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Der dramatische Briefwechsel, vonseiten der Bachmann- wie der Frisch-Forschung kenntnisreich kommentiert, zeichnet ein neues, überraschendes Bild der Beziehung und stellt tradierte Bewertungen und Schuldzuweisungen in Frage. Frühjahr 1958: Ingeborg Bachmann – gefeierte Lyrikerin, Preisträgerin der Gruppe 47 und ›Coverstar‹ des Spiegel – bringt gerade ihr Hörspiel Der gute Gott von Manhattan auf Sendung. Max Frisch – erfolgreicher Romancier und Dramatiker, der noch im selben Jahr den Büchner-Preis erhält – ist in dieser Zeit mit Inszenierungen von Biedermann und die Brandstifter beschäftigt. Er schreibt der »jungen Dichterin«, wie begeistert er von ihrem Hörspiel ist. Mit Bachmanns Antwort im Juni 1958 beginnt ein Briefwechsel, der – vom Kennenlernen bis lange nach der Trennung – in rund 300 überlieferten Schriftstücken Zeugnis ablegt vom Leben, Lieben und Leiden eines der bekanntesten Paare der deutschsprachigen Literatur. Nähe und Distanz, Bewunderung und Rivalität, Eifersucht, Fluchtimpulse und Verlustangst, aber auch die Schwierigkeiten des Arbeitens in einer gemeinsamen Wohnung und die Spannung zwischen Schriftstellerexistenz und Zweisamkeit – die Themen der autobiografischen Zeugnisse sind zeitlos. In den Büchern von Bachmann und Frisch hinterließ diese Liebe Spuren, die zum Teil erst durch die Korrespondenz erhellt werden können. Die Briefe zeigen die enge Verknüpfung von Leben und Werk, sie sind intime Mitteilungen und zugleich Weltliteratur. »Sie waren das berühmteste Paar der deutschsprachigen Literatur. Jetzt endlich, viele Jahre nach ihrem Tod, erscheinen die Briefe zwischen Ingeborg Bachmann und Max Frisch. Sie sind eine Sensation.« Iris Radisch, DIE ZEIT
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Ingeborg Bachmann Max Frisch
»Wir haben es nicht gut gemacht.«
Der Briefwechsel
Mit Briefen von Verwandten, Freunden und Bekannten
Herausgegeben von Hans Höller, Renate Langer, Thomas Strässle, Barbara Wiedemann Koordination: Barbara Wiedemann
Piper Suhrkamp
Piper Verlag GmbH, München 2024
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Covergestaltung: Rothfos & Gabler
Covermotiv: Dr. Heinz Bachmann (Ingeborg Bachmann); akg-images / AP (Max Frisch)
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Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Der Briefwechsel
Briefe
Kommentar
Thomas Strässle und Barbara Wiedemann
:
Gegenseitiges Verhängnis
Unausgewogene Überlieferung
Problem der Lücken
Konfliktlinien
Biographische Korrekturen
Neubewertung des »Gantenbein«
Zeitgeschichtliches Dokument und literarisches Monument
Hans Höller und Renate Langer
:
»Ich bin ja auch ein Schriftsteller, um von andrem zu schweigen«
Die Briefe als Kunstwerke
»wir sind halt ein berühmtes Paar gewesen, leider«
»zusammen wohnen«
»
EXPRESS
! Eil gilt!«
Uetikon, Neujahrsnacht 1962/63
»
NOCH EIN JAHR
«
Gespensterbriefe
»Ich stellte mir vor, einer schriebe ein Buch …«
»und jetzt will ich, daß du gehst, daß du gehst!«
Wiederherstellung der Autorschaft
I
: »Die Gnade Morphium, aber nicht die Gnade eines Briefs«
Wiederherstellung der Autorschaft
II
: »Wilde Weisheit«
»Mein Name? / Malina.«
Bestanden – nicht bestanden
Eine Archäologie der Dinge des Alltags
Schreibtisch und Bauernkasten
Zur Edition
Überlieferung
Textkonstitution
Stellenkommentar
Zeittafel und Verzeichnisse
Stellenkommentar
Zeittafel
Abkürzungsverzeichnis mit Bibliographie
Werkregister Bachmann
Werkregister Frisch
Personenregister
Dank
Porträts und Faksimiles
Nachweise
Fußnoten
Informationen zum Buch
Motto
Ich hatte zu tun beim Sender in Hamburg und ließ mir das Hörspiel vorführen, dann schrieb ich einen Brief an die junge Dichterin, die ich persönlich nicht kannte: wie gut es sei, wie wichtig, daß die andere Seite, die Frau, sich ausdrückt. Sie hörte Lob genug und großes Lob, das wußte ich, trotzdem drängte es mich zu dem Brief. Ich wollte sagen: Wir brauchen die Darstellung des Mannes durch die Frau, die Selbstdarstellung der Frau.
Max Frisch, Montauk. Eine Erzählung (1975)
Ich hatte zu tun beim Sender in Hamburg] Anfang Mai 1958 und noch einmal vor dem 22. Mai hielt sich Frisch wegen der Fernsehverfilmung von Biedermann und die Brandstifter beim NDR auf (Regie Fritz Schröder-Jahn, Erstsendung 22. Mai 1958). Bachmanns Hörspiel Der gute Gott von Manhattan wurde in zwei verschiedenen Produktionen gleichzeitig am 29. Mai 1958 urgesendet. Hier geht es um die Ende März in München aufgenommene Gemeinschaftsproduktion von BR und NDR (Regie ebenfalls Fritz Schröder-Jahn) und nicht um die Produktion des SWF (Regie Gert Westphal). Den Brief sandte Frisch aus Hamburg, siehe Brief 7 (S. →). Die Erzählung Montauk erschien 1975, zwei Jahre nach Bachmanns Tod (Zitat: FGW 6,676).
1.Ingeborg Bachmann an Max Frisch, München, 9. [und spätestens 15.] Juni 1958
Franz Josefstraße 9a
München 13
9. Juni 1958
Verehrter, lieber Max Frisch,
Ihr Brief ist mir schon so vieles gewesen in dieser Zeit, die schönste Überraschung, ein beklemmender Zuspruch und zuletzt noch Trost nach den argen Kritiken, die dieses Stück bekommen hat.
Ich bin froh, schon lange, daß es Sie gibt, mit der großen Genauigkeit, für die »andere Nation«, der nichts oder nur Ungenaues erwidert wird. Und ich möchte ihr begegnen mit der Aufrichtigkeit, die sie erwarten darf. Wenigstens es versuchen. Es war der erste Versuch.
Ich wollte Ihnen ja schon eher antworten, aber in den letzten Tagen sah es bald aus, als ginge meine Reise über Zürich, bald als ging' sie weit dran vorbei, und nun ist's entschieden. Sie geht über Zürich. So will ich den Brief rasch abschicken mit der Frage, ob ich Sie, wenn ich Sonntag (diesen kommenden Sonntag) nach Zürich komme, sehen darf. Ich könnte zwei, drei oder vier Tage bleiben, und ich hoffe so sehr und ohne rechte Überlegung, daß auch Sie es wünschen könnten. (Ich werde im Hotel Urban, in der Nähe des Café Odeon, wohnen.) Es wäre zu schön und ist nur fast zuviel verlangt. Sie haben mich schon sehr glücklich gemacht! Meine besten Wünsche sind bei Ihnen und Ihrer Arbeit –
Ihre
Ingeborg Bachmann
P. S. Ich mußte den Brief noch einmal öffnen – ich komme erst Donnerstag d. 19. nachmittag nach Zürich!
MFA / Ms., Tinte, 3 Bl., kleines Format / An: »Herrn Max Frisch / MÄNNEDORF(bei Zürich)/ SCHWEIZc/o Seigner Alsenstr. 25 / Thalwil« / Von: »Deutschland / Ingeborg Bachmann / Franz Josefstr. 9a / München 13 / EXPRESS!« / Expressaufkleber / Postvermerk: »Eil gilt!« / München 15. 6. 1958 / Männedorf 16. 6. 1958
[und spätestens 15.] Juni 1958] Frisch war vom 27. Mai bis zum 26. Juni in Spanien, vor allem auf Ibiza. Seine damalige Geliebte, Madeleine Seigner, an welche die Post umgeleitet wurde, konnte den Brief nicht mitnehmen, weil sie ihm schon am 12. Juni nach Ibiza folgte.
Franz Josefstraße] So auch auf dem Kuvert, tatsächlich: Franz-Joseph-Straße, Bachmanns Wohnadresse in München-Schwabing von Dezember 1957 bis zu ihrer Übersiedlung nach Zürich Mitte November 1958. Sie war als Dramaturgin beim Bayerischen Fernsehen beschäftigt.
Ihr Brief ] Nicht aufgefunden.
nach den argen Kritiken] Die vielen Pressereaktionen auf die Ursendungen von Der gute Gott von Manhattan zeigen, welch großen Stellenwert die Gattung Hörspiel damals in der öffentlichen Wahrnehmung hatte. Der Gesamteindruck war zwiespältig, ein Kritiker nennt das Hörspiel »auf verwegene Weise mißlungen« (mn: »Genialische Romanze«, FAZ, 2. Juni 1958). Bemängelt werden die Handlungsarmut und vor allem das Gerichtsverhör als nicht stimmiger Rahmen. Gelobt wird – wie auch von Frisch – die weibliche Perspektive, »das Hohelied aus der Sicht der Frau« (J. J.: »Funk für Anspruchsvolle«, Die Zeit, 5. Juni 1958).
»andere Nation«] Die Anführungszeichen deuten darauf hin, dass Frisch diese Formulierung in seinem Brief an Bachmann für »die andere Seite, die Frau« gebrauchte (siehe Zitat aus Montauk). In einem Text Bachmanns aus dem Entstehungszusammenhang der Erzählung Ein Schritt nach Gomorrha denkt eine Frau an die Männer, die »in ihren Körper eingezogen waren mit der Lust einer anderen Nation, keiner feindlichen, aber einer anderen« (BDJ 495).
meine Reise über Zürich] Bachmann wollte bis zum 1. September 1958 in Paris bleiben (vgl. IB/HME 18). Das Treffen mit Frisch in Zürich fand nicht statt.
