Ich, Adeline, Hebamme aus dem Val d'Anniviers - Adeline Favre - E-Book

Ich, Adeline, Hebamme aus dem Val d'Anniviers E-Book

Adeline Favre

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Beschreibung

Adeline Salamin war zwanzigjährig, als sie 1928 mit einem Hebammenköfferchen aus Leder und modernen Ansichten über Geburtshilfe aus Genf ins Val d'Anniviers zurückkehrte. In ihrer Heimat wollte sie anwenden, was sie gelernt hatte. Mit ihrer Herzlichkeit gewann sie rasch das Vertrauen der Wöchnerinnen, anfangs in den Häusern der Familien, später im Spital von Sierre. 8000 Kinder kamen mit ihrer Hilfe auf die Welt. Lebendig und konkret erzählt Adeline Favre (1908–1983) von ihrer Jugend, ihrer Ausbildung und vor allem von ihrer fünfzigjährigen Arbeit als Hebamme, die oft über diejenige einer Geburtshelferin hinausging; vom Kampf gegen Widerstände, alte Traditionen und Bräuche. Zwar ist auch von den Vätern die Rede, doch immer steht das Schicksal der Frauen und ihrer Kinder im Vordergrund, ihre Sorgen, Nöte und Freuden. In ihrem Vorwort beleuchtet Susanne Perren die Entwicklung des Hebammenberufs und blickt auf die lebendige Geschichte des Val d'Anniviers.

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Adeline Salamin war zwanzigjährig, als sie 1928 mit einem Hebammenköfferchen aus Leder und modernen Ansichten über Geburtshilfe aus Genf ins Val d’Anniviers zurückkehrte. In ihrer Heimat wollte sie anwenden, was sie gelernt hatte. Mit ihrer Herzlichkeit gewann sie rasch das Vertrauen der Wöchnerinnen, anfangs in den Häusern der Familien, später im Spital von Sierre. 8000 Kinder kamen mit ihrer Hilfe auf die Welt.

Lebendig und konkret erzählt Adeline Favre (1908 bis 1983) von ihrer Jugend, ihrer Ausbildung und vor allem von ihrer fünfzigjährigen Arbeit als Hebamme, die oft über diejenige einer Geburtshelferin hinausging; vom Kampf gegen Widerstände, alte Traditionen und Bräuche. Zwar ist auch von den Vätern die Rede, doch immer steht das Schicksal der Frauen und ihrer Kinder im Vordergrund, ihre Sorgen, Nöte und Freuden.

In ihrem Vorwort beleuchtet Susanne Perren die Entwicklung des Hebammenberufs und blickt auf die lebendige Geschichte des Val d’Anniviers.

Adeline Favre (1908–1983), geboren in St. Luc im Val d’Anniviers als achtes von vierzehn Kindern. Gegen den Willen ihrer Eltern besucht sie in Genf die Hebammenschule. Als kaum Zwanzigjährige kehrt sie ins Wallis zurück und arbeitet bis zu ihrer Pensionierung als Hebamme, anfangs in den Häusern der Familien, zuletzt im Spital von Sierre. 8000 Kinder haben mit ihrer Hilfe das Licht der Welt erblickt.

Adeline Favre

Ich, Adeline, Hebamme aus dem Val d’Anniviers

Erinnerungen herausgegeben von Yvonne Preiswerk nach Aufzeichnungen von Gesprächen Adelines mit ihren Nichten Marie-Nöelle Bovier und Pierrette Mabillard

Mit einem einleitenden Text von Susanne Perren

Aus dem Französischen von Maja Spiess-Schaad

Limmat VerlagZürich

Inhalt

Tante Adeline, Mythos Adeline: Eine kühne Frau, den kämpfenden Kühen gleich

Meine Kindheit

Eine Berufung entsteht

Das Leben der Frauen damals

Adeline Favre-Salamin 22. Mai 1908 – 16. Dezember 1983

Die grosse Entscheidung – Aufbruch nach Genf

Rückkehr nach Sierre – der Anfang im Beruf

Die ersten Medikamente und die traditionellen Methoden

Zwischenspiel

Es waren alles Hausgeburten, schwierige Fälle ausgenommen

Das Auto

Man gewöhnt sich an das Spital

Neugierde der Kinder

Missbildungen und schwere Fälle

Der Übergang zu neuen Methoden

Moderne Säuglingspflege

Zum Thema Abtreibungen

Betrachtungen

Der Ruhestand rückt näher

Val d’Anniviers, St. Luc, Sierre

Hebammen – gestern und heute

So hat man damals entbunden

Zum Schluss

Tante Adeline, Mythos AdelineEine kühne Frau, den kämpfenden Kühen gleich

Es ist das eine so exotisch wie das andere: Die Asiaten oder sogar eine versprengte Horde des Hunnenkönigs Attila sollen das Val d’Anniviers (Eifischtal) besiedelt haben. Die Anniviarden – oder Eifischtaler – stammen also nicht von unseren Vorfahren ab. Sie sind Walliser der besonderen Rasse.

Man hält den Wallisern generell zu, sie seien willensstark, kräftig, unverwüstlich verwurzelt mit ihrem Land, eigensinnig; alles davon in gehörigem Ausmass. Die Anniviarden aber legen an Eigensinn und Bodenhaftung noch zu.

Bernard Crettaz, Ethnologe aus dem Val d’Anniviers, kommt unverblümt auf den Punkt, spricht man ihn darauf an. Man nenne das einen «caractère cochon», was sich in der eleganten Version als «ruppiger Charakter» übersetzen liesse. Er, der in Zinal zuhinterst im Eifischtal wohnt, will das für die Gebürtigen von Saint-Luc verstanden wissen. Zäh seien sie, etwas harsch und auf jeden Fall sehr direkt. Adeline Favre lesen heisst verstehen, woher sie kommt. Sich vor Augen halten, was diesen Charakter geformt hat.

Am Berg auf und ab

Das Val d’Anniviers ist ein schmales, steil abfallendes, südwärts gerichtetes Hochtal, an dessen ausladenden Flanken sich die Dörfer auf Höhenlagen zwischen 1204 Höhenmetern bei Vissoie bis auf 1920 Höhenmeter bei Chandolin verankern. Saint-Luc, Adeline Favres Heimatort, liegt auf 1655 Höhenmetern.

Das typische Walliser Bergdorf lebte eine so bescheidene wie exemplarische Geschichte: Wie viele andere Bergdörfer trägt es die Brandmale zweier dorfzerstörenden Feuer, 1845 war’s, und 1858. Heute säumen Steinhäuser statt der typischen Walliser Holzhäuser die Gassen im Zentrum von Saint-Luc.

Ab 1854 führte eine offizielle Strasse in Serpentinenkurven von Siders hinauf ins Eifischtal. Doch bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein begaben sich die Leute zu Fuss von einem Ort zum andern. Die Anniviarden pflegten ein ausgiebiges Nomadenleben. Sie nutzten als Selbstversorger die saisonal günstigen klimatischen Bedingungen auf verschiedenen Höhenstufen. Das liest sich angenehm und plausibel; in Wirklichkeit war es eine Schinderei, ein steter Kampf ums Überleben. Adeline beschreibt das eingangs als «ein Leben unterwegs». Im Frühling bewirtschafteten sie die Reben in Siders, im Frühsommer bestellten sie Äcker und Felder in den Weilern zwischen Siders und Saint-Luc, hauptsächlich Kartoffeln und Roggen wurden gepflanzt. Den Sommer über hüteten die Männer – im Val d’Anniviers ausschliesslich die Männer – das Vieh auf der Alp. Den Hausrat trugen die Leute jeweils mit in schweren, aus Holz geflochtenen Rückentragkörben, sogenannten «corba» oder «Tschiffren». Noch heute laden wir uns – etwa im Goms – die Gartenernte im Herbst mit der «Tschiffra» auf und bringen sie in den Keller, wobei die hölzernen Tragriemen bei jedem Schritt auf den Schultern reiben und brennen. (Ein Ikea-Sack würde wohl ähnlich viel fassen, ist aber kaum handlich bergauf und -ab zu schleppen.)

Doch zwingen ein paar Kohlköpfe uns bereits in die Knie, derweil die Frauen damals Esswaren, Arbeitsgeräte und das Neugeborene obendrauf über steilste Wege schulterten.

Als 1908 die ersten Aluminiumfabriken in Chippis den Betrieb aufnahmen, fanden einige Bauern dort Arbeit. Ihre Familien, massgebend die Frauen, betrieben die Berglandwirtschaft weiter. Sie hielten Schafe für die Wolle, mästeten Schweine im Maiensäss. Zur Ackerpflege und zum Heuen stiegen sie wieder ins Dorf hinab. Während der ein- bis zweistündigen Auf- und Abstiege hing nicht selten ein Korb an ihrem Arm mit Wolle, aus dem sie unterwegs strickten.

Gesegnet unter die Axt

Vor oder aber nach dem Alpaufzug, im Dezember und im Frühsommer wurde im Dorf der kommunale Backofen eingeheizt. Jede Familie hatte zuvor ihre Holzkontingente abgeliefert. Der Reihe nach buken die Familien Hunderte von Roggenbroten. Das Roggenbrot von Saint-Luc indes unterschied sich vom Brot der anderen Bergdörfer – erst recht von jenem, das wir heute in den Bäckereien kaufen: In Saint-Luc fügten die Familien dem Roggen auch Mais, etwas Weizen, Kartoffeln, Zucker, Salz, Sauerteig, Fenchel und Anis bei. Für zwei Ofenfüllungen, die damals an die 140 Brote ergaben, brauchte man folgende Zutaten: 75 kg Roggen, 20kg Mais, 25kg Weizen, 50kg Kartoffeln, 35l Wasser, 3kg Zucker, 1.5kg Salz, 1.5kg Sauerteig, 35g Fenchel, 35g Anis. Das Brot wurde als Gabe Gottes in Ehren gehalten; doch selbst bei gesegneten Laiben half nach einem halben Jahr nur noch die Axt, um das Brot in mundgerechte Stücke zu hauen. Adeline Favre hat, wie wir später erfahren, stets eine delikate Küche zelebriert, indem sie mit Ungewohntem überraschte.

Val d’Anniviers, Sierre und Rhonetal.Bildnachweis: Karte Val d’Anniviers, ca. 1969, Mediathek Wallis – Sitten, Spezialsammlungen, PN 707/106

Wohl bekomm’s dem Toten!

Gerne gereicht haben sich die Anniviarden den Wein – insbesondere den Gletscherwein oder «Glacier». Er wurde als Köstlichkeit meist zur Hochzeit eines Gesellen in Holzfässer im Keller eingelagert und erst zu dessen Todesmahl kredenzt.

Das bringt uns zu einem ganz speziellen Ritual: dem Begräbnis mit anschliessendem Grabmahl. Die Anniviarden feierten das abgegangene Leben feucht-fröhlich, als hätte es gerade erst begonnen. An diesen Feiern reichte man sich jenen Gletscherwein, der im Keller des Verstorbenen seit seiner Hochzeit wartete. Je nach Lebensjahren muss dieses Gesöff ordentlich eingefahren sein.

Noch im zwanzigsten Jahrhundert trug man den Sarg auf den Kirchenplatz. Zum Grabmahl, das die Gemeinde ausgab und an dem der Käse nicht minder alt war wie der Wein. Dieses ungewöhnliche, angeheiterte Ritual entsprang dem Gedankengut, welches das Leben und den Tod als einen gemeinsamen Weg sieht. Der Wein und der Käse im Keller begleiteten durch das Leben und bereiteten auf den Weg der Toten vor, die mit dem Hinschied eine lange Reise antraten, um dereinst bei ihrer Rückkehr den Lebenden zu helfen. Im Leben ist der spirituelle Weg bereits enthalten.

Fleisch, dies noch zur kulinarischen Tradition, kam in den Familien oft auf den Tisch, meist als Rindfleisch. Im Winter wurden die Rinder und Schweine geschlachtet und das Fleisch eingesalzt. Es hielt bis im August, wenn auch nicht ganz milbenfrei. Am Comptoir de Lausanne trafen die findigen Unterwalliser alsbald auf eine Maschine, mit der sich Konserven herstellen liessen. Mehrere Familien zusammen kauften sich eine derartige Büchsenmaschine. Sie legten das Fleisch gegrillt in Dosen und verschlossen mit einer Kurbel das Vorratsgut. Denn in Saxon, einem Dorf im Rhonetal unterhalb Siders, gab es seit 1885 eine Konservenfabrik. Von dort bezogen sie die Vorratsdosen. Das konservierte Fleisch hielt bis in den Herbst hinein, blieb schmackhaft und erleichterte das Leben der Frauen: Sie benötigten weniger Zeit zum Kochen. Was lag also näher, als sich dieser kommoden Technik zu bedienen?

Kämpferische Naturen

Noch etwas liegt in den Wurzeln von Adeline Favre: die kämpfenden Kühe. Seit unerdenklichen Zeiten, raunt man, spielen die Kühe auf der Alp; sie kämpfen und ringen. Warum dieses natürliche Kräftemessen zu einem aufmerksam verfolgten Ritual wurde, ist unbekannt. Ursprünglich fand das Wettraufen um die Stärkste auf der Alp am Tag der Bestossung statt. Im Laufe der Jahre bekämpften sich die Kühe im Ring. Sie wurden zum Spiegel der menschlichen Gemeinschaft: Die Ringkühe projizierten, wie sich die Konflikte von Dorf zu Dorf, von Familienclan zu Familienclan durchzogen. Die Züchter identifizierten sich symbiotisch mit ihren Tieren – ein gewonnener Schwung der eigenen Kuh wurde zum Sieg über den Rivalen. Für den Kampf besonders geeignet ist die Eringerrasse. Die Polemik um die Anerkennung dieser Rasse sei hier nur am Rande angetönt. Die Debatte entfachte sich daran, diese heroischen Kühe seien zu wenig produktiv, was den landwirtschaftlichen Nutzen anbelange. Die kämpferischen Kühe waren weniger milchfreudig. Dem ist auch heute noch so. Inzwischen aber haben sie ihren Status als Kulturereignis gefestigt. Nach dem Ersten Weltkrieg verflachten die Ringkuhkämpfe erst einmal. Die Industrie in den Städten verführte die Bergbauern. Die Aussicht auf einen Arbeitsplatz zog sie magisch an. Doch wurden sie derart von Heimweh ergriffen, kaum waren sie angestellt, dass es sie zurück in die Bergdörfer trieb.

Adeline, die andere

Nicht so Adeline Favre. Sie war eine moderne Frau, die über ihre traditionellen Wurzeln hinausgewachsen ist, sich aber nie davon löste. Das typische Nomadenleben hatte sie verinnerlicht. In allen Lebensthemen schritt sie voran; entschlossen, selbstgewiss, immer aufbrechend. Sie machte sich 1938 im zarten Alter von dreissig Jahren zum Ereignis, weil sie die Fahrprüfung ablegte und fortan mit dem Auto unterwegs war. Sommers und winters, so gut es ging. Sie zog vom Berg nach Siders in die Stadt und bezog dort nahe dem Spital eine Wohnung. Zugleich hütete sie ihr traditionelles Temperament. Es spiegelt sich am ehesten in ihrem Dialekt wieder: Adeline Favre sprach Patois, den als bäuerlich und unkultiviert titulierten Dialekt der französischen Sprache. Sie nahm, da der Kinderwunsch unerfüllt blieb, eine Tochter ihrer Schwester für einige Jahre zu sich.

Solcher Kindertausch war früher oft üblich: Kinderreiche Familien gaben ein Kind ab, damit sie einen Mund weniger ernähren mussten. Umgekehrt gewann die kinderarme Familie eine Arbeitskraft im Haus. Marie-Noëlle Bovier, 1942 als drittes Kind von Adelines Schwester in Chippis geboren, lebte als «spirituelle Tochter» die ersten sieben Lebensjahre bei Tante Adeline. Adeline Favre behütete diese Tochter nicht um der Arbeit willen, im Gegenteil: Als Berufstätige war sie darauf angewiesen, dass ihre Mutter, Grand-mère Salamin, die Fürsorge für Marie-Noëlle mit ihr teilte. «Adeline war eine richtige Verwöhntante. Ich habe meine Geschwister damals nicht vermisst», erinnert sich Marie-Noëlle Bovier, die heute noch in Chippis lebt. «Adeline war eine exzellente Köchin. Wir flattierten ihr regelrecht, dass sie uns bekoche, obwohl sie wenig Zeit hatte. Zum Beispiel die Kalbsbrust, dezent mit Knoblauch parfümiert und als krosser Braten serviert – die schmecke ich noch heute. So etwas Saftiges und Delikates habe ich nie zustande gebracht», sagt Marie-Noëlle Bovier.

Adeline Favre selber schwärmte von ihrer Mutter und wie diese ihnen damals bereits das Fleisch mit ausgesuchten Kräutern zubereitet hatte. In Siders glänzte Grossmama Salamin mit vielem: allem voran mit den Beignets, einer Art Krapfen, die süss mit Äpfeln, natur mit Marc oder aber mit Kartoffeln ausgebacken wurden. Berühmt war auch das Salamin’sche Kalbsragout, das sie mit Zimt und Zitrone abschmeckte. Gelernt hatte sie solche Dinge als Küchenhilfe im Berghotel Bella Tola in Saint-Luc, das ab 1859 die ersten Touristen im Val d’Anniviers aufnahm. Man würde diese Zimt-Zitronen-Kreation heute als Fusionsküche zelebrieren. Damals waren die Frauen offen, das Übliche auf unübliche Art zu leben und die Norm zu hinterfragen.

Modern mit Mythen

Kraft ihrer Kühnheit hat Adeline Favre auch die Walliser Hebammengeschichte geprägt. Sie verstand sich, als die «ultramoderne Hebamme», wie Bernard Crettaz sie nennt, auf moderne Entbindungstechniken. Wie sie den Neugeborenen direkt die Nabelschnur abschnitt, hinterfragte sie Mythen. Sie hielt die Frauen an, regelmässig zur Kontrolle zu gehen, und bereitete sie in der Mütterberatung auf die «schmerzlose Geburt» vor. Als vehemente Gegnerin der medikamentösen Niederkunft nutzte sie dabei die Achtung, die sie genoss. Unüblich für damals, zog sie den Arzt bei, wo sie es für notwendig befand. Schritt für Schritt unterlief die Hebamme das traditionelle System.

