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Drei Jahrzehnte nach ihrem Tod öffneten sich endlich die Archive und gaben Ingeborg Bachmanns persönlichste Gedichte preis. Sie sind das eindrucksvolle Zeugnis einer sensiblen Beobachterin und ihres tragischen Lebens: Ihre Texte sind gezeichnet von Trauer um die verlorengegangene Poesie und von abgründiger Sprachlosigkeit. Immer ringt Ingeborg Bachmann um eine neue Sprache. »Ich weiß keine bessere Welt« vervollständigt ihr lyrisches Werk auf beklemmende Weise.
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Seitenzahl: 97
Bei Durchsicht des Nachlasses, auf der Suche nach ein paar bestimmten Blättern, fielen uns die unveröffentlichten, gesperrten Gedichte unserer Schwester in die Hand. Das Wiederlesen nach fast drei Jahrzehnten war für uns faszinierend, berührend und so beeindruckend, daß der Gedanke aufkam, diese Texte nicht länger unter Verschluß zu halten, sondern auch den Leserinnen und Lesern von Ingeborg Bachmann zugänglich zu machen.
Die Gedichte und Entwürfe waren von unserer Schwester nicht zur Veröffentlichung vorgesehen, aber sie hat sie aufbewahrt und nicht wie andere Texte und Briefe vernichtet. Auch dieser Umstand hat uns bestärkt, dieses Buch zu publizieren. Wir hatten 1978 alle Briefe, biographische Aufzeichnungen und von den Herausgebern der Werkausgabe zur Sperrung vorgeschlagenen Texte der Österreichischen Nationalbibliothek übergeben. Da die nun vorliegenden Texte zum Umfeld der Todesarten-Texte gehören, ebenso wie Malina, Das Buch Franza, Fanny Goldmann und andere publizierte Fragmente (Hrsg. Robert Pichl, Monika Albrecht u. Dirk Göttsche), scheint uns die Zeit zur Veröffentlichung gekommen. Da sich in diesem Themenkreis späte, von Hans Höller kommentierte Gedichte (Letzte unveröffentlichte Gedichte, Suhrkamp, 1998) einfügen, haben wir aus diesem Band die dem offenen Nachlaß entstammenden Gedichte Schallmauer, In Feindeshand, Jüdischer Friedhof, Wenzelsplatz und Poliklinik Prag mit aufgenommen. Die Texte wurden lesbar gemacht, ohne einer textkritischen Edition vorgreifen zu wollen.
Geschrieben wurden diese Gedichte in Zürich, Berlin und Rom, den Lebensstationen Ingeborgs der letzten Jahre, in der Zeit zwischen 1962 und 1964, einige auch später. Hinweise auf reale Orte sind vielfältig, und vielfältig ist die Verbindung mit dem Prosawerk. Eine genaue chronologische Zuordnung der Texte ist nicht rekonstruierbar, denn Datierungen sind nicht vorhanden.
Ähnlich dem Prosawerk kehren Motive und Zitate in neuen Ansätzen immer wieder, daher haben wir fast alle Textvarianten aufgenommen und nur bei solchen Blättern, die inhaltlich keine wesentlichen Veränderungen aufweisen, die vollständigste Variante gewählt. Die Anmerkungen zur Textgrundlage wurden von Frau Gisela Fichtl erstellt.
Die Faksimiles der handschriftlichen Texte illustrieren die Arbeitsweise Ingeborgs und machen sichtbar, daß man es vielfach mit Fragmenten und Versuchen, aber nicht mit Endfassungen von Gedichten zu tun hat.
Die schönen Worte haben in diesen Versen dem Entsetzen Platz gemacht, dem Schmerz, der Todesnähe. Sie drücken die Trauer um die verlorengegangene Poesie und die Leiden der Kreatur aus und sind gleichzeitig eine unerbittliche Kritik an der Gesellschaft. Keine schönen Metaphern werden bemüht, um die Verstörung und Auslöschung sichtbar zu machen.
Der Mensch ist verletzt, verkauft und verraten in einer Welt, in der die Lieblosigkeit umgeht, doch wird die Hoffnung auf die Zeit, in der die Menschen wieder begabt sein werden für die Liebe, nicht aufgegeben. »Terra nova … ultima speranza«.
Isolde Moser und Heinz Bachmann
Vivere ardendo e non sentire il male
Gaspara Stampa
Ist denn ein Mensch nichts unter Brüdern wert?
Verleumdet und bespien, verhöhnt, verlästert,
wer weiß es nicht, für eine Guttat, die sich nicht beweist.
Die Ehre, verkauft an jedem Stammtisch.
In aller Mund als eine dreckige Anekdote.
Das Unmaß eines Gefühls ermordet
von geschäftiger Nutznießerei.
Mit der Aufstellung der Einnahmen
beschäftigt die Skrupellosigkeit.
Ein Leben, ein einziges, zum Experiment
gemacht. So ists gelungen. Vollbracht.
Auch das Kaninchen, im Labor, aufgedunsen,
das sein Fell läßt nach dem Versuch,
auch die Ratte, abgespritzt, ohnmächtig
wird den Arm ihres Mörders nicht zerfleischen.