Hotel Urban] Das bei Literaten beliebte Hotel (Stadelhoferstr. 41) besteht heute nicht mehr. In der NS-Zeit war es ein Zufluchtsort der aus Deutschland vertriebenen Intellektuellen. Auch Bertolt Brecht stieg 1947 dort ab, als er aus den USA nach Europa zurückkehrte.
Café Odeon] Vgl. die mit »Café Odéon« überschriebenen Kapitel in Frischs Tagebuch 1946-1949 sowie in Homo faber, wo Walter Faber von sich sagt: »Ich habe dieses Café Odéon eigentlich gehaßt; Emigranten und Intellektuelle, Bohème Professoren und die alten Kokotten für Geschäftsleute vom Lande, ich ging nur Hanna zuliebe in dieses Café.« (FGW 4,184)
Donnerstag d. 19. nachmittag] Gegenüber Enzensberger nannte Bachmann dieses Datum für die Abfahrt aus München (vgl. IB/HME 18).
2.Max Frisch an Ingeborg Bachmann, Paris, 5. [Juli 1958], Teilabschrift durch Frisch
5. VIII Paris
Was ist los? Ich warte und bange. Kein Zeichen. Du willst dass wir verschwunden sind für einander ‥ Ich werde weiter warten auf dich. Oder hast du Entschlüsse gefasst? Hast Du es schwer durch mich? Ich glaube nicht mehr, dass Du kommst. Ich bleibe bis Montag in Paris und werde nicht aufhören zu hoffen, dass ich Dich sehe. Warum machst Du das? Ich bin sehr bestürzt, Du.
LIT 423/B894/14 / Ts., 1 Bl., großes Format / mittlerer Text aus einer Sammelabschrift, zwischen Auszügen vom 12. Oktober 1958 und vom 6. Juli 1958 (Brief 3 u. Brief 37) / Originalbrief nicht aufgefunden
5. VIII Paris … Montag] Letzte Ziffer in »VIII« nur schwach sichtbar: Frisch war nicht im August in Paris, sondern vom 2. bis zum 7. Juli, als das Schauspielhaus Zürich am 2. und 3. Juli mit Biedermann und die Brandstifter und Die große Wut des Philipp Hotz am Pariser Théâtre des Nations gastierte. Bachmann, seit Juni in Paris, bemühte sich nach der Presse-Ankündigung des Gastspiels um Frischs Hoteladresse. In Montauk wird das in der Nähe des Theaters gelegene Hôtel du Louvre genannt (FGW 6,676). Bachmann und Frisch besuchten die Vorstellung nicht (vgl. Montauk, FGW 6,677), nahmen aber danach am Essen mit den Schauspielern teil. Sie unterschrieb dabei eine gemeinsame Karte an Frischs Tochter Ursula (3. Juli 1958, vgl. Priess 2009, 47f.). Der 3. Juli ist ein Datum, das in Bachmanns Werk besonders bedeutsam ist; vgl. Malina: »Ein vielleicht rätselloser Tag, sicher noch ohne Kopfschmerzen, ohne Angstzustände, ohne unerträgliche Erinnerungen, […]. Damit wird der Tag erst zum Rätsel, es ist ein leerer oder ausgeraubter Tag, an dem ich älter geworden bin, an dem ich mich nicht gewehrt habe und etwas geschehen ließ.« (BTA 3.1,588f.)
3.Max Frisch an Ingeborg Bachmann, [Paris], 6. Juli [1958], Teilabschrift durch Frisch
6. 7.
Ich liege neben Dir, Ingeborg, und Du bist nicht da. Wirst Du je wieder da sein? Ich bin glücklich und ratlos. Ich liebe eine Frau, die mich liebt, und Du trittst in mein Leben, Ingeborg, wie ein langgefürchteter Engel, der da fragt Ja oder Nein. Und ich bin glücklich und ratlos und zu feig, um über die Stunde hinaus zu denken. Ich will den Sommer mit Dir. Ich bin nicht verliebt, Ingeborg, aber erfüllt von Dir, Du bist ein Meertier, das nur im Wasser seine Farben zeigt, Du bist schön, wenn man Dich liebt, und ich liebe Dich. Das weiss ich – alles andere ist ungewiss … Ich bin todmüde, wenn Du nicht da bist. Wenn ich Dich verliere (wenn ich dich verliere, bevor ich es gewagt habe mit Dir zu leben), dann habe ich in meinem Leben auf nichts zu warten … Denn Du warst da! Du bist da! dein Gesicht in meinen Händen … Dann fahren wir zwei in die Wirklichkeit. –
LIT 423/B894/14 / Ts., 1 Bl., großes Format / letzter Text aus einer Sammelabschrift (mit Brief 2 u. Brief 37) / Originalbrief nicht aufgefunden
Ich liebe eine Frau] Frisch unterhielt seit 1952 eine Liebesbeziehung mit der Übersetzerin Madeleine Seigner, Ehefrau des Künstlers Fred Seigner und Schwester des Schauspielers und Regisseurs Benno Besson.
Ja oder Nein] Möglicherweise wollte Bachmann schon in Paris eine klare Entscheidung von Frisch. An Hans Werner Henze schrieb sie nach dem 5. Juli 1958 aus Paris, sie komme zu ihm, »wenn sich etwas für mich sehr Wichtiges entschieden hat« (IB/HWH 203).
4.Ingeborg Bachmann an Max Frisch, Neapel, [16.] Juli 1958
Via Generale Parisi 6, Neapel
Mittwoch abend
Die Fahrt war so lang, aber sie hätte noch länger sein müssen, dann hätte ich ganz begriffen, wie weit ich weg muß von Dir. Mein Liebster, das ist furchtbar. Jetzt geht draussen ein Wind um, ein wilder, es geistert im Haus. Ich wollte gleich schlafen gehn, damit dieser Tag vorbei geht, und jetzt bin ich doch wach und muß an alles denken. Ich glaube, mein Herz tut mir weh.
Und hier ist, obwohl alles vertraut aussieht und ich so freundlich abgeholt worden bin, zum erstenmal eine Fremde, ich wäre beinahe lieber in München, aber in München hätte ich wohl gedacht, es wäre besser, in Neapel zu sein. Aber ich darf keine Traurigkeiten mehr hierherschreiben.
Sag mir, wie es Dir geht, ob Du Dich freier fühlst und ob Du es gut machen konntest. Denn wenn für Dich alles gut ginge, für Euch, dann könnte ich unsre Trennung ohne die Auflehnung annehmen, die manchmal noch in mir ist.
Leb wohl, gute Nacht, fang zu arbeiten an.
Ingeborg
MFA / Ms., Tinte, 2 Bl., kleines Format / An: »Herrn / Max Frisch / MÄNNEDORF/ bei Zürich / SVIZZERA« / Neapel 17. 7. 1958
Via Generale Parisi 6, Neapel] Adresse von H. W. Henze bis 1960. Bachmann kannte den Komponisten von der Herbsttagung 1952 der Gruppe 47 und wohnte zeitweise mit ihm zusammen. Sie schrieb für ihn Ein Monolog des Fürsten Myschkin zu der Ballettpantomime »Der Idiot« sowie die Libretti der Opern Der Prinz von Homburg und Der junge Lord. Er vertonte einzelne ihrer Gedichte und Gedichtzyklen und komponierte die Musik zu ihrem Hörspiel Die Zikaden.
Die Fahrt war so lang] Bachmann kam aus Zürich, wo sie etwa eine Woche mit Frisch zusammen war; danach wurde die Trennung vereinbart (Stellenkommentar zu Brief 198). Vgl. Montauk: »Eine Woche in Zürich als Liebespaar und aus klarer Erkenntnis der erste Abschied. Das gibt es tatsächlich: daß Haare zu Berge stehen. Ich habe es bei ihr gesehen. Die klare Erkenntnis, lebbar nicht länger als vier Wochen.« (FGW 6,711)
5.Ingeborg Bachmann an Max Frisch mit vier Gedichten von Bachmann, Neapel, 18. Juli 1958
Neapel, 18. Juli 1958
Bitte schick mir den »Stiller« – und wenn es nicht zuviel ist, jetzt oder später, »Graf Öderland«. Bitte.
Ingeborg
[Beilagen]
STRÖMUNG
So weit im Leben und so nah am Tod,
dass ich mit niemand darum rechten kann,
reiss ich mir von der Erde meinen Teil;
dem stillen Ozean stoss ich den grünen Keil
mitten ins Herz und schwemm mich selber an.
Zinnvögel steigen auf und Zimtgeruch!
Mit meinem Mörder Zeit bin ich allein.
In Rausch und Bläue puppen wir uns ein.
GEH, GEDANKE
Geh, Gedanke, solang ein zum Flug klares Wort
dein Flügel ist, dich aufhebt und dorthin geht,
wo die leichten Metalle sich wiegen,
wo die Luft schneidend ist
in einem neuen Verstand,
wo Waffen sprechen
von einziger Art.
Verficht uns dort!
Die Woge trug ein Treibholz hoch und sinkt.
Das Fieber riss dich an sich, lässt dich fallen.
Der Glaube hat nur einen Berg versetzt.
Lass stehn, was steht, geh, Gedanke!
von nichts andrem als unsrem Schmerz durchdrungen.
Entsprich uns ganz!
NACH DIESER SINTFLUT
Nach dieser Sintflut
möchte ich die Taube,
und nichts als die Taube,
noch einmal gerettet sehn.
Ich ginge ja unter in diesem Meer!
flög' sie nicht aus,
brächte sie nicht
in letzter Stunde das Blatt.
HOTEL DE LA PAIX
Die Rosenlast stürzt lautlos von den Wänden,
und durch den Teppich scheinen Grund und Boden.