«Tante Adeline war sehr offen bezüglich Schwangerschaft und Sexualität. Ich habe bald einmal begriffen, wie das mit den Bébés geht. In der Schule hänselten mich die Knaben, ich glaube noch an den Weihnachtsmann. Was gab mir das für ein gutes Gefühl zu kontern: Pah! Und du noch an den Storch! Selbstvertrauen in das Leben, dieses unbeschreibliche Gefühl von Sicherheit, das hat mir Tante Adeline vermittelt.»

Marie-Noëlle begleitete ihre Tante oft zur Arbeit. Als sie siebenjährig war, starb die Grossmutter. «Grossmutters Tod war ein Schock für mich. Tante Adeline arbeitete Tag und Nacht. Ich hätte nicht bleiben können. Sie liebte ihre Arbeit und in der spärlichen Freizeit das Reisen», sagt Marie-Noëlle Bovier. Die Siebenjährige zog zurück zu ihrer Stammfamilie. Das hatten die Frauen untereinander so abgemacht. «Ich erinnere mich nicht mehr an die Rückkehr.» Adelines «Spirit» hatte bereits gewirkt: Marie-Noëlle wollte auch Hebamme werden und wurde es. «Sie wollte es mir ausschlagen. Es sei penibel und man habe kein Privatleben, mais non, aber nein. Ich fragte sie, ob sie anders entscheiden würde, könnte sie noch einmal beginnen. Sie verneinte vehement.»

Die Patientinnen kamen von weit her. Selbst noble Damen aus dem Oberwallis – vornehmlich Hoteliersfrauen aus Zermatt und Saas Fee, die dank Kontakten mit Touristen französisch sprachen – wollten sich von dieser Frau entbinden lassen. Entsprechend oft war sie an Tauffeiern eingeladen. «Ich erinnere mich an eine Fahrt mit dem Postauto auf dem Weg zu einem Tauffest. Mir war sehr übel. Tante Adeline riet mir, ich solle singen, was ich dann lauthals tat. Nach jedem Lied haben die Mitfahrenden im Car begeistert applaudiert. Das half.»

Adieu Arnika

Auf natürliche Art haben sich diese beiden Frauen und mit ihnen das Hebammencorps im Spital von Siders befruchtet, wie es heute mit grossem Trara in irgendwelchen virtuellen und real inszenierten Foren praktiziert wird. «Adeline hat mir viele nützliche Handgriffe gezeigt.» Die ultramoderne Adeline erklärte der noch unerfahrenen Marie-Noëlle, wie man die Frauen auch mental vorbereitet. Wie ein besseres Atmen die Durchblutung fördert. Wie man die Frauen während der Geburt unterstützt, indem man ihre Beine frei lässt oder ein Bein der Frau auf der eigenen Hüfte lagert. Dass man den Blutsturz nach der Geburt stoppen kann, indem man das Neugeborene der Mutter an die Brust setzt. «Das hat Tante Adeline von einer alten Medizinerin gelernt. Es funktionierte besser als jedes Medikament.» Sie hätten einander auch den Psychiater erspart. Allein ein Gespräch über eine Totgeburt oder über Kinder mit Missbildungen tat wohl, half, das Leid zu bewältigen. Umgekehrt wollte Adeline Favre wie keine andere wissen, was an der Hebammenschule neu vermittelt worden war. Weiterbildung war ohnehin ihre Leidenschaft. «Sie hielt uns nie zu einem Kongress an, sondern fragte: ‹Wollt ihr mitkommen?› Wir fuhren zu Konferenzen nach Basel, ins Tessin, nach Solothurn, nach Chur, ins Appenzell, moderne Nomadinnen, wenn Sie so wollen», zwinkert Marie-Noëlle Bovier. Einmal seien sie, ihrer vierhundert aus der ganzen Schweiz, an einem Bankett mit Vertretern von Bébéartikeln gewesen. Dreiundfünfzig Tänzer auf vierhundert lebenslustige, meist bodenständige Hebammen. Die Herren dürften an diesem Abend den grösseren Krampf gehabt haben als tagsüber beim Feilbieten ihrer Artikel.

