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»Wer in Zukunft von Anne Frank spricht, wird auch von Selma Meerbaum-Eisinger sprechen müssen - wie von zwei Schwestern, von denen die eine dokumentierte, was die andere dichtete.« Jürgen Serke Als Selma Meerbaum-Eisinger, eine entfernte Cousine Paul Celans, 1942 mit nur 18 Jahren starb, hinterließ sie ein Stück Weltliteratur. Lange waren die Gedichte verschollen, bevor sie 1980 erstmals der Öffentlichkeit präsentiert wurden. Ihre Liebesgedichte für einen Freund, der später auf der Flucht nach Palästina ums Leben kam, haben ihre Anziehungskraft bis heute nicht verloren und sind aus dem deutschen Literaturkanon nicht mehr wegzudenken. Jürgen Serke zeichnet die Etappen dieser literarischen Entdeckung nach.
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Seitenzahl: 62
Selma Meerbaum-Eisinger
Ich bin in Sehnsucht eingehüllt
Gedichte
Herausgegeber Jürgen Serke
Hoffmann und Campe
Heute gehört sie zum literarischen Dreigestirn der Stadt Czernowitz, das die Namen Paul Celan, Rose Ausländer und Selma Meerbaum-Eisinger trägt. Czernowitz war jene deutschsprachige Insel aus Zeiten der Habsburgermonarchie, die durch den Vernichtungsfuror Hitler-Deutschlands unterging. Zu den Opfern des Holocaust gehörte auch die 18jährige Selma Meerbaum-Eisinger. Und nichts deutete darauf hin, daß sie mehr sein würde als eine Zahl in den Todeslisten der Nazis.
Doch zwei Freundinnen, die nach dem Zweiten Weltkrieg nach Israel gelangten, wahrten Selmas Gesicht, bewahrten ihre Gedichte, die sie gerettet hatten und in ihren Herzen verwahrten. Deutsch, die Sprache der Mörder, war lange Zeit in Israel eine tabuisierte Sprache. An eine Veröffentlichung der deutschen Gedichte von Selma Meerbaum-Eisinger war vorerst in Israel nicht zu denken.
Von Bukarest gelangt 1968 ein Gedicht Selma Meerbaum-Eisingers nach Ostberlin in die von Heinz Seydel herausgegebene Anthologie »Welch Wort in die Kälte gerufen«. Israel Chalfen, der Autor einer Biographie über Paul Celans Jugend, berichtet: »Paul Celan hat dem Abdruck seiner ›Todesfuge‹ in diesem Band vor allem deshalb zugestimmt, um damit seiner Verwandten Selma Meerbaum ein Denkmal zu setzen.«
In Israel liest Selma Meerbaum-Eisingers einstiger Klassenlehrer Hersch Segal das »Poem« in der DDR-Anthologie, sucht nach den Freundinnen des toten Mädchens und findet sie im Lande. Auf eigene Kosten – einen Verlag findet er nicht – druckt er 1976 sämtliche Gedichte in einer Auflage von 400 Exemplaren. Ein Privatdruck. Ein weiterer Versuch mit Selma Meerbaum-Eisinger 1979 bleibt im universitären Bereich. Der Band erscheint im Verlag der Tel Aviv University.
Hilde Domin drückt mir bei einem Besuch in Heidelberg den von Hersch Segal herausgegebenen Privatdruck in die Hand und sagt: »Lies mal!« Ich mache mich auf den Weg nach Israel und schreibe für den Stern am 8. Mai 1980 »Die Geschichte einer Entdeckung«, die am Ende dieses Buches abgedruckt ist. Der Hoffmann und Campe Verlag bringt die Gedichte noch im Herbst 1980 heraus.
Ein Buch kommt in Deutschland an. Die Resonanz der Medien ist groß. Das Buch geht in die zweite Auflage und ins Taschenbuch von S. Fischer, wo es weitere 14 Auflagen erlebt. Der Erfolg von 1980 ist nicht zu denken ohne meine Stern-Serie »Die verbrannten Dichter« im Jahre 1976 und das gleichnamige Buch ein Jahr später, das der Wiederentdeckung der von den Nazis verfolgten deutschen Literatur den Boden bereitete.
Die Serie im Stern war, wie ich im Editorial schrieb, »als Aufwiegelung der Leser gegen die Verleger« gedacht, »die Werke der zu Unrecht Vergessenen endlich wieder zu veröffentlichen«. Noch nie hatte sich ein Massenmedium in der Bundesrepublik so intensiv dieses Themas angenommen. Die Reaktion der Leser war überwältigend: Zustimmende, ja euphorische Leserbriefe kamen waschkörbeweise in der Redaktion an. Die Verlage druckten die Originalwerke der »verbrannten Dichter« neu.
Selma Meerbaum-Eisinger und ihre Gedichte waren die Fortsetzung dieser Erfolgsgeschichte. Ein Vierteljahrhundert blieben sie wie auch die »Verbrannten Dichter« ununterbrochen im Handel. Ihre Gedichte wurden auf unzähligen Literaturveranstaltungen rezitiert. Sie wurden mehrfach vertont. Als erste sang sie die Berlinerin Ana Fonell 1985 in der musikalischen Interpretation von Johannes Conen. Ihr Gesang kam auf einer Schallplatte heraus.
In der DDR wurden einige Gedichte Selma Meerbaum-Eisingers 1981 in der berühmten Gedichtreihe »Poesiealbum« gedruckt. 1986 erschien der Gedichtband in Japan und erlebte 1999 eine zweite Auflage. In russischer Übersetzung und im deutschen Original erschien 2000 eine Privatausgabe in Kiew. 2006 erscheint das Buch in holländischer Übersetzung.