Das Lichtherz bricht der Lampe.
Dunkel. Schritte.
Der Riegel hat sich vor den Tod geschoben.
MFA / Ms., Tinte, 1 Bl., kleines Format / Beilagen: Ts.-Durchschlag, 4 Bl., großes Format, Rostspuren durch Büroklammer auf Bl. 2, auf jedem Blatt oben »Ingeborg Bachmann«
»Stiller«] Das Buch wurde nicht in Bachmanns Nachlassbibliothek aufgefunden.
»Graf Öderland«] Die damals einzige Druckfassung des 1951 erstaufgeführten, 1956 und 1961 überarbeiteten Theaterstücks von Frisch erschien 1951 im Suhrkamp Verlag (nicht in Bachmanns Nachlassbibliothek aufgefunden).
STRÖMUNG] BW 1,156, Erstdruck in Jahresring 57/58 (Stuttgart 1957, S. 140).
GEH, GEDANKE] BW 1,157, Erstdruck wie Strömung.
NACH DIESER SINTFLUT] BW 1,154, Erstdruck in Botteghe Oscure (Heft 19, Rom, Frühjahr 1957, S. 448).
HOTEL DE LA PAIX] BW 1,152, Erstdruck wie Nach dieser Sintflut.
6.Ingeborg Bachmann an Max Frisch, Neapel, 20.-22. Juli 1958
Sonntag, den 20. Juli 1958
Neapel –
Heute kann keine Post kommen. Vielleicht kommt lang kein Brief; das fiel mir gestern zur Hilfe ein, damit ich nicht anfange, mich dem Briefträger ganz auszuliefern. Ich arbeite aus Angst, tippe meistens, weil die Muss-Arbeiten zuerst fertigwerden müssen, und nur morgens gehe ich für eine halbe Stunde auf die Terrasse, um so braun zu werden, wie ichs für Dich gern gewesen wäre. Die Tage sind unglaublich, dunstig und blau in der Hitze, gestern ist der neue Mond gekommen, gegen den man sich hier dreimal verbeugen muss, es gehört sich so. Überhaupt die Abende hier: wenn der Golf alle Lichter angelegt hat. Du musst Dir dann denken, dass ich im Dunkeln draussen sitze, hinuntersehe, etwas trinke, an Dich denke, lauter matte zukunftslose Gedanken und sonst nichts, weil ich mehr nicht denken kann. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es weitergehen soll. Hier habe ich gesagt, was geschehen ist, es war nicht schwer. Ich soll bleiben, solange ich will, es ist eigentlich nicht viel zu reden darüber, es wird auch nicht geredet, aber für mich hängen Fragen in der Luft, die ich beim besten Willen nicht aussprechen könnte, wegen dem Bleiben, das doch keines ist.
Auf dem Schreibtisch liegt ein flaches Streichholzding aus dem MövenPick. In der Kadettenanstalt blasen sie die Trompete, sonst hört man, ausser den Flugzeugen, fast nichts. Der Flugplatz hier ist voll von amerikanischen Soldaten, die in den Libanon geschafft werden.
Ich frage mich, was ich bei Dir will mit einem Brief, in dem nicht steht, was zuerst und zuletzt drin stehn möchte, und ich kann Dir auch nicht jedesmal schreiben, dass ich verzweifelt bin. Aber ich kann auch nicht schreiben, dass ich es nicht bin, wenn ich es bin.
Montag war ein langer Tag. Weil ich doch so sehr auf Nachricht von Dir gewartet habe.
Dienstag
Heute morgen kam der Brief. Wenn ich ihn lese, sage ich mir, daß er gar nicht anders aussehn kann, daß auch Deine Situation jetzt keine andre sein kann als diese schwierige. Daß einige Sätze schon weggehn von mir, gehört auch dazu. Zum erstenmal begreife ich, wie verschieden Deine Lage von der meinen ist, ich bin nämlich in gar keiner. Ich habe nicht einmal jemand zu versöhnen, zurückzugewinnen und neu zu lieben; ich bin nur noch deutlicher als früher allein und in keinem Zusammenhang.
Ich fühle mich deshalb nicht mehr, und ich wünsche mir nie mehr eine Hoffnung. Das richtet sich nicht gegen Dich, glaub mir!, nicht einmal gegen mich, denn ich denke auch, daß alles richtig war und so geschehen mußte.
Aber Du darfst nicht nur dasitzen und Whisky trinken, ich bitte Dich, Du machst mich unglücklich, wenn Du nicht arbeitest, denn ich will gern an allem Schuld sein, aber daran nicht. Du mußt arbeiten, versprich es mir, Max, und gleich, und immer. Ich liebe Dich ja, ich will ja, daß der Titel gut wird, und alles!
Ingeborg
MFA / Ts., 1 Bl., hs. korr. u. erg., / Ms., 1 Bl. / jew. kleines Format, Tinte / An: »Herrn / Max Frisch / MÄNNEDORF / bei Zürich / SVIZZERA« / Neapel 23. 7. 1958
MövenPick] Restaurant in Zürich.
Kadettenanstalt] Die ›Scuola Militare Nunziatella‹ befindet sich in derselben Straße wie H. W. Henzes damalige Wohnung.
amerikanischen Soldaten … Libanon] Neapel war seit 1951 ›Headquarter‹ der Allied Forces Southern Europe. Im Libanon brach im Sommer 1958 ein Bürgerkrieg aus, und im Irak wurde am 14. Juli der prowestliche König Faisal II. bei einem Staatsstreich getötet. Zur Wahrung westlicher Interessen landeten seit 15. Juli US-Soldaten im Libanon. Henze kommentiert gegenüber seinem Komponistenkollegen Karl Amadeus Hartmann: »ueber unsere koepfe hinweg brausen die amerikanischen transportflugzeuge nach libanon (neapel ist zwischenlandungsplatz.) diese schweine! diese erzsaeue, diese kriegsmacher, geschaeftemacherschweine! sauschweine!« (21. Juli 1958, Wagner 1980, 197).
der Brief ] Nicht aufgefunden.
Titel] Für Frischs Drama Andorra.
7.Max Frisch an Ingeborg Bachmann, Zürich, 24. Juli 1958, Durchschlag
Zürich, 24. 7. 58
Ist es richtig, Ingeborg, Dir zu schreiben an einem Abend wie heut, wo Du da bist, und Dir zu sagen, wie sehr Du da bist jetzt? – Dir zu melden: ich trinke Whisky an dem runden Tisch, einen, höchstens noch einen zweiten, und ich habe entdeckt, wie der Plattenspieler geht, und es ist spät, still, etwas einsam, nachdem ich Barblin für heute verlassen habe. Ich habe gearbeitet täglich um des Haltes willen, langsam kommt's in Fluss, es fügt sich (so leicht, dass ich dran zweifle) die Folge der Bilder. Nur die Sprache von Andorra ist mir noch gar nicht geläufig! und darauf kommt es allerdings an … Ich sehe Dich kaum, Ingeborg, obschon ich meistens in der fremden Wohnung bin, die unsere gewesen ist. Dann bin ich froh um deine Gedichte. Und ich möchte dein Hörspiel haben. Madeleine brachte die Kritik, die im SPIEGEL erschienen ist, mit deinem Bild, das Madeleine sehr bedrängt hat. Ich erkenne dich nicht darin. Ich habe deinen ersten Brief, der wie ein letzter tönt, und ich fühle, wenn ich hier sitze und nicht arbeite, mit leiblicher Deutlichkeit, wie ich Dich verliere Stunde um Stunde, wie der Abschied, den ich verhängt habe, noch geleistet werden muss von mir. Wie ich wissen möchte, wo Du bist, wie Du bist in diesem Augenblick, und ich habe Angst vor dem Echo, das mich einholen wird.
Jetzt mache ich doch einen dritten Whisky.
Ich bin freier (um auf die Frage deines Briefes zu antworten) als vor einer Woche, stumm, reuelos und leer. Die Hitze ist vorbei, ich schwitze nicht (was mir immer eine Pein ist) und denke, es hätte kühler sein sollen in unseren Tagen, Nächten, ich fühle mich wohler so, freier – Es regnet. Ich bin zweimal oder dreimal in der Wohnung in Männedorf gewesen, die so unbewohnt ist, und weiss nicht, wo ich wohnen möchte. Gestern war eine sehr schwere Begegnung mit Madeleine. Ich kann wenig helfen. Es ist viel zerbrochen, und unser Gespräch hat ein Gefälle zum Unseligen immer wieder. Madeleine bereut sehr, Dich nicht getroffen zu haben. In diesen zwei Wochen hat sie acht Kilo abgenommen, und ihre Stimme ist verändert. Heute habe ich mit ihrer Tochter zu Mittag gegessen. Ich sollte mich um meine eignen Kinder kümmern, die Ferien haben, und bringe mich nicht dazu, und Madeleine fragt sich, ob wir, Du und ich, ein Kind haben werden, und ich arbeite, ich wünsche mir, dass etwas entstünde, was ich Dir zeigen könnte, und ich möchte lesen, was Du machst, was Du versuchst, was Du verwirfst, was Du gelten lässt. Und so wird es immer sein, Ingeborg; auch wenn ich nichts mehr von Dir vernehme als Gedrucktes, was jeder vernimmt.
Ich möchte ein Bild von Dir haben und möchte es nicht. Ich möchte in die Hallen und weiss, dass ich dorthin nie wieder gehe, und ich möchte wissen, wenn Du nicht mehr in Neapel bist und wo Du bist, und was geht es mich an? Du sagst, ich habe Dich fortgeschickt. Ich geh durch die leere Wohnung, die nichts mit mir zu tun hat, und möchte schlafen. Ich möchte, dass Du meinen Namen, den Du nie hast aussprechen können, aussprichst in diese Wohnung, bevor ich sie verlasse. Ich grüsse Dich, Ingeborg Bachmann, kaum anders als damals aus Hamburg.
