Ich war Hitlerjunge Salomon - Sally Perel - E-Book

Ich war Hitlerjunge Salomon E-Book

Sally Perel

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Beschreibung

»Das geht unter die Haut!« (Lea, 19)

Sally Perel ist sechzehn, als er 1941 von den Nazis gefangengenommen wird. Er ist Jude und schon seit Jahren auf der Flucht. Er weiß, dass er nur eine Chance hat: seine Papiere entsorgen und eine andere Identität annehmen. Der Mut der Verzweiflung macht aus ihm Jupp Perjell, das jüngste Mitglied der deutschen Wehrmacht. Ein Jahr lang lebt er mit den Soldaten an der Ostfront und unterstützt sie als Dolmetscher. Danach schickt man ihn nach Braunschweig, wo er bis Kriegsende inkognito in einem Internat der Hitlerjugend bleibt...
Sally Perels Autobiografie hat bis heute nichts von ihrer Eindringlichkeit verloren – ein bemerkenswertes und ergreifendes Dokument wider das Vergessen.

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Seitenzahl: 308

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DAS BUCH

Vier Jahrzehnte brauchte Sally Perel, ehe er nach Ende des Zweiten Weltkriegs das niederschrieb, was ihm als Jugendlichem widerfuhr: Um als Jude zu überleben, musste er die Uniform der Nazis tragen und als Hitlerjunge Jupp Perjell inmitten der Feinde untertauchen.

Auf eindringliche Weise berichtet er von den aberwitzigen Erlebnissen und der inneren Zerrissenheit, die dieses Doppelleben mit sich brachte. Bis heute haben seine Erinnerungen nichts von ihrer Aktualität verloren und vermitteln einen authentischen Eindruck von einem Augenblick der Geschichte, als die Welt kopfstand und die Menschlichkeit verloren zu gehen drohte. Damit sich dies niemals wiederholen möge, begreift Sally Perel seine Autobiografie auch als Vermächtnis.

DER AUTOR

Sally Perel wird am 21. April 1925 im niedersächsischen Peine geboren. Seine Eltern sind fromme Juden, die 1935 zunächst nach Polen flüchten. Sally flieht weiter in die Sowjetunion bis nach Minsk, wo er 1941 deutschen Truppen in die Hände fällt. Er gibt sich als Volksdeutscher aus und wird nach einem Jahr bei der deutschen Wehrmacht an der Ostfront in eine HJ-Schule nach Braunschweig gebracht, wo er bis zum Kriegsende bleibt. 1948 wandert Perel nach Israel aus und baut sich dort eine neue Existenz auf. Mehr als vier Jahrzehnte nach seiner Rettung bei Kriegsende schildert er seine Erlebnisse als »jüdischer Hitlerjunge« in seiner Autobiographie Ich war Hitlerjunge Salomon. Bis ins hohe Alter reiste Sally Perel regelmäßig zu Veranstaltungen nach Deutschland. Es war ihm ein besonderes Anliegen, an Schulen Vorträge über sein Leben und seine Erfahrungen zu halten, und er hat damit Generationen von Schülerinnen und Schülern beeindruckt. 2022 wurde ihm zu Ehren die Peiner Grundschule, die er bis 1935 besuchte, umbenannt in VGS Wallschule Sally Perel. Anfang 2023 ist Sally Perel im Alter von 97 Jahren gestorben.

Sally Perel

Ich war Hitlerjunge Salomon

Mit einem Vorwort von Prof. Dr. Norbert Lammert

Aus dem Französischenvon Brigitta Restorff

HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

Europa Europa bei Editions Ramsay

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Bildnachweis: Wie bei den Bildern vermerkt, alle Abbildungen stammen aus dem Archiv des Autors.

Erweiterte Neuausgabe

Copyright © Vorwort 2021 by Prof. Dr. Norbert Lammert

Copyright © 1992 by Sally Perel, Israel / Autorenagentur lansk mehr, Berlin

Copyright © 2021 by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlagsgestaltung: Nele Schütz Design, München

Umschlagsfoto: © Picture Alliance / dpa / Marijan Murat

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-28023-9V003

www.heyne.de

Dem Andenken meiner Mutter Rebekka, meines Vaters Israel und meiner Schwester Bertha, die dem Holocaust zum Opfer fielen, und dem Andenken meines Bruders Isaak gewidmet, der starb, während ich diesen Bericht verfasste.

»Man muss das Gestern kennen ...«  Über Bedeutung und Auftrag dieses Buches

Es gibt viele interessante Bücher, dieses gehört gewiss dazu. Aber nicht alles, was interessant ist, ist auch wichtig – und das Wichtige ist nicht immer interessant. Salomon »Sally« Perels »Ich war Hitlerjunge Salomon« ist spannend und anschaulich geschrieben, und die erzählte Lebensgeschichte ist außergewöhnlich. Sein Schicksal gehört »zu den verrücktesten Geschichten, die das 20. Jahrhundert zu erzählen hat«.1 Aber es sind vor allem die besondere Relevanz des Themas und die eindrücklich geschilderten Erfahrungen, dargelegt mit einer schonungslosen, entwaffnenden Offenheit, die dieses Buch beinahe zu einer Pflichtlektüre für Leserinnen und Leser jeden Alters machen. Es ist ein Glücksfall, dass sich Sally Perel 1988, nach rund vierzig Jahren, dazu durchgerungen hat, seine Erinnerungen zu Papier zu bringen, nachdem er sie über Jahrzehnte nur mit einigen Vertrauten geteilt hat. Einfach war das bestimmt nicht, aber es war wichtig – für den Autor, aber noch mehr für uns, da wir wie alle künftigen Generationen die damaligen unglaublichen Verhältnisse, wenn überhaupt, nur vom Hörensagen kennen.

Sally Perels Geschichte ist auch deshalb wichtig, weil sie an das dunkelste Kapitel unserer deutschen Geschichte erinnert. So wie die Identität und die Wahrnehmung eines Menschen wesentlich durch dessen Herkunft bestimmt werden, gilt das in ähnlicher Weise für Völker und Nationen. Auch staatliches Handeln und dessen Wahrnehmung vollzieht sich in historischen Kontexten: Die Vergangenheit vergeht nicht; sie kann auch nicht überwunden werden. Sie ist Voraussetzung der Gegenwart, und der Umgang mit ihr prägt die Zukunft jeder Gesellschaft. Der erste Bundeskanzler Konrad Adenauer hat mit Blick auf dieses komplexe Spannungsverhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einer Rede im Jahr 1952 daran erinnert: »Man muss das Gestern kennen, man muss auch an das Gestern denken, wenn man das Morgen wirklich gut und dauerhaft gestalten will.« Mit anderen Worten: Die Vergangenheit ist eine Realität. Sie lässt sich nicht aus der Welt schaffen, und sie wirkt fort, auch wenn man die Augen schließt, um zu vergessen.

Deshalb ist die Bewahrung der Erinnerung, das nationale Gedächtnis, eine zentrale gemeinsame Aufgabe. Perels Buch, in dem er seine persönliche Geschichte mit uns teilt, ist ein wichtiger Mosaikstein, um die Erinnerung an die schrecklichste Phase der deutschen Geschichte zu bewahren – an eine von Menschen organisierte Hölle der Entrechtung und Verfolgung anderer Menschen, die für minderwertig erklärt wurden; an den industriell organisierten Massenmord, die größte Katastrophe der Menschheitsgeschichte, die in Europa stattgefunden hat und von Deutschen entfacht und vollzogen wurde.

Perel wurde 1925 im niedersächsischen Peine bei Braunschweig geboren. 1935 wanderte seine Familie nach Łódź in Polen aus, um dem nationalsozialistischen Regime zu entkommen. Mit dem Einmarsch der Wehrmacht in Polen und dem Beginn des Zweiten Weltkrieges schickten die Eltern den jungen Perel weiter gen Osten – ein Abschied für immer. 1941 wird er nahe Minsk von gegen die Sowjetunion vorrückenden Soldaten der Wehrmacht aufgegriffen. In der »entscheidenden Minute meines Lebens« traf der junge Perel im Alter von gerade einmal 16 Jahren eine folgenreiche Entscheidung, als er von einem deutschen Soldaten gefragt wurde, ob er Jude sei. Zum Abschied hatte ihm seine Mutter mit auf den Weg gegeben: »Du sollst leben!« Geistesgegenwärtig antwortete er dem deutschen Soldaten: »Ich bin kein Jude, ich bin Volksdeutscher.« Aus Salomon Perel wurde Josef »Jupp« Perjell. Das rettete ihm das Leben und wurde zur Voraussetzung der außergewöhnlichen Geschichte, von der sein Buch erzählt. Sein Überlebenswille sollte in den nächsten Jahren wieder und wieder auf die Probe gestellt werden. Immer den Auftrag der Mutter vor Augen war er gezwungen, seine Identität nicht nur zu verleugnen, sondern sich auch noch als »Nationalsozialist« auszugeben, zunächst als Dolmetscher einer deutschen Einheit an der Ostfront, dann auf einer HJ-Schule, wo die künftigen Führungskräfte für die nationalsozialistischen Parteiorganisationen ausgebildet wurden. Dort – mitten in der Höhle des Löwen – musste Perel sich der nationalsozialistischen Ideologie öffnen, um nicht aufzufallen, um zu überleben; als »Einzelkämpfer in einem Meer von Hakenkreuzen« – man kann die erdrückende Hilflosigkeit beinahe fühlen. Aber der »starke Überlebenswille überlagerte alles und machte den Rest zweitrangig«.

Was besonders verstört und berührt an Sally Perels Geschichte, ist die schleichende Wirkkraft des ideologischen Giftes des Nationalsozialismus, die den jungen Perel in einen zerreißenden inneren Zwiespalt wirft. Auf dem HJ-Internat muss er die ideologische Indoktrination der Nazis über sich ergehen lassen – das Ganze unter der existenziellen Gefahr, auf keinen Fall aufzufliegen. Ständig ist er hin- und hergerissen zwischen dem Entsetzen über seine Situation und dem Beschwichtigen, Verdrängen, bis zum »völligen Vergessen«. Erschütternd schildert Perel, wie er zum überzeugten Hitlerjungen wurde, um seine wahre Identität auch vor sich selbst zu verbergen und so sein Leben zu retten. Und die nationalsozialistische Gehirnwäsche drang tief ein, verhakte sich hartnäckig; sie wirkte in dem jungen Perel. Indem er uns an seinen innersten Erfahrungen teilhaben lässt, führt er uns das Verführerische und die Wirkungsmacht rassistischer, menschenverachtender Ideologie vor Augen. Das Überlegenheitsgefühl, die vermeintlich einfachen Antworten – das zielt auf die niederen Instinkte und Affekte des Menschen. Und Menschen stumpfen ab, wie Perel ausdrucksvoll feststellt: »Die Tatsache, dass man sich an das Grauen gewöhnt, erscheint mir noch heute als die erschreckendste Reaktion, deren die Menschheit fähig ist.«

Das ist vielleicht die wichtigste Lektion, die immer wieder neu vermittelt werden muss. Und warum wir uns damit auch und gerade heute wieder vermehrt auseinandersetzen müssen, dazu hat der italienische Schriftsteller Primo Levi in seiner Bilanz qualvoller Erinnerung an die Erfahrungen in Auschwitz und Birkenau gemahnt: »Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen.« Damit meinte er ganz gewiss nicht jene schlichte Erwartung, dass Geschichte sich genauso wiederholen, sich selbst reproduzieren könnte. Er hatte wohl eher die Tatsache vor Augen, dass es der Mensch selbst ist, der Humanität, Recht und Menschenwürde immer wieder gefährdet. Darum dürfen wir nie verdrängen und nicht müde werden, zu betonen, dass Freiheit und Demokratie, Toleranz und Humanität keine selbstverständlichen Gewissheiten sind, sondern historische Errungenschaften, die das fortdauernde Engagement jeder Einzelnen und jedes Einzelnen von uns voraussetzen.

