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Eine Yogalehrerin, eine queere Pfarrerin, ein Atheist, eine Astrologin, eine buddhistische Nonne, eine Astrophysikerin, ein junger Katholik, der im Kloster lebt, und viele mehr – sie alle hat die Journalistin Michelle de Oliveira nach ihrem Glauben, ihren Zweifeln, nach ihrer Spiritualität und ihrem Weg hin oder weg von Gott befragt. Nicht nur in der Schweiz, auch weltweit boomen moderne und auch traditionelle Formen von Spiritualität. Warum? De Oliveira hat Fragen und ist auf der Suche nach Antworten: Glaube ich eigentlich? Und falls ja, woran? Oder fehlt mir der Glaube? Und was ist Glaube überhaupt? Was kann er uns geben? Ist es gefährlich, an etwas zu glauben? Wie beeinflusst und verändert Glaube – oder dessen Abwesenheit – die Gesellschaft? Welche Rolle spielt Religion heute? Die vierzehn persönlichen Gespräche über Religion, Glaube und Spiritualität zeigen die Vielfalt gelebter Spiritualität und immer wieder fragt man sich: Glaube ich?
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Seitenzahl: 221
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Michelle de Oliveira
Ich glaube, mir fehlt der Glaube
Michelle de Oliveira
Ich glaube, mir fehlt der Glaube
14 Gespräche über Religion, Glaube und Spiritualität
Pano – Ein Imprint von TVZ
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Reformierten Kirche des Kantons Zug, der Evangelisch-reformierten Kirche des Kantons Zürich und der Evangelisch-reformierten Kirchgemeinde Zürich.
Der Pano Verlag Zürich wird vom Bundesamt für Kultur für die Jahre 2021–2024 unterstützt.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Umschlaggestaltung
Simone Ackermann, Zürich
Unter Verwendung eines Bilds von Michelle de Oliveira, fotografiert von Torsten Maas.
Bildkonzept und Bildbearbeitung
Adrian Sonderegger, Zürich, www.ohnetitel.ch
Satz und Gestaltung
Weiß-Freiburg – Grafik und Buchgestaltung
Druck
CPI Books GmbH, Leck
ISBN 978-3-290-18600-5 (Print)
ISBN 978-3-290-18601-2 (E-Book: PDF)
© 2024 Pano – Ein Imprint von TVZ
www.pano.ch
Alle Rechte vorbehalten
Für alles, was ist.
Inhalt
Vorwort 9
Patrick Schwarzenbach
«Der Glaube ist eines der letzten grossen Abenteuer» 15
Anja Niederhauser
«Auch gläubige Menschen können in den letztenStunden ihres Lebens hadern» 27
Mirjam Haymann
«Das Yoga hat meinen jüdischen Glauben ergänzt» 41
Manuel Schmid
«Das Göttliche liegt nicht in uns» 55
Lama Irene
«Der Gedanke an die Vergänglichkeit prägt meinen Tag» 75
Valentin Abgottspon
«Die Religionen sind in einem grossen Ausmass schädlich» 89
Priscilla Schwendimann
«Es ist Gottes Ironie, dass ich mit einer Frau zusammen bin» 103
Martin Iten
«Ich habe mich bewusst für die Liebe, die Hoffnung und den Glauben entschieden» 117
Alexandra Kruse
«Die Spiritualität rettete mir das Leben» 143
Dilek Uçak-Ekinci
«Mein Glaube schenkt mir in Krisen Zuversicht» 155
Kathrin Awi
«Ich bin ein Kanal für Nachrichten aus dem Universum» 169
Dorothea Lüddeckens
«Religion und Spiritualität per se als etwas Gutes zu sehen, ist gefährlich» 181
Marcel Steiner
«Ayahuasca hat eine ähnliche Energie wie die heilige Maria» 195
Kathrin Altwegg
«Wir Menschen sind aus Sternenstaub gemacht» 209
Nachwort 222
Dank 227
Literaturliste 228
Bildnachweis 229
Vorwort
Die Tatsache lässt sich nicht länger bestreiten: Ich bin auf der Suche. Und zwar schon eine Weile, nur war ich mir des-sen nicht bewusst. Genau so wenig wie ich weiss, wonach ich eigentlich suche. Aber da ist ein Bedürfnis und es will dringend gestillt werden. Ich fange an, genauer hinzuhören – und finde einige erste Antworten. Aber vor allem noch viel mehr Fragen.