Max
LIT 423/B894/4 / Ts.-Durchschlag, 1 Bl., großes Format
Barblin] Figur aus Andorra.
fremden Wohnung] Die Wohnung in der Mühlebachstr. 21, die Frisch auch im Juli mit Bachmann benützte, war ihm von Bekannten bis Mitte August zur Verfügung gestellt worden, weil er in seiner eigenen Wohnung in Männedorf, Hasenacker 198 (seit 1955), wegen Baulärms nicht arbeiten konnte (an Peter Suhrkamp, 16. Juli 1958, DLA SUA:Peter-Suhrkamp-Archiv). Der Straßenname erscheint in der Geschichte »Der Goldschmied« in Frischs Tagebuch 1966-1971 (FGW 6,17).
dein Hörspiel] Der gute Gott von Manhattan.
SPIEGEL … mit deinem Bild] Die namenlose Kritik »Bachmann-Hörspiel: Guter Gott« erschien am 18. Juni 1958 im Spiegel (Heft 25, S. 56f.); sie lehnt sich weitgehend an die in der Zeit erschienene an (Stellenkommentar zu Brief 1). Illustriert ist sie mit einer Reproduktion des Spiegel-Titelbilds von 1954 (Heft 34, 17. August 1954) von Herbert List (siehe Abb. S. →); in der Bildlegende ist das Hörspiel zitiert: »Dichterin Ingeborg Bachmann / Kühle Schultern, kühle Augen« (S. 56, BW 1,279).
deinen ersten Brief ] Gemeint ist sicher Brief 4 mit den Gedichten, Bachmanns erster nach der Trennung in Zürich.
Madeleine … Dich nicht getroffen] Während Bachmanns Zürich-Aufenthalt in der ersten Julihälfte.
ihrer Tochter] Madeleine Seigner hatte zwei Töchter aus erster Ehe, Karin und Gisela Hatzky.
meine eignen Kinder] Ursula, Peter und Charlotte Frisch lebten bei ihrer Mutter, Gertrud (Trudy) von Meyenburg.
Hallen] Zu den alten Pariser Markthallen vgl. Frischs Tagebuch 1966-1971: »eine Nacht in den Hallen, als Paar zwischen morgendlichen Metzgern mit Schürzen voll Blut« (FGW 6,119), sowie Montauk: »paris, die ersten Küsse auf einer öffentlichen Bank, dann in die Hallen, wo es den ersten Kaffee gibt: am Nebentisch die Metzger mit den blutigen Schürzen, diese zu plumpe Warnung.« (FGW 6,711) »Les Halles«, die in den 1970er Jahren abgerissen wurden, lagen im 1. Arrondissement, nahe dem Théâtre des Nations.
fortgeschickt] Von der Erfahrung, »fortgeschickt«, »verstoßen« oder »verbannt« zu werden, ist schon in Bachmanns Frühwerk die Rede: Im ersten Hörspiel, Ein Geschäft mit Träumen, sagt Anna zu Laurenz: »Ich liebe Sie und Sie verstoßen mich. Ich will nichts, ich will nur zu Ihren Füßen sitzen dürfen, Ihre Sklavin sein« (BW 1,203). Das Thema wird im Briefwechsel 1959 und 1962 mit ähnlichen Verben mehrmals angesprochen (auch »wegschicken« oder »ausstoßen«); siehe Brief 8, Brief 12, Brief 54, Brief 57, Brief 70 (S. →), Brief 76 (S. →), Brief 78 (S. →), Brief 79 (S. →), Brief 88 (S. →), Brief 90 (S. →), Brief 144 (S. →), Brief 181 (S. →), Brief 183 (S. →) und Brief 245 (S. →).
8.Max Frisch an Ingeborg Bachmann, [Zürich], 25. Juli [1958], Teilabschrift durch Frisch
25. VII
‥ es ist noch immer die gleiche Nacht, ich habe den Brief an Dich eingeworfen, ein Bier getrunken in der Wirtschaft, Zeitungen geblättert, dann in die leere Wohnung zurück, ich möchte schlafen. … Du sagst, ich habe dich fortgeschickt … Ich gehe durch die leere Wohnung, die nichts mit mir zu tun hat, und möchte schlafen. Ich möchte, dass du meinen Namen, den Du nie ausgesprochen hast, aussprichst in diese Wohnung, bevor ich sie verlasse.
LIT 423/B894/5 / Ts., 1 Bl., großes Format / zweiter Text aus einer Sammelabschrift, voraus geht ein Auszug aus dem Brief vom 3. August 1958 (Brief 16), Originalbrief nicht aufgefunden
9.Max Frisch an Ingeborg Bachmann, [Zürich], 26. Juli [1958], Teilabschrift durch Frisch
26. VII
… Volkslieder aus Andalusien. Hinter mir: Arbeitstag, ich komme voran, Irrtum vorbehalten. Keine Zigaretten mehr, keine Zigarre, Whisky zu Ende, ein Freund mit Gattin war hier. Und jetzt hat es geklingelt, denn es wohnt doch jemand im Haus, eine Frau protestiert höflich, dass ich so laute Musik mache, und sagt: Gestern auch bis drei Uhr! Und ich bitte um Nachsicht. Und jetzt, hinter geschlossenen Fenstern, klatscht der Andalusier ganz leise in die Hände, und ich sitze allein vor vollen Aschenbechern und leeren Gläsern. Es könnte gestern sein, aber es ist heute mit der Erinnerung an gestern und der Angst vor dem morgigen Abend. Ich möchte meine Stirn in deinen Schoss legen. Es regnet in Strömen . …
LIT 423/B894/6 / Ts., 1 Bl., großes Format / Originalbrief nicht aufgefunden
10.Ingeborg Bachmann an Max Frisch, Neapel, 28. Juli 1958
Neapel, den 28. Juli 1958
Beide Briefe sind heute früh gekommen, und ich habe sie in der Morgensonne draussen gelesen, zur letzten Tasse Tee von meinem Frühstück, als könnt das Strahlende rundherum die erste Traurigkeit abfangen. Aber jetzt bin ich wieder in meinem Zimmer, das, meine ich, so aussieht, wie Du es Dir vorstellst.
Sag mir, ob ich Dich ganz befreien soll von mir, Dir sagen soll, dass Du mir nicht mehr schreiben mußt oder bald nicht mehr, nicht mehr über uns, wie bisher?
Das Bild im Spiegel ist sehr irreführend, nicht?, man weiss zwar nicht, wie man aussieht, aber so kann ich kaum aussehen; ich habe überhaupt kein vernünftiges Bild. – Ich weiss nicht, was das ist, dass ich allein mit immer grössrer Deutlichkeit weiss, wie ich vorüberziehe in Dir, wie sehr Du, von Anfang an, verloren warst für mich und wie entschieden gegen mich – und dass Madeleine es am wenigsten weiss; das muss furchtbar sein für sie, und wer wird es ihr sagen? Da Du am wenigsten wirst überzeugen können.
Jetzt, wo ich nicht mehr hoffe und manchmal schon vor mir selber an fernere Tage denke, in denen Du verboten bist, wünsche ich mir auch, Madeleine zu sehen, jetzt könnte ich es.
Und vorbeikommen möchte ich noch einmal, in die Wohnung gehen und Deinen Namen sagen, damit er gesagt ist.
Ich frage mich auch, ob ich ein Kind haben werde, weder mit Besorgnis, noch mit einem Gedanken, dass das etwas ändern könnte zwischen uns. Wir brauchen darüber deswegen nie mehr zu sprechen.
Ich bin froh, dass Du arbeitest, und die Sprache von Andorra wird sich auch einstellen mit der Zeit; so rasch kann nicht alles kommen, das wichtigste ist fast, dass Du schon arbeiten kannst. Ich bin immer noch nicht fertig mit den liegengebliebenen Abschreibdingen, einer Bearbeitung und einem Artikel, den ich versprochen habe, es wird bald so weit sein, ich habe mir den 1. August vorgenommen als deadline. Ich denke nach über Deinen Titel und ich werde Dir im Lauf der Woche ein paar Vorschläge aufschreiben, auch dumme, Du weisst, wie das ist, auch wenn keiner taugt, Du findest dann vielleicht weiter. Und schreib mir, was Dir eingefallen ist.
Abends und nachts, weil ich oft lang nicht einschlafe, denke ich von mir ins Allgemeine und an alles, was sich abgezeichnet hat bisher und stosse auf etwas, das ich nicht ausdenken kann. Du sagst: man könnte tot sein und noch so dastehn wie jetzt. Und an einer andren Stelle: dass Du nicht wüsstest, ob Du Dich nach mir oder einem anderen Menschen überhaupt sehnst. – Das trifft sich beinahe mit dem, was ich dann denke; es ist eine Übung in der Leere, man kann nämlich fast alles aufgeben, es ist weder notwendig, an einem bestimmten Ort zu leben, noch mit einem bestimmten Menschen zu leben. Mir ist einmal Rom weggenommen worden, daran muss ich immer denken, unter Umständen, die schauerlich waren, und ich dachte, nie mehr zurückkommen zu können an den einzigen Ort, von dem ich als Ort überzeugt war, ich war wochenlang krank, es kam eins zum andern, nach dem Nervenzusammenbruch handfestere Krankheiten, und zuletzt fühlte ich mich tot vor Gleichgültigkeit. Ein Jahr später wohnte ich wieder in Rom, es war um nichts weniger schön, für die Augen, und ich war gern wieder da, mit einem verlorenen Schmerz aber, keiner Möglichkeit, mich noch einmal so nach einem Ort sehnen zu können, an einen absoluten glauben zu können. Jetzt bin ich nicht krank, es ist mir nichts anzusehen, aber ich sehe ein, dass ich nicht mit Dir leben muss, nicht nach Paris muss, nicht hier sein muss, und hinzu kommt noch, dass ich immer überzählig war, das war ein guter Anfang für Einsicht.
