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Der westdeutsche Rocker und der ostdeutsche Staatsmann. Sie trafen sich erstmals in den 80er Jahren, nach einem Konzert in Berlin-Weißensee. Fast drei Jahrzehnte später sahen sie sich erneut, vor einem Konzert in Halle und auf Wunsch von Kunze. Was zunächst wie ein Schwelgen in Erinnerungen und kontroverse Debatte über die Vergangenheit daherkommt, entwickelt sich alsbald zu einer anregenden Auseinandersetzung mit der Gegenwart. Natürlich haben der Ex-Politiker und der Künstler unterschiedliche Sichten und Erfahrungen, aber gemeinsam ist ihnen die wechselseitige Neugier. Diesem Dialog entnimmt man mehr, als bislang über die beiden bekannt war.
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Seitenzahl: 150
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ISBN eBook 978-3-355-50032-6
ISBN Print 978-3-355-01845-6
© 2016 Verlag Neues Leben, Berlin
Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin
unter Verwendung eines Fotos von ullsteinbild / Jens Köhler (Egon Krenz) sowie MAWI-ARTISTMANAGEMENT / Martin Huch (Heinz Rudolf Kunze)
Die Bücher des Verlags Neues Leben erscheinen in der Eulenspiegel Verlagsgruppe.
www.eulenspiegel.com
Herausgegeben von Diether Dehm
Inhalt
Vorwort
Erste Begegnung
Honecker und Gorbatschow – was für ein Paar
Kohl traf Honecker – in Moskau
Die Sache mit der subjektiven Erinnerung
Heimaten
Ging der Kalte Krieg 1990 wirklich zu Ende?
Von zweierlei Maß
Zwangsadoption und Jugendwerkhof
Wo gab’s den Knick?
Dank des Kanzlers. Aber nicht fürs Geschichtsbuch
Die Mauer und die NATO
Spielräume
Integration der DDR- in die deutsche Geschichte
Wer aber ist »das Volk«?
Hacks und die Hymne
Spitzel, Spionage und das Yeah, Yeah, Yeah
Udos Jacke
Lieber ein Betonkopf als ein Weichei
Biografien
Anlage
Vorwort
Eines Tages simste mir Heinz Rudolf Kunze, er habe das von Egon Krenz herausgegebene Buch über Walter Ulbricht gelesen. Wenn nur ein Teil davon stimme, wofür einiges spräche, müsse er sein Geschichtsbild korrigieren. Ich erzählte Heinz, wie schäbig nach meiner Beobachtung Egon Krenz behandelt werde, von dem einst immerhin Frank Schirrmacher in der FAZ geschrieben hatte, ihm, Krenz, sei eigentlich der friedliche Verlauf der sogenannten 89er Wende zu verdanken. Auch verschwieg ich ihm, wie kleinlich und mitunter auch opportunistisch meine eigene Partei mit dem Manne umgehe. So plante ich zum Fest der Linken ein Podiumsgespräch mit Egon Krenz und einem »Stasi-Opfer«, dem antikapitalistischen Christen Hans-Jürgen Fischbeck. Die Einladungen waren bereits ausgesprochen – auch Gregor Gysi war dafür –, als der Parteivorstand beschloss, diese Debatte nicht stattfinden zu lassen und aus dem Programm zu streichen.
Heinz Rudolf Kunze und ich kamen darüber in ein langes Gespräch, auch weil mich Heinz zwei Jahre zuvor gewinnen konnte, in Talkshows für seinen Freund Christian Wulff Partei zu ergreifen. Wir sprachen über Medientreibjagden gegen Menschen und gegen Abweichungen im Geschichtsbild zur Herstellung eines politisch korrekten Mainstreams. Dabei stellte Kunze mir Fragen, die Egon Krenz betrafen. Beide hatten wir Krenz schon einmal in den 80er Jahren in Ostberlin getroffen. Ich schlug Heinz vor, das Gespräch zu wiederholen, jetzt, fast dreißig Jahre später. Sowohl Kunze als auch Krenz zögerten zunächst. Waren sie sich doch darüber im Klaren, dass einen solchen Dialog sowohl die eine wie die andere Gemeinde nicht gutheißen würde. Zumindest wenn man es an die große Glocke hängen und daraus ein Buch machen würde.
In den 80er Jahren waren Heinz und ich im Vorstand von »Künstler für den Frieden« aktiv. Als ich gesteckt bekommen hatte, dass gegen mich das MfS einen Fahndungsbefehl wegen meines Engagements für Biermann und Bahro erlassen hatte, war ich viele Jahre nicht mehr in die DDR gefahren. Außerdem hatte es mit dem Scheitern der BAP-Tour in der DDR eine gewisse Eiszeit zwischen der FDJ und »Künstler für den Frieden« gegeben.
Im Sommer 1988 plante die DDR-Führung eine internationale Konferenz für eine atomwaffenfreie Zone Europa im Palast der Republik. Alles wollte die SED einem Gelingen dieser Friedensinitiative unterordnen. Und selbstredend: Genau dagegen lief man im Westen Sturm, zumal es der DDR-Führung gelungen war, hochrangige sozialdemokratische Repräsentanten und sogar Regierungsvertreter aus Skandinavien für diese Konferenz zu gewinnen. So sollte zeitlich parallel dazu direkt an der Mauer ein Michael-Jackson-Konzert stattfinden, wozu mir später der Frankfurter Großveranstalter, mein Freund Fritz Rau sagte, dass an das Management die Bitte vom Springer-Verlag, der das Konzert unterstützte, herangetragen worden sei, einen Teil der Lautsprecher so aufzustellen, dass sie in Richtung Ost-Berlin strahlten. Michael Jackson selbst wusste davon nichts, dass sein Konzert missbraucht werden sollte.
Der stellvertretende DDR-Kulturminister, mein Sangesbruder Hartmut König, bat mich um eine Zusammenkunft, auf der das Problem besprochen werden sollte. Mit dem Hinweis auf die vor zehn Jahren gegen mich erlassene DDR-Einreisefahndung konnte ich ihn zu einem Besuch bei mir in Frankfurt am Main bewegen. Bei mir zu Hause besprachen wir, parallel zum Jackson-Konzert ein eigenen Rockevent der FDJ in Ost-Berlin mit Bryan Adams, Heinz Rudolf Kunze, den bots und DDR-Spitzenbands zu organisieren. Damit ließe sich vielleicht der Druck an der Mauer beim Jackson-Konzert minimieren und Zusammenstöße vermeiden.
Am Vortag des großen Rockereignisses stellte Hartmut König Katarina Witt und mich einander vor, die wir das Konzert moderieren sollten. Bei dieser Gelegenheit übergaben wir als »Künstler für den Frieden« an Egon Krenz eine Petition, Stefan Krawczyk aus der Haft zu entlassen (was meines Wissens auch unmittelbar danach erfolgte).
1988 ging es um einen atomwaffenfreien Korridor in Zentraleuropa, es ging um existentielle Fragen. 2016, als wir diesmal zusammenkamen, ist der Frieden nicht minder gefährdet. Die NATO steht an Russlands Grenze. Bombengeschwader des Kapitals und Rüstungsexporte jagen immer mehr Menschen auf die Flucht. Die Rechtskräfte verwursten europaweit selbst linken Unmut. Und, wie es Brecht formulierte: keine »Stimme ertönt außer der Stimme der Herrschenden … und auf den Märkten sagt die Ausbeutung: jetzt beginne ich erst!«
Wer sich da also schwächer fühlt, möge über seine Schwächen reden. Die früheren und die noch wachsenden. Dazu beitragen kann dieses Buch.
Dr. Diether Dehm
Herausgeber
Erste Begegnung
Wann haben Sie, Egon Krenz und Heinz Rudolf Kunze, sich zum ersten Mal gesehen?
Kunze Ich meine, das war im Gästehaus der FDJ in Berlin-Weißensee 1988. Sie hatten dazu mich und andere Künstler eingeladen und hielten in freier Rede einen zwanzigminütigen Vortrag, wie Sie die Weltlage sahen. Zu Beginn der Zusammenkunft, wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, richteten Sie Grüße von Erich Honecker aus, der es bedauerte, nicht zum Konzert hatte kommen zu können, weil irgendein Botschafter ihn daran gehindert habe. Diese Art des Aufeinanderzugehens hat mich durchaus verdutzt. Das hatte ich so nicht erwartet.
Krenz Das war am 19. Juni 1988. Ich kann mich daran noch gut erinnern. Es war das Abschlusskonzert der Tournee europäischer Künstler unter dem Motto »Für einen atomwaffenfreien Korridor in Mitteleuropa!«. Über 120.000 Zuhörer waren in die Rennbahnstraße nach Weißensee gekommen, einer von ihnen war ich. Sie traten dort zusammen mit Hannes Wader, den Gruppen »bots« aus den Niederlanden, »Big County« mit Bryan Adams aus Kanada und »City« aus der DDR auf. Neben Musik, die mir gefiel, imponierte mir, dass Sie eine wichtige Losung aus den Raketengesprächen beider deutscher Regierungen aufgegriffen hatten, die die besondere deutsche Verantwortung für die Abrüstung unterstrich: »Je kürzer die Raketen, desto deutscher die Toten.«
Diether Dehm, der unser heutiges Treffen vermittelt hat, moderierte damals zusammen mit Katarina Witt die Veranstaltung.
Kunze Ja, es ging um die Raketenfrage. Was mich bei Ihren Ausführungen überraschte, war weniger das, was Sie sagten, sondern die Blicke, die Sie mit Aurich – damals Chef der FDJ, die die Konzerte organisiert hatte – hin und wieder austauschten, wenn sie von »den Freunden« sprachen. »Die Freunde«: das war die Sowjetunion. Das Augenzwinkern machte die Ironie und damit die Botschaft erkennbar: Wir und Moskau sind uns nicht immer einig, da gibt es unterschiedliche Auffassungen … Ich dachte, ich sitze im falschen Film.
Krenz Wir waren damals noch viel unbefangener. Ich glaube, wir waren sogar per Du, Herr Kunze, weil das eine ganz offene Begegnung war.
1988 war, wenn ich das noch nachtragen darf, ein gutes Jahr für die Musik-Szene, für die Fans in der DDR. Es gab am 19. Juli das größte Rockkonzert, das die Hauptstadt je erlebt hatte: Bruce Springsteen trat dort, wo auch Sie vier Wochen zuvor spielten, vor etwa einer Viertelmillion begeisterter Jugendlicher auf. Es waren zwar nur 160.000 Karten verkauft worden, aber die für die Sicherheit Zuständigen gingen von über 250.000 Zuhörern aus.
Nun war ich damals um die 50 und gewiss älter als die meisten auf dem Platze, aber ich rechnete nach der seinerzeit üblichen Lesart noch nicht zu den »alten Herren«, dennoch scheint mir in diesem Zusammenhang der Hinweis notwendig, dass solche Konzerte keineswegs gegen den Willen oder gar Widerstand des Politbüros, also der »alten Herren«, stattfanden. Wer bewilligte denn die Valuta für die Gastspiele? Und die internationalen Künstler waren nicht eben billig.
Und noch etwas: Diesen Konzerten wurde im Nachhinein eine Bedeutung angedichtet, die sie nicht besaßen. Sie seien angeblich die Ouvertüre zum »Mauerfall« gewesen. Bruce Springsteen etwa hatte gesagt: »Ich bin gekommen, um Rock’n’Roll zu spielen in der Hoffnung, dass eines Tages alle Barrieren niedergerissen werden.« Ich habe damals mit den anderen dazu geklatscht – für mich war eine solche Bemerkung nicht anstößig. Niemand konnte damals vorhersehen und -sagen, was am 9. November 1989 geschehen würde.
Kunze Ich verstehe, Sie verwahren sich dagegen, dass diese Konzerte falsch interpretiert werden.
Krenz Es geht doch nicht um die nachträgliche Auf- und Umbewertung dieser Veranstaltungen, was ich in der Tat für Hochstapelei halte. Sondern man muss auch sehen, dass solche Darstellungen einzig der nachträglichen Denunziation der Künstler, die dort auftraten, und der Verunglimpfung der DDR dienen. Der DDR-Führung Jugend- und Rockfeindlichkeit zu unterstellen, ist ja nun wirklich das Allerletzte.
Von einer Zeitung wurden Sie kürzlich mit dem Satz zitiert: »Zu Zeiten der Friedensbewegung haben sich deutlich mehr Musiker politisch engagiert als heute.« Ich entnehme dem, dass sie erstens der Meinung sind, dass das nicht falsch war, was Sie und andere Künstler taten, und zweitens, dass Sie es bedauern, wenn dies heute nicht mehr geschieht, weil Sie drittens der Meinung sind, dass die heutige Zeit erneut vollen Einsatz für den Frieden verlangt.
Kunze Das trifft zu.
Krenz Unsere Welt ist durcheinandergeraten, voll von Krisen und Kriegen. Mich beunruhigt zutiefst, dass selbst der 75. Jahrestage des Überfalls Deutschlands auf die Sowjetunion nicht zum nachdenklichen Innehalten führt. Und die wenigen, die vor Säbelrasseln und Kriegsgeschrei warnen wie etwa der Außenminister, beziehen Prügel. Die NATO verschärft den Kurs. Deutschland schickt Soldaten ins Baltikum und nach Polen. Das ist nicht nur gefährlich, sondern instinktlos sondergleichen. Haben die Entscheidungsträger schon vergessen, dass dort schon einmal deutsche Soldaten mit ihren Wehrmachtstiefeln standen? Oder glauben sie gar, dass das ganze deutsche Volk gleich ihnen vergessen hat, was Nazideutschland seinen Nachbarn angetan hat?
Als US-Präsident Obama bei seinem Besuch in Ihrer Heimatstadt Hannover Angela Merkel aufforderte, deutsche Truppen ins Baltikum zu schicken, verschlug es mir den Atem. Ich hätte mir von Angela Merkel eine deutsche und keine amerikanische Antwort gewünscht. Vergleiche hinken oft, aber dieser scheint mir angebracht: Als der Warschauer Vertrag 1968 seine Truppen in die ˇCSSR schickte, waren deutsche Soldaten nicht dabei. Walter Ulbricht hatte in einem langen Telefonat mit Leonid Breshnew erreicht, dass wegen der unheilvollen deutschen Vergangenheit in der Tschechoslowakei sich die NVA nicht an dieser Militäraktion beteiligt. Auch so können Lehren aus der Geschichte aussehen.
Kunze Die Intervention fand meine Zustimmung nicht.
Krenz Man mag dazu stehen wie man will, aber mir geht es an diesem Beispiel vornehmlich um politische Sensibilität, die die immer auch die Historie bedenken soll. Ich halte es nicht nur für bedrohlich, sondern für instinktlos, wenn die NATO quasi in Sichtweite der russischen Grenze abhält. Am 8. Juli 1989 meldete der Oberkommandierende der Vereinten Streitkräfte des östlichen Bündnisses, Armeegeneral Pjotr G. Luschew, in einem geheimen Bericht den Staats- und Parteichefs des Warschauer Vertrages sehr besorgt: »Es wird immer schwerer einzuschätzen, ob es sich tatsächlich um Übungen oder um konkrete Vorbereitungen auf eine Aggression handelt. Wir müssen auch 1989 von einer militärischen Bedrohung durch die NATO ausgehen.« Angeblich ging doch 1990 der Kalte Krieg zu Ende. An der Bedrohung, an den Übungen jedoch hat sich nichts geändert, im Gegenteil: Es ist gefährlicher geworden.
Honecker und Gorbatschow – was für ein Paar
Kunze Ich will noch einmal auf meine Ausgangsbemerkung zurückkommen: Sie schienen in dieser Gesprächsrunde in der Pistoriusstraße ironisch über Gorbatschow und »die Freunde« zu urteilen.
Krenz An die Ironie kann ich mich nicht erinnern.
Kunze Ich schon.
Krenz An diesem Punkt lohnt sich ein Streit wahrlich nicht. Aber vielleicht sollte ich mal auf das Verhältnis zwischen Berlin und Moskau, zwischen Honecker und Gorbatschow eingehen, warum uns der zweifelhafte Ruf nachgeht, gegen »Perestroika« und »Glasnost« in Gänze gewesen zu sein. Dazu muss ich jedoch ein wenig weiter ausholen. Haben wir die Zeit?
Kunze(schaut auf die Uhr) Aber immer.
Krenz Wir sind uns darüber einig, dass es ohne die Sowjetunion keine DDR gegeben hätte, wie eben auch die Bundesrepublik Deutschland dem Nachkriegskonzept der USA entsprach. Die Sowjetunion war also sowohl Geburtshelfer der DDR als auch einer ihrer Totengräber. Die DDR ihrerseits war stets ihr zuverlässiger Freund und Bündnispartner. Auch als Gorbatschow im Kreml regierte. Das Gemeinsame hatte immer Vorrang vor den Differenzen, jedenfalls war das unsere Linie. Und darum sage ich: Nicht an Meinungsverschiedenheiten zwischen Honecker und Gorbatschow ist die DDR zerbrochen. Die außenpolitische Ursache dafür war in erster Linie die Niederlage der UdSSR im Kalten Krieg mit den USA.
Kunze Auf diese Frage sollten wir später ausführlich zu sprechen kommen. Mich interessiert zunächst die Frage, die Sie selber angeschnitten haben, damals bei diesem Treffen im Sommer ’88.
Krenz Das Verhältnis zwischen Honecker und Gorbatschow war anders belastet, als häufig angenommen wird. Um zu verstehen, was Ende der 80er Jahre zwischen Moskau und Berlin passiert ist, genügen nicht die Vokabeln »Perestroika« und »Glasnost«. Lange bevor diese aufkamen, bestanden zwischen Honecker und Gorbatschow Differenzen in für die DDR lebenswichtigen Fragen. Sie betrafen die Beziehungen der DDR zur Bundesrepublik im Westen und zur Volksrepublik China im Osten.
Honecker zeigte in beiden Fällen Weitblick, während Gorbatschow notwendige Entwicklungen eher zu bremsen oder gar zu verhindern versuchte. Da blieb er ganz im traditionellen sowjetischen Stil der Einschränkung und Beschneidung der Souveränität der sozialistischen Länder.
Kunze Beschränkungen in der Innen- oder der Außenpolitik der Verbündeten?
Krenz Auf beiden Feldern. Es war aber auf keinen Fall so, wie oft behauptet wird: in Moskau der stürmische Reformer und in Berlin der notorische Dogmatiker, der bremste und sich verweigerte. Dieses Bild ist zwar populär, aber nicht für alle Situationen zutreffend. Die Rollenverteilung war oft eine andere als gemeinhin angenommen. Und: Honecker lernte Gorbatschow als einen Politiker kennen, der sich wiederholt korrigierte und neu interpretierte.
Kunze Was ja a priori nicht schlecht sein muss. Ich finde, dass sich Politiker viel zu selten korrigieren. Manche gelangen erst zu vernünftigen An- und Einsichten, wenn sie bar eines Amtes sind. Ich erinnere an Robert McNamara, der als US-Verteidigungsminister Vietnam in die Steinzeit zurückbomben wollte, in seinen Memoiren dreißig Jahre später verurteilte er den von ihm mitgetragenen Krieg als »furchtbaren Irrtum« und engagierte sich für die totale atomare Abrüstung und gegen den Irakkrieg der USA – gegen den, wenn ich das einflechten darf, ich mich ebenfalls öffentlich ausgesprochen hatte. McNamara war vom Kriegstreiber zum Pazifisten geworden. Oder nehmen Sie Norbert Blüm. Der bekennt sich inzwischen als Antikapitalist, obgleich er doch im Kabinett von Kohl den Kapitalismus als Minister gestützt und getragen hat.
Krenz Nein, bei Gorbatschow waren die Korrekturen anderer Natur. Ich erinnere an die frühen 80er Jahre. Es lief die NATO-Nach- oder Vorrüstung, und die Sowjetunion ließ sich auf diesen Irrsinn ein. Die USA erneuerten ihre atomar bestückten Mittelstreckenraketen in Westeuropa, die, weil sie die Silos der sowjetischen Interkontinentalraketen erreichten, nicht mehr taktischer, sondern nunmehr strategischer Natur waren, worauf die Sowjetunion ihre Kurzstreckenraketen in der DDR und in derˇCSSR stationierte. Honecker, der das Bündnis nie infrage stellte, wollte aber einen anderen Weg gehen. Er setzte auf Gespräche und warb für eine blockübergreifende »Koalition der Vernunft«. Er traf sich mit den Ministerpräsidenten Kanadas, Schwedens, Griechenlands, Frankreichs und Italiens, mit dem Präsidenten Finnlands sowie dem Bundeskanzler und dem Bundespräsidenten Österreichs. BRD-Politiker begannen Pilgerfahrten in die DDR, sie wollten mit Honecker fotografiert werden. Dies sei für den Wahlkampf in der Bundesrepublik wichtig, meinten sie – jedenfalls damals.
