Wir und die Russen - Egon Krenz - E-Book

Wir und die Russen E-Book

Egon Krenz

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Beschreibung

Als Russland noch Sowjetunion hieß: Egon Krenz über das schwierige Verhältnis zweier Staaten Lange bevor Gorbatschow von den Zuspätkommenden sprach, die das Leben strafen würde, zeigten sich Risse zwischen sowjetischer und DDR-Führung. Was lief angesichts der 89er Ereignisse hinter den Kulissen zwischen Berlin, Bonn und Moskau? Die DDR war zwar ein souveräner Staat, hier standen aber eine halbe Million Sowjetsoldaten. Sie griffen nicht ein. Warum? Die DDR-Führung hatte sie gebeten: Bleibt in den Kasernen! Erstmals berichtet das damalige DDR-Staatsoberhaupt, Egon Krenz, über die Absprachen mit Moskau. Zum 30. Jahrestag des Ereignisses rekonstruiert Egon Krenz in dem Sachbuch "Wir und die Russen" die vielfältigen Vorgänge, die damals zwischen den politischen Akteuren abliefen, korrigiert Legenden und belegt mit Fakten, wie es dazu kam, dass aus dem Kalten Krieg am Ende nicht noch ein heißer Krieg wurde. Der Mauerfall, der nunmehr 30 Jahre zurückliegt, leitete das Ende des Ostblocks ein. Aber die Grenzöffnung, die Egon Krenz mit verantwortete, hatte eine lange Vorgeschichte. Zu der gehört das spannungsreiche Verhältnis zwischen Erich Honecker und Michail Gorbatschow. Krenz, Zeuge von Begegnungen und Gesprächen dieser beiden Politiker, des Deutschen und des Russen, berichtet exklusiv von Vorgängen und Ereignissen, die noch nie publiziert wurden und von denen es nur seine persönlichen Aufzeichnungen gibt.

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edition ost im Verlag Das Neue Berlin – eine Marke der Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage

ISBN E-Book 978-3-360-51045-7

ISBN Print 978-3-360-01888-5

1. Auflage 2019

© Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage GmbH, Berlin

Umschlaggestaltung: Verlag, Peter Tiefmann unter Verwendung eines Fotos von imago images / Sven Simon

www.eulenspiegel.com

Das Buch

Die DDR war ein Kind der Sowjetunion, hieß es. Deshalb war das Verhältnis zwischen Berlin und Moskau von zentraler Bedeutung für die Existenz der DDR. Egon Krenz, letzter Generalsekretär der SED, reflektiert diese Beziehungen, beschreibt Vorgänge und exklusive Einblicke, die er in seiner politischen Tätigkeit gewonnen hat. Seine Sicht ist die eines einzigartigen Zeitzeugen und Akteurs. Vieles, was er berichtet, wird hier erstmals öffentlich.

Der Autor

Egon Krenz, 1937 geboren in Kolberg (heute Kołobrzeg), arbeitete nach einem Lehrerstudium in Putbus auf Rügen und zweijährigem Dienst in der Nationalen Volksarmee als Funktionär der Freien Deutschen Jugend, deren 1. Sekretär er von 1974 bis 1983 war. Der SED-Führung gehörte er seit 1971 als Kandidat, seit 1973 als ZK-Mitglied an. 1976 wurde er Kandidat, 1983 Mitglied des Politbüros und Sekretär des ZK der SED. Im Herbst 1989 war er in der Nachfolge Erich Honeckers Generalsekretär des ZK der SED sowie Vorsitzender des Staatsrates und des Nationalen Verteidigungsrates der DDR. Er trat Anfang Dezember 1989 von allen Funktionen zurück. In einem zweifelhaften Verfahren wurde er 1997 wegen »Totschlags in vier Fällen« zu einer Haftstrafe von sechseinhalb Jahren verurteilt, von denen er vier Jahre absaß. Egon Krenz lebt in Dierhagen an der Ostsee.

