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Anne wächst in einer bürgerlichen Familie in der nordfranzösischen Provinz auf. Die Idylle ist trügerisch: Ihr Bruder vergeht sich jahrelang an ihr, quält und peinigt sie seit ihrem sechsten Lebensjahr. Eltern und Dorfgemeinschaft ignorieren ihr Leid. Sobald Anne volljährig ist, reißt sie aus. Ihre Hoffnung, bei einer Verwandten Unterschlupf zu finden, stellt sich jedoch schnell als Irrtum heraus. Auch vom Staat erfährt sie keine Unterstützung. Schließlich wird sie obdachlos und ist der Brutalität der Straße schutzlos ausgesetzt. Erst als sie den Straßenmusiker Luis kennenlernt, nimmt ihr Leben endlich eine gute Wendung...
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Seitenzahl: 268
Anne wächst in einer bürgerlichen Familie in der nordfranzösischen Provinz auf. Die Idylle ist trügerisch: Ihr Bruder vergeht sich jahrelang an ihr, quält und peinigt sie seit ihrem sechsten Lebensjahr. Eltern und Dorfgemeinschaft ignorieren ihr Leid. Sobald Anne volljährig ist, reißt sie aus. Ihre Hoffnung, bei einer Verwandten Unterschlupf zu finden, stellt sich jedoch schnell als Irrtum heraus. Auch vom Staat erfährt sie keine Unterstützung. Schließlich wird sie obdachlos und ist der Brutalität der Straße schutzlos ausgesetzt. Erst als sie den Straßenmusiker Luis kennenlernt, nimmt ihr Leben endlich eine gute Wendung …
Anne Lorient ist heute 45 Jahre alt. Endlich hat sie ein Zuhause für sich und ihre Kinder. Co-Autorin Minou Azoulai ist Journalistin, Regisseurin und Produzentin von Dokumentarfilmen und Reportagen.
Anne Lorient
Minou Azoulai
Ich suchte Zuflucht im Nirgendwo
Zu Hause hielt ich es nicht mehr aus, doch auf der Straße erwartete mich die Hölle
Aus dem Französischen vonMonika Buchgeister
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Deutsche Erstausgabe
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2016 by La Martinière, Paris
Titel der Originalausgabe: »Mes années barbares«
Originalverlag: La Martinière, Paris
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Titelillustration: © filadendron/iStockphoto
Umschlaggestaltung: © Thomas Krämer
eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-5572-7
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Der Zorn schöpft die Seele aus und bringt selbst den Bodensatz ans Licht.
Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches II, Paragraph 54
Es kommt nicht darauf an, was man aus uns gemacht hat. Sondern darauf, was wir aus dem machen, was man aus uns gemacht hat.
Jean-Paul Sartre
Ich nehme mir die Schachtel Anxiolytika, die im Schlafzimmer meiner Mutter herumliegt. Mit einem großen Glas Wasser schlucke ich den kompletten Inhalt auf einmal hinunter, dann lege ich mich aufs Bett, ohne es aufzudecken.
Es ist bereits später Nachmittag, als mein Vater von der Arbeit nach Hause kommt und mich leblos auffindet. Rettungssanitäter. Krankenhaus. Der Magen wird ausgepumpt, unsanft, ja grob. »Es soll weh tun und ihr eine Lehre sein«, höre ich die Krankenschwester sagen. Ich weiß nicht, was ich auf die Fragen antworten soll, weder auf ihre noch auf die meines Vaters. Er ist der Einzige aus der Familie, der mich im Krankenhaus besucht. Ich schäme mich. Meine Mutter weigert sich, mich zu besuchen. Auch sie schämt sich – wie schon ein paar Jahre zuvor, als ich im Alter von dreizehn Jahren eine Schachtel Pillen geschluckt und damit einen ersten Hilferuf von mir gegeben hatte. Damals musste ich nicht ins Krankenhaus gebracht werden, da mein Vater mich rechtzeitig geweckt hatte und die Dosis geringer war.
Im kleinbürgerlichen Umfeld von Beauvais, wo ich aufwachse, schmälert ein Selbstmordversuch in der Familie unweigerlich ihr Ansehen. Er führt dazu, dass mit dem Finger auf meine Eltern gezeigt wird, dass böse Zungen Gerüchte in Umlauf bringen und Fragen aufgeworfen werden, auf die es keine Antwort gibt. Da schweigt man besser und kehrt diesen Verstoß gegen das anständige Benehmen unter den Teppich. Was hat es mit meiner Tat auf sich? Die Laune einer pubertierenden Jugendlichen, eine Dummheit, nichts weiter. Dabei sollten wir alle uns schämen, alle, die wissen, aus welchem Grund ich an einen solchen Punkt gelangt bin, von dem es keine Rückkehr mehr gibt, alle, die wissen, warum es so weit mit mir gekommen ist …
Meine Mutter kommt mich auch in der psychotherapeutischen Einrichtung nicht besuchen, in der ich einen Monat bleibe. Das Haus der Stiftung Rothschild in Chantilly ist ein altes, von einem großen Park umgebenes Gemäuer. Die dumme und brutale Gedankenführung der Krankenschwester, die meinen Magen ausgepumpt hat, geht mir unaufhörlich im Kopf herum. Sie weiß nichts von meinem Leben, nichts von allem, was ich ertragen muss. Sie hat keine Ahnung von meiner Verzweiflung. Gibt es überhaupt ein Alter, in dem es legitim ist zu leiden, um anschließend eine Lehre aus diesem Leiden zu ziehen?
Das Erholungsheim gleicht einem Schloss, und mein Zimmer dort ist riesengroß. Die Bettlaken sind weiß, blütenweiß, und ich höre in der Stille, wie sie rascheln – ein sanftes Geräusch, das mich beruhigt. Das Weiß der Laken blendet mich beinahe, es blendet auch die Erinnerung aus, macht sie bruchstückhaft. Und dann breitet sich mit einem Mal wieder Dunkelheit aus, ein Dunkel, das sich mit Schreien füllt – mit meinen Schreien. Sie packen mich, sie rauben mir meine eigene Stimme, meine Kraft und zwingen mich zurück in die finstere Welt meiner Kindheit. Mit Hilfe von Medikamenten hindert man mich am Denken, ebenso wie all die folgsamen und benommenen Alten um mich herum. Damit lässt sich die kleine medizinische Welt dieses Ortes rasch in Ordnung bringen.
Ich erinnere mich an weibliche Gestalten, an Geflüster in der Nähe meines Bettes, an Gläser, die man mir reicht, an Tabletten, die ich schlucken muss. Dann herrscht wieder Stille. Von Zeit zu Zeit spüre ich, wie Wasser über meinen Körper läuft, wie einfühlsame Hände mich vorsichtig waschen. Ich muss mehrere Tage am Stück geschlafen haben, bevor ich wieder aufwache, Hunger verspüre und alles esse, was mir auf einem grauen Plastiktablett vorgesetzt wird.
Eine Psychologin kommt regelmäßig zu mir ans Bett. An einem Tag begleitet sie mich, damit ich die Einrichtung in Augenschein nehmen kann. Ich besichtige den Speisesaal, einen großen Raum mit vielen Fenstern. Ich verspüre weder Lust, noch habe ich die Kraft, mich dort hinzubegeben. Mir sind die Stille und das Weiß meiner Laken lieber. Gedankenfetzen tauchen plötzlich auf, Geruchserinnerungen plagen mich, mir wird speiübel, aber ich vermag nichts in Worte zu fassen.
Zu den vielen Untersuchungen, die ich über mich ergehen lasse, zählt auch der Besuch eines Gynäkologen. Der Arzt entdeckt Spuren der Vergewaltigungen, die ich erlitten habe. Vorbei ist die Stille, panische Angst breitet sich in mir aus. Er versucht, die Situation zu verstehen, und stellt mir Fragen. Es ist undenkbar, dass ich preisgebe, wer, wie und warum. Ich bin wie gelähmt, vor allem, als die Psychologin mir zu verstehen gibt, dass auch die Polizei Antworten von mir erwartet. Die Polizei? Um welches Verbrechen geht es hier? Warum die Polizei? Was habe ich denn getan? Sie sind verrückt. Diese Alarmstimmung mündet in Angst und Schrecken. Sie bestellen meine Eltern ein, meinen Bruder und meine Schwester. Sie alle weisen den schwerwiegenden Verdacht einstimmig von sich, bezichtigen mich der Lüge, auch mein Vater … Es ist ein Verrat auf ganzer Linie, ein schrecklicher Verrat. Sie fahren zurück nach Hause. Ich weiß nicht einmal, ob ich sie verabscheue, sie lassen mich ein weiteres Mal im Stich. Ich bleibe allein in meinem riesigen Zimmer, ich habe keine Lust, es zu verlassen und mich den Blicken der anderen auszusetzen. Ich sehe nicht mehr in den Spiegel, und die Krankenschwestern, die mich kämmen, schimpfen und ziehen sogar ordentlich an meinen Haaren, um mir eine Reaktion abzunötigen. Nichts.
Aber hier fürchte ich mich wenigstens nicht vor den Schritten auf der Treppe. Hier klopft man an die Tür und betritt mein Zimmer, um mich zu pflegen, und nicht, um mich zu zerstören; ich wähne mich in Sicherheit.
Bis zu dem Tag, an dem mein Bruder mich besucht. Seine Unverfrorenheit macht mich fassungslos. Natürlich weiß hier niemand, dass er derjenige ist … Er ist der erste Mann, der mich vergewaltigt hat. Sie haben ihn in mein Zimmer gelassen. Er wirkt hochmütig und entschlossen, obwohl man ihm den Zutritt offiziell untersagt hat. Aber er muss mit seiner Beredsamkeit und Selbstsicherheit die Krankenschwester oder die Psychologin um den Finger gewickelt haben. Ich liege wehrlos in meinem Bett, ein weiteres Mal kann ich ihm nicht entkommen. Ich schwitze, alles verschwimmt vor meinen Augen, ich bin geistig und körperlich wie gelähmt.
