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Die außergewöhnliche Lebensgeschichte von Argyris Sfountouris, der das von deutschen Soldaten verübte Massaker von Distomo 1944 überlebte und seitdem für Gerechtigkeit und Ausgleich kämpft. Argyris Sfountouris ist knapp vier Jahre, als die Deutschen seine Eltern ermorden. Wie durch ein Wunder überlebt er das Massaker von Distomo im Juni 1944. Er wird getrennt von seinen Schwestern und kommt in ein Schweizer Kinderdorf: seine Rettung. Er wird Physiker, Lehrer, Entwicklungshelfer und Autor. Aber manchmal glaubt er, sein Herz müsse zerspringen vor Heimweh nach dem Meer und dem Licht Griechenlands. Argyris übersetzt griechische Lyrik und steht auf der schwarzen Liste der Militärdiktatur. Er kämpft um Gerechtigkeit für die Hinterbliebenen von Distomo; er erlebt, wie Deutschland sich aus der Verantwortung stiehlt – und bleibt trotzdem friedfertig. Die außergewöhnliche Lebensgeschichte des Argyris Sfountouris. Packend. Anrührend. Poetisch.
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Seitenzahl: 355
PATRIC SEIBEL
»ICH BLEIBE IMMERDER VIERJÄHRIGEJUNGE VONDAMALS«
Das SS-Massaker von Distomo und der Kampfeines Überlebenden um Gerechtigkeit
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Fotonachweise: Fotoarchiv Voula Papaioannou im Benaki-Museum Athen.Nikos Liaskos, Distomo.Argyris Sfountouris-Archiv, Athen und Zürich.
ISBN: 978-3-86489-646-0© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2016Satz: Publikations Atelier, DreieichUmschlaggestaltung: pleasant_net, Büro für strategische BeeinflussungDruck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, LeckPrinted in Germany
Inhalt
Vorwort von Max Uthoff
1 Nikolaos und Vasiliki
2 Unternehmen Marita
3 Der 10. Juni 1944
4 Zwischen Leben und Tod
5 Der Geschmack von Quittenmus
6 Ein Dorf für die notleidenden Kinder
7 Ikarus
8 Argonauten
9 Der längste Sommer
10 »Unser Dorf«
11 Das Haar der Berenike
12 Arthur Bill
13 Einsteins Brief
14 Wieder in Griechenland
15 Das Gymnasium und der Athener Callas-Eklat
16 Das Erdbeben
17 Im Labyrinth der Wissenschaft
18 »Z« – ein politischer Mord mit Folgen
19 Wenn du die Fahrt antrittst nach Ithaka …
20 Ein vielversprechender junger Mann
21 Elementarteilchen
22 Der Putsch der Obristen
23 Die Befreiung
24 »Übergebt die Junta dem Volk!«
25 Je dramatischer die Bilder, desto größer die Hilfsbereitschaft
26 »Eine Maßnahme im Rahmen der Kriegsführung«
27 Deutschland weigert sich zu zahlen
28 Zwischen Reue und Versöhnungstourismus
29 Ein Lied für Argyris
30 This is a Coup
31 »Die Reparationsfrage hat sich durch Zeitablauf erledigt«
32 Argyris
Dank
Literatur
Wenn du die Fahrt antrittst nach Ithaka, so wünsch dir einen möglichst weiten Weg, an Abenteuern und an Kenntnis reich.Konstantinos Kavafis
Vorwort
Was ist das, Heimat? Der geografische Zufall allein schafft keine Heimat. Es sind Düfte, Geräusche, es ist die Sprache, in jedem Fall ist es Geborgenheit, eine Zuflucht vor dem Irrsinn der Tage. Kann Heimat überall sein, wo man Freunde findet, Rettung in der Musik oder in Büchern? Und was macht das mit einem Menschen, wenn ihm die Heimat geraubt wird?
Das Erste, was ich von Argyris Sfountouris sah, war diese Fotografie. Ein Schwarzweißfoto, das ihn als kleinen Jungen zeigt, der sehr konzentriert und neugierig in das Auge des Betrachters blickt. Ich wusste, dass dieser kleine Junge einer der wenigen Überlebenden des SS-Massakers von Distomo war. Ich wusste auch, dass Argyris Sfountouris bis heute vergeblich darum kämpft, eine Entschädigung von Deutschland zu bekommen. Wir hatten ihn als Gast in unsere Kabarettsendung »Die Anstalt« eingeladen. Meine Mitstreiter und ich wollten eine Sendung über die fatalen Folgen machen, die die Sparpolitik der Troika in Griechenland anrichtet. Und wir wollten in einem Gespräch mit unserem Gast klarmachen, dass Deutschland, welches seine Kriegsschulden gegenüber Griechenland praktisch nie bezahlt hatte, welches gegenüber den Opfern von Distomo nahezu keine Entschädigung geleistet hatte, sich besser zurückhalten sollte mit dem Mantra »Schulden müssten immer zurückgezahlt werden«.
Als ich Argyris Sfountouris am Tag der ersten Probe traf, war ich sofort eingenommen von ihm. Er ist ein Mann der alten Schule, wie man sagt, wenn man jemanden beschreibt, der höflich, charmant und zurückhaltend ist. Ein feiner, älterer Herr, in dessen Gesicht sich der wache Blick des kleinen Jungen wiederfindet. Mit funkelndem Verstand und trockenem Humor ermahnte er uns, auf keinen Fall die bösesten Gags der Sendung zu streichen.
Am Tag der Livesendung lenkte ein depressiver Pilot der Germanwings ein Flugzeug in die Berge Südfrankreichs, 149 Menschen starben. An einem Tag mit so vielen toten Deutschen wäre es mehr als unangebracht gewesen, die historische Schuld Deutschlands satirisch zu untersuchen, schon um unseren Gast und dessen Anliegen zu schützen. Dennoch war es ein seltsames Gefühl: Die Generation meines Großvaters hatte fast die gesamte Verwandtschaft von Argyris Sfountouris ausgelöscht, die Generation meines Vaters fädelte einen schmutzigen Deal ein, um den Überlebenden nichts zahlen zu müssen. Und ich bat an diesem Abend Argyris Sfountouris um Verständnis, dass die Sendung erst später ausgestrahlt werden könne, aus Rücksicht gegenüber den Gefühlen der Deutschen.
Trotz alldem, was ihm durch dieses Land angetan wurde, hegt er keinen Groll gegen seine Bewohner; die Verbrechen der Nazis haben ihm nicht die Lust an der Musik, der Dichtung, der Literatur dieses Landes geraubt. Argyris Sfountouris ist ein Weltbürger, ein Humanist und ein ungemein genauer Beobachter der politischen Entwicklung. Ich traf ihn später noch einmal in Zürich. Wir wollten uns kurz auf einen Kaffee treffen. Drei Stunden später verließ ich das Kaffeehaus, berauscht von einem Gespräch, in dessen Verlauf mir Argyris nicht nur die griechische Nachkriegsgeschichte, sondern auch einen ungemein kenntnisreichen Abriss der europäischen Entwicklung der letzten Zeit darlegte: pointiert, detailreich, erhellend. Der Standpunkt, von dem aus Argyris die Welt betrachtet, ist der des neugierigen Philanthropen, dessen Verständnis von Gerechtigkeit sich eben nicht aus rein persönlichen Motiven speist. Sein Blick auf die Welt ist der des Vielgereisten, des Vertriebenen, des Sehnsüchtigen.