Ich wünsche mir Sicherheit in einer Welt, die mich fordert. Und oft auch überfordert. Ich suche etwas, an dem ich mich fest-halten kann auf diesem Planeten, der scheinbar immer schnel-ler dreht. Eine Welt, in der gerade – oder war das schon immer so? – so viel im Umbruch ist, in der Kriege, Krankheit und Kli-makrise herrschen. Ich wünsche mir Kontrolle oder vielleicht auch, diese abgeben zu können. Nur weiss ich nicht, an wen. In einer Gesellschaft, in der fast alles möglich ist, fallen mir Ent-scheidungen schwer. Jedes Ja bedeutet unzählige Nein. Ich fühle mich oft orientierungslos. Wie im freien Fall und gleichzeitig mitten in einem Rennen, in dem ich von A nach B gelangen soll, ohne zu wissen, wo sich A und vor allem B überhaupt befinden. Möglichst schadlos durchzukommen, gerne auch schneller und besser als die anderen, um dann … Ja, um dann was eigentlich? Ist das der Sinn des Lebens? Irgendwie durchzukommen? Oder gibt es vielleicht gar keinen Sinn? Und was passiert nach dem irdi-schen Leben? Wenn wir einmal nicht mehr so sind, wie wir jetzt sind – alles fertig? Oder gibt es doch eine andere Dimension?
Inmitten all dieser Fragen schleicht sich langsam eine Vermutung ein: Ich glaube, mir fehlt der Glaube.
Dieser Gedanke lässt mich zusammenzucken. In mei-nem Kopf passen Religion und Glaube nicht zu mir, nicht in
meine moderne Welt. Zu naiv, zu altbacken, eine zu schwere Geschichte, zu viele schlimme Ereignisse. Religion und Glaube sind für die, die es nicht besser wissen, denke ich. Es fällt mir schwer, mir selbst – geschweige denn anderen – einzugestehen, dass mich Glaube und Religion interessieren und anziehen.
Ich bin nicht besonders religiös aufgewachsen. Katholisch. Wir gingen gelegentlich in die Kirche, meist zu Weihnachten, manchmal an Ostern und für Hochzeiten, Taufen und Beer-digungen. Ich erlebte Erstkommunion und Firmung wie fast alle anderen Kinder und Jugendlichen in meinem Umfeld. Ich machte mir wenig eigene Gedanken zum Glauben und zur Religion.
Doch bereits als Teenager entwickelte ich eine grosse Fas-zination für Meditation. Ich lieh mir in der Bibliothek Bücher aus, setzte mich im Dunkeln auf den Boden und versuchte, meinen Blick und meine Gedanken auf die Flamme eines Tee-lichts zu richten, den Atem fliessen zu lassen und zu meditieren. Bevor Yoga wirklich überall war, besuchte ich meinen ersten Yogakurs, in einem Raum der Hofkirche in Luzern. Anfang zwanzig reiste ich nach Tibet und pilgerte mit Buddhistin-nen und Buddhisten um den heiligen Berg Kailash. In Nepal wohnte ich dem rituellen Leichenverbrennen bei und in Indien badete ich im heiligen Ganges. Ich wurde Yogalehrerin, übte Breathwork und liess während eines schamanischen Workshops schreiend negative Gefühle los. Ich sog alles Spirituelle auf.
Gleichzeitig haderte ich zunehmend mit der katholischen Kirche als Institution. Missbrauchsfälle, Machtgehabe, men-schenverachtendes Verhalten und meiner Meinung nach rück-ständige Ansichten und Auflagen machten mich wütend und stiessen mich ab. Vor einigen Jahren bin ich offiziell aus der
Kirche ausgetreten und habe damit den Glauben offiziell ein für alle Mal abgelegt. Dachte ich zumindest. Denn trotzdem gehe ich nach wie vor gerne in ein Gotteshaus und zünde dort eine Kerze an, wie ich es schon als Kind getan habe. Ich geniesse die Ruhe und die Stimmung, die mich jedes Mal erden. Manch-mal spreche ich mit jemandem, ähnlich wie ein Gebet, ohne zu wissen, an wen ich meine Worte eigentlich richte. Dabei fühle ich mich scheinheilig und frage mich: Darf ich das überhaupt?