An der Hebammenfront tat sich in dieser Zeit einiges. Gerade weil man versucht war, von den Frauen aus den Bergen am wenigsten zu erwarten, waren diese die ersten, die mit Blick nach vorne zur Tat schritten. Antibiotika statt Arnika war Mode, die Spitalgeburt ohnehin die Regel. Einzig bei moralischen Fragen blitzten ihre traditionellen Bande auf. «Tante Adeline sträubte sich gegen das künstliche Einleiten der Geburt, ausser es war zum Wohle des Kindes gewesen. Jene Patientinnen, die aus Bequemlichkeit den Wunsch äusserten, überzeugte sie vom Gegenteil. Da konnte sie sehr bestimmt auftreten.»

Was aber ist mit alten Heilmethoden? In Nachkriegsjahren war das Althergebrachte zu alt. Es ging in der aufkommenden Industrie unter, versprach diese doch ein angenehmeres Leben mit Verdienst, Licht, Strom in den Häusern und schneller Hilfe, je nach Pille oder Pharmazeutika. «Wir verabreichten viel Antibiotika, ohne dies zu hinterfragen. Oder wir gaben den Frauen grosse, gelbe Eisentabletten. Natürlich reichten wir auch Trockenfleisch dazu, aber wir konnten uns dem medizinischen Fortschritt nicht verwehren», erinnert sich Marie-Noëlle Bovier.

In den Sechzigerjahren kam die künstliche Muttermilch in Beuteln auf. «Sie wurde zu einem ‹Must›. Die Frauen haben uns als hinterständig verschrien, weil wir nach wie vor zum Bruststillen rieten.» Erst in den Achtzigerjahren wurde die Muttermilch als etwas Gutes rehabilitiert. Heute, verwirft Marie-Noëlle Bovier die Hände, sei es eher fanatisch, wie man auf die Muttermilch zurückgekommen sei und die Kinder beim kleinsten Jammern sofort an die Brust setze. Ein Kind brauche Ruhe im Bett und Zeit zum Verdauen. Mais oui.

Neue Welt, neue Unrast

An die fünfzehn Jahre arbeiteten Adeline Favre und Marie-Noëlle Bovier Seite an Seite, sich unterstützend, doch jede bestimmt für sich. In der Blüte ihres Schaffens haben die Hebammen die Frauen während der Schwangerschaft begleitet. Sie besuchten sie daheim, beschwichtigten Ängste und klärten sie über Empfängnisverhütung auf.

Dieses ganzheitliche Begleiten änderte bereits während der Ära von Adeline: 1974 wurden die freischaffenden Hebammen ins Spital abberufen. Sie arbeiteten fortan als Spitalhebammen. Der Blick auf die ganze Familie über längere Zeit ging verloren. Der Einsatzplan schrieb die Fälle vor: Ein interdisziplinäres medizinisches Team nahm sich der Geburten, Mütterberatungen und Schwangerschaftsvorbereitungen wahlweise an. «Es waren nicht mehr ‹unsere Mütter, unsere Kinder›. Die ganzheitliche Begleitung und damit die Beziehung, die wir zu den Familien aufbauten, ging verloren», bedauert Marie-Noëlle Bovier. Die Natur der Sache ging einstweilen verloren. Der Geburtstermin, beispielsweise, gehorchte einer Formel, die für alle Frauen gleich lautete. «Das ‹Vielleicht› wandelte sich zu einem ‹Geplant›. Jegliche Abweichung von diesem Termin galt bereits als ‹zu spät›.» Nicht alles, was die Technik mit sich brachte, war dem Abgesang geweiht: In den Achtzigerjahren ersetzte das Monitoring das Geburtsstethoskop. Das Gerät registrierte den Herzschlag des Kindes und zeigte Missbildungen oder Schieflagen; die Hebammen und Ärzte stellten sich entsprechend auf Komplikationen ein. «Nicht aller Fortschritt war a priori schlecht, im Gegenteil!», sagt Marie-Noëlle Bovier, die 2005 in Pension ging. Heute begrüssen die meisten sanfte Methoden wie Wasser- oder Sitzgeburten und vor allem die Geburtshäuser, die Hebammen und werdenden Müttern wieder einen gemeinsamen Weg ermöglichen.

Parallel dazu feiert die Welt draussen, fern des Spitals, die Wieder-Erfindung als Trend. Je mehr die Technologie das Leben vom Wahrhaftigen und Ursprünglichen entfernt, umso mehr gewinnt das Damals an Bedeutung. Die Pflanzenkunde und mit ihr alternative Heilmethoden sind wieder chic. Bloss klafft eine Lücke: Die aufstrebende Generation hat es (beinahe) verpasst, sich aktiv an der Wissensüberlieferung zu beteiligen.