Wenn ich schreiben könnte, wenn nicht alles hinginge in Kälte, wenn die Blätter wenigstens Feuer fingen, wenn man nicht nur inwendig und wortlos abbrennen müsste, dann … Aber was ist das dann, wenn nicht eine alte travestierte Hoffnung auf Menschen?
Montag, am spätren Nachmittag:
Das Portierskind hat den dritten Brief gebracht, aus der Samstagnacht. Und ich werde rückfällig, weiss wieder, wie Du aussiehst und könnte Dir sagen, so weit ichs weiss, was Du für mich bist, was Du warst. Das Du, vor dem ich aufrichtig sein kann, denn ich habe noch nie soviel Vertrauen gehabt, und es ist nie etwas zersprungen zwischen dem Schlafen mit Dir und dem Sprechen mit Dir und dem Essen und den Gängen in der Stadt, obwohl Du immer anders ausgesehen hast. Alles war so einfach und deswegen wunderbar für mich, und der Wunsch, der offen geblieben ist, war nur, Dich jeden Tag offner anschauen zu können, Dich zärtlicher und besser zu lieben. Ich war ganz ruhig und habe mich vor nichts gefürchtet in der Wohnung. Du warst der Strahlenschutz.
– Unterbrochen, ich musste Teekochen gehn, dem Mädchen sagen, was abends gegessen wird. Es gibt kein Telefon hier in der Wohnung. – Was sagst Du, wenn Du mit Rundfunkdirektoren über mich sprichst? – Wenn ich im Wagen fahre, der offen ist, nehme ich immer das Tuch von Dir, damit die Haare nicht fortwehn. O Gott, und jetzt kommt Besuch, und ich will sehn, dass der Brief fortkommt, eh das so weiter geht.
Ingeborg
Ich schreibe morgen wieder, wegen des Titels usw.
MFA / Ts., 2 Bl., kleines Format, hs. korr. u. erg., Tinte / An: »Herrn / Max Frisch / Männedorf / bei ZÜRICH / SVIZZERA« / Neapel 29. 7. 1958
Beide Briefe] Bachmann antwortet wohl auf Brief 7 und auf den der Teilabschrift Brief 8 zugrunde liegenden Brief.
einer Bearbeitung und einem Artikel] Bachmann arbeitete am Libretto für H. W. Henzes Oper Der Prinz von Homburg nach Heinrich von Kleists Prinz Friedrich von Homburg sowie am Essay Musik und Dichtung für die Festschrift Musica Viva (BKS 249-252). Am 21. Juli 1958 schrieb Henze an K. A. Hartmann, den Gründer und Leiter der Konzertreihe ›Musica viva‹ im Bayerischen Rundfunk: »die ingeborg ist auch gluecklich wieder hier gelandet und sitzt im nebenzimmer und haemmert das kleist-libretto in die maschine« sowie »P. S. Ingeborg ist fast fertig mit dem Aufsatz für Dich.« (Wagner 1980, 197f.)
Deinen Titel] Für das spätere Andorra.
Rom weggenommen] Nachdem sie zwei Jahre vorwiegend in Rom und Neapel gelebt hatte, verbrachte Bachmann wegen einer langwierigen Krankheit die Monate August bis November 1955 bei ihren Eltern in Klagenfurt. Es folgte ein Jahr rastloser Ortswechsel. Kurz vor der Jahreswende 1956/57 zog sie wieder nach Rom.
nach Paris] Die im Oktober 1957 wiederaufgenommene Liebesbeziehung zwischen Bachmann und Paul Celan, mit dem sie schon 1948 in Wien und 1950/51 in Paris zusammen war, wurde Anfang Mai 1958 beendet. Bachmann traf ihn und seine Frau Gisèle Celan-Lestrange während ihres Paris-Aufenthalts im Juni und Juli. Außerdem war sie in Kontakt mit Pierre Évrard (bürgerlicher Name Pierre Burk). Den in Paris lebenden französischen Journalisten, der für Zeitungen und Magazine wie L'Est Républicain, L'Express, France-Soir, Paris Matchund zuletzt Le Point schrieb, lernte Bachmann 1955 in Harvard kennen und pflegte mit ihm eine langjährige Liaison.
Strahlenschutz] Bachmann unterschrieb den Aufruf von Kulturschaffenden gegen die geplante Aufrüstung der Bundeswehr mit Nuklearwaffen in der Zeitschrift Die Kultur vom 1. April 1958 und engagierte sich im Komitee gegen die Atomrüstung. Vgl. ihr schon 1957 veröffentlichtes Gedicht Freies Geleit: »Die Erde will keinen Rauchpilz tragen« (BW 1,161).
damit die Haare nicht fortwehn] Anspielung auf Paul Celans 1948 nach seiner Abreise aus Wien geschriebenes Gedicht Auf Reisen: »Dein Haar möchte wehn, wenn du fährst – das ist ihm verboten. / Die bleiben und winken, wissen es nicht« (CGA, 48), und auf Bachmanns Replik in Lieder von einer Insel: »Wenn einer fortgeht, muß er […] fahren mit wehendem Haar« (BAGB 65).
11.Ingeborg Bachmann an Max Frisch, Neapel, [28./29.-30. Juli 1958]
Neapel, Dienstag nacht.
Hab Dank für die Bücher! Gleich, als sie ankamen vor ein paar Tagen, habe ich einen Brief an Dich begonnen, und nun kann ich ihn nicht mehr finden, fand ihn schon gestern nicht. Der »Graf Öderland« ist sehr schön, ich mag ihn sehr, aber es ist schwer, Dir jetzt in einem Brief etwas über die beiden Stücke zu sagen, in mir steckt eine grosse Ungeschicklichkeit, und ich hoffe, Du erwartest keinen Brief darüber. Auch im »Stiller« habe ich wieder viel gelesen, ein bisschen auf der Suche nach Dir, auf einer unerlaubten, aber mit genug Verstand fürs Verwandelte natürlich. In meinem Zimmer sind ganz wenig Bücher, die meisten sind jetzt von Dir, manchmal streu ich einen Hölderlin oder d'Annunzio dazwischen, in dem ich zum Spass absurden Vokabeln nachgehe, die mir niemand erklären kann, – damit es nicht zu obstinat aussieht.
Es ist Nacht, und der Mond wird immer voller, ich habe einen weissen, ziemlich schlechten, aber kalten Wein neben mir stehn. Und ich habe heute oft an den Titel gedacht. Der, den Du vorschlägst in dem Brief (»Andorra. Geschichte einer Legende.«) ist leider auch nicht gut, fürchte ich; da war noch der erste besser. Bis wann musst Du ihn haben?? Mitte August, nicht wahr?
Gestern sind drei Briefe von Dir gekommen, und darüber müsste ich sehr glücklich sein, aber es heisst auch, dass ich nach drei Briefen nicht so bald einen weitren erwarten darf – so schaff ich mir meine Unglücke an! Sehr kindische. In einem Menschen müssen doch eine ganze Menge Schichten miteinander auskommen, die vorsintflutlichen, die gemeinplätzigen, mit denen weiter oben, in denen es unabhängiger zugeht. Es ist also Nacht, und die Zigaretten sind auch nicht besonders gut. Es war wieder ein heisser Tag, aber ich habe viele Seiten abgetippt, bin nicht aus dem Haus gegangen, kaum aus dem Zimmer; zu den Mahlzeiten gibt es zerstreute, angenehm belanglose Gespräche und Schweigepausen, man teilt sich mit, dass es heiss ist, dass man morgen zur Post muss, dass der englische Tee zuende geht, dass man gern einmal ins Kino gehn möchte.
Und ich bin sehr allein, und nicht traurig drum im Augenblick, sondern nur, wenn ich weiterdenke.
Die Fahnen vom Verlag sind gekommen, vom »Guten Gott«, ich kann nicht mehr viel verändern, weil sonst alles neu gesetzt werden müsste, aber sie haben das Buch nicht schlecht gemacht, glaube ich – es sieht viel besser aus als die Fahnen, die Du gesehen hast, und einiges kann ich doch noch so machen, wie Du's mir geraten hast. Ich ginge so gern zu Dir hinüber ins Nebenzimmer, um Dich zu fragen, wegen der Beistriche, und für jeden müsste ich Dich dann einmal umarmen, oder viele Male, und für die Rufzeichen bekämst Du lauter Küsse.
Gute Nacht!
Ingeborg
Mittwoch vormittag:
Die neuen Titel gehen in die richtige Richtung. »Ein Modell«, das ist gut. Am besten in der Kombination: ANDORRA, Ein Modell.
Und jetzt probiere ich ein paar Titel:
DER FALL ANDORRA
DIE STUNDE DER ANDORRANER
DIE JUDENSCHAU
oder etwas mit EXEMPEL, BEISPIEL ANDORRA, (aber man muss aufpassen, dass nicht zwei fremde Worte zusammenstossen, wie »Andorra-Modell«, weil es dann zu angestrengt ist. Auch alles, was auf andorranisch zugeht, muss man wohl vermeiden, weil das »isch« so hemmend ist. Oder vielleicht geht es doch? Ich bin unsicher.)
ANDORRANISCHE ZEIT (wie eine Zeitangabe)
Vielleicht ist alles unmöglich, aber ich schicke einmal diesen Versuch ab und morgen einen neuen, wenn mir was einfällt.
Ingeborg
MFA / Ts., 2 Bl., kleines Format, hs. korr., Tinte / An: »Herrn / Max Frisch/ c. o. Gessner / Mühlebachstrasse 21 / Zürich 8 / SVIZZERA / EXPRESS!« / Neapel 30. 7. 1958 / Expressaufkleber / Zürich 31. 7. 1958 / Kuvert mit griechischem Aufdruck eines Hotels aus Nauplion, auf der Rückseite Zustellvermerk: 1800
Hölderlin] Manchen Gedichten Bachmanns ist die Nähe zu Friedrich Hölderlin deutlich anzuhören, besonders ihrer Hymne An die Sonne (BW 1,136f.). In ihrem Essay Musik und Dichtung bezieht sie sich direkt auf ihn. Allerdings geht es dort um ein ihm zugeschriebenes Wort aus Bettina von Arnims Roman Die Günderode: »Es gibt ein Wort von Hölderlin, das heißt, daß der Geist sich nur rhythmisch ausdrücken könne. Musik und Dichtung haben nämlich eine Gangart des Geistes. Sie haben Rhythmus, in dem ersten, dem gestaltgebenden Sinn.« (BKS 250)
d'Annunzio] Gabriele d'Annunzio, italienischer Lyriker und Romancier des Fin de Siècle.