Auch die Fliege, gegen die eine Flitspitze
sich richtet, die Mücken, die eine Charta
der Mückenrechte noch nicht in Anspruch nehmen
sind meine Genossen.
Ich nehme in Anspruch meine Wenigkeit.
Wenn aber Gott Fleisch geworden ist
und ins Reagenzglas kommt und Farbe
bekennt, wenn er die Liebe sein sollte
und ich zweifle, daß etwas sein könnte
von dieser Art, wird mich das wenig trösten.
Ich weiß, daß man die Opfer hier zwingen muß,
zueinander, ohne Vereinbarung noch.
Fliegenart will ein paar Tage, der Paria
einen Blick in den Kastenschlitz, die Ratte,
die Ich, die gänzlich Erniedrigten, wollen
die Rache, eh sie geschändet sterben –
wollen ein Wort des Bedauerns.
Die Kommune verzichtet.
Das Kapital einer zinsentragenden Grausamkeit
steht gegen das Kapital eines abnehmenden
Schmerzes.
Diese Gesellschaft richtet sich dennoch selbst.
Sterben ist es nicht, Aufstehen
ist das Wort. Ohne Verständnis
für die Ausbeutung diese Ausbeutung
beenden. Es komme die Revolution.
Es komme, so mag es denn kommen.
Ich zweifle. Aber es komme
die Revolution. auch von meinem Herzen,
Meine Gedichte sind mir abhanden gekommen.
Ich suche sie in allen Zimmerwinkeln.
Weiß vor Schmerz nicht, wie man einen Schmerz
aufschreibt, weiß überhaupt nichts mehr.
Weiß, daß man so nicht daherreden kann,
es muß würziger sein, eine gepfefferte Metapher.
müßte einem einfallen. Aber mit dem Messer im Rücken.
Parlo e tacio, parlo, flüchte mich in ein Idiom,
in dem sogar Spanisches vorkommt, los toros y
las planetas, auf einer alten gestohlenen Platte
vielleicht noch zu hören. Mit etwas Französischem
geht es auch, tu es mon amour depuis si longtemps.
Adieu, ihr schönen Worte, mit euren Verheißungen.
Warum habt ihr mich verlassen. War euch nicht wohl?
Ich habe euch hinterlegt bei einem Herzen, aus Stein.
Tut dort für mich, Haltet dort aus, tut dort für mich ein Werk
Ich habe die Gedichte verloren
sie allein nicht, aber zuerst
Die Gedichte sind verloren gegangen
nicht sie allein, aber zuerst das Gedicht
dann der Schlaf, dann die
Alles verloren, die Gedichte zuerst
dann den Schlaf, dann den Tag dazu
dann das alles dazu, was am Tag war
und was in der Nacht, dann als nichts
mehr, noch verloren, weiterverloren
bis weniger als nichts und ich nicht mehr
und schon gar nichts war,
Rückzug muß ein inneres Hinterland
mit allen verbriefte Jahre und gesehene Orte
noch vor den Augen, da die Erde
nicht mehr und keine Schmach, dann
hinten noch immer ein Raum
krallenumflogene Weiten für Taube, Stumme
Helle ruflange Weiten für er
die Ankunft, Erstummter
Für den Erstummten die Wüstenei
mit dem verständlichen Gespinnst
das sanft seinen Wahnsinn einpuppt
bis er das gläserne Hotel malt,
Ich muß glauben, daß
dieser Irrsinn, dieses Gefängnis
für die Ewigkeit währt
die vielen Stunden, als ich
meinen Papst mir wählte
und dunkler Rauch
aufstieg,
(die eine Kerze nicht,
mit dem weißen)
als alle meine Träume
im Konklave waren
und alles stimmte gegen
meinen wütendsten gescheiterten
Traum,
der hätte ja selber sich
nicht geglaubt, und gewußt,
daß über all das zu herrschen
über Schmutz, Gold,
Samen, Toteninseln
Sich messen an Päpsten
und Gläubigen, selber
zum Papst und zum Gläubigen
nicht bestellt, ein ungläubig
erhobener zu sein, dem auch Lumpen
scharlachrot werden, dem Mützen
wegfliehen und kein Hut steht
satanische Existenz
Kein Zeugnis ablegen, schweigen, leben,
das vorgeschriebene Leben, leben,
die Sonne, die nichts an den Tag bringt,
die Sonne auch nicht bemühen, niemand
bemühen.
Es ist eine Mühe, zu hoffen nicht, zu fürchten nichts.
Ein Mond, ein Himmel
und das dunkle Meer.
Nur, dunkel alles.
Nur weil es Nacht ist
und nichts Menschliches
dies feingewirkte auch durchwebt.
Was wirfst du mir noch vor
und solche Bitterkeit,
Tu's nicht.
Ich hab nichts Besseres gewußt
als dich zu lieben, ich hab
nicht gedacht,
daß durch den Schweiß der Haut
die [– –] Welt
und daß der Groschen fiel
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