Er setzt sich neben mich auf meine weißen Laken, er sieht mich schweigend an und schiebt seine Hand in Richtung meiner Schenkel. Als er mich berührt, meine ich zu verbrennen … Die schwelende Lust, der gelassene Sadismus verleihen seinen Augen einen bösartigen Glanz, und ich, ich zittere. Er droht mir, falls ich nicht schweige, hier, jetzt und auch später, im Gespräch mit den Ärzten und überall. Er erzählt mir von den Auseinandersetzungen mit unseren Eltern, ich bin an allem schuld. Natürlich bin ich das, denn niemand wagt es, ihn zu beschuldigen … Er sagt mir, dass mein »hübscher Körper« ihm gehört, dass alles wieder von vorn anfängt, wenn ich nach Hause zurückkehre.
Mit einem sadistischen Lächeln auf den Lippen hebt er das Laken, dann mein Nachthemd, er betastet meine Brüste, presst sie zusammen und schärft mir ein, dass sie ihm gehören, dass niemand hier in der Einrichtung das Recht hat, sie zu berühren. Dann steht er abrupt auf und ruft nach der Krankenschwester, die er darauf aufmerksam macht, dass ich leichenblass bin: »Ihr fehlen mit Sicherheit noch Vitamine.« Damit verlässt er das Zimmer.
Ich beiße die Zähne zusammen, balle die Fäuste, ich umklammere das Kopfkissen, um nicht loszuschreien. Aber das alles reicht nicht: Ich schwinge mich vor und zurück und schlage dabei immer wieder meinen Kopf gegen die Wand; ich muss mir Schmerzen zufügen, um meine Angst zu verjagen. Die Erschütterungen hallen in meinem Kopf nach, machen mich benommen, aber ich donnere meinen Kopf weiterhin gegen die Wand, immer wieder. Das Blut läuft bereits hinter meinen Ohren herunter, ich höre die Krankenpfleger nicht, die mich davon abzuhalten versuchen. Ein letzter Aufprall, und ich breche zusammen wie eine leblose Masse. Als ich aufwache, bin ich mit grünen Baumwollbändern an den Gittern des Bettes fixiert. Noch heute trage ich Spuren dieser Autoaggression an meinem Hinterkopf.
Die Therapeutin intensiviert ihre Bemühungen, mich zum Sprechen zu bringen. Vergeblich. Wie soll ich ihr vertrauen? Sie hat sich doch bereits von meinem Bruder an der Nase herumführen lassen! Außerdem hätten all die Worte, die ich bisher zurückgehalten habe, die Wirkung von Bomben, die mit Verzögerung zünden. Ich spüre, dass mein Verstand implodieren und es irreversible Kollateralschäden nach sich zöge, sobald ich auch nur das Geringste preisgebe.
An einem Tag konnte ich nach dem Mittagessen an der Selbstbedienungstheke ein Messer mitgehen lassen. In meinem Schlupfwinkel ziehe ich es hervor und ritze mir in der kleinen Dusche die Handgelenke auf. Die Wunden verstecke ich unter den langen Ärmeln meiner Bluse. Meine Zimmernachbarin macht die Ärzte auf mein seltsames Verhalten aufmerksam. Sie nähen die Wunden mit ein paar Stichen und verständigen meine Familie.
Mein Vater kommt, allein. Er bringt mir Kleidung zum Wechseln, ein paar Bücher aus seiner Buchhandlung, Hefte, Kugelschreiber und Stifte, damit ich schreiben und zeichnen kann. Er ist ratlos und traurig und vergießt viele Tränen mit mir. Ja, er weiß, dass mein Bruder hier war, und ahnt, welche Drohungen er ausgesprochen hat. Sein Verhalten macht deutlich, dass er alles weiß. Er hat uns sogar einmal in meinem Kinderzimmer überrascht – und ist wieder gegangen. Bloß nichts sagen, auch wenn es das Herz zerreißt. Die Realität ist ihm ebenso unerträglich wie seine eigene Feigheit. Noch dazu hat auch er Angst – vor seinem Sohn, vor der Niedertracht der ganzen Situation; und Angst davor, seine Familie zerbrechen zu sehen, den Blicken der Leute in unserem Dorf ausgesetzt zu sein, in dem sein gesellschaftliches Ansehen auf dem Spiel stünde. Er will seinen guten Ruf nicht beflecken … Er fühlt sich ohnmächtig, unfähig, etwas zu unternehmen, das mich schützen würde. Es ist vermutlich schwer zu begreifen, aber ich nehme es ihm nicht übel, mich für seinen »guten Ruf« geopfert zu haben. Ich nehme ihm nicht übel, dass er alles geleugnet hat. Letztlich hat er mir doch immer sein Mitgefühl und seine Zärtlichkeit geschenkt. Das ist besser als nichts.
Mehrere Tage streife ich allein durch den Park in Chantilly, ich lege mich auf den Boden, greife mit beiden Händen in die Erde und reibe mir damit über Arme und Beine. Ich verstecke mich hinter den hohen Pappeln, deren Wipfel den Himmel zu berühren scheinen; sie stehen sicher in Kontakt mit dem Paradies. Und diesen Kontakt suche ich auch. Ich will einen Weg der Unschuld finden, fernab von meinem verdorbenen Leben. Ich betrachte die Baumkronen, die Wolken und beginne zu träumen … Man könnte mich für eine Verrückte halten, und im Grunde trifft das sogar zu, aber niemand kümmert sich um mich, und das ist mir gerade recht. Die Machenschaften meines Bruders haben mich aus der Welt hinauskatapultiert, ich habe keinen Platz mehr in ihr, nirgendwo – weder in diesem Erholungsheim noch bei mir zu Hause und auch nicht in meinem eigenen Körper.
Hier in diesem schönen, blumenreichen Park, während ich die Natur um mich herum zeichne und dank der Farben meiner Stifte den Gefallen am Leben neu entdecke, fasse ich die Entscheidung, meine Familie zu verlassen. Ohne davon zu wissen, schickt mich das Pflegepersonal zurück in die Höhle des Löwen. Da ich nichts preisgeben will, da alle anderen schweigen und da sich mein Zustand verbessert, kann man mich nicht mehr länger hierbehalten. Ich muss nach Hause zurück, zurück in meine Folterkammer. Ich muss meine Einsamkeit aushalten und die anderen Familienmitglieder ertragen. Dabei will ich nichts mehr mit ihnen zu tun haben, nicht mit meiner Mutter, meinem Bruder, meinen beiden Schwestern, meinem Vater … Ich werde bis zu meiner Volljährigkeit zu Hause bleiben, aber keinen Tag länger. Zwei Jahre dauert es noch, bis ich achtzehn bin, zwei Jahre lang muss ich meine Angst im Zaum halten.
Bis dahin gehe ich wieder in die Schule. Zumindest dort kommt er nicht an mich heran, und ich muss auch nicht meine Mutter irgendwo auflesen. Die Traurigkeit bleibt mein ständiger Begleiter, jeden zu Ende gebrachten Tag streiche ich in einem Kalender ab. Ich lese schlecht, ich schreibe schlecht, ich verliere all meine kognitiven und intellektuellen Orientierungspunkte. Zu Hause herrscht ein schuldhaftes Schweigen. Meine Mutter stellt mir keine einzige Frage. Mein Bruder nähert sich mir nicht, und er spricht auch nicht mit mir, sondern beschränkt sich darauf, obszöne Worte zu murmeln oder lautlos mit seinen Lippen zu formen, während er mich ansieht, ohne mir nahe zu kommen. Verschlagen wie er ist, hat er vermutlich meine Entschlossenheit wahrgenommen und spürt, dass seine Macht bröckelt. Trotzdem weiß ich, dass er auch weiterhin sein Unwesen treibt, denn jetzt ist meine kleine Schwester Ziel seiner Begierde. Sie ist seine neue Beute. Vergeblich versuche ich, ihn von ihr abzuhalten, will ihn dazu bringen, mein Zimmer aufzusuchen, um das Schreckliche über mich ergehen zu lassen. Schließlich habe ich nach allem, was er mir angetan hat, nichts mehr zu verlieren … Da mir das nicht gelingt, halte ich mir abends die Ohren zu und verkrieche mich unter das Kissen, um die Schreie der Kleinen nicht zu hören.
Immer häufiger suche ich die Buchhandlung meines Vaters auf. Auch besuche ich die Mädchen in der Nachbarschaft, sie und ihre Eltern nehmen mich stets herzlich auf. Meine Unbefangenheit ist jedoch verflogen, ich bin teilnahmslos, beneide sie nicht einmal um ihre friedlichen Jugendzimmer. Um ehrlich zu sein, erinnere ich mich heute nicht mehr daran, wie es damals in meinem eigenen Zimmer eigentlich aussah, als hätten die schrecklichen Ereignisse in diesem Raum alles andere für immer mit sich fortgerissen.