»Andorra. Geschichte einer Legende.«] Der Vorschlag stammt wahrscheinlich aus einem der nicht oder nicht vollständig überlieferten Briefe Frischs.
Gestern sind drei Briefe] Brief 7-9, siehe Brief 10.
Fahnen … »Guten Gott«] Am 31. Juli und am 8. August 1958 sandte Bachmann Korrekturwünsche zur Buchfassung des Hörspiels an ihren Lektor Reinhard Baumgart (DLA A:Piper). Das Buch erschien im September 1958 als Band 127 der Reihe ›Piper-Bücherei‹.
12.Max Frisch an Ingeborg Bachmann, [Zürich], 30. Juli 1958, Teilabschrift durch Frisch
30. VII. 58
… Wieder die Hitze wie damals! Und ich habe jetzt Mühe mit allem, nirgends ist mir wohl, überall bin ich vorläufig, dazu der Vorläufigkeiten müde, tatlos … Wärst du eine Hexe, Ingeborg, dann wär's erklärt: dann wärest Du es, was mich von allem verstösst . … Du bist da gewesen, und das hört nicht auf, manchmal ist es, als habe alles andere aufgehört, weil Du hindurchgegangen bist. Dann sitze ich wieder denke: Wir wären ein Unheil für einander. Aber auch so ist kein Heil …
LIT 423/B894/7 / Ts., 1 Bl., großes Format / Originalbrief nicht aufgefunden
Wieder die Hitze wie damals!] In Erinnerung an die hochsommerliche Temperatur bei ihrem Zusammensein im Juli in Zürich spielt Frisch auf Der große Gott von Manhattan an: »Mörderisch, diese Hitze. So heiß war es noch in keinem Sommer. […] Damals war es ähnlich heiß.« (BW 1,272)
verstösst] Zur Präsenz des Themas im Briefwechsel siehe Stellenkommentar zu Brief 7.
13.Max Frisch an Ingeborg Bachmann, [Zürich], 31. Juli 1958, Teilabschrift durch Frisch
31. VII. 58
. … ich lese ihn immer wieder, deinen Brief, der die Hoffnungslosigkeit ausruft, und doch . … Was ich dir schrieb heute und zerrissen habe: über die Unmöglichkeit und Möglichkeit, mit einer Frau zu leben, über die Unmöglichkeit, so zu leben, wie ich jetzt lebe; über meine Ratlosigkeit, wenn ich liebe, und meine Verzweiflung, wenn ich nicht liebe … Ich sehne mich nach Dir, Ingeborg, und was ich sonst sage, ist Zierat und Notwehr. Unsre Begegnung ist nicht vorbei, vielleicht hoffnungslos … Du kannst mich begraben, ich weiss, dass Du nie aufhören wirst in mir. Aber wo und wie soll unsere Begegnung, über die Erinnerung hinaus, anzusiedeln sein? Was nicht in Frage kommt: Repetition da und dort. Briefe? Es hallt von Einsamkeit, wenn ich so sitze und schreibe. Es gibt Zeiten, wo ich mich einfach nach Körper sehne, nach deinem, aber da ist man vergesslich, und ich denke eigentlich nicht an unsere paar Nächte, sondern an deine Gestalt, wie sie durchs Zimmer geht. Ich möchte Dich anders kleiden, Ingeborg! Und ich müsste eines deiner Gesichter sehen . … Ich weiss, dass ich Dich halten will in alle Zukunft, ich weiss nicht, wie ich mir das denke. Unser Traumschloss mit dem grossen Hof und den zwei Flügeln, o Gott, dieser Wundergrundriss, den man doch nicht bewohnen kann! weil die Zeit hinzukommt, die Zeit für dich, die Zeit für mich . . … Dass das Erotische sehr sehr dem Ueberdruss (und dann der Lüge) ausgeliefert ist, nur im Fest und im Uebermut des Abschieds zu erfüllen – ich glaube nicht, dass ich mit einer geliebten Frau wohnen kann, und allein wohnen kann ich auch nicht mehr. Mein Traum vom grossen Vertrag: sie dort, ich hier, und zwischen uns die Gewissheit! – aber du siehst, wie ich's halte: plötzlich umarme ich, was nicht zum Vertrag gehört, nämlich Dich . … Im Grund habe ich doch Sehnsucht nach dem Einfürallemal, nach dem Wagnis, dem ich ausweiche ins Abenteuerliche. Gute Nacht Dir! –
LIT 423/B894/8 / Ts., 1 Bl., großes Format / Originalbrief nicht aufgefunden
Unsre Begegnung ist nicht vorbei] In Philippe Pilliods Film Gespräche im Alter zählt Frisch die Begegnung mit Bachmann zu den »drei oder vier oder fünf entscheidenden Erfahrungen«, die der Mensch habe (Pilliod 1986).
Traumschloss … Wundergrundriss] Der Architekt Frisch denkt öfter an die baulichen Voraussetzungen für das Zusammenleben zweier Schriftsteller, die einander trotz lauter Schreibmaschinen nicht stören sollen. Hier spielt er auf sein Stück Don Juan oder Die Liebe zur Geometrie an, dessen Titelheld mit seiner Geliebten ein weitläufiges Schloss mit zwei Flügeln bewohnt (FGW 3,145).
14.Ingeborg Bachmann an Max Frisch, Neapel, [2.] August [1958]
Neapel, den 1. August.
Eigentlich ist schon Samstag, denn es ist 1 Uhr nacht; ein irrer Tag, 40 Grad im Schatten, und eben, vor wenigen Minuten ist ein Wind aufgekommen, es war kaum mehr zu ertragen, für mich weniger, weil es so heiss ist, als weil's auf die ganze Stimmung drückt – ein paar Worte, ein paar Versäumnisse, die einem dann plötzlich so sehr zum Bewusstsein kommen. Am liebsten würd ich wegfahren, um dieses Gefühl nicht mehr haben zu müssen, von all dem Verfehlten hier, dem Unmöglichen. Wenn ichs Dir einen Augenblick vorklagen könnte … wenn ich einen Augenblick denken dürfte, dass das nicht wahr ist, dass es so nicht sein darf und kann, dass ich etwas Ganzes bin und nicht nur ein Ergänzungsstück im Baukasten eines anderen, manchmal fühl ich mich so erniedrigt – das ist das einzige Wort, das mir einfällt, und manchmal kann ichs hinnehmen und dann wieder nicht. Heute gar nicht. In meinem Kopf überschlag ich die Abfahrtszeiten, und zugleich sag ich mir, dass es morgen leichter sein wird, aber es ist immer schlimm, wenn ich an Abfahrtszeiten zu denken anfange. Ich sollte schlafen gehn. –
Eine Tablette gegen Kopfschmerzen. Ein Glas Wasser mit Eisstücken darin. Und Du sitzt in dieser Stunde in der Mühlebachstrasse vor der Maschine und trinkst auch irgendetwas oder bist schon sehr müde oder gar nicht zuhause. In zwei oder drei Monaten geh ich in München zu Deinem Vortrag, und nachher sitzen viele Leute um Dich herum und ich dazwischen, und wir werden einander freundlich ansehen, uns wundern insgeheim über alles.
Ich bin heute mehr bedrückt über mein Hiersein als unsertwegen. Ich bringe keinen vernünftigen Gedanken zuwege.
Ingeborg
MFA / Ts., 1 Bl., großes Format, hs. korr., Tinte
in München zu Deinem Vortrag] Nach der Verleihung des Büchner-Preises in Darmstadt am 8. November 1958 las Frisch am 9. November im Münchner Cuvilliés-Theater »Der andorranische Jude« aus dem Tagebuch 1946-1949 und zwei Szenen aus dem entstehenden Drama Andorra (vgl. Karl Heinz Kramberg: »Thema mit Variationen«, SZ, 11. November 1958). Die Lesungsreihe fand anlässlich der 800-Jahr-Feier der Stadt München statt.