Inhalt

Zu diesem Buch und zum Titel

Jahresauftakt 1989: Diplomaten geben der DDR ein langes Leben

Eine dramatische Konfrontation im Sommer 1984

Fehldiagnosen in der Bundesrepublik

Der verlorene Kampf um die Olympischen Spiele

Hoffnungsträger gewählt

Als Kohl Honecker noch vertraute

Gorbatschow und die beschränkte Souveränität der Verbündeten

Geheimdienste stören – das Misstrauen wächst

Kartoffelzählen auf höchster Ebene

Perestroika – Hoffnung auf Russisch

Ein widerlicher Vergleich

Ostgipfel und Westprovokation

Der Mindestumtausch – was er sein sollte, und was er gelegentlich war

Die Mauer und 100 Jahre

Der gewonnene Kampf um die Olympiade 1988

Das Bündnis bröckelt

Die Kunst der Verstellung

Ein Brief von Schewardnadse

Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben

Der 8. Oktober und die Gewalt

Wunsch an die Waffenbrüder: Bleibt in den Kasernen!

Honeckers Sturz und Moskaus Reaktion

Ein Treffen, das von Gorbatschow schnell vergessen wurde

Information oder Provokation?

Wahrheiten und Legenden vom 9. November

Die Nachwirkungen

Wie viel verzeiht die Geschichte?

Zu diesem Buch und zum Titel

Ein knappes Jahr vor der Gründung der DDR, am 19. November 1948, erschien in der Zeitung Neues Deutschland ein aufsehenerregender Artikel unter der Überschrift »Über ›die Russen‹ und ›über uns‹«. Sein Autor: Chefredakteur der Zeitung Rudolf Herrnstadt. Der Mann kam zwar einige Jahre später mit seiner Partei, der SED, und seine Partei mit ihm in Konflikt, worauf ich hier nicht eingehen will. Aber das, was er schrieb, war in der Nachkriegssituation und der weit verbreiteten antirussischen Stimmung in Ost- wie in Westdeutschland geradezu sensationell.

Er äußerte sich nicht als Privatmann. Herrnstadt hatte niedergeschrieben, was in der obersten Etage der SED gedacht wurde.

»Es gibt […] keine Überwindung der gegenwärtigen materiellen und ideologischen Schwierigkeiten«, schrieb er, »ohne richtige Einschätzung der Rolle der Sowjetunion, ohne rückhaltloses Bekenntnis zur Sowjetunion, ohne uneingeschränkte Unterstützung der Sowjetunion […], ohne ein richtiges Verhältnis […] zur Sowjetunion [gibt es] keine gesicherte Zukunft des deutschen Volkes«.

Manches in diesem Artikel ist inzwischen obsolet, die Ausdrucksweise seiner Zeit gemäß und die Argumentation für nachfolgende Generationen nicht immer plausibel. Doch der Grundgedanke dürfte auch in der Gegenwart unvermindert gelten: Ohne ein aufrichtiges Verhältnis der Deutschen zu den Russen »gibt es keine gesicherte Zukunft des deutschen Volkes«.

Dieser Leitgedanke gehörte vierzig Jahre zur Staatsdoktrin der DDR. Das war gut so. Das sicherte nicht nur unserem Land den Frieden, sondern auch Europa. Als Russlands Präsident Jelzin und seine Satrapen die Sowjetunion aus der Weltgeschichte abmeldeten, änderte sich das. Ohne Sowjetunion wurden Kriege wieder führbar, wie etwa der gegen Jugoslawien. Auch mit deutscher Beteiligung!

Als die Sowjetarmee 1945 mit ihren Partnern in der Antihitlerkoalition Deutschland vom Faschismus befreite, war ich acht Jahre alt. In Erinnerung geblieben ist mir, dass die sowjetische Besatzungsmacht ein riesiges Plakat mit dem Bildnis Stalins kleben ließ, auf dem geschrieben stand: »Die Hitler kommen und gehen, das deutsche Volk, der deutsche Staat bleiben.«

Diese bemerkenswerten Worte wurden später nicht falsch, weil sie von Stalin stammten. Wer sie zitiert, muss nicht unbedingt Stalinist sein. Für mich sind es tiefgehende Äußerungen über das am Boden liegende Deutschland. Gedanken eines Siegers über ein Deutschland am Ende des fürchterlichsten Krieges aller Kriege, der seiner Heimat durch deutsche Schuld 27 Millionen Tote und verbrannte Erde hinterließ.

Mir sagen diese wenigen Worte, dass es der Sowjetunion nie um Rache, nicht um die Zerstückelung Deutschlands, nicht um die Unterjochung ging, sondern um ein einheitliches Deutschland ohne Nazis und als Friedensstaat im Zentrum Europas. Ja, es gab in all den Jahren Querelen, über die ich in diesem Buch berichte, aber für die Geschichte wird bleiben: Die DDR-Deutschen und die Russen, die Belorussen, die Ukrainer, die Balten, die Kasachen und die anderen über hundert Nationen des Vielvölkerstaates Sowjetunion hatten ein neues Verhältnis zueinander gefunden, das frei war von Hass und Zwietracht. Ich erinnere mich, mit welcher Leidenschaft wir als Kinder sangen: »Tausende Panzer zerwühlten das Land, / hinter sich Tod und Verderben, / Weiten sowjetischer Erde verbrannt, / Städte in Trümmer und Scherben. / Doch allen Hass, alle Not überwand / siegreich die Sowjetunion. Brüderlich reicht sie die helfende Hand / auch unserer deutschen Nation.«

Bei allem, was ich in meinem späteren politischen Leben auch an Auseinandersetzungen zwischen den Führungen der UdSSR und der DDR erlebt habe: Nichts kann mir diese grundlegende Überzeugung nehmen – kein Berija, kein Chruschtschow, kein Gorbatschow, kein Jelzin. Ich verwechsele nicht einzelne Politiker mit dem kollektiven Wollen der Völker der Sowjetunion. Wohl aber bin ich erschrocken, wie die heute Regierenden in Deutschland dabei sind, alles zu DDR-Zeiten schon Errungene im Verhältnis zu den Russen aufs Spiel zu setzen.

Mir sind aus meiner Kindheit zwei Dokumente in Erinnerung, die mir halfen, mich frühzeitig für die Sowjetunion und später auch für die DDR zu entscheiden. Zunächst das Telegramm des Vorsitzenden der sowjetischen Regierung zur Gründung der DDR. Er bezeichnete sie als einen »Wendepunkt in der Geschichte Europas«.1 Ein Gedanke, den wir gern zitierten. Weniger erinnert wurde an den Schluss des Telegramms: »Es lebe und gedeihe das einheitliche, unabhängige, demokratische, friedliebende Deutschland!«2 Moskaus Ziel war nie ein deutscher Separatstaat, sondern eine »parlamentarisch-demokratische Republik«, der »nicht das Sowjetsystem aufgezwungen« werden sollte. Diese Idee stand schon im Aufruf des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Deutschlands vom 11. Juni 19453, der mit Stalin abgestimmt worden war. Die Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 war die Reaktion auf die spalterische Bildung der Bundesrepublik Deutschland am 23. Mai des gleichen Jahres. Wie eben der Beitritt der DDR zum Warschauer Vertrag 1955 erst erfolgt ist, nachdem die Bundesrepublik sich der NATO angeschlossen hatte.

Als in Berlin das erste Deutschlandtreffen der Jugend stattfand, telegrafierte Stalin am 2. Juni 1950 den 700000 Teilnehmern aus allen Gegenden Deutschlands: »Ich wünsche der deutschen Jugend, dem aktiven Erbauer des einheitlichen, demokratischen und friedliebenden Deutschlands, neue Erfolgebei diesem großen Werk.«4 1952 empfahl er die Vereinigung Deutschlands durch einen Friedensvertrag, wenn die BRD auf Militärbündnisse verzichtete. Enthalten ist dieser Vorschlag in der inzwischen sprichwörtlich gewordenen »Stalin-Note« vom März 1952. Der Westen lehnte sie als Propaganda ab. Seriöse Historiker wussten immer: Die Note vom 10. März 1952 war aufrichtig gemeint, war keine Täuschung, sondern sowjetische Strategie für Deutschland. Die USA und mit ihr die Adenauer-Regierung schlugen 1952 die Chance für die deutsche Einheit aus. Sie orientierten sich an den Worten des amerikanischen Oberkommandierenden der NATO-Streitkräfte in Europa, Dwight D. Eisenhower: »Lieber das halbe Deutschland ganz, als das ganze Deutschland halb.«5