Nicht so bei den Ringkuhkämpfen. Sie kamen wieder in Mode, in den Siebziger-, Achtzigerjahren. Als die Touristen die Alpen als Schaustück von bewahrter Schönheit entdeckten. Mit den kämpfenden Kühen blühten auch alte Bräuche wieder auf. Auf der Alpe Rouaz oberhalb Saint-Luc werden «Les Prémices», Dankesbrauch der Sennen und Viehbesitzer, gefeiert. Les Prémices sind Käse, die am dritten Tag nach dem Alpaufzug, an dem die Milch am kräftigsten sein soll, zubereitet werden. Dieser Käse ist von besonderer Güte. Die Sennen überreichen ihn am letzten Sonntag im August dem Geistlichen, zum Dank für seinen Alpsegen, den er ihnen zu Beginn der Sömmerung erteilt hat.

Mirakel für morgen

Was aber ist von dem unbeirrbaren inneren Antrieb der Adeline Favre im Val d’Anniviers geblieben? Die Gemeinden schlossen sich, ungeachtet der Rivalitäten, zusammen, willens, im Tal eine gesellschaftliche Vielfalt neu aufzubauen. Das war 2006. Lange bevor man andernorts überhaupt daran dachte, die Gemeindeautonomie anzutasten.

Befreit haben sich auch die Frauen. Einst vom Feld an den heimischen Herd gekehrt, sind sie jetzt wieder «draussen» und arbeiten ausser Haus. Ihre Kinder sieht man tagsüber kaum. Seit dreissig Jahren gibt es nur noch eine einzige Schule im weit verzweigten Tal: das Schulzentrum von Vissoie. Das Val d’Anniviers hat sich als einzige Region im Wallis für die Tagsschule entschieden – wenn auch mit gebührender Skepsis der traditionsverwurzelten Familien. Unterrichtet wird im Blockunterricht bis in den frühen Nachmittag hinein. Dies erspart den Kindern mittägliche Heimwege bis in hoch gelegene Siedlungen und ermöglicht es den Eltern, während dieser Zeit im Tourismus zu arbeiten.

Was macht es, dass Adeline Favre und mit ihr dieses Tal unser Herz erreicht, und das nicht nur, indem wir von Stunden der Pein und Not in den dörflichen Schlafgemächern lesen? Adeline Favre wuchs in einer Zeit auf, in der die Menschen mit Kühnheit und unbeirrbarer Schöpfungskraft Herr über die Bedrohungen der Natur wurden. Die Suonen – halsbrecherisch angelegte Wasserkanäle an den Felsen – und später die Stauseen oder Strassengalerien zeugen davon. Dieses mentale Erbe, das Wissen um die Überlebensfähigkeit, ist als beseeltes Etwas zu verstehen. Man hat es, oder nicht. Wer zu dieser ausserordentlichen Leistung beitrug, fühlte sich als Teil eines besonderen Ganzen. Diese Pionierkraft trifft auf viele Walliserinnen und Walliser heute nicht mehr zu. Wohl aber auf ihre Vorfahren. Alle sind sie gross geworden in einer Landschaft von dramatischer Schönheit.

Susanne Perren

Quellen

Bernard Crettaz

,

Le curé, le promoteur, la vache, la femme et le président. Que reste-t-il de notre procession?

Editions Porte-Plumes, Ayer 2008.

Bernard Crettaz

,

Un village Suisse, Le temps, la mémoire, la mort et les dires de Robert Rouvinez

. Editions Monographic, Sierre 1982.

J. Jegerlehner

,

Das Val d’Anniviers

. Edition à la Carte, Siders 2003 (Erstauflage 1904).

Willy Theler

,

Un village en feu

. Saint-Luc 1845/1858. Editions Monographic, Sierre 2008.

Heidi Witzig

,

Polenta und Paradeplatz

. Regionales Alltagsleben auf dem Weg zur modernen Schweiz. Chronos Verlag, Zürich 2000.

Yvonne Preiswerk, Bernard Crettaz

,

Im Land wo die Kühe Königinnen sind

. Aus dem Französischen übertragen von Luzius Theler. Rottenverlag, Visp 1992.

Meine Kindheit

Ich wurde an einem 22. Mai geboren. Mama war an jenem Tag ganz allein zu Hause, denn mein Vater war ins Tal hinunter gegangen, um nach den Reben zu sehen. Im Tal unten war ein halber Meter Schnee gefallen, eher ungewöhnlich für diese Jahreszeit.

Wie alle Leute aus dem Val d’Anniviers hatten auch wir in der Gegend von Sierre, in Viouc, unsere Reben. Sie waren für uns fast die einzige Quelle für Bargeld, und eine Naturkatastrophe brachte schwere finanzielle Folgen für das kommende Jahr. Nun hatte Papa in diesem Jahr vorgearbeitet und die Reben schon frühzeitig aufgebunden. Dies im Hinblick auf meine bevorstehende Geburt: Er wollte zu Hause sein, wenn er benötigt wurde. Als er an diesem 22. Mai den Schnee sah, stieg er sofort ins Tal hinunter, um den Schaden an den Reben festzustellen. Es zeigte sich übrigens, dass er nicht so gross war wie bei den Nachbarn. Papa hatte auch die Kühe hinuntergetrieben, damit sie die abgebrochenen Zweige fressen konnten, die er auf dem Rücken des Maultiers bis nach Niouc gebracht hatte. Hierher trug man auch die dürren Rebenblätter, die man mit Heu mischte und den Kühen zu fressen gab.

So musste mich Mama an jenem 22. Mai allein zur Welt bringen. Zudem wurde ich in Steisslage geboren. Die Hebamme, Madame Pont, eine Cousine von Mama, sagte zu ihr: «Ich kann dir nicht helfen, du musst es ganz allein fertigbringen. Ich kann dir nicht helfen …» Sie betete in einer Ecke des Zimmers, und Mama presste.

Madame Pont war verzweifelt, dass sie nicht helfen konnte. Zu ihren Gunsten muss man sagen, dass die Hebammen damals nicht vorbereitet waren auf Komplikationen und dass ihnen die medizinischen Kenntnisse, die mir später zugute kamen, fehlten. Sie taten ihr Bestes mit den Mitteln, die ihnen zur Verfügung standen. Oft allerdings blieb ihnen nichts anderes übrig, als zu beten …

Weil Papa nicht da war, holte Madame Pont voller Angst ihren Mann zu Hilfe. Es geschah oft, dass der Ehemann der Hebamme zur Hand ging. Monsieur Pont war Schuhmacher. Mama hat uns später oft erzählt, wie sie sich um seinen Hals geklammert hatte, um besser pressen zu können. Ich war offenbar ein recht grosses Bébé, das achte und das erste der zweiten Hälfte von vierzehn Kindern.

Während der ersten Lebensjahre hatte ich das sogenannte «grosse Weh», die Fallsucht, wobei es sich sehr wahrscheinlich um Epilepsie handelte. Zu jener Zeit hiess die Krankheit bei uns grou-mal. Im Herbst ging man von Saint-Luc aus zur Kapelle des Thel in Guttet-Bratsch, oberhalb Leuk, wo man die heilige Jungfrau gegen dieses grand mal anrief. Ich erinnere mich, dass mich im Alter von fünf Jahren die ganze Familie begleitete: Papa, Mama, Grossmama … Sie trugen mich abwechselnd. Man wollte mich durch Gebete heilen und nicht zu einem Arzt schicken. Bei uns war jedermann gläubig, und man hatte ein absolutes Vertrauen ins Gebet. Ich weiss nicht, bis zu welchem Alter ich unter dieser Krankheit gelitten habe. Ich spürte es jeweils, wenn ein Anfall kam, und sagte in unserem Dialekt: Yo tito, yo tito … je balance, je balance: «Ich schwanke, ich schwanke». Und wenn mich niemand hielt, fiel ich zu Boden. Ich habe noch heute einige Narben davon.

Mein Leben als Kind war wie das aller Menschen im Val d’Anniviers: ein Leben unterwegs. Das Jahr unterteilte sich nach dem Verlauf der Feldarbeiten. Weil die Anniviards sowohl Reben in Sierre als auch Kühe auf den Alpen oben hatten, wechselten sie ständig von Ort zu Ort. Gewöhnlich wohnten wir in Saint-Luc. Unser Haus dort war recht geräumig und bequem. Das war sozusagen unser Hauptwohnort. Wenn man in den Reben arbeitete, wohnten wir in Muraz bei Sierre. Mehrmals im Jahr fand der grosse Umzug statt, der jeweils nahezu eine Woche dauerte. Das war ein grosses Durcheinander! Es zog nämlich das ganze Dorf gleichzeitig um: alle Familien, der Pfarrer, der Lehrer, das Vieh und die Kinder. Auf den Wagen packte man die Lebensmittel, die Haustiere, einen Teil der Kleider, und bei der Rückkehr nach Saint-Luc lud man auch noch die Kiste mit dem Schwein, das man am Katharinen-Markt in Sierre gekauft hatte, den Kaffee, den Zucker und das Mehl mit auf. Geschirr, Küchenutensilien und Bettwäsche besass man in doppelter Ausführung, sowohl im Haus in Saint-Luc wie in Muraz.