15.Max Frisch an Ingeborg Bachmann, [Zürich], 3. August 1958, Durchschlag
3. 8. 58
Sag mir, wie das enden soll. So langsam, unmerklich-sicher, bin ich ja doch ein Trinker. Gestern Abend und heute in Basel, mit meinem Bub, bei meinem Bruder; Federball im Garten, Baden, Pingpong, Besprechung von Bauplänen, alles gar nett – und ich halte die Menschen nicht aus, und wenn ich allein bin, trinke ich. Jetzt wieder in der Mühlebachstrasse. Anruf bei Madeleine: dass ich wieder hier bin. Und dann die Stille in der Wohnung, der fremden, die ich doch liebhabe, weil sie fremd ist, Durchgang, Geschichte. Und ich kenne das alles so! Meine Sätze, meine Abende, meine Morgenarbeit, meine Flucht von Tapferkeit zu Tapferkeit, mein Fleiss im Umgang mit meiner Impotenz, die Gewissheit, dass ich nie durchstosse. Und die Aussicht auf nahes Alter. Du, davon haben wir nie gesprochen! Du bist 32, ich bin 47 gewesen. Ich gehöre zu den Menschen, die das Alter nicht klärt, sondern entlarvt, fürchte ich, weswegen ich nicht über 60 werden möchte. Was mache ich mit den 13 Jahren? Dann bist du 45. Es verfolgt mich zuweilen eine schöne irre Liebe nach Körpern, heute Spiel mit meiner zehnjährigen Nichte im Bad. Ich bin so froh, Ingeborg, dass Du mich umarmt hast. Ich sollte mich hinsetzen jetzt und lesen, Gide zum Beispiel, übersetzt allerdings; aber ich fülle kein Buch, das ich zur Hand nehme. Ich lese deinen Brief. Ich möchte lesen: Deinen Aufsatz über Proust, alles, was Du schreibst. Schick es doch! Ich liebe mit so zärtlichem Neid die Dichterin in Dir, Ingeborg Bachmann. Ich werde jetzt ein Bad nehmen. Ich bin todmüd und sollte Dir nicht schreiben. Was hast Du davon! Ich möchte mich nicht ins Bett legen, das unser Bett gewesen ist, sondern rücklings auf den Boden, ich möchte, dass Du (mit Deiner leisen und langsamen Stimme und mit deiner Scheu vor dem ungenauen Wort) berichtest, was gewesen ist zwischen Dir und mir, ich möchte es wissen. Vertrauen! Ich bange jedes Mal, wenn ich einen Brief von Dir aufreisse, vor Vertrauen, dass Du bereit bist, Ingeborg, mir das Härteste zu sagen, und ich lese Deine lieben und seltsamen Briefe immer wieder, weil ich bange davor, dass ich's überlesen habe, dass es beim Wiederlesen erst hervortritt, und hervortritt Liebe, die mich vollkommen verwundert. Kann man beschenkter sein als ich! Und ich sitze da, Ingeborg, sehr armselig. Und nimm's nicht übel, dass es jetzt widerlich-literarisch sich ausnimmt – ich nahm's einfach, bevor ich die Flasche entkorkte und bevor ich mich an diese Schreibmaschine setzte, aus der fremden Bücherwand – wenn ich Dich frage, ob Du kennst Gide's verlorenen Sohn in der Uebersetzung von Rilke. Ich will jetzt versuchen das zu lesen. Ich lese ja fast nichts, ich kann nicht eingehen. Es gibt nur die körperliche Zärtlichkeit, die mich zu Augenblicken von Partnerschaft führt, und ausnahmsweise (im Fall mit Dir) das Gedicht; dabei muss ich dir sagen, dass es lange nicht alle sind, die ich vernehme, sondern nur einige – von denen möchte ich ein Kind haben. 's ist Zeit, ja, 's ist Zeit, Ingeborg, dass ich schweige und versuche zu lesen.
Schlaf!
LIT 423/B894/9 / Ts.-Durchschlag, 1 Bl., großes Format / siehe Teilabschrift (Brief 16)
meinem Bub] Peter Frisch.
meinem Bruder] Franz Frisch lebte mit seiner Familie in Arlesheim bei Basel in einem von Frisch geplanten Haus. Max Frisch plante für ihn nun eines in Porza bei Lugano.
Nichte] Annette, Tochter von Franz Frisch; eine Woche nach dem Tod von Max Frisch erschien von ihr ein kurzer Text, in dem sie sich voller Zuneigung an ihren Onkel erinnert (»Mein Onkel Max«, ZüriWoche, 11. April 1991).
Deinen Aufsatz über Proust] Die Welt Marcel Prousts – Einblicke in ein Pandämonium lag als Sendetyposkript vor (BKS 218-241, Erstausstrahlung BR, 13. Mai 1958). Bachmann selbst schätzte den Text als »schandbar schlecht« ein (an Enzensberger, 2. Juli 1960, IB/HME, 87) und ließ ihn nicht drucken.
die Dichterin in Dir] In Gespräche im Alter sagt Frisch ausdrücklich, dass er Bachmann vor dem ersten Treffen von ihren Gedichten her kannte und schätzte (Pilliod 1986). Siehe auch Stellenkommentar zu Brief 80 über David Rokeah.
Gide's verlorenen Sohn … Rilke] Die erste deutsche Übersetzung von André Gides Erzählung Le retour de l'enfant prodigue (1907) erschien 1914 unter dem Titel Die Rückkehr des verlorenen Sohnes als Band 143 der ›Insel-Bücherei‹.
16.Max Frisch an Ingeborg Bachmann, [Zürich], 3. August 1958, Teilabschrift durch Frisch
3. 8. 58
. … es verfolgt mich eine schöne irre Liebe nach allen Körpern, sogar nach Kindern. . … Ich möchte mich nicht ins Bett legen, das unser Bett gewesen ist, sondern rücklings auf den Boden, ich möchte, dass Du (mit deiner leisen und langsamen Stimme und deiner /grausamen/ Scheu vor dem ungenauen Wort) berichtest, was gewesen ist zwischen Dir und mir, ich möchte es wissen.
LIT 423/B894/5 / Ts., 1 Bl., großes Format / erster Text aus einer Sammelabschrift (mit Brief 8), stimmt mit dem Originalbrief (Brief 15) nicht vollständig überein
17.Ingeborg Bachmann an Max Frisch, Neapel, 4. [August 1958]
Neapel, Montag, den 4., vormittags:
Ich kann noch nicht antworten in Ruhe auf Deinen langen Brief, weil ich bis heute abend ein Manuskript fertig machen muss, aber ich bin sehr, sehr froh, dass die Woche mit diesem Brief anfängt. Nur weil sie mir so störend im Kopf herumgehen, möchte ich zu zwei Dingen rasch was sagen: zu dem Piper-Brief und der Geldüberweisung. – Damals, als so viele schlechte Kritiken kamen, nach der Sendung, gab es im Verlag ein Gespräch darüber, einige meinten, mich trösten zu müssen, und ich sagte, es sei nicht so arg für mich, ich hätte von Dir einen Brief bekommen, der mir wichtiger wäre als gute Presse. Und diese tüchtigen Menschen waren aus andren Gründen sehr entzückt und wollten den Brief sehen, ich sagte natürlich nein, aber es scheint, dass ihnen der Gedanke daran keine Ruhe gelassen hat. Ich glaube, ich hätte mich sehr geärgert, wenn ich von dem Brief erfahren hätte, (wenn es die Begegnung mit Dir nicht gegeben hätte) – jetzt allerdings finde ich ihn nur komisch und nur ein bisschen ärgerlich. O Gott. Soviel Ahnungslosigkeit. Denn, in jedem Fall … etc.
Zum Geld: an den »Aufenthaltskosten« bin ich ganz unschuldig, bitte sei nicht böse, ich habe meinem Vater geschrieben, er möchte von meinem österr. Geld, weil ich hier von meinen Sommergeldern schwer was wegnehmen kann, die Summe an diese schweizer Adresse schicken, die ihm natürlich ganz unbekannt ist, und so hat wohl er den Einfall gehabt, oder die Bank für ihn, ich weiss es nicht, vermutlich musste man einen Grund angeben. Bitte sei nicht böse, denn ich leide noch mehr an dem falschen Akzent, und leg es nicht zu meinen Lasten, es war nur ein Wunsch nach Ordnung oder sowas ähnlichem! Welche Streiche wird uns die Ahnungslosigkeit der anderen noch spielen?
Ich muss jetzt rasch fleissig sein und verlass Dich für ein paar Stunden, ziehe den Vorhang zu zwischen den Flügeln.
Ingeborg
MFA / Ts., 1 Bl., großes Format, hs. korr., Tinte
Deinen langen Brief … Geldüberweisung] Es handelt sich entweder um die nicht überlieferten Teile von Brief 12 oder 13 oder um einen weiteren, nicht aufgefundenen Brief. Der genannte Brief des Verlegers Klaus Piper an Frisch ist nicht überliefert. Bei dem Manuskript handelt es sich vermutlich um den K. A. Hartmann versprochenen Essay Musik und Dichtung.
schlechte Kritiken … Sendung] Zur Rezeption der Erstsendung von Der gute Gott von Manhattan siehe Stellenkommentar zu Brief 1.
18.Ingeborg Bachmann an Max Frisch, [Neapel], 5.-6. August [1958]
5. August, abends.
Zu Deinem lieben, langen Brief: was soll ich denn sagen? Du sagst, Du sehnst Dich nach mir, und zugleich kannst Du Dir nicht vorstellen, wie Du mit mir oder jemand andrem leben könntest. Das verstehe ich wohl. Du darfst ja auch nicht glauben, dass ich, als ich einen Augenblick lang hoffen durfte, mit Dir leben zu können, gemeint habe, dass das notwendigerweise ein wunderbares Leben für mich wäre. Es gibt soviele Bedenken und vor allem diese monströse, hauptsächliche Unmöglichkeit, von der Du sprichst. Vielleicht muss man aber keinen Vertrag machen, wenn man genug davon weiss, und es geht trotzdem. Für mich war Neapel die Bestätigung, dass es möglich ist, dass man arbeiten kann nebeneinander (die Unmöglichkeit ist hier eine andre), dass man nicht um sich selbst gebracht wird, wenn der andre auch sehr schwierig vor sich hin lebt – man muss sich dann nicht einmal drüber verständigen, weil man den Vorschuss gibt, um ihn selbst zu bekommen, oder so ähnlich; die Theorie hinkt hier sehr nach.
6. August, morgens:
Dass wir ein Unheil füreinander wären, das mag ich natürlich nicht glauben, wieso auch, wieso sollten wir keine große Chance haben, das weisst Du doch auch, ich meine, wir haben schon vorher allerlei Unheil gehabt und wir werden mit andren ziemlich sicher Unheil haben in Zukunft, und wir wissen, jeder auf seine Weise, ziemlich genau, warum. Nur das Unheil, das wir füreinander sein könnten, ist weniger genau vorzustellen. Vielleicht meinst Du, dass Du Dir diesmal nicht vorstellen kannst, wie das Unheil aussehen soll und fürchtest darum mehr. Oder irr ich mich?
Mittwoch abends:
Ich konnte nicht weiterschreiben, weil wir baden gehen wollten an die Küste, zwischen hier und Sorrent, auf halber Strecke. Einen Ferientag einlegen nach den strengen Tagen und für mich eine Pause machen, weil ich morgen mit meinen eignen Sachen anfangen kann. Es war schön, das Wasser grün und kreidig, sehr warm. Dann in einem dieser traurigen Nester unter dem Vesuv ein Fischessen, und auf der Heimfahrt im Palazzo von Portici, der ganz verwahrlost ist und jetzt einer Agrarschule gehört, Stille und Zauber.