Ich meditiere noch immer, manchmal zurückgezogen und schweigend für mehrere Tage, ich praktiziere Yoga, ich achte auf Mondphasen und verspreche mir bei Neumond ein fan-tastisches Leben. Ich merke mir Zitate bedeutender philoso-phischer Denkerinnen und Denker und solcher, die es gerne wären. Ich wiederhole Mantras und versuche, achtsam zu sein. Ich räuchere meine Wohnung aus und stecke mir häufig einen Edelstein als Talisman in den Hosensack. Einmal besuchte ich ein Medium, das Kontakt zu Verstorbenen herstellen kann, und für eine Weile belegte ich Kurse in buddhistischer Psychologie.
Ich bastle mir also aus allen möglichen Religionen und spirituellen Praktiken meinen eigenen Glauben zusammen: Ein bisschen Astrologie, wenn die Sterne gerade gutstehen, Kontakt mit dem Jenseits, wenn ich traurig bin, ein Mantra, wenn es passt. Wenn es hart auf hart kommt, bete ich auch mal unbeholfen und steif zu Gott (oder zur Göttin). Ich halte es wie Pippi Langstrumpf: Ich mach’ mir die Welt – oder eben meine Spiritualität –, wie sie mir gefällt. Ich glaube, daran ist grundsätzlich nichts falsch. Oft habe ich durch kleine Ritu-ale Halt und Hoffnung gefunden, wieder Boden unter den Füssen gespürt und Zuversicht gewonnen. Aber meistens hält diese Ruhe nur kurz an, schnell bin ich wieder auf der Suche.
Meine selbstgemachte Spiritualität scheint mir wenig nach-haltig und wackelig. Ein bisschen wie Fast Food: Schmeckt toll im Moment, aber ich bin schnell wieder hungrig. Ich wünsche mir etwas, das mich wirklich satt macht.
Fehlt mir vielleicht tatsächlich dieser eine Glaube? Oder sind es vielleicht fehlende Rituale, die früher selbstverständ-lich waren, die nun eine Lücke hinterlassen? Das Gefühl einer Gemeinschaft? Kann moderne Spiritualität, mit der ich mich gerne beschäftige, die Lösung sein? Oder ist es überhaupt naiv, nach etwas «Grösserem» zu suchen? Nach etwas, das rational nicht erklärbar ist?
Vielleicht bin ich gläubig, denke ich manchmal, aber meist schaltet sich dann sofort die Vernunft ein. Beispielsweise will mir die Schöpfungsgeschichte aus der Bibel überhaupt nicht einleuchten. Ein Gott, der die ganze Welt erschaffen hat? Ich schaue mir Aufnahmen aus dem Universum an und denke: Wer hat denn den ganzen Rest erledigt? Die Lichtjahre ent-fernten Galaxien kreiert? Oder schon «nur» die Planeten unse-res Sonnensystems? Auch Gott? Nur um dann bloss die Erde mit Leben, wie wir es kennen, zu besiedeln? Hätte Gott sich nicht mehr ausleben wollen, um zum Beispiel auf dem Mars gänzlich andere Kreaturen zu schaffen? Adam und Eva, die unbefleckte Empfängnis Marias, Jesus, der am Kreuz für die Sünden der Menschen gestorben ist – hat sich das tatsäch-lich so zugetragen? Oder sind das bloss Geschichten? Ist es nicht unwahrscheinlich, dass die Position von Mond, Mars und Venus meine Stimmung beeinflussen? Dass ein Mantra mich beschützt? Dass das Universum mir Zeichen gib? Dass jemand zuhört, wenn ich flüsternd meine grössten Ängste teile, sei es in einer Kirche oder im Wald?
Ich bin nicht gläubig, denke ich dann also manchmal auch. Es gibt keine Transzendenz, keine andere, weitere Dimension. Und doch finde ich keine Ruhe und Zweifel nagen weiter an der vermeintlichen Gewissheit. Ich weiss es einfach nicht.
Obwohl in meinem Umfeld kaum jemand sehr gläubig ist und viele auch dem Spirituellen eher kritisch gegenüberstehen, bin ich mit diesen Fragen nicht allein. Ich weiss, dass sich viele Menschen ähnliche Fragen stellen. Spiritualität und Esoterik boomen weltweit und sind ein Milliardengeschäft. Menschen überall suchen nach Antworten.