Das alles handelt nicht von gestern. Es ist inzwischen ganz besonders aktuell, denn im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie hat die Verbreitung von Verschwörungstheorien wieder stark zugenommen. »In Zeiten der Krise sind Menschen offener für irrationale Erklärungsmuster, dazu zählen auch antisemitische Stereotypen. Leider hat es in Deutschland seit Jahrhunderten Tradition, dass Juden für Krisen verantwortlich gemacht werden«, erklärt Felix Klein, der Beauftragte der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus.2 Und auch mit Blick auf Entwicklungen im Nahen Osten kommt es regelmäßig zu einem Anstieg antisemitischer Äußerungen und Handlungen, die längst nicht mehr nur von Rechtsextremisten ausgehen. Allein in Berlin gab es im Jahr 2020 etwa tausend antisemitische Vorfälle, dreizehn Prozent mehr als im Vorjahr.3 Angesichts dessen fordert Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, zu Recht, die freiheitlichste Verfassung, die dieses Land je hatte, entschlossen gegen alle Angriffe zu verteidigen: »Nicht einen Tag dürfen wir vergessen, wie zerbrechlich die kostbaren Errungenschaften der letzten 76 Jahre sind! […] Der Kampf gegen Antisemitismus ist eine Sisyphos-Aufgabe. Aber wer sich nicht an Maschinengewehre vor jüdischen Einrichtungen gewöhnen möchte, muss diese bewältigen.«4

Ganz in diesem Sinne erwartet Ronald S. Lauder, der Präsident des Jüdischen Weltkongresses, ein »Upgrade« der Holocaust-Aufklärung: »Wenn die reguläre Schulbildung nicht ausreicht, um Ahnungslosigkeit zu verhindern, muss man den Aufwand erhöhen.« Deshalb spricht er sich für ein »zusätzliches Pflichtprogramm in der Holocaust-Aufklärung« aus.5

Lange Zeit hat man dabei auf die Berichte von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen als bevorzugten Zugang in der Auseinandersetzung mit diesem schweren Thema zurückgegriffen – vielfach unmittelbar und eindrücklich vorgetragen in Schulen, so wie auch Sally Perel dies seit Jahrzehnten tut. Naturgemäß müssen wir nun, über 75 Jahre nach dem Ende des nationalsozialistischen Schreckensregimes, neue Wege finden, um ohne Zeitzeugen die Ereignisse, Erfahrungen und Lehren an die nachfolgenden Generationen zu vermitteln. Manches wird anders, vielleicht auch schwieriger sein, aber es darf und muss nicht weniger gründlich sein als bisher. Das jedenfalls ist meine persönliche Schlussfolgerung aus meiner Amtszeit als Bundestagspräsident, in der ich zwölf Mal die Möglichkeit, gleichzeitig aber auch die Verpflichtung hatte, die jährliche Gedenkstunde im Deutschen Bundestag am 27. Januar, dem nationalen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus, vorzubereiten und durchzuführen.

Sally Perel hat durch sein Buch, seine Lesereisen und seine zahllosen Begegnungen und Gespräche mit jungen Menschen in Deutschland und anderswo seit Jahrzehnten dazu beigetragen, dass die Gefahren, die von antisemitischen, rassistischen und ausgrenzenden Ideologien ausgehen, nicht vergessen werden. Zu den Schülerinnen und Schülern sagt er: »Ich komme nicht, um Schuldgefühle zu wecken. Ich komme nicht, um euer Gedächtnis mit der vollen Wahrheit zu beschweren, sondern um den Verstand zu erleuchten.« Ich bin zuversichtlich, dass dieses Buch genau diese Wirkung noch über viele weitere Jahre und Ausgaben entfaltet.

Prof. Dr. Norbert LammertVorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung e. V.Präsident des Deutschen Bundestages a. D.

1 Philipp Gessler: »Du sollst leben«, taz, 6.10.2009, https://taz.de/Du-sollst-leben/!568272/.

2 »Gleichgültigkeit ist unser größter Feind«, Interview mit Felix Klein, Tagesspiegel 8.5.2021, S. 4.

3 »Mehr als tausend antisemitische Vorfälle in Berlin«, FAZ, 19.4.2021, www.faz.net/aktuell/politik/inland/antisemitismus-und-corona-die-zusammenhaenge-der-vorfaelle-17300890.html.

4 Ansprache von Charlotte Knobloch im Deutschen Bundestag, 27.1.2021, www.bundestag.de/resource/blob/818852/004f590b4829fb0f4cbf4cb95698bcf8/kw04_opfer_nationalsozialismus_nachbericht_knobloch-data.pdf.

5 Ronald S. Lauder: Wir brauchen Holocaust-Aufklärung für Junge, FAZ, 27.1.2021.

Man hat mich in letzter Zeit gefragt, weshalb ich mit meiner Geschichte in all den Jahren nie an die Öffentlichkeit getreten bin. Leider war es mir bislang unmöglich, darauf eine eindeutige und befriedigende Antwort zu geben.

Es lag wohl vor allem daran, dass ich an die Vergangenheit und die tragischen Ereignisse, die sie prägten, nicht erinnert werden wollte. Ich gab mir im Gegenteil die größte Mühe, zu verdrängen und zu vergessen. Der graue Alltag sorgte dafür, dass ich das Thema auf die lange Bank schob und nur sehr selten Gelegenheit fand, mich ernsthaft damit auseinanderzusetzen. Ich glaube, die Zeit war einfach nicht reif.

Wenn ich auch manchmal den Drang verspürte, mein Abenteuer zu erzählen, so stellten sich mir doch gleichzeitig die Fragen, die mich geradezu lähmten: Hatte ich wirklich das Recht, mich mit den Überlebenden des Holocaust zu vergleichen? Hatte ich das Recht, mich als Teil ihrer Geschichte zu bezeichnen, meine Erinnerungen mit den ihren auf eine Stufe zu stellen? Hatte ich das Recht, mich mit den Widerstandskämpfern, den Gefangenen der Konzentrationslager und der Ghettos zu vergleichen, mit jenen, die sich in Wäldern, Bunkern und Klöstern versteckten? Sie waren Helden. Mit ihrem Leid waren sie bis an die Grenze dessen gegangen, was ein Mensch ertragen kann. Und doch war es ihnen gelungen, sich mit letzter Kraft ihre jüdische Identität, ihre Menschlichkeit zu bewahren.

