötete, erfreut, dass sie meine kurze Gesellschaft schon als angenehm genug empfunden hatte, um ein ganzes Jahr mit mir zusammenwohnen zu wollen. »Solange er nicht dabei ist.«

Sie blieb stehen und starrte mich an, und ich spürte, wie sich meine Kehle vor Scham zuzog. Ein dummer Witz, zu früh gerissen. Ich kannte noch nicht einmal ihren Nachnamen.

Als ich mich gerade entschuldigen wollte, warf sie ihren Kopf in den Nacken und lachte. »Ach, den werden wir nie wieder sehen.« Sie schüttelte sich beim Gedanken an den Mystery-Mann. Dann legte sie den Arm um meine Schulter und begann ohne Umschweife, über ihre Träume, Horoskope und russische Literatur zu plaudern, und von diesem Moment an hatte ich das Gefühl, in Oxford einen Wert zu haben. Selbst wenn ich meine Kurse nicht bestehen würde oder nie wieder eine Partyeinladung erhalten würde. Ich hatte sie. Emily, Emilia würde ich sie unter der toskanischen Sonne nennen, mein Schutzengel.

3

Theo

What the fuck, Theo, jetzt lauf einfach, schimpfte ich mich stumm. Sie steht da in einem roten Top, das ROM schreit, und geht dann am Kofferband des Flughafens auf und ab, auf der Suche nach mir. Einen Moment lang würde ich mich am liebsten verstecken, weil ich weiß, dass es meinen Kurs ändern wird, sie nach all diesen Jahren wiederzusehen. Unsicher, ob dieser Pfad die gefährliche, grausame Variante ist oder die, die ich schon vor sieben Jahren hätte einschlagen sollen. Ich huste, laut genug, dass sie es hören kann, und sie reagiert sofort, dreht den Kopf in meine Richtung. Sofort hüpft sie aufgeregt auf und ab, klatscht in die Hände und quietscht.

»Theo! Wir haben schon ewig auf dich gewartet! Komm sofort her!« Anika springt auf mich zu, die Arme ausgestreckt, bereit für eine Umarmung.

Ich bemerke, dass sie alleine ist. Das »wir« war nur aus Gewohnheit. Mir ist sie alleine lieber, und ich rechne nicht damit, dass meine Houdini-Nummer mit dem Kauf eines verdammten Flugtickets vergessen sein würde. Aber ich lasse das Gefühl eine Sekunde lang zu; nach sieben Jahren ist nur sie übrig. Fuck. Das wird ein verdammt langer Sommer werden.

»Ich habe dich auch vermisst«, sage ich, atemlos ob ihrer stürmischen Begrüßung. Sie riecht nach frischer Sonnencreme und Feigenparfüm; ich schließe die Augen, als die Nostalgie, die über meine Haut streicht, meine Haarwurzeln kringelt, und ich atme tief ein. Sie riecht nach Zuhause. Chivasso war mein Zuhause, seit ich sieben war und mein Vater uns zu einem Eis eingeladen hat, um uns zu eröffnen, dass wir Edinburgh verlassen werden. Ich erinnere mich noch genau an das Geräusch von Mamas Klatschen. Das Klappern ihres Eislöffels auf dem Tisch. So aufgeregt, nach Hause zurückzukehren. Wieder mit Vittoria vereint zu sein.

»Ich fasse es nicht, dass du echt bist!« Anika drückt die Arme um meine Taille, so fest, dass es anfängt zu stechen.

»Ich habe ganz vergessen, wie groß du bist!«

»Klar«, murmle ich in ihre Haare, genieße, dass sie mich vermisst hat. Ich fühle mich wieder wie ein Bruder, übermütig und darauf aus, zu beeindrucken.

»Bin nicht mehr gewachsen, seit ich siebzehn war, ich denke, du bist vielleicht einfach kleiner geworden?«, sage ich zu ihrem Scheitel. Anika ist dreißig Zentimeter kleiner als ich, weshalb ich sie erst recht beschützen will. Obwohl mir nicht im Traum einfallen würde, ihr das zu sagen.

»Halt die Klappe. Vielleicht wäre ich auf diese Riesengröße vorbereitet, wenn du dich hin und wieder mal zu Hause blicken lassen würdest!« Ihr Tonfall ist locker, aber zwischen ihren Worten lauert mein Fortgehen. Sie hat mir nicht verziehen. Doch ich hatte eh nicht damit gerechnet, so leicht davonzukommen.

Sie lässt meine Taille los, um mir ins Gesicht zu schauen. Nimmt mein Kinn in zwei Finger, zwingt meinen Kopf von einer Seite zur anderen, um mich eingehend mustern zu können, als wäre ich eine Laborratte.

»Wann bist du so ein Hengst geworden?«

Ich nehme ihre Hand in meine und küsse ihre Handfläche. »Ich bin schon als Hengst auf die Welt gekommen, Anika.« Ich zwinkere ihr zu. »Vergiss das nicht.«

Sie schnaubt und gibt mir einen Klaps auf den Oberarm. »Ekelhaft«, ruft sie und versucht dann, mir mein Gepäck aus der Hand zu nehmen.