Und ich merke: Ich kann und will mich dieser Suche nicht länger entziehen. Ich möchte den Fragen auf den Grund gehen oder zumindest vertiefter ergründen, was ich denn glaube. Ob ich überhaupt glaube. Ich möchte meine Vorurteile hin-terfragen, mich öffnen und einlassen. Mich informieren, ler-nen und zulassen. Darum will ich mit Menschen reden. Mit gläubigen Menschen, mit Menschen, die den Glauben aus beruflichen Gründen erforschen, mit Menschen, die sich mit unserer Welt aus der wissenschaftlichen Perspektive befassen, mit Menschen, die nicht glauben, mit Menschen, für die das Unfassbare fassbar ist. Ich möchte ihre Geschichten erfahren, von ihrem Weg zum Glauben – oder weg davon – hören, ich möchte die Welt für einen Moment mit ihren Augen sehen und vor allem: ganz viele Fragen stellen.
Dieses Buch soll – für mich und hoffentlich auch für Sie, liebe Leserinnen und Leser – eine Auseinandersetzung mit Glaube, Religion und Spiritualität sein. Ich möchte mich inspi-rieren, berühren und auch überraschen lassen. Antworten fin-den und am Schluss vielleicht wirklich wissen: Glaube ich?
Patrick Schwarzenbach
«Der Glaube ist eines der letzten grossen Abenteuer»
Patrick Schwarzenbach, *1984, hat Theo-logie studiert und ist reformierter Pfarrer in der Citykirche Offener St. Jakob in Zürich, wo moderne spirituelle Praktiken und traditionelle Glaubenswege neben- und miteinander gelebt werden. Er ist verheiratet, Vater von zwei Kindern und lebt mit seiner Familie in Zürich.
Ich bin über Vorbilder zum Glauben gekommen. Ich habe keinen Bekehrungsmoment erlebt, in dem ich gedacht habe: «Ah, jetzt habe ich es, jetzt weiss ich Bescheid!» Es waren Men-schen in meinem Umfeld, die Aspekte des Glaubens gelebt und mich dadurch berührt haben. Eines dieser Vorbilder war meine Grossmutter. Sie war eine natürliche, gläubige Frau, ohne je missionarisch zu sein, mit sehr viel Herz, liebevoll, so wie man sich eine Grossmutter vorstellt. Sie wirkte stets sehr verwurzelt in etwas, aber ich wusste damals natürlich nicht so recht, was das ist. Ihre Präsenz hat mich aber immer tief bewegt und dieses Gefühl begleitet mich bis heute.
Ich stamme aus einer kulturprotestantischen Familie, wir haben Weihnachten gefeiert und es war keine grosse Frage, dass ich mich konfirmieren liess. Das war für mich aber nicht mit einer grossen Glaubenserfahrung verbunden. Erst als ich im Gymnasium meinem Religionslehrer begegnete, der sehr spannend Aspekte der Ethik, der Philosophie und der Reli-gion vermitteln konnte, wurde mein Interesse geweckt. Mit seinem Unterricht hat sich mir eine neue Welt eröffnet. Man kann schon sagen, dass ich mich auch wegen ihm dafür ent-schieden habe, Theologie zu studieren.
Parallel zum inspirierenden Religionsunterricht fing ich an zu meditieren. Ich schwänzte jeweils das Turnen, weil ich darin so schlecht war, und ging stattdessen heimlich in die Bibliothek, um dort sämtliche Bücher über Zen-Meditation zu lesen. Die Faszination für das Spirituelle wuchs und nach der Matur ver-brachte ich drei Monate im Kloster in Disentis. Ich habe dort mit den Mönchen gelebt und sehr schnell gemerkt, dass mir das zu eng ist. Einer hatte immer Kopfweh, ein anderer stand eigent-lich auf Männer, konnte das aber nicht ausleben – es fühlte sich
alles so schwer an! Ich spürte: Das ist es nicht. Ich habe die Welt zu gerne, um mich so sehr zurückzuziehen.