Ich dagegen war zur selben Zeit unbehelligt unter den Nazis umhergegangen, hatte ihre Uniform und das Hakenkreuz auf meiner Mütze getragen und »Heil Hitler!« gebrüllt, als hätte ich mich tatsächlich mit ihrer verbrecherischen Ideologie und ihren barbarischen Zielen identifiziert.

Welche Botschaft könnte ich vermitteln? Würde man mir meine Geschichte überhaupt glauben? Würde man versuchen, sie zu verstehen? Und wenn ich mich zur Niederschrift entschlösse: Wäre ich imstande, die Einsamkeit eines langen Berichts inmitten all der Albträume, Gewissensbisse und Selbstzweifel zu ertragen?

Mehr als vierzig Jahre habe ich über diese Fragen nachgedacht. Bis zu dem Tag, an dem mir keine andere Wahl mehr blieb. Denn im Lauf der Zeit begriff ich, dass das Trauma, das ich zu verdrängen suchte, sich nicht länger verdrängen ließ. Mit diesem seelischen Druck konnte und wollte ich nicht länger leben. Um mich davon zu befreien, musste ich mir alles im wahrsten Sinne des Wortes von der Seele schreiben.

Und dabei habe ich es mir versprochen, und ich verspreche es auch dem Leser, mich von Anfang bis Ende an die Wahrheit zu halten. Die Barrieren sind gefallen, und meine Hand kann endlich zur Feder greifen, damit meine schmerzlichen Erinnerungen wachgerufen werden, die Erinnerungen an meine Shoa.

Ich wurde am 21. April 1925 in Peine, nahe Braunschweig, in Deutschland, Europa, geboren.

Meine Eltern waren 1918 hierhergezogen, als in Russland die Oktoberrevolution ausbrach. Die Weimarer Republik nahm damals gerne Juden auf. Wir waren vier Kinder. Bei meiner Geburt war mein älterer Bruder Isaak sechzehn Jahre alt, David zwölf und meine Schwester Bertha neun.

Kurz nach ihrer Ankunft eröffneten meine Eltern in der Breiten Straße, der Hauptverkehrsstraße, ein Schuhgeschäft, mit dem sie die Familie ernähren konnten. Zu jener Zeit waren uns die deutschen Nachbarn nicht feindlich gesinnt. Die alteingesessenen Juden hingegen, die schon seit Generationen in Deutschland lebten, begegneten uns kühl.

Wir waren für sie nur armselige Ostjuden. Hin und wieder beklagte man sich zu Hause darüber, was mich jedoch wenig störte. Ich habe den Unterschied zwischen einem Juden und einem Nichtjuden nie begriffen, wie sollte ich da den Unterschied zwischen einem Juden und einem anderen Juden begreifen!

Peine war keine moderne Stadt, doch der technische Fortschritt machte sich auch hier langsam bemerkbar. So erinnere ich mich noch sehr gut daran, mit welcher Begeisterung wir Kinder die ersten Automobile begrüßten. Sie ähnelten Kutschen ohne Pferde und hatten eine riesige Hupe neben dem Lenkrad. Wir liefen ihnen in Horden hinterher, immer darauf erpicht, die »schwarze Birne« zu drücken, damit sie hupte und hupte …

Damals trübte kein Wölkchen meinen glücklichen Kinderhimmel. Nichts deutete für uns auf eine ereignisschwere Zukunft hin. Und doch sollten in den dunklen Jahren, die herankamen, fünfzig Millionen Menschen aller Herren Länder ihr Leben lassen, und die Shoa, der planmäßige Mord an den europäischen Juden, unsere Geschichte bald tief erschüttern.

Am 30. Januar 1933 übernahm die nationalsozialistische Partei unter ihrem Führer Adolf Hitler in Deutschland die Macht.

Ein »schwarz-brauner« Totentanz begann: schwarz und braun wie die Nazi-Partei, blutrot wie das Dreiecksemblem der SS, SA und Hitlerjugend.

Zum Schutz der nationalsozialistischen Partei, die er gerade ausbaute, hatte Hitler bereits 1921 die Schaffung der SA, der Sturmabteilung, erreicht. In die SA traten vornehmlich ehemalige Soldaten ein, Männer, die sich in die Gesellschaft nicht mehr eingliedern konnten. Der verlorene Erste Weltkrieg hatte sie verbittert. Sie sollten Unruhe stiften, die Versammlungen gegnerischer Parteien sprengen und gleichzeitig umgekehrt für den reibungslosen Ablauf von Parteiversammlungen der Nazis sorgen. Sie verbreiteten Angst und Schrecken und leisteten auf diese Weise ihren Beitrag, die Demokratie der Weimarer Republik ohnmächtig erscheinen zu lassen und sie damit auszuhöhlen. Nachdem Hitler und seine Freunde fest im Sattel saßen, überließ er der SA die »Schmutzarbeit«: die Verfolgung und »Liquidierung« der Regimegegner und Juden.

Die SS, 1925 geschaffen, war der SA unterstellt – formal. Tatsächlich begriff sie sich aber als eigenständig, als Leibgarde Hitlers. Das wurde sie 1934 dann auch offiziell, direkt dem Führer unterstellt. Himmler trat an ihre Spitze. Sein Machtapparat umfasste überdies die Geheime Staatspolizei, Gestapo, den Sicherheitsdienst, SD, dem die Konzentrationslager unterstanden, und die »Einsatzkommandos«, die in den besetzten Gebieten operierten und dort Männer, Frauen und Kinder töteten.

1926 wurde die Hitlerjugend gegründet. Diese Organisation war aktiv an Straßenschlachten, Demonstrationen und allen Veranstaltungen beteiligt, die die Überlegenheit des Nazi-Terrors unter Beweis stellen sollten. Die »Elite« wurde nach Körpergröße, nordischem Erscheinungsbild und arischer Reinblütigkeit für die SS ausgesucht.

In Peine indes nahm das Leben seinen Fortgang, dabei verdüsterte sich die Lage zusehends. Doch uns Kinder berührte das wenig. Nichts konnte uns davon abhalten zu spielen und wie wild durch die Stadt zu jagen. Zweifellos besaß ich nicht die nötige Reife, um die Gefahr, die auf uns lauerte, einschätzen zu können, zumal mein Vater wie viele andere der Meinung war, dieser »Verrückte« werde sich nicht halten und wahrscheinlich keine achtzig Tage regieren. Die Warnrufe, die manche ausstießen, verhallten wie Rufe in der Wüste.

Zwei Jahre später bekam ich die Verfolgung zum ersten Mal am eigenen Leib zu spüren: In Anwendung der Nürnberger Rassengesetze wurde ich 1935 von der Schule verwiesen. Das tägliche Leben gestaltete sich immer schwieriger und gefährlicher. Mehrmals wurde mein Vater zu Zwangsarbeiten bei der Straßenreinigung und bei der Müllabfuhr herangezogen. Die SA boykottierte jüdische Geschäfte, zerschlug die Schaufensterscheiben und machte sich anderer Gesetzesübertretungen schuldig.

Der Schraubstock des Terrors, der unsere physische Existenz bedrohte, umschloss uns immer enger. Meine Familie entschied sich, Deutschland nun unverzüglich zu verlassen.

Den Großteil unseres Besitzes mussten wir übereilt und zu Summen verkaufen, die diesen Namen nicht verdienten. Praktisch mittellos emigrierten wir nach Polen und ließen uns in Lodz nieder. Den ersten Unterschlupf bot uns Tante Clara Wachsmann, die jüngere Schwester meiner Mutter.

Es war nicht einfach, sich in dem neuen Land einzuleben. Sprache wie auch Mentalität unterschieden sich stark von dem, was wir bisher kennengelernt hatten. Es gelang mir einfach nicht, mich mit dieser Veränderung abzufinden. Mich plagte das Heimweh nach Deutschland, wo ich als Kind so glücklich war. Ich war im Innersten erschüttert durch diese plötzliche und grausame Entwurzelung.

Ich war ein Emigrantenkind geworden. Und zu allem Unglück musste ich erfahren, dass man für Emigranten nirgendwo Sympathie empfand. Das laute höhnische Gekicher der einheimischen jüdischen Kinder über den Jeke Potz mit a top kawe (den Deutschen mit einer Tasse Kaffee) tat mir weh und verstärkte meine Verwirrung. Ich konnte mich gegen diese Prüfungen der Eingewöhnung immer weniger wehren.

Doch das Leben ging weiter, und die heftigen Spannungen verschwanden am Ende. Mit dazu beigetragen hat, dass ich nun wieder die Volksschule besuchte. Ich war gezwungen, mich zusammenzureißen. Mit erstaunlicher Geschwindigkeit lernte ich meine neue Sprache, das Polnische.

Allmählich schälte sich so etwas wie eine neue Existenz heraus. Die Beschäftigung mit polnischer Geschichte, den großen Männern Polens, die fortwährend für nationale Unabhängigkeit und gegen Teilung und fremde Vorherrschaft gekämpft hatten, machte mir dieses Land sympathischer. Ich hatte langsam das vage Gefühl, dass dies meine zweite Heimat werden könnte.

Drei Jahre verstrichen … Dann ging das Schuljahr 1939 zu Ende. Ich schloss die Volksschule erfolgreich ab, und damit hatte ich meine Grundausbildung an einer öffentlichen Schule hinter mich gebracht. Nach den großen Ferien sollte ich auf das hebräische Gymnasium von Lodz überwechseln.

Ich entsinne mich noch der Worte des Abschiedsliedes, das wir in der Schule gesungen hatten, bevor jeder seiner Wege ging. Mit Tränen in den Augen hatten wir es feierlich angestimmt:

Rasch geht das Leben vorüber,

Die Zeit verrinnt wie ein Bach.

In einem Jahr, einem Tag, einem Augenblick

Sind wir nicht mehr zusammen,

Und tief in unseren Herzen

Bleiben nur Trauer, Bedauern und Sehnsucht.

Als wir dies sangen, ahnten wir nicht, dass wir nicht nur »nicht mehr zusammen« sein, sondern viele von uns bald gar nicht mehr sein sollten.

Es kam der 1. September 1939. Die Armeen Hitlers fielen in Polen ein und rissen dadurch die ganze Menschheit in den Zweiten Weltkrieg.

Wir hörten Hitlers bedrohliche Rede im Radio und die Antwort des polnischen Generalstabschefs Marschall Rydz-Smigly, der erklärte, dass Polen mutig kämpfen und keinen Zoll Land abtreten werde. Wenige Tage später sollte sich Polen dem Willen der Nazi-Eindringlinge beugen. Einzig die Hauptstadt Warschau hielt einen Monat stand. Ich war von Neuem dem Nazi-Terror ausgesetzt, vor dem ich soeben geflohen war. Ich war ihm in Peine davongelaufen, in Lodz holte er mich wieder ein.

Die ersten Wehrmachtseinheiten marschierten in Lodz ein. Tausende von Deutschstämmigen begrüßten sie mit einem Blumenregen und »Sieg Heil«-Rufen.

Für die dreihunderttausend Juden der Stadt aber versank die Welt in Finsternis. Das Leben wurde zum Albtraum. Der Unterricht am Gymnasium wurde eingestellt. Niemand durfte sich mehr Herr seines Schicksals wähnen. Eine schaurige Vorahnung beschlich uns. Der Antisemitismus verbarg sich nicht mehr, er kam überall offen zum Ausbruch.

Eines Tages, als ich am hebräischen Gymnasium vorbeiging, sah ich Soldaten eine Gruppe von Juden in den Eingang eines Gebäudes schleifen, sie versetzten ihnen Tritte und überzogen sie mit unflätigen Beschimpfungen, sie schlugen sie und schnitten ihnen die Bärte und Schläfenlocken ab. Entsetzt über das, was sich vor meinen Augen abspielte, floh ich nach Hause. Ich glaubte zu ersticken, rang nach Luft, mein ganzer Körper verkrampfte sich. Auf dem Heimweg musste ich mich mehrmals verstecken, um einem ähnlichen Anschlag zu entgehen. Sie beraubten uns brutal der Menschenrechte, wir wurden zu Freiwild, jedem Psychopathen in Uniform ausgeliefert.

Einige Monate später erreichten uns die ersten Gerüchte über die Absicht der Nazis, alle Juden in einer geschlossenen Zone, das heißt in einem Ghetto, zusammenzufassen.

Meine Familie versammelte sich, um zu beratschlagen, was zu tun sei, und nach dramatischen Diskussionen wurde beschlossen, dass mein älterer Bruder Isaak, der damals neunundzwanzig Jahre alt war, und ich, der Vierzehnjährige, nicht ins Ghetto gehen, sondern versuchen sollten, uns einige Hundert Kilometer weit nach Osten durchzuschlagen. Wir sollten den Grenzfluss Bug überqueren und zu den Sowjets stoßen. Dort, so glaubten wir, wären wir außer Gefahr.

Mein Bruder David befand sich als polnischer Soldat in deutscher Kriegsgefangenschaft, meine Schwester Bertha blieb zu Hause bei den Eltern.

Mein Bruder und ich zögerten. Wir wollten uns nicht von unseren Eltern trennen, wollten ihnen in diesen schweren Stunden helfen und beistehen. Doch ihre Entscheidung war unumstößlich, und sie verlangten, dass wir uns auf den Weg machten. Energisch setzten sie uns auseinander, sie seien schon alt und wollten das Schicksal der anderen Juden der Stadt teilen. Wir hingegen seien jung und dazu verpflichtet, jede noch so kleine Gelegenheit zu nutzen, um uns zu retten.

»Haben wir euch nicht zur Welt gebracht, damit ihr lebt?«, sagte meine Mutter. Papa legte uns die Hand auf den Kopf und segnete uns mit dem heiligsten jüdischen Segen, dem Cohanim-Segen: »Geht in Frieden!« Und Mama fügte hinzu: »Ihr sollt leben!«

Mit Rucksäcken bepackt, die wir mit Proviant vollgestopft hatten, verließen wir das Haus. Wir hatten eine Unmenge Selbstgebackenes eingesteckt, von meiner Mutter zubereitetes »Kommissbrot« aus einem besonderen Teig, dem man Zimt beimischte, damit es sich monatelang frisch hielt. Mein Vater sah missbilligend auf die Lasten, die uns seiner Meinung nach nur unnötig beschwerten. Ich trug meinen neuen Anzug, den ich zur Bar-Miz’wa, dem jüdischen »Einsegnungsfest«, bekommen hatte. Darüber schnallten wir – wie einen Gürtel – zusammenfaltbare Regenschirme, damals eine ganz neue Erfindung und entsprechend wertvoll. Diesen »Gürtel« versteckten wir unter weiteren Jacken und Mänteln, die wir noch darüberzogen. Die Schirme sollten sich als hilfreich erweisen, weil wir damit Bauern »bezahlen« konnten, die uns in ihren Pferdewagen mitnahmen, und weil wir sie gegen Essbares eintauschen konnten. Mein Bruder hatte eine kleine Menge dieser Schirme im letzten Moment vor der Plünderung der Firma »Gentleman« in Lodz, für die er arbeitete, retten können.

Zunächst aber gelangten wir trotz der überall auf uns lauernden Gefahren noch mit der Eisenbahn nach Warschau. Dort kamen wir beim Direktor der polnischen Zentrale von »Gentleman«, Silberstrom, unter, die Regenmäntel, Gummistiefel und eben diese Klapp-Regenschirme herstellte und vertrieb. Mein Bruder war aufgrund seiner Geschäftstätigkeit für die Firma mit dieser jüdischen Familie gut bekannt. Er hatte auf seinen Reisen hier häufig Station gemacht. Wir verbrachten bei diesen Leuten vier Tage, in denen wir versuchten, ein Höchstmaß an Erkundigungen einzuziehen, die uns die Beurteilung der Lage erleichtern sollten.

Ein Dutzend Meinungen und widersprüchliche Gerüchte waren im Umlauf. Wir waren unschlüssig und beunruhigt zugleich. Wir mussten uns für einen Weg entscheiden und konnten nur beten, dass es der richtige sei … Konnte man noch den Zug nehmen? Untersagten die Russen die Überquerung bestimmter Grenzabschnitte? Auch die Straßenräuber, die überall ihr Unwesen trieben, mussten in die Planung einbezogen werden.

Schließlich nahmen wir den Zug Richtung Grenzfluss Bug. Er war überfüllt. Da ich eher mager und klein war, gelang es mir ziemlich mühelos, einen Platz zu ergattern, während mein weitaus größerer Bruder fast nicht mehr in den Zug hineinkam. Es herrschte eine drangvolle Enge, und wir waren dem Ersticken nahe. Der Zug fuhr furchtbar langsam. Nach stundenlanger Fahrt, die kein Ende nehmen wollte, hielt er in einer Kleinstadt, die etwa hundert Kilometer vor dem Fluss lag. Diese Entfernung mussten wir zu Fuß zurücklegen. Eine vielleicht zwanzigköpfige Gruppe bildete sich; alle waren sehr viel älter als ich. Es war eisig kalt, und der Schnee türmte sich bis zu den Strohdächern auf.

Gegen ein paar Münzen erklärten sich polnische Bauern bereit, unser Gepäck auf ihrem Karren zu befördern. Wir machten uns im bitterkalten Wind auf den Weg, hinter unserem Karren hertrottend wie eine Trauergemeinde hinter dem Leichenwagen, eingehüllt in die Atemwolken des Pferdes. Das monotone Stapfen auf dem knirschenden Schnee erinnerte mich an die Vertreibung der Juden während der spanischen Inquisition, und ich meinte während dieses endlos scheinenden Marsches die sich immer wiederholende Melodie von Ravels Bolero zu hören.

Manchmal hielten die Bauern an, um uns auf einen nahe gelegenen Stützpunkt des deutschen Heeres aufmerksam zu machen. Danach nahmen wir unseren stummen Marsch wieder auf. Ich fühlte die besorgten Seitenblicke Isaaks, der das Gleichmaß meiner Schritte prüfte und meine Kräfte überwachte. Dann ging ich ganz aufrecht und lächelte ihm beschwichtigend zu.

In der dritten Dezemberwoche 1939 erreichten wir das Ufer des Bug, entkräftet, aber lebend. Auf der anderen Seite des Flusses waren deutlich die Soldaten der Roten Armee mit ihren grünen Mützen zu erkennen.