»Die Mädchen in Chivasso werden ihren Spaß mit dir haben, Theo. Du solltest besser aufpassen, es ist immer noch eine Kleinstadt, und wenn du jemanden fickst, werde ich es drei bis fünf Stunden nach Vollendung erfahren.«

»Herrgott, Anika. Es ist acht Uhr morgens, können wir das bitte nicht zu unserem ersten Gesprächsthema machen?« Ich reiße meine Hand weg, so dass sie den Griff meines Koffers verfehlt. »Ich kann mein Gepäck selber tragen«, murre ich, genervt, dass sie überhaupt versucht hat, es mir abzunehmen.

Ich reiße vehement meinen Koffer an mich, will ihr beweisen, dass ich in den sieben Jahren, die sie mich nicht gesehen hat, erwachsen geworden bin. Sie verdreht die Augen, lässt die Hand aber sinken und überlässt mir mein Gepäck.

»Ich fange auf keinen Fall irgendeinen Scheiß mit irgendwelchen Mädels an«, stelle ich klar, um ihr zu verstehen zu geben, dass ich wirklich dazugelernt habe.

»Ich gebe dir drei Tage.«

»Ach, komm schon. Du hast mich seit verdammten sieben Jahren nicht mehr gesehen. Ich bin doch kein Neandertaler.« Ich schlucke und hoffe, dass meine Worte wahr werden, wenn ich sie nur laut ausspreche.

»Na, schön. Dann sagen wir vier Tage.«

»Fick dich, Anika.«

»Und schon ist es, als wärst du nie weg gewesen!« Sie hüpft vor mir her, dreht sich im Kreis, prallt gegen Flughafenangestellte und Leute, die auf ihr Gepäck warten, die sie missbilligend anstarren. Ihr Haar ist viel länger, als ich es in Erinnerung habe. Rabenschwarz, wie bei unserer Mutter, schwingt es schwer bei jedem ihrer Schritte.

Innerhalb von Minuten löst sich die Anspannung des Fluges. Sieben Jahre weg. Vier in New York. Drei in Connecticut. Es war leichter, sich nicht schuldig zu fühlen, wenn ich ihr Gesicht nicht sehen konnte. Aber jetzt? Ich atme aus.

Es war die richtige Entscheidung.

Ich fühle mich dumm, dass ich dies für den riskanten Pfad gehalten habe. Dumm, dass ich nicht öfter angerufen habe. Wie kann das Leben in Chivasso etwas sein, das man bereut, wenn Anika dort ist? Mein Schwesterchen. Meine Finger krallen sich um die Schlaufen meiner Tasche. Schuld und Reue melden sich, meine Gliedmaßen fühlen sich plötzlich schwer an. Ein Bild blitzt vor meinem inneren Auge auf, eine Erinnerung, verschwommene Farben und leises Flüstern und das Geräusch von reißendem Stoff. Ich kneife schnell die Augen zu. Was ich wirklich will, ist, ihr zu zeigen, dass ich nicht er bin, dass ich auch als Erwachsener nicht wie er sein werde.

Sie schaut zu mir zurück, ihr Lächeln breit und stolz. Ich bin nicht gut genug, habe das nicht verdient. Aber ich sehe sie an, stelle fest, dass mein Gesicht ihres spiegelt, und sofort blicke ich wieder nach vorne, unterdrücke ein Lächeln.

»Fick dich«, lache ich.

Als ich sie eingeholt habe, hat sie die Hände missbilligend in die Hüfte gestemmt. »Dein Akzent ist verschwunden.« Sie neigt den Kopf und lacht leise, die Augen funkelnd vor Belustigung.

Ich halte im Gehen inne. »Sag das mal allen an der Universität, die kein einziges Wort verstehen, wenn ich mit ihnen spreche.«

»Okay, va bene, immer noch ein Schotte.« Anika wirft protestierend die Hände in die Luft. Schottisch, italienisch, gewürzt mit einer Brise Ivy League Amerika.

Wir passieren die automatischen Schiebetüren des Malpensa-Flughafens, und die windstille italienische Hitze trifft mich vollkommen unvorbereitet. Als ich mich umsehe und die goldene und verlockende Luft spüre, steigt eine Welle der Traurigkeit in mir auf. Zuhause.

»Ich sage doch nur, ich höre da ein wenig Amerikanisch in diesem Schottisch, Theo! Und deine Haare! Che cazzo! Die sind fast so lang wie meine! Ist das der Grund, warum du zurückgekommen bist? Konntest du in Yale keinen Job finden?« Sie wedelt mit den Armen, und ihre Wangen sind vor Aufregung gerötet.

»Ich war in New York, Anika. Lange Haare sind da voll im Trend«, erwidere ich, streiche mir aber unwillkürlich die Haare hinter die Ohren. Mir war bis eben überhaupt nicht aufgefallen, dass sie mir bis zum Kinn reichen.

»Oh, wie könnte ich das vergessen! Von diesem einen fünfminütigen Telefonat, in dem du uns mitgeteilt hast, dass du nach fucking New York City ziehst.« Wieder uns. Sie hat das schon immer gemacht. Ihre Gefühle an die der anderen gehängt.

»Tornerò su quell’aereo se non smetti di parlare, Anika!« – »Ich werde in diesen Flughafen zurückgehen, wenn du nicht aufhörst zu reden!«, keife ich, bringe damit mein Italienisch wieder in Gang. Die Worte fühlen sich in meinem Mund irgendwie verrostet an. Ich rechne damit, dass sie sich darüber lustig macht. Meine Vokale sind zu lang; meine Betonung ist einen Schlag hinterher.

Wie aufs Stichwort verdreht sie die Augen. »Ich werde dich so was von umbringen, wenn du auch nur einen Schritt auf diesen Flughafen zu machst, Theo! Es gibt jetzt kein Zurück mehr.«

»Na schön«, sage ich lächelnd. Meine Schwester zu sehen, macht mir auf qualvolle Weise bewusst, dass ich jetzt nicht mehr umkehren kann. Es war niemals sie, die ich verlassen wollte. Sie weiß das, natürlich. Aber ich versuche, jetzt nicht mehr darüber nachzudenken.

Ich folge ihr ins Parkhaus; der Schatten verschafft uns vorübergehend Erleichterung von der unverzeihlichen Hitze.

»Außerdem ist es vielleicht das Beste, wenn du bei Englisch bleibst«, lacht sie. »Ich meine, Mann, das klang wie das Kratzen von Fingernägeln auf einer Tafel.« Sie verzog angewidert das Gesicht. »Daran musst du arbeiten, Theo! Wir sprechen Italiana mit einem englischen Akzent! Englisch!« Sie imitiert einen vermeintlich eleganten Akzent und zwinkert mir zu. Anika war erst drei, als wir nach Chivasso gezogen sind, weshalb das Einzige an ihr, was man noch als schottisch erkennen könnte, ihre üble Laune am Morgen ist.

»Come, questo!« So, meine ich!

»Dir ist schon klar, dass du dich in den zwei Minuten, seit ich gelandet bin, bereits über meine Haare, meine Ausbildung und meinen Akzent lustig gemacht hast?« Ich ziehe eine Augenbraue hoch und necke meine vorlaute und für immer eigensinnige Schwester.

Sie sieht mich an, und ich rechne mit einer schlagfertigen Erwiderung, aber sie starrt mich nur an, und ohne Vorwarnung füllen sich ihre Augen mit aufrichtiger, aber undurchschaubarer Emotion. Sie schweigt einen Moment lang.

»Warum jetzt, Theo?«, flüstert sie dann. »Warum bist du bis jetzt nie nach Hause gekommen?«

Ich schlucke schwer, und mir liegt die unaussprechliche Antwort auf der Zunge, meine Hände sind plötzlich zittrig, als ich den Griff meines Koffers einfahre und den Kofferraum öffne, mir Zeit lasse, ihn im mit Teppich ausgekleideten Inneren zu verstauen. Mir Zeit lasse, darüber nachzudenken, was ich sagen soll.

»Ich war an der Uni«, erwidere ich mit genervtem Tonfall, als wäre ihre Frage, warum ich seit sieben Jahren nicht zu Hause gewesen bin, eine Frechheit. Es ist eine faule Ausrede, und ich weiß, dass sie mich durchschaut.

Lügner, Lügner, steht mir auf der Stirn geschrieben; man hört es, wenn ich einatme.

»Aber jetzt bin ich zu Hause«, füge ich hinzu, in der Hoffnung, dass sie sich damit zufriedengeben wird.

Ich schließe den Kofferraum, stecke die Hände in die Hosentaschen und balle sie zu Fäusten, während ich auf die Beifahrerseite gehe.

Sie weiß, dass ich nichts mehr sagen werde, also starrt sie mich nur noch ein paar Sekunden lang an, seufzt dann wieder und nickt. Akzeptiert es für den Moment, dass ich nicht reden will.

Trotz unserer vier Jahre Altersunterschied wollte Anika, als wir noch Kinder waren, mich jedes Mal begleiten, wenn ich das Haus verließ. Meine Proteste waren immer theatralisch, vorgeschobene Ausreden, die ich aus dem Fernsehen übernommen hatte, wo ich gesehen hatte, wie ältere Brüder sie zu ihren kleinen Schwestern sagen. Nie konnte sie verstehen, warum ich sie nicht bei mir haben wollte. Sie war immer froh, wenn sie nicht zu Hause bleiben musste.

Selbst meine Geheimnisse konnten nie nur meine Geheimnisse sein; sie waren immer unsere. Außer einem. Mein Fortgehen war der erste Betrug. Ich weiß, es hat sie verletzt, einen Teil unserer Verbindung zerschlagen, die wir zueinander hatten. Das erste Mal, dass sie mir nicht gefolgt ist.

Aber in all den Jahren war sie nie wütend auf mich, hat mir nie vorgeworfen, dass ich gegangen bin. Ein Teil von ihr weiß, warum ich es getan habe, deshalb lässt sie mir die Lügen durchgehen, aber ich denke, der andere Teil wird sich immer fragen, warum.

»Stimmt, jetzt bist du zu Hause. Und dieses Mal lasse ich dich nicht wieder gehen.« Sie duckt sich ins Auto und dreht den Zündschlüssel. Ich hole tief Luft und quetsche mich in ihren winzigen orangen Fiat. Die Decke ist mit Ansteckbuttons übersät von Konzerten, Urlauben und mindestens fünfzehn, auf denen »FLOSSING IS FUN« steht.

Anika. Ich schließe die Augen, als sie den Rückwärtsgang einlegt. Wenn du nur wüsstest, wie gern ich es sagen würde. Wie sehr ich mir wünschte, du wüsstest es. Meine Kehle brennt. Wir verlassen den Flughafenparkplatz, und ich starre aus dem Fenster. Willkommen, schreien die verschwommenen grünen Schatten, Wir dachten, du hättest uns vergessen!

4

Magdalen

»Ich liege auf der weißen Leinenbettwäsche meines Kinderbettes, die warm ist von der glühenden Nachmittagssonne. Es ist schwierig, die Sonne in Italien zu erklären. Das Licht hier ist anders, es strahlt mit archaischer Kraft. Vielleicht liebt Gott die Italiener mehr. Haut, die von der italienischen Sonne berührt wurde, scheint unwiderruflich golden zu sein, was sogar in die Persönlichkeit einzudringen scheint. Aber der Schweiß, der mir die Schläfe runterläuft, ist kühl, und um mich abzulenken, zupfe ich an der abgeplatzten weißen Farbe des Rahmens, während ich meinem gleichmäßigen Atem lausche, die Stille genieße. Als ich in diesem Haus mit drei anderen Geschwistern aufgewachsen bin, war Stille eine Seltenheit. Meine Geschwister, Joseph, Luciana und Dante, das bezaubernde Trio, waren immer gut darin, Raum einzunehmen. Joseph, der Älteste und Ernsthafteste von uns vier. Immer begierig darauf, über die neuesten Entwicklungen in der Marketingkampagne des Museums zu sprechen. Wir versuchen, unsere Webseite nicht zu erwähnen, wenn wir seine Analyse der Conversion-Rate-Optimierung vermeiden wollen. Luciana ist quasi aus Licht gemacht. Strahlend, intelligent, wunderschön. Die Einzige, die in die Fußstapfen meines Vaters getreten und Archäologin geworden ist, wofür sie immer das Lieblingskind sein wird, denke ich. Eine erfahrene Weltreisende. Ohne Angst vor der Dunkelheit. Das Mädchen trägt nicht einmal Make-up! Wäre es die Hochzeit von jemand anderem in der Familie gewesen, hätte ich mich mit Sicherheit gedrückt. Aber es ist Lucianas! Und in dieser Familie hat ihr Name Gewicht.

Und dann ist da noch Dante. Es ist unmöglich, an ihn zu denken, ohne lächeln zu müssen. Er kommt nach meiner Mutter und ist mit der Gabe gesegnet, mit jedem über alles reden zu können. Selbst die alten Damen im Supermarkt bleiben stehen, um mit ihm zu plaudern. Mit ihm! Gebräunte Haut und zu viel Haargel. Obwohl er drei Jahre älter ist als ich, wird er ewig siebzehn sein. Immer einen blöden Spruch auf den Lippen und seinem nächsten Traum hinterherjagend. Das letzte Mal, als ich von ihm gehört habe, haben er und Anika gerade geplant, eine Weinbar in Südfrankreich zu eröffnen. Anika und Dante sind unzertrennlich und möglicherweise ineinander verliebt. Aber ich bin mir nicht sicher, ob sie das selbst schon wissen. Und wer bin ich schon, ihnen die Überraschung zu verderben? Wenn ich so an meine Geschwister denke, ist es schwer, nicht zu bemerken, wie anders ich bin. Wann ist das passiert? Vielleicht als wir Kinder waren, unsere Köpfe alle in das gleiche heilige Wasser der Kirche von Chivasso getaucht haben.

Chivasso ist eine Kleinstadt, klein genug, um von jedem alles zu wissen, sobald er vor unserem duomo steht. Wir sind neugierige Menschen, wissbegierig nach Details, lieben das Drama. Unsere Haustür war nie verschlossen, und nicht selten kamen Leute einfach so hereinspaziert, wenn ihnen gerade danach war. Besuch ist immer willkommen, niemals eine Störung oder ein Ärgernis. Gespräche, wenn sie spontan und ungeplant sind, gefallen den Leuten hier am meisten, es ist ein Segen, miteinander zu kommunizieren. Und meine Mutter ist immer zu Hause. Die Tür mit einem abgewetzten Schulbuch offen gehalten, sitzt sie da und wartet auf einen Fremden, der an die Tür klopft. Sie hat ihre Karriere aufgegeben, als wir vier geboren wurden, und nachdem sie der Arbeit so lange ferngeblieben war, unterdrückte die Bequemlichkeit ihre Ambitionen. Das Museum, wo sie gearbeitet hatte, wo mein Dad und Jo immer noch arbeiten und von dem die Sinclairs Mitbesitzer sind, fleht sie jedes Jahr an, zurückzukommen. Ein weiteres Buch zu schreiben. Aber sie schüttelt bloß jedes Mal den Kopf und lacht.

Wenn ich die Augen schließe und mich konzentriere, kann ich das Lachen der Familie im Erdgeschoss hören, auch wenn ich mich im dritten Stock befinde. In einem alten Haus hört man alles. Das leise Tapsen von Schritten in der Küche nach Mitternacht, ein sanftes Ächzen des Tores im Morgengrauen, das betrunkene Flüstern von Dante und Jo, die von einer Party heimkehren. Auch wenn alle in diesem Haus schlafen, ist es nie ganz still, nicht wenn das Haus selbst wach ist.

Ich reiße die Augen auf, die Sonne geht bereits unter, ich muss eingenickt sein. Es muss bald Abendessen geben, und ich springe hastig vom Bett auf. Der Badezimmerspiegel wartet, und als ich einen Blick hinein wage, sehe ich, dass meine Stirn blass und feucht ist und meine Lippen aufgesprungen. Morte. Ich kneife mir in die Wangen. Ich sehe tot aus. Als ich mich vor dem Spiegel ausziehe, fühle ich mich so nackt, dass es mir schon anstößig vorkommt. Der Spiegel im Bad in Oxford war gesprungen und ein paar Zentimeter zu hoch aufgehängt, so dass ich mich seit über einem Jahr nicht mehr richtig betrachtet habe. Während ich mich anstarre, wird mir bewusst, dass niemand je gesehen hat, was ich gerade sehe. Ich bin vertraulich. Die Vorstellung bringt mich zum Lachen; ich bin im Besitz eines Geheimnisses! Ich drehe mich und betrachte mich näher, wobei mir die Grübchen und Flecken auffallen, die sich meinen Körper hinaufschlängeln. Diese nervigen Narben. Es fühlt sich übergriffig an, mich so eingehend zu betrachten, als wäre mein Körper derjenige, der ein Geheimnis hat, und als wollte er nicht, dass ich dabei bin, wenn er spricht. Will ich, dass es für immer ein Geheimnis bleibt?

Wenn ich zu lange darüber nachdenke, wird mir schlecht, wo würde ich anfangen, es zu offenbaren? Meine Haare fangen an, mir im Nacken zu kleben, und ich wende den Blick vom Spiegel ab, um nach meiner Haarbürste zu greifen. Als ich wieder hinsehe, fällt es mir schwer, meinem eigenen Blick standzuhalten. Stattdessen konzentriere ich mich auf meine Haarspitzen.

5

Magdalen

»Ah, Eccola qui! La regina stessa!« Hier kommt die Königin!

Ich betrete die Küche, mache mich auf unsere Nachbarn vom anderen Ende der Straße gefasst oder auf den Gemüseverkäufer der piazza mit selbst angebautem cima di rapa.

Ich bleibe im Türrahmen stehen. Die Küche ist voller Leute, meine Mom sitzt am Tisch und schnippelt Gemüse, neben ihr sitzen Dante und Jo. In der Ecke sitzt mein Dad mit einem Gläschen Grappa, und am Tresen Anika. Ich starre sie an.

»Anika!«, rufe ich. Nie hätte ich damit gerechnet, dass meine Schwester, wenn auch nicht blutsverwandt, so doch mit meiner Seele fest verbunden, in meiner Küche sitzt.

»Warum hast du mir nicht gesagt, dass du vorbeikommst?«

»Es sollte eine Überraschung sein! Ich dachte, du schläfst noch, sonst wäre ich doch jetzt noch nicht hier.« Sie wischt sich mit der Hand über die Stirn. »Ich wollte mich noch umziehen und besser aussehen als du!«

»Du Dummerchen, du siehst perfekt aus!« Ich umarme sie fest, die Wärme und das nostalgische Parfüm machen mir klar, wie dringend nötig es war, dass ich nach Hause komme.

»Du siehst dünn aus, non sembra magra?« Sie zwickt mich liebevoll in die Hüfte, und ich kichere, auch wenn ihre Beobachtung mich ein wenig verunsichert. Ich nehme mir vor, Emily und Anika einander vorzustellen. Es scheint, als wäre ich das Leuchtfeuer für die Lauten und Selbstbewussten – fast so, als bräuchten sie jemanden um sich, der ihren Überfluss aufsaugt, damit sie nicht selbst darin ertrinken. Ich hole tief Luft, ein Beben von Unsicherheit drängt an die Oberfläche, als mir bewusst wird, dass ich in diesem Szenario das leere Gefäß bin.