Und ich habe wieder einen Brief von Dir, ich bin immer aufs neue überrascht und ungläubig.X Aber wie soll ich Dir helfen, wenn Du mich nichts tun lassen willst, nur all diese schrecklichen Dinge sagst, über Dich.
Ich möchte, dass Du sehr gut und genau schreibst, und ich möchte natürlich, dass Du nicht soviel trinkst, aber ich kann Dir das Trinken nicht wegnehmen, wenn ich so weit weg bin, (bitte, trink trotzdem nicht soviel!) ich glaube, es wäre nicht einmal so wichtig, in diesen Tagen etwas dagegen zu tun, aber so weitergehn kann es natürlich nicht!
Ich muss Dir gestehn, dass ich jetzt, nach dem Wiederlesen dieses letzten Briefs und des älteren, von vorgestern, zum erstenmal wieder einen verboten aktiven Gedanken gehabt habe, dass ich dachte, ich müsste im Herbst über Zürich zurückfahren, nach Dir sehen und Dich in Ordnung bringen. Ich will ja nichts, aber so, wie alles ist, in Deinen Briefen, kommt mir alles ungelöst und unerlöst vor. Es macht mich so traurig, weil ich fühle, dass es mir, trotz meiner Hoffnungslosigkeit, besser geht als Dir. Ich sehe sehr wohl klar, dass alles um mich herum unmöglich ist, meine Situation hier, der Herbst, der sich vor mir auftut mit der Rückkehr nach München, lauter Improvisationen, alles bleibt unsicher; kein Ort, kein Halt, keine Bindung. Aber meine Kraft ist nicht weniger geworden, immer, wenn ich am Untergehn war, wenn nichts mehr ging, war das da, etwas Unbeschreibliches, Zähes, eine Zuwendung von Sicherheit. Und diese Sicherheit hält mich auch jetzt, eine Form, zu der ich den Inhalt nicht kenne. Ich fürchte mich oft viel mehr vor dem äusseren Zusammenbruch: Alltagsschwierigkeiten, Unfähigkeit, mir die Mittel vernünftig zu organisieren, jedesmal, wenn ich ein Jahr mit Umzügen, Geldaufbringen etc hinter mich gebracht habe, kommt es mir wie ein Mirakel vor.
Was soll ich bloss tun?! Gegen Deine Drift (das ist ein Wort, das ich dafür habe, ich weiss nicht, obs verständlich ist), gegen diese Auflösung!
Hast Du meinen Expressbrief, den ich in die Mühlebachstrasse schickte, bekommen? Du schreibst nichts davon, und ich hoffe, dass er nicht in falsche Hände kommt.
Ach, lebwohl, ich muss jetzt etwas tun, damit nicht der ganze Tag in Gedanken an Dich vergeht. Ich schicke Dir beide Hörspiele, auch das erste, ich habe es mir kommen lassen und nach langer Zeit wiedergelesen, im Hinblick auf Dich, ich glaube, es wird Dir nicht so fremd sein, es ist eine Geschichte vom »Verschwinden«, vom Versuch, aus der Gesellschaft »aus[zu]treten«, nachdem ich es einmal selbst versucht hatte, später sogar noch einmal viel heftiger, aber davon müsste ich Dir einmal erzählen.
Ingeborg
x wenn einer kommt
MFA / Ts., 2 Bl. aus Block, kleines Format, paginiert, hs. korr., Tinte / An: »Herrn / Max Frisch/ Männedorf/ bei ZÜRICH / SVIZZERA« / Neapel 8.(?) 8. 1958
Deinem lieben, langen Brief ] Bachmann antwortet wohl auf den der Teilabschrift Brief 13 zugrunde liegenden Brief.
Neapel … dass man arbeiten kann nebeneinander] Das Leben mit Henze, bei dem sie auch jetzt wohnt, war weniger problematisch, weil Henze nicht Schriftsteller, sondern Komponist war und sich daraus eine inspirierende künstlerische Zusammenarbeit ergab. Außerdem war er homosexuell.
Unheil füreinander] Bachmann bezieht sich auf Brief 12.
mit meinen eignen Sachen] Mit der Arbeit an den Erzählungen für Das dreißigste Jahr.
Palazzo von Portici] Ehemaliger Sommerpalast der Bourbonenkönige in der Kleinstadt südlich von Neapel.
wieder einen Brief ] Wohl Brief 15.
von vorgestern] Vermutlich der in Brief 17 genannte.
Deine Drift] Bachmann gebraucht das Wort auch für ihre eigenen depressiven Zustände und das damit einhergehende Gefühl der Handlungsunfähigkeit und des Kontrollverlusts, z. B. in einem Brief an Ilse Aichinger: »plötzlich weiß ich auch wieder, daß es gehen wird, […] weil ich die ›drift‹ zum Stehen gebracht habe« (7. Januar 1957, IB/IA, 102). Auch Frisch und Heidi Auer-Fassbind verwenden den Begriff in diesem Sinn (siehe Brief 130 u. Brief 256).
Expressbrief ] Brief 11.
beide Hörspiele, auch das erste] Der gute Gott von Manhattan und das hier ausführlich kommentierte, 1955 mit Musik von H. W. Henze im NWDR Hamburg urgesendete Hörspiel Die Zikaden. Dessen einzige vollständige Druckfassung erschien im Hörspielbuch 1955 (Frankfurt/Main 1955). Bachmanns erstes Hörspiel war Ein Geschäft mit Träumen, das sie später kaum erwähnte (Ursendung 1952, zu Lebzeiten nicht gedruckt).
19.Ingeborg Bachmann an Max Frisch, [Neapel, 10. August 1958]
Sonntag:
Was bedeutet denn das Telegramm!? Wohin fährst Du? Ist etwas geschehen? Ich bin so beunruhigt. Sag doch!
Auch habe ich das Gefühl, daß Du etwa zwei Briefe von mir nicht bekommen hast, den Expressbrief, der in die Mühlebachstraße ging, und einen etwas unglücklichen Nachtbrief, später, den hättest Du bei der Rückkehr von Basel eigentlich vorfinden müssen. Nicht daß ich auf jeden eine Antwort erwarte – ich fürchtete nur plötzlich, daß er in falsche Hände gekommen sei.
Morgen müßtest Du einen längeren Brief bekommen und die Hörspiele, hoffentlich erreicht Dich das alles noch!
Ich bin ja so froh, daß Du meine Briefe brauchst wie ich die Deinen, daß Du mir soviel schreibst, ich bin so dankbar, weil es so ist! Vielleicht hast Du mich wirklich lieb, und wir wissen es nur noch nicht so genau …
Ich bin auch plötzlich beunruhigt, weil Du nichts mehr von Dir und Madeleine sagst, ich meine, weil es vielleicht besser wäre, zu wissen, ob Ihr wieder Euren Weg findet, damit ich nicht Worte sage, die Dich stören. Wo bist Du denn, und wo bin ich? Ich denke immerzu an Dich und weiß dabei manchmal nicht mehr, wie es wäre, wenn ich noch einmal anriefe oder aus einem Zug stiege, ob ich Dich dann noch einmal so sehen würde, wie ich Dich vor vier Wochen sah. Aber wir waren ja nicht blind damals, daran muß ich auch denken, und das hilft!
Ingeborg
MFA / Ms., 2 Bl. aus Block, kleines Format, Tinte / An: »EXPRESS/ Herrn / Max Frisch / MÄNNEDORF/ bei ZÜRICH / SVIZZERA« / Expressstempel / Neapel 11. 8. 1958 / Kuvertrückseite mit Zustellvermerk: 2053, 12. 8.
Telegramm] Das Telegramm vom Vortag wurde nicht aufgefunden.
Expressbrief ] Brief 11.
Nachtbrief ] Wohl Brief 14.
Rückkehr von Basel] Siehe Brief 15 (S. →).
aus einem Zug stiege] Anspielung auf Bachmanns Ankunft in Zürich im Juli 1958.
20.Max Frisch an Ingeborg Bachmann, Männedorf, 11. August 1958, Durchschlag
Männedorf, 11. 8. 58
Liebe Ingeborg!
Heute, Montagmorgen, Dein Brief. Ich bin froh drum. Mein Alarm vom Samstagabend: ich zweifelte, ob Du noch in Neapel bist. Und ich habe vor, wenn Du nicht dagegen bist und wenn ich es in Ordnung bringe, sodass es das Richtige ist, am nächsten Sonntag nach Neapel zu fahren. Ich will Dich sehen, hören, sprechen. Sag mir, wenn Neapel für dich unmöglich ist; ich kann auch in Rom bleiben. Was dann, weiss ich nicht. Ich habe um Mitte September wieder in Zürich zu sein. Vielleicht weisst Du einen Platz, wo ich arbeiten kann zwischen Neapel und Sizilien; ich bin wieder in meiner Arbeit. Sicher ist, dass ich von Zürich wegmuss; sonst zerstört sich alles, und viel ist schon zerstört. Wenn wir uns sehen, hab etwas Nachsicht mit mir! Es wird ein schweres Abfahren sein. Gib mir Bescheid, wie es für Dich aussieht, und wenn Neapel, welches Hotel. Und jetzt, Ingeborg, zieh ich auch den Vorhang und arbeite. Lebwohl in deinem Flügel drüben!
LIT 423/B894/10 / Ts.-Durchschlag, 1 Bl., großes Format
Alarm vom Samstagabend] Das in Brief 19 genannte Telegramm.
in meiner Arbeit] Frisch arbeitet an Andorra.
Lebwohl in deinem Flügel drüben] Zum imaginierten Grundriss siehe Stellenkommentar zu Brief 13.
21.Ingeborg Bachmann an Max Frisch, [Neapel, 13. August 1958]
Mittwoch morgens: