Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar - Ingeborg Bachmann - E-Book

Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar E-Book

Ingeborg Bachmann

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Beschreibung

Vom dichterischen Schaffen Ingeborg Bachmanns nicht zu trennen sind ihre essayistischen Texte. Philosophische Reflexionen, Reden anlässlich ihrer Preisverleihungen, Städteimpressionen und Porträts ihrer Zeitgenossen geben im Skizzenhaften Einblick in die »Werkstatt« der Schriftstellerin. Die essayistischen Texte geben ein eindrucksvolles Zeugnis unermesslicher Belesenheit.

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Seitenzahl: 214

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ESSAYS

Ludwig Wittgenstein – Zu einem Kapitel der jüngsten Philosophiegeschichte

Als vor zwei Jahren Ludwig Wittgenstein in Cambridge starb, erschien in einigen Wiener Blättern eine kurze Notiz: »Im Alter von. . . verschied in … der bekannte Philosoph …« Nun, er war keineswegs bekannt; er war eigentlich der unbekannteste Philosoph unserer Zeit, ein Mann, auf den ein Wort seines Landsmannes Karl Kraus zutrifft, der von sich einmal sagte: »Ich bin berühmt, aber es hat sich noch nicht herumgesprochen.« Daß es sich nicht herumspreche, dafür hat Wittgenstein selbst gesorgt. Auch trägt das einzige Buch, das er zu seinen Lebzeiten herausgab, einen Titel so ohne »appeal«, daß sich, mit Ausnahme eines kleinen Kreises von Fachgelehrten, niemand dran vergriff. War er in seinem Werk nur wenigen erreichbar, so in seinem Leben keinem; er mied nach Abschluß des ›Tractatus logico-philosophicus‹[1] die Welt und den Ruhm, verwischte seine Spuren, zog für Jahre als Dorfschullehrer auf das Land, und von seinen letzten Jahren in Cambridge, wo er als Nachfolger von G. E. Moore den Lehrstuhl für Philosophie innehatte, erzählte man, daß er eine Hütte bewohnt habe und darin nur einen einfachen Stuhl als Ausstattung duldete. So hat die Legende sein Leben abgelöst noch zur Zeit, als er lebte, eine Legende von freiwilliger Entbehrung, vom Versuch eines heiligmäßigen Lebens, vom Versuch, dem Satz zu gehorchen, der den ›Tractatus‹ beschließt: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.« Und es war – um es vorwegzunehmen – der Versuch, die Philosophie schweigend zu vollziehen, ein absurder Versuch, wie es scheint, aber der einzig legitime für ihn, nachdem er alles Sagbare klar dargestellt hatte (wie er es von der Philosophie forderte), alles Denkbare, das das Undenkbare von innen begrenzt und so auf das Unsagbare deutet.

Dem Namen Wittgenstein begegnet man in der philosophischen Literatur durchwegs im Zusammenhang mit dem »Wiener Kreis«, der einzigen originalen Neuschöpfung der empiristischen Philosophie in der Gegenwart, der einst angefeindeten und gefürchteten »Vienna Dynasty« der logischen Positivisten, die, zu einem Teil wenigstens, von diesem eigenartigen Denker angeregt, eine neue Schule begründeten. Doch wäre es falsch, Wittgenstein – was fortwährend geschieht – mit dieser Schule zu identifizieren und neben seinem fundamentalen Beitrag zur symbolischen Logik und zu einer »mathesis universalis« (neu formuliert als »Einheitssystem der wissenschaftlichen Erkenntnis«) zu übersehen, was seinem Werk den höchsten Rang sichert. Nicht die klärenden, negativen Sätze, die die Philosophie auf eine logische Analyse der naturwissenschaftlichen Sprache beschränken und die Erforschung der Wirklichkeit an die naturwissenschaftlichen Spezialgebiete preisgeben, sondern seine verzweifelte Bemühung um das Unaussprechliche, die den mit einer Spannung auflädt, in der er sich selbst aufhebt – sein Scheitern also an der positiven Bestimmung der Philosophie, die bei den anderen Neopositivisten zur fruchtbaren Ignoranz wird –, ist ein erneutes, stets zu erneuerndes Mitdenken wert.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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