»Ich hatte Abschlussprüfungen, ich war gestresst!«, bringe ich hervor, in der Hoffnung, dass die Erklärung ausreicht, um alle davon abzuhalten, mich weiter zu mustern. Der Blick meines Dads flackert zu meinen Knöcheln, und ich drücke unwillkürlich den Fußballen gegen den sich klar abzeichnenden Knochen.

»Lo fa, le ho detto che Oxford era troppo stressante per lei.« Seht ihr, ich habe ihr gesagt, dass Oxford zu stressig für sie ist, stimmt Dante ein, der Engel von einem älteren Bruder, der in einem Universitätsstudium noch nie einen Sinn gesehen hat.

Anika zwinkert mir zu und reibt mir die Schulter, während sie sich bemüht, ein Lachen zu unterdrücken. »Siehst du, perché non hai ascoltato Dante?« Warum hast du nicht auf Dante gehört?, fragt sie neckend, während sie mir den Kopf tätschelt, als wollte sie sichergehen, dass ich wirklich hier bin.

»Alles klar, dann bin ich jetzt dünn und dumm, va bene?«

Ich verdrehe die Augen und schnappe mir einen Apfel. »Seid ihr jetzt alle zufrieden?«

Das Geplauder setzt wieder ein, und Anika und ich werfen uns einen Blick zu, mit dem wir stumm vereinbaren, uns zum Reden nach draußen zu stehlen. Unser Geheimcode, über Jahre perfektioniert, um den wöchentlichen Familienessen zu entkommen. Er besteht aus einem untrüglichen Blinzeln, einem kurzen Einatmen, einem Tippen des Fußes. Wir hatten zwölf Jahre Übung, und inzwischen ist es zu einer Art Wissenschaft geworden. Ich werfe meinen abgekauten Apfel in den Müll, und Anika füllt sich das Glas noch einmal mit Wein auf, ehe wir durch die Hintertür verschwinden, ohne dass jemand von den anderen im Gespräch innehält.

»Ich kann es nicht glauben, dass du zu Hause bist, es fühlt sich an, als hätte ich dich seit Jahren nicht gesehen.« Anikas schottischer Akzent ist im Vergleich zum Rest ihrer Familie nicht existent. Die Sinclairs sind hoch angesehen in Chivasso. Halb schottisch, halb italienisch, sind sie die ersten Außenseiter, die je in dieser verschlafenen Stadt Fuß gefasst haben, und sie werden von den Alteingesessenen unten auf der piazza beschützt. Als sie hierherkamen, änderten sie alles. Dexter Sinclair wurde stellvertretender Direktor des Museo Egizio in Turin mit meinem Vater als Direktor, woraufhin es sich von einem Museum, das man nur an Regentagen aus Langeweile besucht, zu einem Epizentrum des Tourismus verwandelt hat. Touristen begannen die Stadt zu überfluten, nur um die Ausstellungsstücke zu sehen, die Dexter dort versammelt hatte. Mein Papa hatte nie ein Händchen für Marketing, immer zu beschäftigt mit der Geschichte.

Ich betrachte das sich bewegende Muster der Blätter, das der Nachmittagsschatten hervorbringt, und atme tief ein. »Um ehrlich zu sein, hätte ich selbst nicht gedacht, dass ich komme.«

»Bin ich so abstoßend?« Anika stöhnt. »Erst Theo, dann du. Das letzte Jahr war die reinste Folter.«

»Meine arme Anika.« Ich drücke ihr Knie und lehne meinen Kopf an ihre Schulter. »Du bist doch diejenige, die uns zurückgeholt hat, Süße.«

»Ach, ja? Vielen Dank auch. Theo hat nur verdammte sieben Jahre gebraucht, um mich zu vermissen.«

»Aber ich nur eins! Heißt das, du liebst mich mehr als deinen Bruder?«

Anika lacht und legt ihren Kopf auf meinen.

»Du willst mir erzählen, dass du kein bisschen aufgeregt bist wegen Lucias großem Tag?«

Ich seufze, während ich über die Frage nachdenke. »Doch, bin ich schon. Sie und ich waren nur nie so eng, weißt du? Nicht wie du und Theo.«

»Lucia liebt dich, Maggie, und wäre verdammt am Boden zerstört, wenn du nicht gekommen wärst. Das weißt du doch, oder?« Es ist leichter, sich so zu unterhalten, Kopf auf Kopf.

»Ja, schon, klar.« Ich beeile mich, das Thema zu wechseln. »Jedenfalls, genug von mir. Wie geht es hier allen so?«

»Allen geht’s gut. Meine Eltern sind immer im Museum, also nie zu Hause, und ich bin immer noch eine Enttäuschung, also hat sich nicht wirklich etwas verändert, seit du weggezogen bist.«

Sie nimmt einen Schluck Wein und seufzt. »Und so gern ich dich hier habe, du solltest doch eigentlich in Peru sein.« Sie hebt den Kopf von meinem und stupst mich mit dem Ellenbogen in die Rippen. So viel zum Themenwechsel.