Die Sowjetunion sah dies alles mit Unbehagen. Dort hatte Ende der 70er Jahre eine Periode der Stagnation begonnen. Außenpolitisch war die Sowjetunion angeschlagen. Nicht nur dadurch, dass die internationalen Abrüstungsgespräche unterbrochen waren. Ich erinnere zudem an den Einmarsch in Afghanistan 1979, an den Olympia-Boykott des Westens 1980 in Moskau und die von der DDR nicht gewollte Revanche des Boykotts 1984 in Los Angeles. Die überalterte sowjetische Führung konnte objektiv kein sachkundiger Ansprech- und Verhandlungspartner für Westpolitiker sein. Das wurde nun, zwar etwas unfreiwillig, aber sehr engagiert der damals gegenüber der sowjetischen Spitze wesentlich agilere Honecker.
Kunze Unfreiwillig?
Krenz Er hatte sich nicht um diese Rolle beworben, aber er handelte logisch und vernünftig unter den obwaltenden internationalen Umständen. Das machte ihn zu einem erfolgreichen Unterhändler.
Er entschloss sich 1983 zu einem für ihn ungewöhnlichen Schritt. Auf der Novembertagung des SED-Zentralkomitees meldete er sich unerwartet zur Diskussion. Er hielt weder die Hauptrede noch das Schlusswort. Etwas Ähnliches kannten wir bisher nicht von ihm. Auf diese Art umging Honecker die Notwendigkeit, sich seine Rede vom Politbüro bestätigen lassen zu müssen. Er vermutete nicht unbegründet, einige im Politbüro könnten seine Politik gegenüber dem Westen ablehnen, weil diese nicht mit der sowjetischen Führung abgestimmt war.
Bundeskanzler Kohl hatte sich laut Moskauer Bewertung zum »europäischen Wortführer der Raketenbefürworter« gemacht und galt als »raketensüchtig«. Die Deutschen, so die sowjetische Führung warnend, würden sich künftig nur noch »über Raketenzäune hinweg unterhalten können«.
Das war für Honecker keine Perspektive. Er teilte die Ängste vieler Menschen vor einem möglichen Krieg und sprach von den Raketen als »Teufelszeug auf deutschem Boden«, wobei er nicht zwischen amerikanischen und sowjetischen Raketen unterschied. Ihre Stationierung »löst auch bei uns keinen Jubel aus«, erklärte er, statt des »Raketenzaunes« setze er auf eine »Politik des Dialogs«. Die Stationierung müsse gestoppt, die bereits installierten Systeme abgebaut und die Rüstungsspirale angehalten werden!
Die Sticheleien aus dem ZK-Apparat in Moskau setzten unmittelbar nach dieser Rede Honeckers ein. Da sie bei ihm aber erkennbar nicht mehr fruchteten, wurde bald öffentlich von ganz oben Front gegen unsere Politik gemacht. Die Parteizeitung Prawda veröffentlichte am 27. Juli 1984 einen folgenschweren Grundsatzartikel zur Deutschlandpolitik mit der Überschrift »Im Schatten amerikanischer Raketen«. Ein zweiter polemischer Beitrag folgte.
Beide Veröffentlichungen brachten starke Unruhe in die Politik sowohl der BRD als auch der DDR. Für uns waren es konzentrierte Angriffe auf die von Honecker initiierte Dialogpolitik. Kanzler Kohl polterte seinerseits: Die Artikel seien eine »unverfrorene Kampagne gegen die Bundesrepublik«. Doch da irrte der damals noch unerfahrene Außenpolitiker Kohl – im Unterschied zur Washington Post.