Wer die Geschichte des Lebens von Argyris Sfountouris liest, kann dies immer auch im Lichte der Worte tun, die Roger Willemsen einmal über Dieter Hildebrandt schrieb: »Man muss einen Menschen nicht dafür loben, dass er alt geworden ist, sondern für die Entscheidungen seines Lebens: abertausende von kleinen und großen Entscheidungen, immer wieder für die richtige Sache, den guten Gedanken, den bedürftigen Menschen. Der Humanist hat ein Bild vom ganzen Menschen und seiner Würde, er hat die Courage, sich zu schaden, schützt die seinen und ihren Lebensraum, er versteht die Herrschaft der Mehrheit als ein Protektorat für die Minderheit.«
Dieses Buch erzählt die Geschichte eines Menschen, dem die Eltern und seine Heimat geraubt wurden und der sich dann aufgemacht hat, um ein ereignisreiches, leidenschaftliches und glückliches Leben zu führen.
Man täusche sich aber nicht: Ein furchtbares Erlebnis wie das Massaker von Distomo hinterlässt niemanden unbeschadet. Und nicht jeder hat den Willen, das Glück und die Kraft, danach ein erfülltes Leben zu führen. Die kleine Schwester von Argyris Sfountouris lebt, vom SS-Terror traumatisiert, seitdem in einem griechischen Pflegeheim. Eine bitterböse Volte der Geschichte hat dazu geführt, dass Kondylia Sfountouris jetzt noch einmal Opfer der Deutschen wurde. Durch die Griechenland vor allem unter Führung Wolfgang Schäubles aufgezwungenen »Reformen« hat sich die Rente Kondylias um 300 Euro gemindert, während durch die erzwungene Erhebung einer Mehrwertsteuer auf Heimleistungen ihre Versorgung um 150 Euro teurer geworden ist.
Deutschland hat diesen Krieg offiziell verloren, stiehlt sich aber als großer Sieger der Nachkriegsgeschichte aus der Verantwortung für die Opfer. Gerade weil die Geschichte von den Siegern geschrieben wird, müssen die Besiegten ihre Geschichten erzählen.
Max Uthoff, München im Juli 2016
1Nikolaos und Vasiliki
An einem sonnigen Septembertag des Jahres 1922 kommt ein junger Mann zurück in sein Dorf, irgendwo in Griechenland. Seine Füße sind bedeckt vom Straßenstaub, das müde Gesicht von der Sonne dunkel verbrannt. Seine Haut spannt von getrocknetem Schweiß. Von Piräus aus hat ihn ein Lkw mitgenommen. Die letzten Kilometer ist er zu Fuß gegangen. Er trägt schwere Stiefel, Militärhose, einen Rucksack, sein Hemd ist ausgebleicht. Er kommt aus dem Krieg.
In vielen Dörfern in Griechenland kehren in diesen Wochen Soldaten heim. Und in den Häusern, in die sie gehen, fallen ihnen Mütter und Väter, Brüder und Schwestern, Kinder und Ehefrauen um den Hals. Die Ängste sind ausgestanden. Die Mutter Gottes und die Heiligen haben geholfen, die vielen Gebete und frischen Blumen vor den Ikonen haben das Ihrige dazu getan, dass die Ausgezogenen wohlbehalten zurückgekommen sind.
Im Dorf Distomo, unweit der antiken Orakelstätte von Delphi, schließt Argyris Sfountouris seinen Sohn Nikolaos in die Arme. Einen Sohn hat er schon verloren. Der ältere Bruder von Nikolaos ist gefallen im Weltkrieg, der damals noch nicht der Erste genannt wird. Jannis Sfountouris starb 1917 in Adrianopel im Lazarett an der Spanischen Grippe.
Aber Nikolaos lebt, kehrt heim vom Feldzug gegen die Türkei. Viele andere sind drüben geblieben, auf der anderen Seite des Meeres.
Die Siegermächte des Weltkriegs haben Athen die Verwaltung des griechisch besiedelten Gebiets in Kleinasien übertragen. 1919 besetzen griechische Soldaten die türkische Stadt Smyrna. Die Generäle unterschätzen jedoch die militärische Schlagkraft der gefallenen Großmacht Türkei und fassen den folgenschweren Entschluss, weit ins Landesinnere vorzustoßen. Fünfzig Kilometer vor Ankara bleibt die Offensive stecken. Die Nachschubwege sind zu weit, die Front ist zu lang. Im August 1922 überrennt die türkische Armee innerhalb von zwei Wochen die griechischen Stellungen und treibt die Angreifer zurück an die Küste. Am 9. September nehmen Kemals Truppen dann Smyrna ein und ermorden tausende griechischstämmige Bewohner. Vier Tage lang brennt die Stadt.
Die griechische Armee bewegt sich in wilder Flucht Richtung Meer. Die aufgelösten Truppenteile retten sich gemeinsam mit zehntausenden Flüchtlingen in Booten und Schiffen auf die Ostägäischen Inseln Lesbos und Chios. Von dort aus bringen überfüllte Fähren, Fischkutter und Frachter die Soldaten und Zivilisten zum Festland. Es ist das Ende der Megali Idea – der »großen Idee« von der Ausdehnung des griechischen Staatsgebiets bis an die alten Außengrenzen des Byzantinischen Reiches. Die Megali Idea endet mit der kleinasiatischen Katastrophe, mit der Vertreibung der Griechen aus Kleinasien, wo sie zweitausendfünfhundert Jahren gelebt hatten.
Nikolaos Sfountouris schlägt sich gemeinsam mit seinem Cousin Georgios nach Hause durch. In Distomo, einem größeren Dorf hundertsechzig Kilometer nordwestlich von Athen, ist Nikolaos geboren und aufgewachsen. 1899 kommt er zur Welt und damit noch in dem Jahrhundert, in dem sich die Griechen gegen die türkische Herrschaft erheben und die Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich erkämpfen; Griechenlandbegeisterte aus ganz Europa schließen sich dem Freiheitskampf an. Der englische Dichter Lord Byron lässt sein Leben dabei. Die Philhellenen träumen vom antiken Attika, von strahlenden Helden wie Achilles und Ajax, von Philosophen wie Sokrates, Platon und Aristoteles, von Staatsmännern und Heerführern wie Perikles. Die Realität des 19. Jahrhunderts sieht jedoch anders aus. An die Stelle der Türken treten neue Schutzmächte, an ihrer Spitze steht das British Empire. Die europäischen Philhellenen installieren einen König: den siebzehnjährigen Otto von Wittelsbach, Sohn des bayerischen Königs Ludwig I. Die neue Freiheit bringt dem Land selten Ruhe und kaum Prosperität. Die königliche Verwaltung funktioniert schlecht und die eingesetzten Regierungen wechseln in rascher Folge. Immer wieder gibt es Umstürze und Intrigen.
Als Nikolaos Sfountouris zehn Jahre alt ist, stirbt seine Mutter. Vater Argyris bringt die Familie durch, mit Hilfe seiner Schwester Chryssoula. Hart ist die Arbeit auf den Feldern, unter glühender Sonne im Sommer, in beißender Kälte in den Wintermonaten. Argyris baut Oliven, Trauben und Weizen an. Es reicht für einen einfachen Wohlstand, nach den dörflichen Maßstäben dieser Jahre.
Distomo liegt zwischen zwei Gebirgszügen. Von Süden her zieht sich das Helikon die Küste entlang Richtung Nordwesten. Im Norden thront der Parnass, der mythische Wohnsitz der Musen. Im Helikon entspringen der Sage nach die heiligen Quellen Lethe und Mnemosyne: Wasser des Vergessens und der Erinnerung. Die Ruinen der Orakelstätte Delphi unweit von Distomo ziehen Bildungsreisende aus den USA, England, Frankreich und Deutschland an.
Die Menschen leben im Rhythmus der Jahreszeiten. Sie feiern gemeinsam die dörflichen Feste, zu Ostern drehen sich die Lämmer über dem Holzkohlenfeuer auf dem großen Platz, es wird unter freiem Himmel getanzt. Nikolaos träumt davon, die weiterführende Schule zu besuchen, aber sein Vater erlaubt es nicht. Nach dem Besuch der Dorfschule soll sein Sohn Bauer werden wie er selbst. Ehrliche Arbeit mit den eigenen Händen, was kann schlecht daran sein? Schließlich hat es ausgereicht für ein eigenes Haus mit Garten. Dazu die ausgedehnten Felder – eine gute Lebensgrundlage. Aber Nikolaos will nicht in die Fußstapfen des Vaters treten. Er macht einen Laden auf, verkauft zusammen mit einem Kompagnon Lebensmittel in der Provinzhauptstadt Livadia. Das Geschäft läuft gut.
Nach dem Krieg kann die Zukunft beginnen, Nikolaos muss sich jetzt darum kümmern, etwas aufzubauen, womit er später eine Familie ernähren kann. Er trägt dem Vater seinen neuen Plan vor: ein eigenes Geschäft im Dorf. Dort gäbe es genügend Kunden. Seit Bauxit in den Bergen entdeckt wurde, haben viele Männer ein Auskommen im Tagebau gefunden.
Argyris willigt ein. Direkt am Elternhaus baut der Sohn einen Ladenraum an. Dort verkauft Nikolaos nicht nur Lebensmittel, sondern auch Garn und Stoff. Er hat eine Marktlücke erkannt: Fast in allen Häusern stehen Webstühle, neuerdings auch die ersten amerikanischen Singer-Nähmaschinen. Seit das Unternehmen Ratenzahlungen gewährt, boomt der Export. Auch ärmere Familien können es sich leisten, die modernen Maschinen mit gusseisernem Tischgestell und Fußpedalantrieb zu kaufen. Viele Frauen haben das Schneiderhandwerk gelernt, nähen für die eigene Familie und für Kunden. Das Garn und die Stoffe kaufen sie nun bei Nikolaos Sfountouris. Das Geschäft wirft genug ab, um eine Familie zu ernähren. Nikolaos geht auf die dreißig zu; es wird Zeit, sich eine Frau zu suchen.
Nach dem obligatorischen Militärdienst und nachdem sie eine Existenz gegründet haben, sind die Männer auf dem Land meist Ende zwanzig, wenn sie auf Brautschau gehen. Die Frauen, die sie zur Trauung in die kleinen orthodoxen Kirchen führen, sind in der Regel zehn Jahre jünger. Die Ehen werden arrangiert. Wichtig ist die Mitgift der Braut: Mädchen aus wohlhabendem Hause haben viele Bewerber. Aber die Verbindung muss auch zur sozialen Geometrie der dörflichen Gesellschaft passen. Das Geschäft der Partnervermittlung regeln meist ältere Frauen. Sie schätzen ein, wer charakterlich zusammenpasst – und ihre Prognosen auf die Zukunft treffen in den allermeisten Fällen zu. Sie sehen die Kinder heranwachsen, kennen die Großfamilien, wissen, wer gutmütig ist und wer aufbrausend. Sie kennen alte Rechnungen und schwelende Familienfehden. Es bleibt nicht viel verborgen in diesen Dörfern An-fang des 20. Jahrhunderts, da unterscheiden sie sich wenig von den ländlichen Regionen der modernisierten Länder des Westens.
Die jungen Frauen werden immerhin gefragt, ob sie sich das Leben mit dem Erwählten vorstellen können. Sie können Nein sagen. Diese Ehen sind in erster Linie Wirtschaftsgemeinschaften, Mann und Frau sollen gut harmonieren, die Kinder satt bekommen und großziehen. Wenn dann im Lauf der Ehe auch die Liebe kommt, ist das ein Geschenk. Aber Liebesheiraten sind nicht vorgesehen. Nur auf der Volta, dem abendlichen Spaziergang, gibt es die Möglichkeit, einen prüfenden Blick auf mögliche Kandidaten zu werfen, vielleicht ein Lächeln zu probieren oder ein hingeworfenes Scherzwort zu wagen. Dann, wenn die schlimmste Tageshitze von der milden Abendstimmung abgelöst wird, gehen die jungen Leute in Gruppen spazieren, getrennt nach Männern und Frauen. Es geht durch Felder und Weinberge. An bestimmten Stellen kreuzen sich die Wege. So hat vielleicht auch Nikolaos seine spätere Frau Vasiliki getroffen. Vielleicht haben ihm ihre lustigen Augen gefallen, vielleicht ihr Gesicht, ihr Gang oder alles zusammen. Außerdem besitzt Vasilikis Familie viel Land: eine lohnende Partie in den Augen von Nikolaos’ Vater Argyris.
Ein Foto aus jenen Tagen zeigt die beiden in arrangierter Pose vor der Studiokulisse eines Fotografen. Nikolaos sitzt auf einem Stuhl. Zum dunklen Anzug mit Einstecktuch und heller Weste trägt er ein weißes Hemd. Vasiliki steht daneben, ihre Hand liegt auf seinem Arm. Sie trägt ein langes Kleid und schaut ernst aus ihren dunklen Augen unter den schwarzen Haaren. Dabei ist sie eine fröhliche und lebenslustige junge Frau, erzählen die Leute, die sie gut kennen. Es ist das einzige Foto, das heute noch erhalten ist. Alle übrigen sind 1944 mit dem Haus der Familie verbrannt.
1931 heiraten Nikolaos Sfountouris und Vasiliki Tzatha, die Tochter von Kondylia und Panajotis Tzathas. Der Vater geleitet seine Tochter nach altem Brauch durch ein Spalier der Dorfbewohner zum Kirchenportal. Dort wartet Nikolaos gemeinsam mit seinem Vater Argyris, der übrigen Familie und den Freunden und nimmt Vasiliki in Empfang. Die kleine orthodoxe Kirche ist erfüllt von Weihrauchduft und dem süßlichen Geruch der brennenden Bienenwachskerzen. Sie werfen flackernde Muster auf die dunklen Ikonen an den Wänden. Nach dem Ehegelübde führt der Pfarrer die Brautleute und Trauzeugen zum Jesaja-Tanz: Dreimal umkreisen sie den Altar. Die Gemeinde wirft Reiskörner auf das junge Paar, zum Zeichen des Glücks.
Das Verlobungsbild von Nikolaos und Vasiliki. »Die Photographie des verschwundenen Wesens berührt mich wie das Licht eines Sterns«, schreibt Roland Barthes.
Anschließend zieht die Hochzeitsgesellschaft zum Festlokal. Ein üppiges Essen wartet auf die Gäste, dazu gibt es reichlich Wein und Schnaps. Nach dem Essen tanzt die Hochzeitsgesellschaft die alten Volkstänze. Die Kapelle begleitet die Reigen mit Geige, Gitarre, Klarinette, Bouzouki und Schlagzeug. Später werden die Tänze wilder, vor allem die Jungen überbieten sich in gewagten Sprüngen. Bis in den Morgen hinein wird gefeiert.
Die jungen Eheleute richten sich in ihrem Alltag ein, organisieren ihr Leben. Das besteht in erster Linie aus viel Arbeit. Nikolaos ist zweiunddreißig, Vasiliki zweiundzwanzig Jahre alt. Als gelernte Schneiderin näht sie im Auftrag von Kunden. Ihr Mann führt den Laden. Im Untergeschoss des zweistöckigen Hauses liegen Fässer mit Olivenöl und Wein, Weizen und andere Vorräte. Im Obergeschoss wohnen die Eheleute. Nikolaos’ Vater Argyris ist in den kleinen Anbau neben dem Lagerraum gezogen. Er wartet sehnsüchtig auf einen Enkelsohn. Doch er muss sich gedulden. Das erste Kind, das Vasiliki zur Welt bringt, ist ein Mädchen. Eine Hausgeburt, wie das üblich ist auf dem Land bis weit in die sechziger Jahre. Sie wird auf den Namen Chryssoula getauft. Der Priester taucht sie nach orthodoxem Ritus dreimal mit dem ganzen Körper unter Wasser. Dann wird sie von der Hebamme abgetrocknet und vom Paten mit feinem Olivenöl gesalbt. Chryssoula erhält den Namen ihrer Tante. Sie hatte bei Nikolaos die Stelle der verstorbenen Mutter eingenommen. Deren Namen, Astero, bekommt die zweite Tochter. Auch das dritte Kind wird ein Mädchen: Kondylia erhält den Namen der Großmutter mütterlicherseits.
Die Mädchen wachsen im Haus und in Hof und Garten auf. Nikolaos und Vasiliki führen eine gute Ehe. Nikolaos ist ein zurückhaltender Mann, ruhig, fast wortkarg in der Öffentlichkeit. Ins Kaffeehaus geht er selten. Wenn die Gemüter vom Schnaps allzu stark erhitzt sind und ein Streit ausbricht, gehört Nikolaos zu den Besonnenen, die schlichten. Er ist ein gerechter Mann, sagen die Dorfbewohner über ihn. In seinem Laden geht es ehrlich zu: Die Gewichte der Waage stimmen, die Kunden kommen mit Vertrauen. Das ist nicht selbstverständlich. Viele Händler suchen ihren Vorteil, wenn es sich anbietet und die Kunden nicht aufpassen; nicht ganz so frische Tomaten werden unter den guten versteckt; oder von den Müttern zum Einkaufen geschickte Kinder bekommen zu wenig Wechselgeld. Zu Nikolaos können die Mütter ihre Kinder unbesorgt mit einer auf ein Stück Pergamentpapier gekritzelten Bestellung schicken. Sie wissen, das Kind kommt mit der richtigen Käsesorte im gewünschten Gewicht zurück und mit dem passenden Restgeld.
Vasiliki ist glücklich. Abends singt sie ihre Kinder in den Schlaf. Einmal im Monat fährt sie mit dem Pferdekarren in die Provinzhauptstadt Livadia, um Waren für den Laden zu besorgen und Eier zu verkaufen. Die sind ein beliebtes Zahlungsmittel der Käufer im Laden von Nikolaos; fast in jedem Garten in Distomo laufen Hühner umher.
Vasiliki und Nikolaos lieben ihre drei Mädchen, wie Eltern überall auf der Welt ihre Kinder lieben. Und wenn die Leute im Dorf spotten, Nikolaos bekomme wohl nie einen Sohn, lächelt er dazu und schweigt. Doch insgeheim wartet er sehnsüchtig auf einen Jungen – seinen Nachfolger als Familienoberhaupt. Großvater Argyris fragt sich ebenso, ob er den erhofften Enkelsohn noch erleben wird.
Das Leben im Dorf geht ruhig seinen Gang. Es gehört schon zu den größeren Erschütterungen, dass eine junge Frau aus Distomo mit ihrem Geliebten heimlich ins nahe Kloster Osios Loukas geht und sich von den Mönchen trauen lässt. Ein Dorfskandal, der für wochenlangen Klatsch sorgt.
Von den politischen Verwerfungen dieser Jahre ist in Distomo vorerst wenig zu spüren. Die seismischen Wellen, die der Vormarsch des Faschismus in Europa verursacht, erreichen zwar auch Griechenland, aber niemand ahnt, wie schnell sich daraus das verheerende Beben entwickelt, das große Teile des Kontinents in Schutt und Asche legen wird.
Auch in Griechenland herrscht eine Diktatur. Seit August 1936 regiert General Ioannis Metaxas. Nach innenpolitischen Kämpfen und einer Streikserie hat König Georg II. Metaxas mit entsprechenden Kompetenzen ausgestattet. Erst wenige Monate zuvor hatten die Generäle den König aus dem Exil zurückgeholt und die Republik nach nur zwölf Jahren wieder abgeschafft.
Metaxas lässt die Opposition verfolgen. Vor allem die Kommunisten, bei den letzten freien Wahlen zur drittstärksten Kraft angewachsen, werden gejagt, gefoltert und eingesperrt. Der Diktator bewundert Mussolini und Hitler und träumt von einer »Dritten Hellenischen Zivilisation«. Unter diesem Schlagwort versammeln die Ideologen des Diktators das Konzept wirtschaftlicher Autarkie und die Berufung auf die kulturellen Traditionen der antiken und der byzantinischen Epoche. Die »Dritte Hellenische Zivilisation« ist ein nach innen gerichtetes Konzept – imperialistische Ambitionen wie die faschistischen Länder Deutschland oder Italien hat Metaxas nicht. Auch Antisemitismus gehört nicht zu seinem politischen Programm. Außenpolitisch bleibt er Traditionalist und orientiert sich an der alten Schutzmacht England. Drei Jahre ist er an der Macht, als die Deutschen im September 1939 Polen überfallen. Athen wahrt strikte Neutralität und der Krieg scheint weit entfernt. Doch die Beziehungen zu Italien verschlechtern sich rapide. Benito Mussolini will das scheinbar schwache Nachbarland zu einem Protektorat machen. Vom besetzten Albanien aus lässt er den Angriff planen. Außenminister Ciano bekommt die Anweisung, für einen Kriegsgrund zu sorgen. Eine massive militärische Provokation bleibt jedoch ohne Folgen: Am 15. August 1940, dem Tag von Mariä Himmelfahrt, versenkt ein italienisches U-Boot den griechischen Kreuzer Elli im Hafen der Insel Ti-nos. Neun Besatzungsmitglieder kommen ums Leben. Obwohl die Beweise nach Italien führen, geht das Regime Metaxas über den Zwischenfall hinweg.
Die Spätsommersonne scheint noch warm in den Bergen, als Familie Sfountouris der erhoffte Junge geboren wird. Am 6. September 1940, so steht es im Register (aber das muss nicht auf den Tag stimmen, denn mit dem Geburtsdatum wird es nicht so genau genommen damals), bringt Vasiliki ihren ersten Sohn zur Welt – freudig begrüßt von Vater Nikolaos, den drei Schwestern, dem Großvater und den zahlreichen Verwandten.
Der Pfarrer tauft ihn auf den Namen des Großvaters: Argyris. So ist es üblich, der Erstgeborene trägt den Namen des Vaters des Vaters weiter. Damit werden die Vorfahren geehrt und ihr Andenken lebt weiter in den jungen Nachkommen. Argyris’ Namenspatrone sind die Heiligen Cosmas und Damian, zwei Brüder aus Syrien. Der Legende nach behandelten die beiden Ärzte die Armen umsonst. Darum werden sie An-Argyri genannt, »die kein Silber nehmen«. In der Volkssprache verschwand die Vorsilbe; übrig blieb der Name Argyris. Der Heiligenkalender der Ostkirche vermerkt den dazu gehörigen Festtag am 1. Juli. Der Namenstag ist in der orthodoxen Tradition wichtiger als der Geburtstag.
Argyris wächst auf als Hahn im Korb, verwöhnt und geliebt als ersehnter Neuankömmling in der Familie.
In den frühen Morgenstunden des 28. Oktober 1940 fährt der italienische Botschafter Emanuele Grazzi zum Privathaus von Diktator Metaxas im Athener Vorort Kifisia. Um drei Uhr morgens übergibt er ein Ultimatum Mussolinis, in dem dieser uneingeschränkte militärische Bewegungsfreiheit in Griechenland verlangt. »Alors, c’est la guerre«, das bedeutet Krieg, erwidert Metaxas auf Französisch. »Pas nécessaire, mon excellence«, habe er darauf geantwortet, erinnert sich Grazzi in seinen Memoiren, worauf Metaxas das Gespräch mit einem barschen »Non, c’est nécessaire« beendet habe; doch, es sei notwendig. Im Nachhinein bleibt dieses »Non«, »Nein«, griechisch »Ochi«, von diesem dramatischen Dialog in Kifisia im historischen Bewusstsein, der 28. Oktober ist seither der Ochi-Tag.
Nur zweieinhalb Stunden später marschieren italienische Truppen von Albanien aus über die Grenze nach Epirus und greifen dort stationierte griechische Einheiten an. Der Überfall versetzt Griechenland in einen patriotischen Ausnahmezustand. Zehntausende gehen in Athen auf die Straße. Der inhaftierte Chef der Kommunistischen Partei, Nikolaos Zachariadis, ruft die Bevölkerung in einem offenen Brief auf, das Land zu verteidigen. Zum Erstaunen der Weltöffentlichkeit und der Generäle der Achsenmächte schaffen die zahlenmäßig und technisch weit unterlegenen Griechen das Unglaubliche: Ohne einen einzigen Panzer wehren sie den italienischen Angriff ab und treiben die Aggressoren zurück bis tief in albanisches Gebiet.
Der britische Premier Winston Churchill bemerkt angesichts dieser Bravourleistung, man werde künftig nicht mehr sagen, jemand habe gekämpft wie ein Löwe, sondern »wie ein Grieche«.
Die Familie Sfountouris hatte nur wenig Zeit, sich über den Neugeborenen zu freuen. Der aufgezwungene Krieg geht nicht an Distomo vorüber. Viele Männer werden bei der Generalmobilmachung eingezogen. Unter ihnen ist der jüngste Bruder von Vasiliki Sfountouris: Charalambos, sechsundzwanzig Jahre alt. Im Frühjahr 1941 kehren Soldaten zurück ins Dorf. Sie haben schlechte Nachrichten: Charalambos ist gefallen, berichten sie. Doch eine offizielle Bestätigung gibt es nicht. Sein Vater Panajotis macht sich auf den Weg, klappert Lazarett um Lazarett ab und sucht nach dem Vermissten. Schließlich findet er seinen Sohn tatsächlich in einem Lazarett – verwundet, aber am Leben. Das Notizbuch, das er in seiner Oberschenkeltasche trägt, ist von einer Kugel durchbohrt, genauso wie die Postkarte Vasilikis zum Namenstag des Bruders. Sie wird das einzige schriftliche Zeugnis seiner Mutter bleiben, das Argyris später im Nachlass der Großeltern findet.
2Unternehmen Marita
Die Heimkehr seines Onkels Charalambos bleibt für Argyris’ Familie eine glückliche Episode, während auf Griechenland die modernste Kriegsmaschinerie der bisherigen Geschichte zurollt: Hitler schickt seine Divisionen zum »Unternehmen Marita«. Von Bulgarien aus fallen deutsche Kampfverbände in Griechenland ein. Zwar stoßen sie auf erbitterten Widerstand, doch gegen die drückende technische und zahlenmäßige Überlegenheit der Deutschen haben die Griechen keine Chance. Großbritannien schickt ein Expeditionskorps aus neuseeländischen und australischen Soldaten. Doch die Einheiten kommen zu spät und sind zu schwach, um helfen zu können.
Am 27. April 1941 marschiert die Wehrmacht in Athen ein. Hitler selbst zeigt sich beeindruckt von der Tapferkeit der Verteidiger und kündigt an, die besiegten Griechen milde zu behandeln.
Wie viele Deutsche pflegt auch Hitler einen verklärten Philhellenismus. Er spendet viel Geld aus den Einnahmen seines Bestsellers Mein Kampf für die Ausgrabungen des antiken Olympia. Doch diese Grundstimmung der Deutschen schlägt bald um. Schon bei ihrem Einmarsch in Athen bekommen sie eine Ahnung vom Verteidigungswillen des Landes. Mit verhüllten Fenstern und menschenleeren Straßen empfängt die griechische Hauptstadt die siegreichen Besatzer. Als die ersten Kriegsgefangenen des britischen Expeditionskorps auf offenen Lkw durch die Straßen von Athen transportiert werden, müssen die Deutschen konsterniert zusehen, wie griechische Zivilisten hinter den Lastwagen herlaufen und den Gefangenen Zigaretten und Süßigkeiten zuwerfen.
Mitte Mai landen deutsche Fallschirmjäger auf der noch von den Briten gehaltenen, strategisch wichtigen Mittelmeerinsel Kreta. Die Planer der »Operation Merkur« unterschätzen die Zahl der Verteidiger. Britische und griechische Soldaten, kretische Gendarmen und Zivilisten leisten den Angreifern erbitterten Widerstand. Neun Tage dauert die Luftlandeschlacht um Kreta, nach schweren Verlusten nehmen die Deutschen die Insel schließlich ein. Unter den Fallschirmjägern ist auch der frühere Weltmeister im Schwergewichtsboxen, Max Schmeling. Der Widerstand der kretischen Bevölkerung reizt die Deutschen zur Weißglut. Sie reagieren mit blankem Hass und brutaler Vergeltung. Der kommandierende General Kurt Student weist seine Offiziere an, »mit äußerster Härte vorzugehen, unter Beiseitelassung aller Formalien und unter bewusster Ausschaltung von besonderen Gerichten«.
In Athen schleichen in der Nacht zum 31. Mai die Studenten Apostolos Santas und Manolis Glezos an den deutschen Wachtposten vorbei, klettern die Felsenwand an der Ostseite der Akropolis empor und schwingen sich über die Mauer. Sie holen die deutsche Hakenkreuzfahne vom Mast und verstecken sie in einem alten Brunnenschacht. Als die Sonne aufgeht, weht keine deutsche Flagge mehr hoch über Athen. Die Menschen in den Straßen deuten hinauf zu den Ruinen der alten Stadtburg, dem heiligen Parthenon-Tempel, dessen Aura die neuzeitliche Stadt überstrahlt. Die Nachricht läuft durch die Straßen der Hauptstadt. Hastig beschaffen die Wachsoldaten eine Ersatzflagge und ziehen sie auf. Zu spät – auch wenn die Hakenkreuzfahne wieder über der Hauptstadt weht, wird der Moment ihrer Abwesenheit zum Symbol des Widerstandes der kommenden Jahre. Wie das geheimnisvolle Lachen der Grinsekatze, das Lewis Carroll in Alice im Wunderland schildert und das noch einen Augenblick in der Luft zu stehen scheint, nachdem die Katze verschwunden ist, so überdauert die Heldentat von Manolis Glezos und Apostolos Santas die Reaktion der Besatzer. Die Tat lässt sich nicht mehr ungeschehen machen. Die deutschen Befehlshaber schäumen vor Wut. Der oder die unbekannten Täter werden in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Glezos und Santas tauchen unter und schließen sich dem Widerstand an.
Kurz darauf verüben deutsche Soldaten unter Karl Students Befehl auf Kreta das erste Massaker auf griechischem Boden. Am 2. und 3. Juni zerstören sie die Dörfer Kondomari und Kandanos und erschießen über zweihundert männliche Bewohner. Ein eindeutiges Kriegsverbrechen und ein Vorgeschmack auf das, was den Griechen durch die deutschen Besatzer noch bevorsteht.
Wie die deutschen Soldaten sich selbst sehen sollen, nämlich als die rechtmäßigen und eigentlichen Nachfahren der archaischen Griechen, schreibt ihnen der Tourist in Uniform Erhart Kästner ins Stammbuch. Er ist freigestellt, um für die Truppe das Land, das sie besetzt hält, und dessen Kultur zu beschreiben. In Griechenland, ein Buch aus dem Kriege beschreibt er eine Begegnung mit Kretakämpfern am Strand: »Sie trugen alle nur die kurze Hose, manche den Tropenhelm und blinzelten durch ihre Sonnenbrille in den hellen Morgen. Ihre Körper waren von der griechischen Sonne kupferbraun gebrannt, ihre Haare weißblond. Da waren sie, die blonden Achaier Homers, die Helden der Ilias. Wie jene stammten sie aus dem Norden, wie jene waren sie groß, hell jung, ein Geschlecht, strahlend in der Pracht seiner Glieder.« Das Buch wird in den fünfziger Jahren überarbeitet und neu aufgelegt und unter dem Titel Ölberge, Weinberge zum Bestseller.
Die Deutschen, die ihre Mannschaftsstärke gering halten, um Kräfte für den bevorstehenden Überfall auf die Sowjetunion konzentrieren zu können, begnügen sich mit der Besetzung einiger strategisch wichtiger Punkte rund um Athen, um Saloniki im Nor-den und auf einigen Inseln. Eine griechische Kollaborationsregierung wird installiert und das Land in drei Besatzungszonen aufgeteilt. Das größte Kontingent der Besatzungssoldaten stellen die Italiener, die dritte Besatzungszone wird vom mit den Achsenmächten verbündeten Bulgarien gehalten.
Sprachbarrieren, schlechte Kommunikation, mangelhafte Koordination aufgrund unklarer Kompetenzen und Zuständigkeiten erzeugen phasenweise ein organisatorisches Chaos, das schon bald hunderttausende Griechen mit dem Leben bezahlen.
Schon frühzeitig regt sich auch auf dem Festland bewaffneter Widerstand. Während sich die militärische Führung mit dem König nach Kairo absetzt und die Armee weitgehend aufgelöst wird, formieren sich erste Partisanengruppen und bekämpfen die Besatzer aus dem Untergrund. Zunächst überfallen sie Lebensmitteltransporte, später verüben sie Sabotageakte und Anschläge und greifen Militärfahrzeuge an. Zunächst formiert sich der Widerstand in den Städten, später sammeln sich immer mehr Kämpfer im ländlichen Raum Mittel- und Nordgriechenlands. Hartnäckig setzen sie Nadelstiche. Sie sind schwer zu fassen, kennen die Pfade durch die Berge, haben Schlupfwinkel in Höhlen und dichter Macchia. Nicht alle gehen freiwillig in die Berge; die Partisanen rekrutieren ihre Leute notfalls auch mit Druck. Ihre Anführer sind daran interessiert, dass jedes Dorf und möglichst jede Familie Kämpfer stellen. Das schützt sie vor Verrat und sichert ihnen Loyalität und Unterstützung.
Im September 1941 gründen Widerstandskämpfer in Athen die Nationale Befreiungsfront EAM. Ihre Angehörigen sind mehrheitlich Kommunisten; die griechische KP arbeitet seit dem Verbot 1936 im Untergrund und nutzt schon seit Jahren geheime Treffpunkte und ein verdecktes Nachrichtensystem. Jetzt profitieren die Kommunisten von ihrem klandestinen Netzwerk. Aber das allein erklärt ihre starke Stellung im Widerstand nicht hinreichend: Die alte politische Klasse ist untergetaucht und das Establishment hält still oder kooperiert mit den neuen Machthabern. Die bürgerlichen Kräfte, die sich schon unter dem Regime Metaxas passiv und abwartend verhielten, fallen in den ersten Mona-ten der Besatzung in eine Art Schockstarre. Die Regierung hat sich nach Alexandria zurückgezogen, die Armee ist aufgelöst. In dieses Vakuum stoßen die Kommunisten. Und sie bekommen immer mehr Zulauf.
Der erste Besatzungswinter bringt für Griechenland eine Hungerkatastrophe. Durch die Invasion ist das Land von Agrarimporten abgeschnitten. Die Besatzungsmächte plündern die Lagerhallen und Vorratsspeicher zur eigenen Versorgung. Die Wehrmacht beschlagnahmt im großen Stil Getreide und Lebensmittel als Nachschub für Rommels Afrikafeldzug. Nicht zuletzt durch das Chaos in den verschiedenen Verwaltungsstellen bricht schließlich in weiten Teilen des Landes die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln zusammen. Nach vorsichtigen Schätzungen verhungern im Winter 1941/42 in Griechenland 100 000 Menschen; allein 40 000 im Großraum Athen.
Dort spazieren deutsche Soldaten mit dem Baedeker unter dem Arm die Rampen zur Akropolis empor und bestaunen die antiken Ruinen. Soldaten der gleichen Armee erschießen Kinder, die ein Stück Brot stehlen. Dieser emotionale Spagat zwischen kalter Pflichterfüllung und sentimentaler Kulturbeflissenheit macht sie so unheimlich. Sie bringen den Tod und ergötzen sich nach Dienstschluss an Kunst und Kultur. Wie am Abend des 27. August 1942: Die Nationaloper gibt »Tosca«.
Die ersten Reihen sind vollbesetzt mit deutschen und italienischen Offizieren in Uniform. Auf der Bühne steht eine achtzehnjährige Sopranistin. Es ist ihre erste Hauptrolle. Monate zuvor hat sie für Spaghetti und Gemüse gesungen, um sich und ihre Mutter durchzubringen. »Quanto? … Il prezzo!«, schleudert sie im zweiten Akt dem Polizeichef Scarpia entgegen. Was ist der Preis für das Leben des Mannes, den sie liebt? Die Männer in Uniform lauschen der einzigartigen Stimme der in New York als Tochter griechischer Einwanderer geborenen Maria Kalogeropoulou. Besser bekannt ist sie unter dem Namen Maria Callas.