»Es ist Lucias großer Tag. Ich habe es schon nicht geschafft, für meine eigene Schwester die Trauzeugin zu sein, also ist es wohl das Mindeste, dass ich für die Feier aufkreuze. Machu Picchu wird nächsten Sommer auch noch stehen.«

»Und vielleicht kannst du mich nächstes Mal einladen, damit ich diese Emily mal kennenlernen kann.«

»Du hasst es zu fliegen! Mein letzter Stand war, dass du nur mit dem Zug reist.«

»Grr, kannst du mal aufhören, dir alles zu merken, was ich sage! Dein Gehirn ist freaky.«

Jetzt hebe auch ich den Kopf. »Es ist doch nicht schwer, sich zu merken, dass meine beste Freundin nicht gern fliegt?«

»Du hast mich deine beste Freundin genannt.« Anika nimmt noch einen Schluck Wein und schlingt dann fest die Arme um mich.

»Ich habe dich so vermisst, Freak«, flüstert sie.

»Ich habe dich garantiert noch viel mehr vermisst.« Ich erwidere die Umarmung, fühle mich sicher und geborgen. »Ich hatte Heimweh.«

»Heimweh?« Anika löst sich von mir, um mich anzusehen. »Du beschließt, auf die Uni nach England zu gehen, und dann beschließt du, Heimweh zu bekommen? Madonna, du hättest hier bei mir und Dante bleiben können! Es ist noch nicht zu spät! Geh einfach nicht zurück!«

»Wenn das meine Optionen sind, gehe ich gleich wieder zurück nach England«, lache ich. Im Gegensatz zu Anika verbringe ich mit Dante ungern mehr Zeit als nötig. Er und ich standen uns noch nie nahe, auch nicht als Kinder. Ich denke, meine Schüchternheit hat ihn verunsichert, und irgendwann fing er an, immer öfter bei den Sinclairs abzuhängen, nachdem Jo und Lucia ausgezogen waren.

»Ach, halt die Klappe.« Sie schüttelt den Kopf. »Du warst immer schon klüger, als es gut für dich gewesen wäre, das ist bei Theo genauso.«

Sie hält inne, sieht zu der aufkommenden Dämmerung hoch und schnaubt. »Was verdammt ist mit mir passiert? Gestern habe ich Salz in meinen Kaffee getan, jawohl, das habe ich. Verficktes Salz! Herrgott, der Genpool in dieser verdammten Familie ist doch manipuliert, so ungerecht.«

Ich unterdrücke ein Lachen, aber es kommt als Grunzen heraus, woraufhin sich Anika umdreht und mir auf die Schulter klapst.

»Ach, leck mich doch!« Sie steht auf und beginnt, auf und ab zu tigern, wobei sie immer größere Schlucke von ihrem Wein nimmt, während sie vor sich hin schimpft. »Scheiß auf Theo, scheiß auf meine Eltern, und wo wir schon dabei sind, scheiß auf deine Eltern! Ohne dich könnte ich genauso gut weglaufen und einem Kloster beitreten. Weißt du, wie unerträglich Dante ist? Ich kann das nicht mehr. Er hat mich letztes Wochenende seinen Rücken rasieren lassen, Maggie.« Sie macht noch weiter, aber mein Lachen übertönt ihren Ausbruch. Schließlich stimmt sie ein, und ich falle von der Bank, eine Hand auf den Bauch gedrückt, die andere an den Kopf gelegt, wo ich das kühle Gras zwischen den Fingern spüre. Ich lausche meinem Herzschlag, hole tief Luft und strecke mich. Ich spüre, wie sich eine tiefe Ruhe über mich senkt. Das hölzerne Tor hinter mir öffnet sich, aber wir hören es nicht, bis sich leise Schritte auf dem Kiesweg nähern.

6

Theo

Meine Mum hat eine Notiz hinterlassen:

DINNER BEI DEN SAVOYS. SEI VOR ACHT DA.

MUMMY

Es ist jetzt zehn vor acht; etwas übertrieben. Ich bin ein paar Stunden unruhig umhergetigert, habe den restlichen Gin meines Dads getrunken, kalt geduscht. Meine Wangen fühlen sich warm an, meine Nase ist taub.

Als ich mich der Auffahrt nähere, höre ich Gelächter und weiß sofort, dass eine der Stimmen die von Anika ist, doch die andere ist mir unbekannt. Seltsam, ich dachte, ich kenne alle Savoys, aber diese Stimme ist mir fremd, tiefer als Anikas, aber voll. Wie kann es sein, dass ich sie nicht zuordnen kann? Meine sieben Jahre in der Fremde werden mir bewusst, und ich bleibe am Tor stehen, zögere, in das Leben einzudringen, das sich in meiner Abwesenheit entwickelt hat.

Nach Yale zu gehen hatte genauso bedeutet, die Savoys zu verlassen, genau wie meine eigene Familie. Und jetzt wird mir flau beim Gedanken daran, ihr Haus betreten zu müssen. Ich kann sie schon sagen hören:

»Lange nicht gesehen!«

»Hast du uns etwa vergessen?«

Aber was ich am meisten fürchte, ist das »Wir haben dich vermisst«, weil ich mit Sicherheit weiß, dass ich sie mehr vermisst habe. Ich zupfe an meinem Kragen, fühle mich klaustrophobisch und versuche, meinen Atem zu beruhigen. Nicht hier, Theo. Hab jetzt keine verdammte Panikattacke in der Auffahrt der Savoys. Ich versuche, meine Atemzüge zu zählen. Ich atme und stelle mir bildlich vor, was passieren wird, wenn ich die Küche der Familie betrete. Mein Dad wird seine Armbanduhr zurechtrücken, Desinteresse vortäuschen, wenn seine Haare länger geworden sind, wird er sie mit der rechten Hand zurückstreichen, denn in der linken wird er ein Getränk halten.

Das Geräusch meiner Schritte auf dem Schotter lässt das Lachen verstummen, und ich bleibe kurz stehen, noch nicht bereit, entdeckt zu werden. Aber mir wird bewusst, dass sie auch meine Stille hören werden, wenn sie meine Schritte gehört haben, also gehe ich weiter, trete bewusst fester in die Kieselsteine, um selbstbewusster zu wirken.

»Wer ist da?« Es ist Anikas Stimme. Meine Schwester klingt misstrauisch und wie immer angriffslustig.

»Ähm, ich bin es«, erwidere ich unbeholfen, noch ehe ich jemanden sehen kann. Meine Stimme ist rau, nachdem ich so lange nicht gesprochen habe, so dass ich angestrengt und missmutig klingen muss. Ich ducke mich unter einem Ast hindurch und stolpere, geleitet vom Gin, bei der Bewegung vorwärts. Als ich den Kopf hebe, um meinen nächsten Schritt gezielter zu setzen, ist es nicht Anika, die ich erblicke. Ein Mädchen liegt im Gras, ihre Haut bronzefarben in dem gedämpften blauen Licht der hereinbrechenden Nacht.

»Hi, Theo«, grüßt sie.

»Theo, da bist du ja! Ich dachte, du hättest dich längst aufs Ohr gehauen!«, ruft Anika aus dem Hintergrund. Sie sitzt auf der Gartenbank und streckt mir die Arme entgegen, aber als sie bemerkt, dass ich zu weit weg bin, lässt sie die Arme sofort wieder sinken. Ich brauche keine Sekunde, um zu wissen, dass sie betrunken ist.

»Devo fare pipi!« Ich muss Pipi, murmelt sie und steht auf, was sie kurz zum Schwanken bringt.

Ich sehe wieder nach unten.

»Hi, Magdalen. Ich hätte dich fast nicht erkannt.« Es ist Magdalen, meine Magdalen aus lange vergangenen Kindheitstagen. Plötzlich bin ich verunsichert, wo ich hinsehen soll, und scheine nur noch in der Lage zu sein, auf ihre nackten Füße zu starren. Ihre Knöchel sind spitz und zart. Sie trägt einen Leinenoverall, der nicht zugeknöpft ist und ihr lose an der Hüfte hängt, und das winzige weiße T-Shirt darunter ist ihr im Liegen bis zu den Rippen hochgerutscht, aber ich rede mir selbst ein, dass mir das gar nicht aufgefallen ist.

Sie lacht, und ich reibe mir mit dem Handrücken über die Augen. »Ich weiß, ich bin in einem Sommer vier Zentimeter gewachsen. War das Thema in der Stadt. Du siehst gut aus«, sagt sie anerkennend und doch beiläufig. Ihre Beine sind unfassbar lang.

»Ja, tja, so fühle ich mich nicht«, bringe ich kurz angebunden hervor. Ich senke den Blick wieder auf ihre Knöchel, um nicht ihre Oberschenkel anzustarren, und fühle mich plötzlich seltsam, so über ihr zu stehen, also mache ich einen Schritt zurück, in der Hoffnung, dass sie nicht denkt, ich hätte sie in irgendeiner Weise einschüchtern wollen. Herrje. Seit wann bin ich so verdammt unsicher?

»Ich bin auch erst heute nach Hause gekommen, auch wenn meine Flugzeit nicht ganz so schlimm war. Du musst durstig sein. Hättest du gern etwas zu trinken?« Sie steht auf, und ihr Shirt fällt wieder über ihren Bauch, während ihre dicken Haare um ihr Gesicht fallen. Im Stehen ist sie fast so groß wie ich – die Magdalen meiner Kindheit gibt es nicht mehr. Ihr Kommentar, dass ich durstig wirke, überrascht mich. Sehe ich irgendwie dehydriert aus?

Ach, fuck, ich kneife die Augen zu. Was hat dieses Land nur an sich, das mich so sensibel macht?

»Klar, danke. Sind die anderen drinnen?« Ich kicke einen verirrten Kieselstein zurück in die Auffahrt und hoffe, dass Anika bald zurück ist, damit ich verdammt noch mal wieder atmen kann.