Manchmal stehle ich mich nachts davon und suche bei einem der Mädchen aus der Nachbarschaft Zuflucht. Ihr Vater, ein Tierarzt, nimmt mich mitfühlend und freundlich auf. Er bietet mir eine heiße Schokolade oder einen Tee an und bleibt bei mir, bis ich mich wieder beruhigt habe. Eines Abends lässt mir dieser Mann, zu dem ich noch heute Kontakt habe, ein Bad ein, damit ich mich entspannen und aufwärmen kann. Entsetzt bemerkt er Spuren von Schlägen auf meinem Körper und auch am Unterleib. Ich gestehe ihm, dass ich auch Wunden im Bereich der Vagina habe. Unter Tränen vertraute ich mich ihm an, und er lauschte bestürzt meinen Worten. In den folgenden Tagen unternahm er mehrere Versuche, meinen Vater von diesen Anzeichen einer Misshandlung in Kenntnis zu setzen. Dieser hörte zu, entschuldigte sich, gestand seine Angst und sein Entsetzen – und überzeugte den Nachbar am Ende tatsächlich zu schweigen. Das Gesetz des Schweigens ist oberstes Gebot für ihn, für diesen Nachbarn, der mir auf seine Weise Trost spendet und dennoch den in unseren Zimmern begangenen Verbrechen keinen Einhalt gebietet. Die Omertà erstickt alle Bestrebungen, etwas zu unternehmen. Es geht darum, den Anschein zu wahren, es sei alles in Ordnung. Nur das zählt hier in diesem Dorf. Was zählen dagegen schon junge Mädchen, die mitten in ihrer Familie massakriert werden? Was zählen ihre Worte, ihr Leiden und ihre Zukunft? Man mischt sich in die Geschichten anderer Leute nicht ein …
Ist es heute besser? Wenn ich an die Zeugnisse von Frauen denke, die zu Opfern geworden sind, lange nicht darüber sprechen können und erst viele Jahre später ihre Vergewaltigungen anzeigen, vor allem, wenn ein Familienmitglied der Täter war, so habe ich nicht den Eindruck. Mich wundert nicht, dass Frankreich nicht in der Lage ist, genaue Angaben über die Fälle von Inzest, Kindesmisshandlung und Pädophilie zu liefern. Den letzten Statistiken aus dem Jahre 2009 zufolge sollen zwei Millionen Menschen Opfer eines Inzests geworden sein. Diese Schandtaten dringen kaum nach außen, sie bleiben in der Familie und werden nicht aktenkundig, lassen sich mithin nur schwer beziffern. Berichte über Fälle wie die Affäre Outreau, die Serienmörder Dutroux oder Fourniret bestätigen diese Annahme ebenso wie zahllose Pressemeldungen von Übergriffen, die in öffentlichen Verkehrsmitteln verübt wurden, ohne dass jemand dem Opfer zu Hilfe gekommen wäre.
Trotz allem habe ich jedoch auch Angst fortzugehen, diesen unheilvollen familiären Rahmen zu verlassen; letztlich bleibt mir aber keine andere Wahl, es geht ums Überleben.
Die Rue de Vignes ist eine kleine Straße in Auneuil, meinem Dorf, das ein paar tausend Einwohner zählt. Schaut nur her! Am Sonntag ist alles ganz wunderbar. Man tritt im Sonntagsstaat aus der Haustür, setzt eine feierliche Miene auf und betet eifrig in der alten Kirche – so auch meine Mutter, die ein strahlendes Lächeln zur Schau trägt, marineblau und weiß gekleidet ist wie eine hübsche Schlossherrin, die sich von ihrem Landsitz hierherbemüht hat. So auch mein Bruder, der lange ein mustergültiger Chorknabe und der beste Freund des Pfarrers war und den er heute nicht nur zu Hause zum Aperitif einlädt … Die menschliche Komödie hat wunderbare Zukunftsaussichten, die Dekadenz entfaltet sich in aller Pracht.
Aber hier bin ich geboren, hier habe ich versucht aufzuwachsen. Ich erinnere mich an schöne Zeiten, die ich hier verbracht habe, an Wasserschlachten, die ich mir mit meinem Vater lieferte, als wir gemeinsam sein Auto wuschen, einen alten metallic blauen Renault 12. Ich erinnere mich an unsere Spaziergänge im Wald, an unsere lebhaften Unterhaltungen, an Tage, an denen er mich an die Hand nahm wie ein echter Papa.
Hier hat alles begonnen, hier ist mein Kinderleben zerbrochen.
In unserem kleinen Häuschen mit seinen zwei Etagen und dem großen Garten darum herum fehlt es uns an nichts. Aber wie steht es mit Zärtlichkeit in der Familie? Sie existiert nicht, oder fast nicht, und ich habe wohl in jedem Fall kein Anrecht auf sie … Unser Leben in der Provinz ist bequem, meine Eltern sind durch ihre Arbeit sehr in Beschlag genommen. Meine große Schwester führt mehr und mehr ihr eigenes Leben. Sie zieht sich aus unserer Familie zurück. Sollte sie etwas gesehen oder gehört haben? Hat mein Bruder sie möglicherweise sogar bedroht? Das werde ich nie erfahren. Ich spiele viel mit meiner jüngeren Schwester, ich zeichne in meinem Zimmer und vergnüge mich mit meinem großen, lieben Hund. Meine besten Freundinnen wohnen in den Häusern gegenüber. Ihre Nähe bedeutet mir sehr viel. Zu dritt klettern wir oft auf den Kirschbaum, um uns zu verstecken, unsere Geheimnisse auszutauschen und die anderen zu beobachten, die unten vorübergehen.