Die Geschichte von Willkürherrschaft und Freiheitskampf, die Maria Callas besingt, ist zugleich das Drama der griechischen Gegenwart. Polizeichef Scarpia trägt die Züge der Männer in Uniform auf den Rängen. Maria Callas hält ihnen den Spiegel vor, aber sie sind unfähig, sich darin zu erkennen.
In diesem Sommer wird der militärische Arm der Volksbefreiungsfront EAM gegründet: die Griechische Volksbefreiungsarmee ELAS. Ihr Anführer Aris Velouchiotis formt sie mit Charisma und Härte in den kommenden Jahren zu einer schlagkräftigen Truppe, die ein Jahr nach der Kapitulation Italiens teilweise sogar zu regulärer Kriegsführung mit schweren Waffen übergehen kann. Im Herbst 1944 ist die ELAS mit 100 000 Mann unter Waffen nach der jugoslawischen Volksbefreiungsarmee der zweitgrößte Partisanenverband Europas.
Doch im Sommer 1942 gilt es zunächst, Stärke zu gewinnen und erste Erfolge zu erzielen. Der große Coup gelingt am 25. November. Gegen 23 Uhr überfallen neunzig Kämpfer der ELAS unter Führung von Aris Velouchiotis und sechzig Mann der bürgerlichen Widerstandsgruppe EDES unter Napoleon Zervas die Wachmannschaften an der vierhundert Meter langen Eisenbahnbrücke über der Gorgopotamosschlucht. Ein zwölfköpfiges britisches Sabotagekommando bringt Plastiksprengstoff an den beiden südlichen Betonpfeilern an. Um ein Uhr dreißig detoniert die erste Ladung, eine Stunde später eine zweite. Die Wucht der Explosionen zerstört die mächtigen Träger und reißt die Brücke in Stücke. Die zentrale Nord-Süd-Achse, die Saloniki mit Athen verbindet, ist lahmgelegt. Es dauert fünfundvierzig Tage, bis eine Ersatzbrücke fertiggestellt wird und die Züge mit dem Nachschub wieder rollen. Noch heute sind die beiden südlichen Betonpfeiler durch eine Behelfskonstruktion ersetzt.
Die deutsche Militärführung kocht vor Wut. Endgültig schlägt die einst herablassend-freundliche Stimmung gegenüber den Griechen um. Ein »Sauvolk« nennt sie General Karl von Le Suire, der Befehlshaber der 117. Jägerdivision.
Am 16. Dezember 1942 geben Hitler und der Oberkommandeur der Wehrmacht, Wilhelm Keitel, den berüchtigten »Bandenbefehl« heraus. Es ist der Freibrief zum Massenmord. Der Kampf gegen die »Banden«, so die Bezeichnung für Partisanen, müsse mit »allerbrutalsten Mitteln« geführt werden: »Die Truppe ist daher berechtigt und verpflichtet, in diesem Kampf auch gegen Frauen und Kinder jedes Mittel anzuwenden, wenn es nur zum Erfolg führt.«
In Distomo haben die Dorfbewohner schon früh Bekanntschaft mit den Deutschen gemacht. Seit Beginn der Besatzung fahren hin und wieder Lkw vor. Die Soldaten kommen in die Häuser, schauen sich um, gehen durch die Zimmer, zeigen auf Dinge, die sie mitnehmen wollen: eine Truhe, einen Leuchter oder anderes. Der Ton ist nicht unfreundlich, aber die umgehängten Maschinenpistolen machen klar, dass die deutschen Wünsche den Dorfbewohnern Befehle zu sein haben.
Im Großen und Ganzen leidet Distomo weniger unter der Besatzung als die Städte. Man arrangiert sich, die Menschen versorgen sich mit dem Wichtigsten selbst, auf den Feldern wächst genug, um satt zu werden. Sie verbringen die erste Besatzungszeit zähneknirschend, aber ruhig – Distomo ist kein Widerstandsnest, sondern gilt als bürgerlich und sicher für die deutschen Besatzer. Man richtet sich in den Verhältnissen ein und wartet darauf, dass die fremden Soldaten wieder abziehen. Nicht anders verhält sich Familie Sfountouris. Nikolaos betreibt seinen Laden, Vasiliki schneidert und näht für die Kunden aus der Umgebung.
Eine Hochzeit steht bevor, die Familie ist eingeladen. Die Mutter misst ihrem Sohn einen neuen Anzug an. Der Stoff aus heller, fließender Seide raschelt, die Hände der Mutter halten und drehen den schmalen Jungenkörper, lassen das Maßband durch die Finger gleiten, stecken Nadeln fest. Wenn der Kleine ungeduldig wird, besänftigt sie ihn mit beruhigenden Worten oder einem Lied. Als die Anprobe vorbei ist, streicht die Mutter dem Sohn über die Haare. Die Erinnerung an diesen Tag ist hauchfein. Die Details sind nicht fassbar. Nur diesen Moment der Nähe zwischen Mutter und Sohn trägt Argyris später im Herzen. Er hütet ihn wie einen Schatz. Jede andere Erinnerung an seine Mutter ist verschwunden.
3Der 10. Juni 1944
Mit andauernder Besatzungszeit wird die Lage für die Deutschen schwieriger. 1943 kapituliert Italien und fällt als Verbündeter aus. Die Deutschen müssen deren Besatzungsgebiete übernehmen, das bindet viele Kräfte. Der Partisanenwiderstand wird immer heftiger. Manche Regionen des Landes sind schon fest in der Hand der Guerillakämpfer. Die Deutschen haben zunehmend Probleme, die wichtige Nachschublinie von Athen nach Saloniki zu sichern. Vor allem auf dem Teilabschnitt zwischen Livadia und Delphi in unmittelbarer Nachbarschaft zu Distomo häufen sich die Überfälle. Die Straße wird immer wieder gefährlich schmal und die zahlreichen Engstellen sind wie geschaffen für die blitzartigen Überfälle. Die deutsche Vergeltung ist brutal: Für jeden getöteten deutschen Soldaten werden zehn Griechen ermordet, für jeden Unteroffizier müssen fünfzig Männer sterben, wird ein Offizier getötet, steigt der Blutzoll auf hundert Menschenleben. So rechnet die Armee einer »Herrenrasse«.
Hinter dieser anmaßenden Abwertung von Menschenleben steckt neben völkischer Verblendung auch eine teuflische Strategie: Die Wehrmachtsführung will den Partisanen die Unterstützung der Zivilbevölkerung entziehen, indem sie den Terror gegen Unbeteiligte eskalieren lässt. Wenn erst genügend Unschuldige den Preis des Widerstands bezahlt haben, so das Kalkül, dann wird es keine Familie mehr wagen, die Kämpfer mit Essen und Kleidung zu versorgen oder ihnen Verstecke anzubieten. Die Partisanen sollen als Urheber der deutschen Vergeltung betrachtet und von ihren eigenen Landsleuten nicht länger gedeckt und unterstützt werden.
Die Wehrmacht gerät immer stärker unter Druck. Die Landung der Alliierten an der Atlantikküste droht, Kampfflieger attackieren die deutschen Stellungen, fast ungehindert gelangen die feindlichen Bombergeschwader an den ohnmächtigen deutschen Flakbatterien vorbei ins Hinterland. Die Wehrmachtstrategen brauchen dringend frische Kräfte. Doch die Hoffnung, Griechenland schnell wieder unter Kontrolle bringen und Soldaten von dort nach Nordfrankreich und Belgien verlegen zu können, schwindet.
Ende April 1944 haben die Partisanen unweit von Distomo wieder einmal einen Hinterhalt gelegt. Ihr Ziel: ein deutscher Militärjeep. Sie beschießen das Fahrzeug und töten zwei Unteroffiziere.
Die Befehlshaber reagieren schnell und ohne Mitleid: Am 1. Mai werden hundertachtunddreißig Zivilisten auf die schmale Passhöhe vor Distomo gekarrt: Etwa dreißig von ihnen sind politische Gefangene, zumeist Linke aus dem Gefängnis von Livadia. Die Wehrmacht hält beständig eine gewisse Anzahl solcher Geiseln gefangen, die bei anstehenden Massenerschießungen »verbraucht« werden, wie es im Jargon der Soldaten heißt. Die übrigen Opfer werden willkürlich aus den umliegenden Dörfern verschleppt; auch zwölf Männer aus Distomo sind dabei, darunter mehrere mit dem Namen Sfountouris. Alle werden von den Deutschen erschossen.
Am 6. Juni 1944 starten die Westalliierten die »Operation Overlord«: die Landung am Strand der Normandie. Die Wehrmacht steht jetzt in einem Zweifrontenkrieg.
Am Samstag, den 10. Juni, scheint die Frühsommersonne in Distomo. Das Dorf rüstet sich zum Gedenkgottesdienst für die Ermordeten. Am morgigen Sonntag soll er stattfinden, vierzig Tage nach der Beerdigung der Toten, so will es der Brauch der Ostkirche. Die Frauen kümmern sich um Blumen und Zweige. Der Pfarrer bereitet seine Ansprache vor.
Seit dem frühen Morgen spielt Argyris mit seinen älteren Schwestern Astero und Kondylia und der gleichaltrigen Cousine Dimitra auf der Straße vor dem Haus. Chryssoula, die Älteste, mittlerweile zwölf Jahre alt, ist in Athen, um ihrer schwangeren Tante im Haushalt zu helfen. Die Mutter ist mit dem Pferdekarren unterwegs nach Livadia, um Eier auf dem Markt zu verkaufen. Giorgos und Panoraia, ein befreundetes Ehepaar aus der Nachbarschaft, sind mit dabei. Der Vater arbeitet im Laden.
Um 8.15 Uhr verlässt die zweite Kompanie des siebten Regiments der vierten SS-Polizei-Panzergrenadier-Division den Standort Livadia. Der Stützpunkt liegt fünfundzwanzig Kilometer südöstlich von Distomo. Der Auftrag lautet, auf der Strecke nach Westen bis zum fünfunddreißig Kilometer entfernten Arachova sogenannte Bandenstützpunkte auszuheben und die Straße wieder sicher passierbar zu machen. Die Stärke der zweiten Kompanie beträgt an diesem Tag rund achtzig Mann, Befehlshaber ist SS-Hauptsturmführer Fritz Lautenbach.
Eine Viertelstunde vorher hat ein sogenanntes Zivilkommando den Standort mit gleichem Ziel verlassen: Es sind vierzehn Männer, verkleidet als griechische Bauern. Die Kleidung stammt womöglich von Gefängnisinsassen aus Livadia. Ilias, der jüngste Bruder von Argyris’ Großmutter, arbeitet dort als Gefängnisarzt. Er hat beobachtet, wie die deutschen Aufseher Kleidungsstücke der inhaftierten Griechen konfiszieren.
Um Partisanen zu täuschen und für Schwarzhändler gehalten zu werden, sind die Verkleideten mit zwei beschlagnahmten zivilen Lkw unterwegs. Auf dem Boden der Fahrzeuge versteckt liegen schussbereite Gewehre griffbereit.
Über die Identität der Männer in Zivil wird bis heute spekuliert: Sind es deutsche Soldaten? Oder Schwerkriminelle aus deutschen Gefängnissen auf Frontbewährung? Kollaborateure? Andere Quellen sprechen von arabischen Kämpfern – angeblich unterhält die Wehrmacht südlich von Athen ein geheimes Ausbildungscamp. Dort sollen Araber für einen von den Nationalsozialisten geplanten Überfall auf die Engländer in Palästina trainieren und es wird erzählt, dass die Deutschen die arabischen Rekruten zu Massakern mitnehmen.
Zeitgleich mit dem Tross, der von Südosten aus in Richtung Distomo fährt, starten in Arachova weitere hundertsechzig Männer des siebten SS-Polizeigrenadier-Regiments. Sie überprüfen die Strecke von Westen aus. Um 8.50 Uhr trifft die Einheit aus Arachova planmäßig mit der zweiten Kompanie aus Livadia zusammen. Da hat das Zivilkommando bereits sechs Schafhirten auf freiem Feld erschossen und zwölf weitere Männer auf den Feldern als Geiseln gefangen genommen. Der Chef der zweiten Kompanie, Lautenbach, wird in seinem Bericht behaupten, seine Leute seien von den Hirten, die auch dreißig Schafe mitführten, angegriffen worden.
Nachdem beide Truppenteile vereinigt sind, fahren sie im Verband nach Distomo. Der Auftrag lautet, den Ort zu »überholen«. Im Wehrmachtsdeutsch bedeutet das, die Häuser einzeln nach Waffen und Partisanen zu durchsuchen.
Bald erfüllt das Dröhnen von Lkw-Motoren und Militärjeeps die Luft und schreckt die Dorfbewohner auf. Argyris und die Mädchen hören auf zu spielen und blicken gebannt auf die große Kolonne. So viele Soldaten haben sie noch nie gesehen. Annähernd zweihundertfünfzig Uniformierte sitzen ab. Die Dolmetscher verkünden laut die gebellten Befehle der Deutschen: »Alle an Ort und Stelle in die Häuser!« »Alle Geschäfte zu!«
Niemand darf mehr durch die Straßen gehen; wer nicht vor seinem eigenen Haus steht, geht mit dort hinein, wo er sich gerade aufhält. Nikolaos Sfountouris führt Astero, Kondylia, Argyris und deren Cousine Dimitra hinauf in die Wohnung im ersten Stock. Er verriegelt die Tür und schickt die Kinder ins sogenannte Winterzimmer unter die Ikone. »Setzt euch davor und betet, dass wir mit dem Leben davonkommen«, sagt Nikolaos. Die deutschen SS-Soldaten schwärmen durch die Straßen, klopfen an Türen, durchsuchen mit vorgehaltener Waffe jedes Haus. Die Offiziere verhören den Bürgermeister und den Pfarrer aus dem Nachbarort Stiri. Das kleine Dorf ist ganz im Gegensatz zum ruhigen Distomo bekannt als Partisanennest. Bürgermeister und Pfarrer geben bereitwillig und wahrheitsgemäß die Auskunft, dass am Vortag dreißig Partisanen durch das Dorf gezogen sind und sich in Richtung Stiri bewegt haben. Oft kommen die Partisanen samstags aus dem Helikon in die Dörfer, um Kleider flicken zu lassen und Wäsche zu wechseln.
Nachdem alle Häuser ohne Ergebnis durchsucht sind, ist der eigentliche Auftrag beendet.