Drei Theaterstücke wurden über Selma Meerbaum-Eisinger geschrieben. Sie wurden in Wilhelmshaven, Frankfurt/Main und zuletzt 2001 im Stadttheater Fürth uraufgeführt. Bei Lesungen, die die Verfolgung von Dichtern zum Thema haben, gehören ihre Gedichte längst zum Repertoire. Aus Anthologien ist ihr Name nicht mehr wegzudenken. Ulla Hahn hat sie beispielsweise in das Reclam-Buch »Stechäpfel. Gedichte von Frauen aus drei Jahrtausenden« aufgenommen. Auch die Lexika haben Selma Meerbaum-Eisinger inzwischen verzeichnet.
Nicht zuletzt setzen die Schulbuchverlage Gedichte von Selma Meerbaum-Eisinger ein. Die Palette reicht vom Buch für Deutschlernende bei EF International Language Schools B.V. bis zu Schöninghs »Blickfeld Deutsch«.
Als ich mich vor einem Vierteljahrhundert auf die Recherche-Reise nach Israel machte, um die Lebensdaten und Lebensstationen bei den dort lebenden Czernowitzern zusammenzutragen, schickten sie mich von Wohnung zu Wohnung, von Ort zu Ort, als ob ich nur, wie man unter ihnen sagte, zum »Butterbrot« kommen sollte. Die Sehnsucht nach dem Geburtsort Czernowitz war geblieben. Irgendwie waren sie alle einsam und suchten in mir das vertraute europäische Fluidum. Eine merkwürdige Situation.
Im Herbst 2005 habe ich nach Israel zurückgebracht, was ich an Materialien – Erstausgaben, Widmungsexemplare, Briefe, Dokumente, Manuskripte und Fotos – zusammengetragen hatte, um meine Bücher über Verfolgung und Exil schreiben zu können. Die Ausstellung trug den Titel »Liebes- und Musengeschichten. Das fragile Glück im Unglück von Verfolgung und Exil«. Eine der Vitrinen war dem Leben und Werk Selma Meerbaum-Eisingers gewidmet.
Andreas Wilink schrieb in der Süddeutschen Zeitung über die Ausstellung, die bereits in Solingen, Berlin, Breslau und Prag gezeigt wurde: »Abbrechende Linien bei Selma Meerbaum-Eisinger, die keine 18 ist, als sie in einem SS-Arbeitslager umkommt und deren berühmtes Gedicht ›Tragik‹ wie ein Testament klingt. Wurden sie und die anderen nicht zweimal getötet? Auf den physischen Tod folgte das Verlöschen der Erinnerung an sie und ihr Werk. Die Liebe als Aufschub ihrer Fahrt in den Tod verhilft ihnen zum Weiterleben.«
Ein Vierteljahrhundert nach der ersten Ausgabe von Selma Meerbaum-Eisingers Gedichtband »Ich bin in Sehnsucht eingehüllt. Gedichte eines jüdischen Mädchens an seinen Freund« in Deutschland liegt nun diese Jubiläumsausgabe vor mit dem Blumenbild des Albums, in das Selma ihre Gedichte schrieb. Außerdem bietet Hoffmann und Campe ein Hörbuch an, auf dem Iris Berben die Gedichte Selma Meerbaum-Eisingers liest.
»The World Quintet«, eine Gruppe Schweizer Juden, hatte bereits 2003 mit einer CD Aufsehen erregt, auf der zwischen Instrumentalstücken Herbert Grönemeyer ein von David Klein vertontes Selma-Gedicht (»Trauer«) sang. Nun liegen unter dem Titel »In Sehnsucht eingehüllt« zwölf weitere vertonte Gedichte Selma Meerbaum-Eisingers auf einer neuen CD vor. Es singen: Sarah Connor, Xavier Naidoo, Yvonne Catterfeld, Volkan Baydar, Joy Denalane, Reinhard Mey, Inga Humpe, Hartmut Engler, Thomas D., Stefanie Kloss, Jasmin Tabatabai und Ute Lemper. »Ich träume, atme, lebe, singe mit Selma«, sagt David Klein, Jahrgang 1961, der Schlagzeuger des Quintetts. Und er sagt auch: »Wir vergessen nicht Selmas Lebensbedrohung. Aber wir sehen sie in unseren musikalischen Interpretationen als eine junge Frau, die ihre Liebe so intensiv lebt, wie es heute die jungen Menschen auch tun. Sie gehört ihnen.«
Heute lebt Selma Meerbaum-Eisinger nicht nur in ihren Gedichten fort – der »Selma Meerbaum-Eisinger Fonds«, den ihre Erben an der Universität Tel Aviv einrichteten und in den alle Einnahmen aus Rechten und Tantiemen fließen, unterstützt bedürftige jüdische Studenten.
Jürgen Serke, September 2005
Heute tatest du mir weh.
Rings um uns war Schweigen nur,
Schweigen nur und Schnee.
Himmel war, nicht wie Azur,
blau jedoch und voll mit Sternen.
Windeslied erklang aus fernsten Fernen.
Heute warst du mir ein Schmerz.
Häuser waren da, so weiß verschneit,
alle in des Winters Kleid.
Ein Akkord in tiefer Terz
war in unsrer Schritte Klang.
Bahnsirenen heulten lang …
Heute war es wunderschön.
Schön wie tiefverschneite Höh’n,
eingetaucht im Abendglutenring.
Heute tatest du mir weh.
Heute sagtest du mir: geh!
Und ich – ging.
25.12.1939
So blau liegt es über dem schneeweißen Schnee
und so schwarz sind die grünen Tannen,
daß das ganz leise hinhuschende Reh
so grau ist wie nie beendbares Weh,
das man doch so gern möchte bannen.