Mein Bruder ist zwölf Jahre älter als ich und hängt immer mit seinen Freunden zusammen. Er ist groß und sieht gut aus, dieser Bruder. Ein hervorragender Schüler ist er außerdem. Mit seinen glänzenden Leistungen schafft er es an eine Eliteschule und hat auch dort Erfolg. Er ist der ganze Stolz meiner Eltern, und auch unsere Freunde und alle angesehenen Persönlichkeiten um uns herum bewundern ihn. Alle mögen diesen jungen Mann, der so redegewandt und gebildet ist. Mit seiner hochgewachsenen und schlanken Gestalt beeindruckt er sein Umfeld. Niemand wird ihn jemals in Verdacht haben. Seine dunkle Seite, seine Niedertracht und seine Perversität bleiben verborgen. Er gibt sich stets hilfsbereit und führt die Leute auf diese Weise in die Irre. Er fährt mich mit dem Auto zur Schule, als er den Führerschein hat, um mir den Weg zu Fuß querfeldein zu ersparen. Ich schätze diese Augenblicke, in denen er den großen, fürsorglichen Bruder spielt. Dann können wir sogar über ganz alltägliche Dinge miteinander sprechen.
Ich bin sechs Jahre alt, meine braune Locken sind zu kleinen Zöpfchen geflochten, die von bunten Gummibändern zusammengehalten werden. Auf den Fotos lächele ich, aber meine Arglosigkeit hat bereits erste Kratzer abbekommen. Ich leide unter der Krankheit meiner Mutter, die sehr labil ist. Sie stammt aus einer reichen Familie von Gutsbesitzern, die abgeschieden auf ihren Gütern im Loiretal lebt. Meine Mutter ist depressiv, gefühlskalt, distanziert und alkoholsüchtig. Seit ich denken kann, war ich für sie eine »Versagerin« im Vergleich zu meinem Bruder, diesem »wunderbaren Geschöpf«. Wenn sie nicht im Geschäft meines Vaters die Buchhaltung erledigt, kümmert sie sich um uns. Klar, sie lässt sich nichts zu Schulden kommen, arbeitet viel, pflegt ihre Bekanntschaften, begleitet meine älteren Geschwister zu ihren Terminen, kocht uns einen Kirschauflauf – die einzige Süßspeise, die sie zustande bringt –, um uns eine Leckerei zu kredenzen.
Abgesehen davon trinkt sie, um in der Gesellschaft zu glänzen, um die wichtigen Personen und die Priester zu empfangen, die zum Abendessen in unser Haus kommen. Sie lachen und essen gemeinsam, trinken mehr und mehr und setzen auch uns »kleine Entchen« vor, die in Whisky gegart sind. Sie ermuntern uns, Flaschen auszutrinken, worauf ich mich vorm Einschlafen erbrechen muss. Abgesehen von diesen Festessen bleibt meine Mutter sehr häufig in ihrem Zimmer und ist nicht in der Lage aufzustehen, so sehr hat sie dem Rosé zugesprochen. Ich weiß, dass sie Mentholbonbons in ihrem Schrank versteckt, um ihre Alkoholfahne zu übertünchen. Lange werde ich mich verpflichtet fühlen, ihren Weinkonsum im Auge zu haben und zu überprüfen, in welchem Tempo sich die vier oder fünf Liter fassenden Rosékanister leeren. Manchmal kippe ich einiges in den Ausguss der Küche. Ich verabscheue diese rosafarbene, rote oder helle Flüssigkeit, die je nach Tageslaune gewählt wird und sie daran hindert, sich mir liebevoll zuzuwenden. Wenn sie mich ertappt, schreit sie auf mich ein, schwankt und stürzt. Ist der Schrank vollkommen leer, verlässt sie das Haus, torkelt die Straße entlang, um sich Nachschub an diesem widerlichen Gesöff zu besorgen. Nichts kann sie aufhalten, nicht einmal die Gefahr, von einem Auto erfasst zu werden. – Hauptsache, sie wird fündig.
Sie redet fast nie mit mir, ich existiere im Grunde nicht für sie, obwohl ich diejenige bin, die sie versorgt, wenn sie sich verletzt oder sturzbetrunken auf der Treppe zusammenbricht. Ich bin diejenige, die sie ganz allein in ihr Schlafzimmer schleppt, wütend und frustriert zugleich, denn es gibt keinerlei Verbundenheit zwischen uns, keine Dankbarkeit und keine Zärtlichkeit. Aber vermutlich aus moralischen Gründen – schließlich ist sie meine Mutter – kann ich nicht anders, als sie zu lieben und zu ertragen, und darf sie einfach nicht verabscheuen.
Im dreizehn Kilometer entfernten Auneuil führt mein Vater seine Buchhandlung samt Schreibwarenabteilung, die so gut nach Papier riecht, nach Zeitungen und Druckerschwärze, nach neuen Büchern, deren Seiten noch zusammenkleben, nach Schulheften mit großen und kleinen Karos, nach Radiergummis und Stiften. Manchmal stellt er mich an, damit ich ihm zur Hand gehe. Ich schlüpfe dann in die Rolle der Verkäuferin oder auch der Unternehmerin, wenn wir nach Paris fahren, um dort Waren einzukaufen. Oft begnüge ich mich damit, einfach nur Leserin zu sein … Zehn Jahre lang bin ich in den Büchern zu Hause, ich entdecke Proust und Hugo, ich verschlinge die Persischen Briefe von Montesquieu und Einführungen in die Psychologie; ich suche in den Werken, derer ich habhaft werden kann, einen Weg, um der Hölle zu entfliehen, in die ich jeden Tag ein wenig mehr hineingerate. In manche Bücher schreibe ich meinen Vornamen hinein oder vermerke am Rand ein »Ja« oder ein »Nein«. Einige Kunden bringen diese Bücher verärgert zurück, aber mein Vater ist belustigt darüber, er radiert meine kleinen Anmerkungen weg und gibt ihnen die Bücher zurück. Gleichzeitig richtet dieser beherrschte, achtsame und meist lächelnde Mann seinen Alltag raffiniert so ein, dass er frühmorgens das Haus verlässt und erst spät zurückkehrt, um auf diese Weise der bedrückenden Stimmung zu entfliehen, die meine Mutter zu Hause verbreitet. Wenn sie streiten, verkrieche ich mich in mein Zimmer und höre, wie sie sich anbrüllen, bevor die Türen zugeschlagen werden. Dann stürzt mein Vater draußen zu seinem Auto und fährt erneut in seine Buchhandlung, wo er seine Ruhe hat.
An dem Abend, um den es jetzt gehen wird, ist er allerdings bei einer Versammlung im Rathaus.
Mein Bruder bringt Freunde mit nach Hause. Sie haben die Hände voller Bierdosen und Whiskyflaschen. Sie reißen zotige Witze über Frauen, lümmeln im Wohnzimmer herum und lachen in einer Tour. Meine Mutter liegt betrunken in ihrem Bett. Ich verstecke mich im Treppenhaus. Das Gegröle der Jungen ängstigt mich, das Verhalten meines Bruders, den ich für einen anständigen Jungen gehalten habe, ekelt mich an. Zwei Stunden später torkeln sie von dannen. Beruhigt gehe ich in mein Zimmer hoch und schaue nicht einmal mehr nach meiner Mutter.
Mein Bruder platzt mit einem Buch herein und macht es sich auf meinem Bett gemütlich.
»Komm her, leg dich neben mich, und fang an zu lesen.«
Seine Worte sind ein Befehl. Ich stelle keine Frage, denn sein gebieterischer Ton schüchtert mich ein. Ich gehorche und öffne das Buch, das er mir reicht. Es handelt sich weder um Alice im Wunderland noch um Schnettwichen und die sieben Zwerge. Ich kann noch nicht einmal richtig lesen. Ich blicke auf eine Abfolge seltsamer, gewalttätiger oder auch obszöner Szenen. Ich begreife überhaupt nichts, aber er frohlockt geradezu. Er knöpft seine Hose auf und zieht seinen Penis heraus. Das habe ich noch nie zuvor gesehen, ich bin erst sechs Jahre alt. Schreiend schlage ich das Buch zu, er presst mir seine Hand auf den Mund und verlangt, dass ich stillhalte, um »Mama« nicht aufzuwecken. Mit gedämpfter Stimme sagt er, dass das Ganze ein Spiel ist, dass ich keine Angst zu haben brauche, dass es normal ist, dass ein kleines Mädchen seinem großen Bruder gehorcht. Er nimmt meine Hand, legt sie auf seinen Penis, greift erneut nach dem Buch und liest mit lauter Stimme daraus vor. Nun vollführt er Bewegungen mit meiner Hand, ich versuche, mich ihm zu entwinden, aber es gelingt mir nicht. Dann lässt er sich stöhnend nach hinten fallen. Seine Gesichtszüge sind zu einem schaurigen Grinsen verzerrt.
Ich nutze den Augenblick, um aus meinem Zimmer hinauszulaufen und rufe hilfesuchend nach meiner Mutter. Aber sie schimpft nur mit mir. Sie will, dass ich sie in Ruhe lasse, sie begreift überhaupt nicht, was ich ihr erzähle. Ich renne barfuß nach draußen auf die Straße, der Nachbar von gegenüber sieht mich und fragt, ob alles in Ordnung sei. Ich antworte nicht und warte einfach nur auf meinen Vater – er muss mich retten. Er kommt, parkt das Auto, und schon eilt er auf mich zu. Ich weine, ich wage nicht, ihm die Wahrheit zu sagen. Er denkt, dass meine Mutter wieder einmal Unfug gemacht hat, dass sie vollständig betrunken ist. Ich widerspreche ihm nicht, er nimmt mich in den Arm, und wir gehen ins Haus zurück. Mein Bruder sieht fern, schweigt unerschütterlich und würdigt uns keines Blickes, als wir hereinkommen. Ich habe Angst, wieder in mein Zimmer hinaufzugehen. Ich weiß, dass heute Abend etwas Schwerwiegendes vorgefallen ist. Ich kauere mich still auf die Treppe und weine bitterlich, bis mein Bruder endlich schlafen gegangen ist.
Von diesem Augenblick an ist mein Monster-Bruder regelmäßig in meinem Kinderzimmer aufgetaucht, um vor meinen Augen zu masturbieren, während er starr auf seine Pornohefte sieht. Und ich, ich bin nicht mehr ich selbst. Mein erzwungenes Schweigen führt dazu, dass ich mich nun jeden Tag in der Toilette übergebe, als wolle ich alle Widerlichkeiten auf diese Weise wieder loswerden. Für die Schule tue ich nichts mehr – meine Hausaufgaben erledige ich ebenso wenig, wie ich an den angebotenen Freizeitaktivitäten teilnehme. Ich weiß nicht einmal mehr, wie man mit einer Puppe spielt. Ich bin traurig, müde, verängstigt. Ich bin kein kleines Mädchen mehr wie die anderen. Ich begreife das Ausmaß meines Leids nicht, aber mein Kummer ist grenzenlos. Ich ahne, dass das, was mir widerfährt, nicht normal ist, dass mein Bruder ein Dreckskerl ist. Und was noch schlimmer ist, dass niemand wissen will, dass er in mein Zimmer kommt.
In diesem Jahr findet meine frühe Kindheit ein jähes Ende: Die Bilder in den Pornoheften und der Anblick des Geschlechtsteils meines Bruders rauben mir diese Phase meines Lebens unwiederbringlich.
Und es nimmt immer schlimmere Ausmaße an! Eines Abends taucht er betrunken in meinem Zimmer auf, presst mir die Hand auf den Mund und vergewaltigt mich. Sein Gewicht zermalmt meinen kindlichen Körper beinahe, seine behaarte Brust stößt mich ab, sein Atem verströmt einen Geruch, den ich nie vergessen werde. Wie ein Dolchstoß ist sein Geschlecht in mich eingedrungen. Ich bin nicht mehr ich selbst, er hat mir meine Kindheit, meine Jugend, meine Unberührtheit, ja, mein Leben geraubt. Mit der rohen Gewalt von ein paar Stößen seiner Hüften hat er all das zerstört. In seiner Triebhaftigkeit hat er sich genommen, was er wollte.
Auch seine Kumpel haben die günstige Gelegenheit genutzt, denn er bot ihnen seine kleine Schwester großzügig an. Sie ließen sich volllaufen und kamen dann in mein Zimmer, um meinen Körper zu benutzen. Und er gestand mir mit lüsternem Blick und sadistischem Lächeln, dass seine Kumpel ihm im Gegenzug einen Kinobesuch oder Leckereien spendierten. Bruder, Pädophiler und Zuhälter. Ich will ihm am liebsten ins Gesicht spucken und ihn schlagen. Aber ich schweige. Ich kann nichts ausrichten, meine Nächte sind jetzt nur noch eine Abfolge von vaginalen oder analen Vergewaltigungen, von erzwungenem Stillhalten meinerseits und lüsternem Stöhnen seinerseits. Die Tage werden mir in meiner Sprachlosigkeit endlos lang. Überall lauert die Angst und verursacht mir Übelkeit, mein Körper schmerzt durch die Gewalt, die ihm angetan wird, und in meinem Kopf herrscht ein gedankliches und emotionales Chaos, aus dem ich in meiner Einsamkeit keinen Ausweg finde.
Ich bin vierzehn Jahre alt. Mein Körper verändert sich, wird fülliger. In meinem Bauch wächst ein Kind heran. Ich erkenne die Symptome, denn wir haben in der Schule darüber gesprochen. Ich gerate in Panik, kann mit niemandem darüber sprechen. Ich will dieses aus Monstrositäten hervorgegangene Monster nicht, weiß aber nicht, was ich unternehmen soll. Ich wende mich an den einzigen Menschen, der mir zuhört, den Tierarzt in unserer Nachbarschaft. Er ist empört und sucht nach einem Weg, um mir zu helfen. Aber zum ersten Mal lässt auch er mich nun mit meinem Problem allein. Er weiß keinen Rat, die Situation überfordert ihn. So klettere ich eines Abends auf meinen Kirschbaum, springe aus zwei Metern Höhe in die Tiefe und lasse mich direkt auf meinen Bauch fallen. Instinktiv versuche ich, mich beim Fallen mit den Händen abzustützen. Die Handgelenke brechen. Ich habe fürchterliche Schmerzen. Meinen Bauch vergesse ich darüber. Ich blute zwischen den Beinen. Die Abtreibung war erfolgreich. In den folgenden Tagen verliere ich immer wieder ganze Blutklumpen. Meine Handgelenke sind noch heute sehr instabil.