Aber diese Erkenntnis löste auch eine Sinnkrise aus: Die Tiefe und das Suchen – alles Dinge, die ich im Kloster erlebt hatte – wollte ich nicht missen. Ich spürte, dass sie wichtig sind für mich. Doch es gelang mir nicht so einfach, diese Aspekte im Alltag ausserhalb des Klosters zu finden. Schliesslich haben mir Zen-Meditationskurse, regelmässiges Fasten und immer wieder Zeiten des Rückzugs geholfen, beides zu verbinden: die eher kopflastige Theologie durch das Studium und die Spiritualität der Zen-Meditation.
Eine weitere Begegnung, die mich prägte, machte ich wäh-rend meines Vikariats. Der Pfarrer, bei dem ich dieses Praxis-jahr absolvierte, lebte eine grosse Offenheit und eine Spirituali-tät, die mich beeindruckte. Ich hatte bis dahin immer gedacht, ich würde einen akademischen Weg einschlagen und sicher nie auf einer Kanzel stehen. Auch weil ich zu viele Fragen und zu wenig Antworten hätte. Doch während des Vikariats merkte ich, dass es für all die Fragen Platz und auch den nöti-gen Raum gibt.
Für mich ist der Glaube ein Vertrauen, das wächst. Dieses Vertrauen war immer da und ich habe das schon früh – auch dank meiner Grossmutter – stark gespürt. Durch die Theolo-gie fand ich eine Sprache für dieses Gefühl. Heute bin ich in einem Prozess, in dem ich unter anderem über das vertiefte Meditieren, regelmässige Kontemplation und eine Körperthe-rapie-Ausbildung in eine Tiefe und Ruhe hineinkomme. Das ist wohl das, was ich immer gesucht habe. Mein Glaube reichert sich stetig an. Ich habe mich vom Kinderglauben, dem lieben Gott zu danken oder ihn um etwas zu bitten, gelöst und mich
weiterentwickelt. Der Glaube wurde weiter und tiefer, wie ein Raum, der aufgeht und immer grösser wird. Der Glaube ent-hält auch etwas Geheimnisvolles, etwas, das ich nicht einfach packen kann.
Trotzdem habe ich nie an der Existenz Gottes gezweifelt. Vielleicht war es mein Vorteil, dass ich nie einen alten Mann mit Bart im Kopf hatte, der alles richtet. Auch war Gott für mich immer näher beim Gefühl, beim Erleben. Mir wurde mit der Zeit bewusst, dass der Glaube enorm viel mit mir zu tun hat. Das Leben pulsiert in mir, und ich kann über dieses Leben in mir einen Zugang finden zum Leben im allergrössten Sinn. Die Theologie hilft mir noch heute, dieses Erleben in Worte zu fassen und so teilen zu können. Und dadurch kann ich auch als eine Art Übersetzer fungieren, etwa wenn es um die Bibel geht. Für mich ist die Bibel wahr. Aber es sind natürlich in erster Linie Berichte von Menschen, die mit dem Göttlichen eine Erfahrung gemacht haben. Diese Erfahrungen wurden aufgeschrieben, weil sie für diese Person wahr waren, weil sich das Göttliche ihnen in diesem Moment so gezeigt hatte. Das ist für mich der Wahrheitsanspruch an die Bibel: Jemand hat das so erlebt. Und diese Geschichten geben uns heute eine Art Schablone, die uns helfen kann, die eigenen Erfahrungen ein-zuordnen oder vielleicht auch festzustellen: «Oh wow, was ich gerade durchmache, resoniert mit etwas, was jemand schon vor 2000 Jahren erlebt hat.» Bezüglich der Wahrheit ist mir auch der Ausspruch von Buddha sehr nahe, der sagt: «Hey, probiert das selber aus.» Das geht wieder zurück auf das eigene Erfahren und Erleben, auf das Gefühl.
Was ich schon verrückt finde, ist der Wandel von einer wohlwollenden Grundintention zu einer Kirche, die sehr lange
mit Machtmissbrauch und Angstmacherei gewirkt hat. Denn am Anfang steht ja die Geschichte, in der einer ohne Geld in Nazaret umherläuft und sagt: «Ihr müsst keine Angst haben, ihr seid grundsätzlich okay, so wie ihr seid.» Diese Geschich-ten dann zu einer Aussage zu drehen wie: «Grundsätzlich bist du nicht okay, aber wenn du uns viel Geld und Zeit schenkst, machen wir vielleicht, dass du dann doch okay bist.» Als Vater von zwei Kindern bin ich davon überzeugt, dass die Menschen grundsätzlich gut sind. Wenn man so ein Baby sieht, kann es einem doch nicht einfallen zu sagen: «Wahrscheinlich bist du schlecht und sündig.»