Auch zahlreiche andere Flüchtlingsgruppen hatten sich hier eingefunden, und alle blickten sie nach Osten. Ein einziger Kahn, der einem polnischen Bauern gehörte, diente als Fähre. Ein Ansturm auf das Boot setzte ein, die Leute stießen einander, einige wurden handgreiflich, um als Erste einsteigen zu können. Mehr schlecht als recht erkämpfte ich mir einen Platz, doch mein Bruder hatte kein Glück und wurde ans Ufer zurückgeworfen. Schon legte der überladene Kahn ab. Leute sprangen ins Wasser, um uns einzuholen. Sie hofften, den Fluss überqueren zu können, indem sie sich an der Bootswandung festklammerten. Ich schrie nach meinem Bruder, doch ich sah ihn nicht mehr. Ich brüllte aus Leibeskräften. In dem Tumult ringsum hörte ich ihn dann rufen, ich solle am anderen Ufer auf ihn warten.

Der Bauer ruderte schnell und kräftig. Die starke Strömung drohte uns mitzureißen. Eisschollen rammten den Kahn. Wir hatten die Flussmitte bereits überquert, als sich auf dem Gesicht des Bauern plötzlich Angst und Entsetzen abzeichneten. Er stammelte: »Jesus Maria!« und bekreuzigte sich. Da sah ich, dass Wasser in den überladenen Kahn eindrang. Langsam, aber sicher begann er, in den schwarzen, eisigen Fluten des Bug zu versinken. Bis zum Ufer war es nicht mehr allzu weit, doch unter den Flüchtlingen an Bord brach Panik aus. Manche versuchten, sich schwimmend zu retten. Die Katastrophe ließ nicht auf sich warten. Der Kahn kippte mit all seinen Passagieren um. Die meisten Erwachsenen hatten bereits Grund unter den Füßen, sie konnten an Land waten, ihre Packen auf dem Kopf balancierend. Ich aber war zu klein, meine Füße fanden keinen Halt. Ich fing an, Wasser zu schlucken. Verzweifelt versuchte ich, mich an Eisschollen zu klammern. Ich konnte nicht einmal schwimmen, eingezwängt wie ich war in mehrere Kleiderschichten, zwischen denen noch die Klappschirme befestigt waren. Niemand kam mir zu Hilfe. Zum Glück sah ein russischer Wachposten, dass ich zu ertrinken drohte, und sprang, ohne zu zögern, ins Wasser. Als er mich auf die Böschung gezogen hatte und ich wieder etwas zu Atem gekommen war, schenkte ich ihm zum Dank, dass er mir das Leben gerettet hatte, meinen Füllfederhalter, den ich zur Bar-Miz’wa bekommen hatte.

Am folgenden Tag traf auch mein Bruder ein, und nachdem wir uns zur Feier unseres Wiedersehens herzlich umarmt hatten, setzten wir unseren Weg nach Osten, Richtung Bialystok fort. Die nazistische Gefahr lag jetzt weit hinter uns.

Bialystoks Straßen und Amtsstellen quollen über von Flüchtlingen aus Westpolen. Gemäß dem deutsch-sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag blieb dieses Gebiet in den Händen der deutschen Eindringlinge, während die Rote Armee Ostpolen besetzt hielt. Zwischen den beiden Armeen verlief wie eine Trennlinie der Bug.

Nach kurzem Aufenthalt in der Stadt wurde eine Lösung für meine sichere Unterbringung gefunden. Man verfrachtete mich in ein sowjetisches Waisenhaus in Grodno. Mein Bruder machte sich weiter auf nach Norden, nach Wilna, wo er seine alte Freundin Mira Rabinowitsch aufsuchen wollte.

Das Waisenhaus (Dietski Dom Nr. 1) befand sich in der Orzeszkowastraße 15 in einem prächtigen Herrenhaus, das einem polnischen Adligen gehörte – dies erzählte man uns zumindest. Dieser reiche Grundbesitzer war vor den Russen geflohen und suchte Zuflucht bei den Nazis. Was für eine verrückte Welt! Die Leute verließen Haus und Hof, die einen in Richtung Osten, um den Nazis zu entkommen, die anderen in Richtung Westen, um sich ihnen anzuschließen.

In diesem Waisenhaus hatte ich wieder das Recht, menschlich zu leben, was ich lange schon nicht mehr gekonnt hatte. Nach und nach wurde ich ruhiger und kam wieder zu mir. Doch die albtraumhafte Zwangsreise hatte mich tief verstört. Mein Verhalten und meine Gefühle waren völlig durcheinander. Den verständnisvollen Erzieherinnen hatte ich es zu verdanken, dass ich mich wieder an ein normales Leben mit regelmäßigem Stundenplan, vollständigen Mahlzeiten, einem Bett, Unterricht und einem Chor gewöhnte. Alles hätte also dazu beitragen müssen, dem Leben wieder Freude abgewinnen zu können. Doch ich litt an Heimweh, und mich quälte die Ungewissheit über die Lage meiner Familie. Ich wusste nicht, was aus ihr geworden war – und ich lebte hier unbehelligt, aß heißen Brei oder lernte ein neues Kapitel bolschewistische Theorie aus dem »Kratki Kurs WKPB«, dem von Stalin verfassten Ideologie-Lehrbuch.

Der Schmerz nagte an mir, an meiner Seele. Die physische Reaktion trat dann auch bald ein. Ich wurde zum Bettnässer. Jeden Morgen musste ich unter den hämischen Blicken meiner Mitschüler mein Bettzeug herausnehmen, es lüften und trocknen. Das war mir noch nie passiert.

Wir verbrachten den Tag mit Lernen und musischer Beschäftigung. Jeden Abend fanden wir uns, sauber und wohlriechend, zum gemeinsamen Abendessen im weitläufigen Speisesaal ein, der nach dem Essen als Musiksaal genutzt wurde. Es gab meistens Grießsuppe, die ich sehr gerne aß, weil sie mich an ein Gericht erinnerte, das meine Mutter oft zubereitet hatte.

Als ich mir eines Tages diese köstliche Breisuppe schmecken ließ, trat eine Erzieherin an mich heran und sagte, ich solle in das Nebenzimmer gehen, wo eine junge Frau auf mich warte. Ich stellte sogleich Vermutungen über die Identität dieser Besucherin an. Vielleicht war es eine Schülerin aus dem Nachbarwaisenhaus, die mich wegen irgendwelcher Aufgaben befragen wollte, oder eine Schülerin der Theaterklasse. Ich dachte sogar an Frau Kobrynski, die mich kurze Zeit vor meiner Aufnahme ins Waisenhaus beherbergt hatte. Womöglich brachte sie mir Nachrichten von zu Hause. Ich ließ hastig meine dampfende Suppe stehen und eilte mit Riesenschritten zum Nebenraum. Ich schloss gerade die Tür hinter mir, als sich mir ein weinendes junges Mädchen an den Hals warf. Es war Bertha! Bertha, meine geliebte Schwester! Endlich fiel ein Lichtstrahl in meine Einsamkeit. Lange hielten wir uns in den Armen und küssten uns. Ich wollte etwas sagen, doch meine Worte gingen in einer Flut von Tränen unter, so aufgewühlt war ich. Bertha ließ mich nicht mehr los. Ich konnte nur unzusammenhängende Worte stammeln, mit denen sich mein übergroßes Glück Bahn zu brechen suchte.

Ich starrte Bertha immerzu ungläubig an. Ich sah ihre natürliche Schönheit, so wie sie mir noch heute im Gedächtnis ist, und doch bemerkte ich rasch die Spuren des entsetzlichen Leides in ihren Zügen, das Trennung und Flucht verursacht hatten. Sie hielt ein armseliges Bündel in der Hand und sah erschöpft aus. Mit einundzwanzig Jahren hatten sie die Prüfungen des Lebens bereits tief gezeichnet. Eine Stunde später, als der Rausch des Wiedersehens zu verfliegen begann, setzten wir uns auf mein Bett, das einzige private Eckchen, und unterhielten uns. Essen wollte sie nichts, um mich nur keine Sekunde alleine zu lassen. Der Bericht ihres Abenteuers bestürzte mich. Mit einer Freundin war es ihr gelungen, durch die Ghettotore zu entkommen, die sich wenig später endgültig geschlossen hatten. Auf demselben Weg wie ich, die gleichen Gefahren und Verwicklungen durchlebend, hatte sie den Bug überquert und mich dank der Adresse, die ich auf meinen Briefen in das Ghetto angegeben hatte, wiedergefunden.

Sie erzählte mir, dass es Vater und Mutter leidlich ginge, dass sie glücklich seien, Isaak und mich an einem sicheren Ort zu wissen, und dass die beiden beschlossen hätten, sie nun ebenfalls in den Osten zu schicken. Mein Bruder David schreibe keine besorgniserregenden Briefe aus dem deutschen Gefangenenlager, in dem er saß.

Bertha schlief ein paar Stunden in einem freien Bett, und in der Morgendämmerung des folgenden Tages nahmen wir wieder Abschied. Sie ging nach Smorgon, nahe Wilna, wo sie bei Isaak und Mira wohnen wollte, die gerade geheiratet hatten.

Ich ahnte nicht, dass dies eine endgültige Trennung sein sollte. Während ich heute diese Zeilen schreibe, steht ihre Fotografie wie eine nie verwelkende Blume an meinem Bett.

Sallys Schwester Bertha (Mitte) mit Freundinnen vor Kriegsbeginn in Peine.

Trotz der Ängste, die ich ausstand, lernte ich fleißig. Einmal im Monat hatte ich die Freude, eine Karte meiner Eltern zu erhalten. Auf diese Weise erfuhr ich, dass sie wohlauf waren, mein Bruder David freigelassen worden und ins Ghetto gekommen war und die Auserwählte seines Herzens, Pola Rosner, geheiratet hatte. Mit zitternder Hand antwortete ich mit langen Briefen, die ich an folgende Adresse richtete: Familie Perel, Franziskanskastraße 18, Ghetto Litzmannstadt.

Unterdessen war ich in die kommunistische Jugend, den Komsomol, aufgenommen worden. Noch konnte ich nicht wissen, dass ich in absehbarer Zeit einem ganz anderen Jugendverband angehören würde.

Von den Pionieren, den Jüngsten, in den Komsomol des Waisenhauses aufzurücken war nicht einfach für mich: Arglos und vertrauensselig hatte ich nämlich in das Aufnahmeformular geschrieben, dass mein Vater Kaufmann sei. Damit bekannte ich naiv, nicht aus dem Proletariat zu stammen.

Im Sekretariat unseres Komsomol wurde das Problem tatsächlich ernsthaft erörtert. Ich war zwar kleinbürgerlicher Herkunft, doch da ich »hervorragende schulische Leistungen und Eifer in allen Fächern« zeigte, einigte man sich auf einen Kompromiss und gestand mir eine einmonatige Probezeit im Komsomol zu. Nach Ablauf dieser Frist wurde ich vor die Aufnahmekommission zitiert. Da ich durch meine Wortgewandtheit zu überzeugen vermochte und meine Eignung glaubhaft machen konnte, wurde ich schließlich in die Organisation aufgenommen, der anzugehören ich mir so heftig gewünscht hatte. Der Tag der feierlichen Aushändigung der Parteiausweise war ein wahrer Festtag für mich.

In Peine hatte ich Am Damm gewohnt, und in der linken Nachbarschaft, Hausnummer 6, befand sich das Kolonialwarengeschäft des Herrn Kratz. Er war auch Sekretär der KPD-Ortsgruppe Peine. Fast jeden Morgen schickte mich Mama zu ihm, um frische Brötchen und Milch zu holen, und immer bekam ich von ihm ein warmes Morgenglättchen über meine Haare und ein Hammer-und-Sichel-Abzeichen auf die Brust. Ich mochte es sehr. Und natürlich war meine volle kindliche Sympathie mit seinen roten Glaubensgenossen, als ihre Versammlungen im Volkshof von den mit Lastwagen angefahrenen braunen SA-Horden gesprengt wurden. Die darauf stattfindenden Straßenkämpfe waren blutig, und meinen Segen bekamen immer die Peiner Kommunisten. Eines erschien mir seltsam: Immer wenn die Polizei endlich ankam, wurden die Angegriffenen verhaftet und nicht die braunen Vandalen.