Ich hatte sowieso sehr lange eine ablehnende Haltung den Sünden gegenüber, und sah das Konzept eindeutig als Macht-instrument. Mittlerweile finde ich aber, dass es etwas Wertvol-les sein kann. Und zwar dann, wenn man Sünde als Abkapse-lung versteht. Das Wort Sünde leitet sich nämlich auch von «sunder» ab, von abgeschnitten oder abgespalten sein. Wenn ich nicht verbunden bin mit der Welt und ich mich in mir drin verkrümme, dann bin ich sündig. Das würde ich aber nie moralisch aufladen, sondern ich verstehe es viel mehr als Beschreibung, wie Menschen auch sein können, als temporä-rer Zustand. Und das ganze Bestrafen für die Sünde ist dann nicht etwas, was nachher passiert. Denn ich weiss, wenn ich in diesem Zustand bin, fühle ich mich nicht wohl in der Welt, dann bin ich nicht im Kontakt. Gelingt es mir, mich wieder zu öffnen, dann ist das eine Befreiung von diesem Zustand, wie ein Abstreifen der Sünde. So verstanden macht die Sünde für mich Sinn. Aber Handlungssünden – also etwa, weil ich einmal gelogen habe, bin ich sündig und muss das abtragen – finde ich blöd und den damit verbundenen Ablasshandel sinnlos.
Lange konnte ich auch nichts mit der Vorstellung von Him-mel und Hölle anfangen. Das hat sich etwas relativiert, als mein Vater gestorben ist, als ich 26 Jahre alt war. Er hatte Krebs und durchlebte einen langen Sterbeprozess. Ich war bei ihm und hatte das Gefühl, in seinem Sterben hat er vieles wieder durch-lebt, was in seinem Leben passiert war. Schöne Erinnerungen, aber auch alte Ängste kamen wieder hoch und er machte für ihn typische Bewegungen wie etwa mit dem Finger Brösmeli auftippen. Es kam mir damals der Gedanke: Vielleicht ist es das, was viele als Hölle – was ich trotzdem ein sehr schwieriges Wort finde – beschreiben. Vielleicht ist es eine Art Ablösungs-prozess, durch den man hindurchgeht, weil das Leben wieder zu seinem Ursprung zurückkehrt. Und ja, wenn jemand sehr viele, sehr schlimme Dinge getan hat, und dann durch alles erneut hindurch muss, um dann loslassen zu können, fühlt sich das vielleicht wirklich wie die Hölle an.
Ich glaube also nicht an eine Hölle, in der Menschen für immer schmoren, aber ich weiss auch nicht, wohin wir gehen. Ich habe das starke Gefühl, dass das Leben wieder an jenen Ort zurückgeht, wo es herkommt. Wir sind aus einer grossen Liebe heraus hierhergekommen und am Ende des Lebens gehen wir wieder dorthin zurück. Ich sage auch an Beerdigun-gen oft, dass dieser Lebensimpuls nicht einfach verschwindet, sondern dass er wieder in etwas Grösseres zurückgeht. Über die Beerdigungen ist mir aber auch das Konzept der Ahnen nähergekommen. Ich stelle häufig fest, wie verstorbene Men-schen ganze Familien noch besetzen können, im negativen Sinn oder aber auch, wie sie weiterhin etwas Wertvolles blei-ben können. Es gibt so viele Kulturen, die den Toten ihren Ort zugestehen, vielleicht mit einem Altar oder einem bestimmen
Tag. So sind die Verstorbenen als Ahnen noch präsent. Das kann beim Verlust eines Menschen ein Trost sein.
Ich glaube, dass gläubige Menschen anders sterben. In eigenen Erfahrungen von Angst oder auch in meditativen Zuständen, in denen es existenziell wurde, lernte ich, dass ich in etwas Grösseres hinein loslassen kann und nicht mit dem Kopf etwas lösen oder festhalten muss. Das Wissen, dass etwas da ist, das mich trägt, hat mir in Momenten des Loslassens enorm geholfen. Ich kann nicht beurteilen, wie Menschen das machen, die keinen Glauben oder keine Spiritualität haben. Aber ein entspanntes, letztes Ausatmen hat für mich mit dem Vertrauen in etwas Grösseres zu tun. Mir hilft es, diese Erfah-rung des Loslassens – eben etwa durch meditative Zustände – auch im Alltag immer wieder mal zu machen. Damit das nicht etwas ist, das beim letzten Atemzug zum ersten Mal passiert.
Aber unsere Gesellschaft klammert das Sterben und den Tod stark aus. Wir leben nicht mehr in kleinen Gemeinschaf-ten, wo klar ist, dass der oder die Verstorbene noch einmal durchs Dorf getragen wird. Oder das Ritual, dass die Hin-terbliebenen ein Jahr lang schwarze Kleidung tragen, sich in dieser Zeit mit dem Tod auseinandersetzen und dass es nach dem Trauerjahr aber auch normal weitergehen darf. Solche Rituale fehlen. Die Kunst, das Sterben zu lernen, war in den 1970er-Jahren weit verbreitet, auch dank der LSD-Bewegung, die das Loslassen zelebriert hat. Doch irgendwann ging das wieder verloren. Dadurch, dass der Tod heute nur so kurz vor-kommt in unserem Leben, ist er nicht präsent. Dabei wäre das wertvoll. Nach dem Tod meines Vaters war mir plötzlich ganz klar: Ich will nicht mein Leben auf später verschieben. Mein Vater hatte sich stets vorgestellt, er würde als Pensionär dann
irgendwo in der Sonne sitzen. Und dann hat er sein Leben lang viel gearbeitet und starb kurz vor der Pension. Wie gemein ist das denn? Die Dringlichkeit des Lebens zu spüren und das Wissen, dass mir nicht ewig Zeit bleibt, hat meinem Leben enorm viel Energie gegeben.
Dadurch, dass die Religion in der Gesellschaft in den Hin-tergrund gerückt ist, verlernen wir nicht nur den Umgang mit unserer Endlichkeit, sondern wir verlieren auch eine gewisse Form von Weisheit. Wir haben zwar Zugriff auf sehr viel fak-tisches Wissen, das uns durch das Internet jederzeit zur Ver-fügung steht. Aber viel Wissen über ganz grosse Themen ver-lieren wir: Was bedeutet es, ein Mensch zu sein? Was ist das Leben? Was ist der Tod? Was ist das Wunder unserer Existenz? Wir verlieren Leute, die sich damit auskennen. In der Kirche fehlen Menschen, die als Vorbilder dienen. Und gleichzeitig ist die Sehnsucht der Menschen so gross: Psychotherapien, Yoga, Meditation – all das boomt.
Im Umfeld unserer Citykirche Offener St. Jakob hier im Zürcher Kreis 4 erlebe ich, dass Yoga, Religion und etwa Aya-huasca für die Menschen gleichermassen spannend sind. Das Christentum ist zwischenzeitlich in so weite Ferne gerückt, dass es schon wieder interessant wird und plötzlich wieder Weisheiten und vor allem auch Gemeinsamkeiten mit anderen spirituellen Wegen gefunden werden. Viele Weisheitstraditio-nen können parallel existieren.
Ich glaube, das Christentum mit dem bösen Zeigefinger wird immer mehr in den Hintergrund treten, das hat nieman-dem etwas gebracht. Und schon gar nicht hilft es einem, sich tiefer im Leben zu verwurzeln. Aber die Form des Christen-tums, die aus der Mystik kommt, die mit Ritualen zu tun hat,
die Form, in der das Sozialengagement lebt, in der Versöhnung und Vergebung existieren, die bleibt spannend. Wir vereinen diese Parallelwelten im St. Jakob. Hier ist vieles möglich und ich richte mich immer nach dem Grundsatz: Wenn es jeman-dem hilft, lebendiger, liebevoller, freier zu werden, dann spielt es für mich eigentlich keine Rolle, welche Praxis dahinter steht.
Was ich oft beobachtet habe – auch bei mir – und sehr spannend finde: Viele Menschen, die östliche Traditionen praktiziert haben, gelangten irgendwann an einen Punkt, an dem sie nicht mehr weiterkamen, an dem sie nicht mehr ver-standen. Mir erging es beim Zen mit dem Konzept der Leere so. Einerseits habe ich die Texte nicht im Original gelesen, sondern die Übersetzung davon, was schon etwas anderes ist. Ich kann mir zwar etwas darunter vorstellen, ich kann Erfah-rungen damit machen, aber was es im Ursprung und in dieser Kosmologie wirklich heisst, an das komme ich nicht heran. Das ist nicht meine Sprache. Vielen, die auf ihrem Weg ähnliche Erfahrungen machen, hilft der Sprachschatz aus der eigenen Kultur, um etwas zu beschreiben. Das verstehen sie, weil sie damit aufgewachsen sind. Und bei solchen Erfahrungen pas-siert manchmal eine Wende zum Christentum oder eine Offen-heit dem Christentum gegenüber. Am Schluss sind es einfach nur Symbolsysteme und es geht bei allem im Kern um das Gleiche – aber man kann es unterschiedlich ausdrücken. Ich glaube, dem Göttlichen ist es egal, auf welche Art man dazu kommt oder in welcher Weise man sich darin versenkt. Das Göttliche ist ein Angebot, das man annehmen oder ablehnen kann. Aber wie und wo man es annimmt, spielt keine Rolle.
Ich finde auch nicht, dass man sich zwingend zu etwas bekennen oder irgendeinen Religions-Kleber auf alles drauf
machen muss. Ich erlebe es so, dass das Göttliche im Überfluss vorhanden ist. Es manifestiert sich im Leben, es ist präsent, es fliesst darüber hinaus. Das Göttliche ist nicht davon abhängig, ob ich mich zu etwas bekenne oder nicht.
Ich behaupte, alle diese Wege sind gleich wertvoll, aber man muss sie eine längere Zeit gehen. Der Weg vom Abschä-len äusserer Schichten, um auch den dunkeln Seiten von sich zu begegnen und sich den aufdrängenden Fragen wirklich zu stellen, ist in all diesen Wegen drin und das finde ich so wert-voll. Aber immer kurz vor diesem Punkt wieder aufzuhören und sich etwas anderem zuzuwenden, verhindert das Absinken in eine tiefere Schicht. Es ist ein Gewinn, wenn man an etwas dranbleibt. Wie in einer Beziehung, dort kommt die Tiefe auch erst nach einer gewissen Zeit, wenn man vielleicht auch Dinge gesehen hat voneinander, die gar nicht so schön sind.
Und darum gefällt mir der Gedanke – und das hat die Religion in der christlichen Form etwas verloren –, dass der Glaube eigentlich ein extrem spannendes Abenteuer ist, das neugierig macht und umso aufregender wird, je tiefer man hineingeht. Der Glaube ist eines der letzten grossen Aben-teuer, die wir noch haben. Die Länder sind alle entdeckt, auf dem Mond waren wir. Aber dieses Eintauchen – auch in die eigene Seele – löst einen Wow-Effekt aus. Da gibt es noch viel zu entdecken.
Anja Niederhauser
«Auch gläubige Menschen können in den letzten Stunden ihres Lebens hadern»
Anja Niederhauser, *1980, ist reformierte Pfarrerin, Psychologin, Trauercoach und Autorin. Sie war viele Jahre als Seel-sorgerin in Spitälern und Pflegeheimen tätig und ist Armee-Seelsorgerin. In ihrer Praxis in Zürich leitet sie unter anderem Trauergruppen und bietet Einzelcoachings für Menschen in Umbruchsituationen an.
Was bedeutet Glaube und Spiritualität für Sie?
Für mich ist der Glaube ein Teil meiner Spiritualität. Beides ist sehr individuell. Zu meiner Spiritualität zählt etwa, dass ich bete, dass ich mich da zugehörig fühle. Dass ich Gott sehr stark spüre, wenn ich die Natur in ihrer Schönheit erlebe. Und vor allem auch, wenn ich Menschen begegne. Ist das spezifisch christlich? Wahrscheinlich nicht.
Was kann die Spiritualität in herausfordernden Zeiten für uns Menschen tun?
Spiritualität definiere ich – als Seelsorgerin im Spital – so, wie es Traugott Roser, Professor für Spiritual Care, einmal gesagt hat: «Spiritualität ist genau das, und nur das, was der Patient darunter versteht.» Also etwas sehr Individuelles. Ich arbeite