Als Vierzehnjähriger sammelte ich zusammen mit Freunden einige Tausend Unterschriften zur Unterstützung der sowjetischen Note durch die Bevölkerung, worauf der DDR-Ministerpräsident reagierte. Otto Grotewohl antwortete mir in einem Brief: »Du hast richtig erkannt, dass die Note der Sowjetregierung an die drei Westmächte für das deutsche Volk, für die Welt eine gewaltige Bedeutung hat. Tritt weiter so für den Frieden ein und denke immer daran, dass alles, was der Festigung unserer Deutschen Demokratischen Republik dient, dazu führt, den Frieden zu erhalten und die EINHEIT DEUTSCHLANDS zu verwirklichen.«6

So falsch und gehässig gegenüber der DDR hierzulande die Geschichte der Spaltung Deutschlands und des europäischen Kontinents dargestellt wird, so unrichtig und unmoralisch ist auch die Verteilung der Schuld. Während die Bundesrepublik für »Einigkeit, Recht und Freiheit« stehen soll, wird der DDR von der »Aufarbeitungsindustrie« alles Ungemach des Kalten Krieges in die Schuhe geschoben: Spaltung, Unrecht und Unterdrückung. So ist die Geschichte real aber nicht verlaufen. Solange die wahren Tatsachen der Spaltung nicht besprochen und anerkannt werden, solange wird es auch Probleme beim Zusammenwachsen von Ost und West geben.

Die DDR und ihre Politik können nicht verstanden werden, wenn nicht bewusst ist, wer Deutschland spaltete und welche Folgen das für die Ostdeutschen hatte. Aus einer bestimmten westlichen Sicht soll die DDR die Spalterin gewesen sein. Aber schon Zeitzeuge Konrad Adenauer hat bemerkenswerterweise ein anderes Urteil hinterlassen. »Was östlich von Werra und Elbe liegt«, hatte er geschrieben, »sind Deutschlands unerlöste Provinzen. Daher heißt die Aufgabe nicht Wiedervereinigung, sondern Befreiung. Das Wort Wiedervereinigung soll endlich verschwinden. Es hat schon zu viel Unheil gebracht. Befreiung ist die Parole.«7

Zur Bekräftigung seiner Haltung hatte Adenauer sich gegenüber dem Hohen Kommissar Frankreichs, André Francois-Poncet, selbst gelobt. »Vergessen Sie bitte nicht, dass ich der einzige Regierungschef bin, der die Einheit Europas der Einheit seines Landes vorzieht.«8

An der Wiege der DDR stand die Sowjetunion. Ohne ihre Hilfe hätte es die DDR nie gegeben, wäre sie weder ökonomisch noch politisch lebensfähig gewesen. Wir waren auf Gedeih und mit Gorbatschow auch auf Verderb mit der UdSSR verbunden. Unser kleines Land im Zentrum Europas – im Verhältnis zur Bundesrepublik von Anfang an auch immer das ärmere – stand in einem weltpolitischen Spannungsfeld. Diesen Platz hat sich die DDR nicht freiwillig ausgesucht. Er war ihr durch die Nachkriegsentwicklung zugewiesen worden. Es war das Spannungsfeld zwischen den Verbündeten im Osten, die nach dem Krieg noch ärmer waren als die Ostdeutschen, und den Gegnern im Westen, welcher von den USA zum Schaufenster des Kapitalismus gemacht wurde. Es war das Spannungsfeld zwischen Antifaschismus und Restauration, zwischen Ulbrichts »Deutsche an einen Tisch« und Adenauers Separatstaat, zwischen Honeckers »Koalition der Vernunft« und Kohls Unwillen, die Staatsbürgerschaft der DDR zu respektieren, zwischen Völkerfreundschaft und Hallsteindoktrin. Rückblickend denke ich manchmal, es grenzt an ein Wunder, dass die DDR angesichts dieser Bedingungen vierzig Jahre durchgehalten hat, ja mehr noch: Sie hinterlässt trotz Niederlage kommenden Generationen die Botschaft: Es ist möglich, ohne Kapitalisten zu leben und eine ausbeutungsfreie Gesellschaft zu gestalten, in der der Mensch des Menschen Freund und nicht sein Wolf ist.

Ohne unsere eigenen Sünden zu verharmlosen: als die Sowjetunion auf dem Sterbebett lag, gab es für die DDR keine Chance mehr. Die zunehmende Schwäche des Hauptverbündeten manövrierte in den achtziger Jahren auch die DDR in eine existentielle Krise. Die Sowjetunion stand an der Wiege der DDR, aber auch an ihrem Sterbebett.

Die Politik beider deutscher Staaten war immer auch ein Anwendungsfall des Verhältnisses zwischen den USA einerseits und der UdSSR andererseits. War weltpolitisch Entspannung angesagt, dann durften sich auch die deutschen Staaten entspannen. Lagen die Großen im Streit, dann war das auch zwischen der BRD und der DDR so. Zwischen den deutschen Staaten gab es immer eine Politik der Aktion und der Reaktion. Beide führten den Kalten Krieg mit aller Härte, oft erbarmungsloser als die Großmächte selbst. Dem Wesen nach war der Kalte Krieg der Dritte Weltkrieg, ein kalter zwar, aber immer am Rande einer atomaren Katastrophe.

Wenn sich die DDR an die Regeln hielt, war ihr Verhältnis zum großen Bruder in Ordnung. Durchbrachen wir aus Moskauer Sicht die Gemeinsamkeit, dann gab es Schwierigkeiten bis hin zur Aufgabe der DDR. Zum Beispiel 1953, als Politbüromitglied Berija – nach Ministerpräsident Malenkow die Nummer Zwei in der sowjetischen Hierarchie – die DDR abstoßen wollte. Für zehn Milliarden Dollar sollte sie nach seinem Willen verscherbelt werden.9

Wie kompliziert die Situation auch in der SED war, schildert Rudolf Herrnstadt, damals Kandidat des Politbüros des ZK der SED. Er hatte einen Dialog im Politbüro mit dem sowjetischen Hohen Kommissar für Deutschland, der bis in die fünfziger Jahre hinein regelmäßig an den Sitzungen des Politbüros der SED teilnahm. Es ging um die Veröffentlichung eines Dokuments der SED-Führung, wofür Herrnstadt vierzehn Tage Zeit erbat. »Darauf«, so Herrnstadt, »antwortete Genosse Semjonow sehr scharf: ›In vierzehn Tagen werden Sie vielleicht schon keinen Staat mehr haben.‹«10 Berija hatte seine Geheimdienstleute überall, auch in der DDR. Dass Wilhelm Pieck, Otto Grotewohl und Walter Ulbricht sich gegen sie wehrten, führte 1953 zu ernsthaften Spannungen zwischen der jungen DDR und ihrem Geburtshelfer. Das hatte viel mit dem 17. Juni jenes Schicksaljahres zu tun.

Damals setzten sich in Moskau die Freunde der DDR durch. Berija wurde als »Provokateur in der deutschen Frage«11 verurteilt. Er bezahlte seinen Verrat an der DDR und manch andere Verbrechen mit dem Leben. Immer gab es in sowjetischen Führungen besonders gute Freunde der DDR und manchmal leider auch solche, die die DDR als Verhandlungsmasse im Schacher mit den USA einsetzen wollten. Letztere hatten 1990 in Moskau Oberwasser.

Die sowjetische Besatzungszone und später die DDR hatten das Glück, dass an der Spitze der auf ihrem Territorium stationierten sowjetischen Einheiten nicht nur hervorragende Militärs standen, sondern Persönlichkeiten, die großes Verständnis für die Probleme der Deutschen hatten. Sie sind mir als gute Freunde der DDR in bester Erinnerung. Es waren die bekanntesten Heerführer der sowjetischen Armee, Marschälle wie Shukow, Sokolowski, Tschuikow, Gretschko, Sacharow, Jakubowski, Konew, Koschewoi, Kulikow und Kurkotkin sowie die Armeegeneräle Iwanowski, Saizew, Luschew und Snetkow. Anders als Gorbatschow und seine Gefährten hatten sie im Großen Vaterländischen Krieg ihr Leben nicht nur für die eigene Heimat, sondern auch für ein antifaschistisches Deutschland eingesetzt und dafür den Weg von den Schlachten bei Moskau, Stalingrad oder Leningrad nach Berlin zurückgelegt. Die DDR war ein Stück ihres Lebens. Deshalb waren die im Herbst 1989 noch aktiven Armeegeneräle Lushew und Snetkow auch nicht bereit, Gorbatschows Politik der Aufgabe der DDR zu unterstützen.

An der Seite der Kommandeure standen nach dem Krieg auch Polit-, Kultur- und Jugendoffiziere, die Entscheidendes bei der Bekämpfung der Naziideologie leisteten. Unter ihnen auch deutsche Patrioten, die in den Reihen der Sowjetarmee gekämpft hatten, wie der später international geschätzte DDR-Urologe Moritz Mebel, Verteidigungsminister Heinz Keßler oder der Präsident der Akademie der Künste der DDR Konrad Wolf. In einem Buch12, das in diesem Verlag über den sowjetischen Kulturoffizier Sergej Tulpanow erschienen ist, fand ich einen bemerkenswerten Text Thomas Manns über seine Begegnung mit Tulpanow. »Der Chef der Informationsabteilung der sowjetischen Militäradministration, General Tulpanow, trägt auch den Professorentitel. Er spricht ein vorzügliches Deutsch. Wir fanden ein ergiebiges Gesprächsthema auf dem Gebiet des großen russischen Romans des neunzehnten Jahrhunderts – einer Literatur, der ich so viel von meiner literarischen Bildung verdanke. Als wir uns der Politik zuwandten, gab der General seiner Befriedigung über die Entwicklung in seinem Herrschaftsbereich Ausdruck, von der er sagte, sie verlaufe auf einem einigermaßen geraden Weg. Seitens der Besatzungsbehörde sei kaum noch Einmischung nötig. Die Volksdemokratie habe sich durchgesetzt, man könne den Deutschen jetzt erlauben, ihren Weg unabhängig fortzuführen.«13

Leonid I. Breshnew hatte in den siebziger Jahren auf einer Großkundgebung unter dem Beifall der Berliner gesagt: »Wir sind mit Ihnen doppelt verbündet – durch den Vertrag zwischen unseren Ländern und den Warschauer Vertrag.«14 Diese beiden Verträge galten auch im Herbst 1989. Niemand, auch Gorbatschow nicht, hatte sie aufgehoben. Die sowjetischen Generäle Luschew und Snetkow haben dies in Gesprächen, die ich in jener Zeit mit ihnen hatte, ausdrücklich bestätigt.

Verteidigungsminister Heinz Keßler, sein Stellvertreter Fritz Streletz und ich standen in den kritischen Oktober- und Novembertagen ’89 in ständigem Kontakt mit dem Oberkommandierenden der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte. Am 4. November, als von interessierter Seite ein Durchmarsch am Brandenburger Tor geplant war, hatten wir eine Standleitung zwischen dem Oberkommandierenden in Wünsdorf und mir in Berlin geschaltet, um uns bei einem eventuellen Grenzdurchbruch abstimmen zu können. Ich komme darauf noch zurück. Einen Punkt aber muss ich schon an dieser Stelle richtigstellen, weil er entscheidend war für den gesamten Ablauf am 9. November 1989 und auch danach. Als die Massen auf die Grenze drückten, hätten die Grenzer, »wenn sie strikt nach Befehl und Dienstanweisung gehandelt hätten, das mit Waffengewalt verhindern müssen – eine andere Anweisung lag ihnen nämlich nicht vor«, meint Hans Modrow.15 Das ist falsch. Richtig ist: Es gibt meinen Befehl 11/89 vom 3. November 1989.16 Er regelte das Verhalten der DDR-Sicherheitskräfte bei Grenzdurchbrüchen und Demonstrationen im Grenzgebiet. Darin heißt es: »Die Anwendung der Schusswaffe im Zusammenhang mit möglichen Demonstrationen ist grundsätzlich verboten.« Dieser Befehl galt auch am Tage der Grenzöffnung und danach. »Es gibt einen Befehl von Krenz, der wiederholt, was von Honecker befohlen worden war«17, sagte Hans Modrow an anderer Stelle. Nein, der Befehl vom 3. November war kein zweiter Aufguss des Honecker-Befehls vom 13. Oktober 1989. Bei jenem ging es um Verhinderung von Gewalt bei den Montagsdemonstrationen in Leipzig und darüber hinaus. Der zweite Befehl war eine Reaktion auf einen geplanten Grenzdurchbruch am Brandenburger Tor, der zu einem Blutbad hätte führen können, wenn wir nicht unsere Gegenmaßnahmen getroffen hätten. Es spricht für den volksverbundenen Geist in den Schutz- und Sicherheitsorganen der DDR, dass sich alle an diesen Befehl gehalten haben: die Staatssicherheit, die Grenztruppen, die Nationale Volksarmee und die Deutsche Volkspolizei. Die Gewaltlosigkeit im Herbst ’89 gehört zum Erbe der DDR, das nichts, aber auch gar nichts mit Kohl oder Gorbatschow zu tun hat.

Die Sowjetunion ist bekanntlich nicht durch eine Volksbewegung zerbrochen. Sie wurde von oben, von verschiedenen Fraktionen der Kommunistischen Partei, zerschlagen. Ihr Ende ist in vielem die Ursache dafür, dass die Welt danach durcheinandergeraten ist, dass es in den internationalen Beziehungen Chaos gibt, dass Wettrüsten und die Kriegsgefahr ständig wachsen. Das in den achtziger Jahren existierende militärstrategische Gleichgewicht war gewiss ein »Gleichgewicht des Schreckens«. Das Wissen auf beiden Seiten, dass jener als Zweiter sterben würde, der als Erster auf den Knopf drückte, hat aber zur Vernunft bei den Handelnden in der Politik maßgeblich beigetragen. Die notwendige Diplomatie hat zu einem System kollektiver Sicherheit und damit zur Erhaltung des Friedens beigetragen. Mit der Zerschlagung der Sowjetunion ist das Weltgleichgewicht zerbrochen.

Frau Merkel wird in Medien oft mit den Worten zitiert, Russland habe gegen die Nachkriegsgrenzen verstoßen. Ich frage mich: Wie kann eine kluge Frau, die die DDR-Schule besucht und auch in der DDR studiert hat, zu einer so falschen Einschätzung kommen? Hat sie wirklich vergessen, dass die Siegermächte in Jalta, auf der urrussischen Krim, nicht nur mit der Unterschrift Stalins, sondern auch mit der des amerikanischen Präsidenten Roosevelt und des britischen Premierministers Churchill die Welt in eine östliche und eine westliche Einfluss-Zone aufgeteilt hatten? Die Nachkriegsgrenzen in Deutschland existierten, als Angela Merkel noch DDR-Bürgerin war. Es war die Grenze zwischen NATO und Warschauer Vertrag, die ganz Europa durchtrennte. Sie war zugleich die erste Verteidigungslinie der Sowjetarmee, an der sich auch ihre Atomwaffen befanden. Wie eben auch Nuklearwaffen der NATO in der Bundesrepublik lagen und im Fliegerhorst Büchel noch immer liegen.

Und heute? Wo steht die NATO? An den Grenzen Russlands, die Bundeswehr gar als Speerspitze! Gerade das sollte aus Sicht der Russen nie wieder passieren. Nie wieder sollten ausländische Truppen so nahe der heimatlichen Grenze stehen wie an jenem 22. Juni 1941, als Nazideutschland die Sowjetunion überfiel. Das war ein gegenseitiges Versprechen von Generationen sowjetischer Bürger. Ich habe während meines Studiums in Moskau in russischen Familien diesen Tag erlebt und weiß daher, was ihnen gesicherte Grenzen bedeuten. Deutschland sollte mindestens in diesem Punkt etwas mehr Fingerspitzengefühl und auch Demut zeigen. Worte wie »Bestrafungen« und »Sanktionen« aus dem Munde deutscher Politiker an Russlands Adresse sind nicht nur geschichtsvergessen, sie sind eine Anmaßung gegenüber einem Volk, das für Deutschlands Freiheit vom Faschismus sein Herzblut gegeben hat.

Es ist ein Märchen, dass es den USA 1989 um die deutsche Einheit gegangen sei. Die Mitwirkung an der Herstellung der »deutschen Einheit« durch Präsident George Bush sr. diente einzig der Verwirklichung der seit 1945 verfolgten US-amerikanischen Strategie, die Sowjetunion und deren Streitkräfte aus dem Zentrum Europas zu verdrängen. Der Warschauer Vertrag wurde einseitig aufgehoben. Die NATO blieb. Die russischen Streitkräfte zogen aus Mitteleuropa ab. Die USA schickten und schicken über deutsche Straßen und Flughäfen ihre Truppen an die russische Grenze. Sie haben in Deutschland nach wie vor Atomwaffen stationiert. Condoleezza Rice, von 2005 bis 2009 Außenministerin der USA, bekannte freimütig: Mit dem vereinten Deutschland, eingebettet in die NATO, war »Amerikas Einfluss in Europa gesichert«.18

In diesem Buch gibt es viel Widersprüchliches, manchmal gar Gegensätzliches über Gorbatschow. Er ist eine in sich gespaltene Persönlichkeit. Im Westen als einer der »Väter der deutschen Einheit« hochgejubelt, in Russland nicht selten »Symbol des Niedergangs« und bei früheren Bewunderern hierzulande meist ein »Wandler vom Hoffnungsträger zum Renegaten«. Das Tragische: Die NATO nutzte seine Politik eiskalt aus. Sie zog ihn über den Tisch mit dem Resultat, dass ihre Truppen heutzutage annähernd dort stehen, wo sie sich befanden, als der Große Vaterländische Krieg begann.

Ich hatte das Privileg, Gorbatschow am 12. März 1985, nur wenige Stunden nach seiner Wahl zum Generalsekretär, in Moskau persönlich zu treffen. Seitdem erlebte ich ihn bis einschließlich 4. Dezember 1989 auf allen Beratungen der Staaten des Warschauer Vertrages auf höchster Ebene und bei seinen DDR-Reisen. Ich kenne seine Vorzüge und charakterlichen Schwächen aus eigenem Erleben. Ich vergesse ihm nicht, dass er mir den Rücken stärkte, als ich auf der Anklagebank saß. Er hat damals sowohl gegenüber der deutschen Justiz wie auch dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte die Verfolgung von DDR-Amtsträgern als »Hexenjagd«, als »politische Abrechnung« und als »Fortführung des Kalten Krieges« verurteilt. Ich mache mir mein Urteil über ihn nicht leicht. Es hat gedauert, bis ich Weggefährten verstand, die ihn einen Verräter nennen. Ich habe ihm vertraut. Heute weiß ich: viel zu lange.

Als 1992 bekannt wurde, dass der Berliner Senat ihn zum Ehrenbürger der Stadt beruft, hatte ich ihm geschrieben: »Ich bitte Dich, nicht zuzulassen, dass mit Deinem Namen die Namen anderer überschrieben werden, die den Grundstein für die Lebensfähigkeit dieser Stadt legten. Du stehst vor einer wichtigen Gewissensentscheidung.«19 Der Anlass für mein Schreiben: Kurz vor seiner Ehrung wurden verdienstvolle sowjetische Heerführer und sowjetische Politiker, die für die Befreiung Berlins ihr Leben eingesetzt hatten, von der Liste der Ehrenbürger gestrichen, auf die Gorbatschow nun gesetzt worden war. Er hatte damit zugelassen, dass mit seinem Namen selbst die Ehrenbürgerschaft der Rotarmisten Jegorow und Kantaria überschrieben wurde, die am 30. April 1945 die Siegesflagge auf dem Reichstag gehisst hatten.

1987 sagte mir ein sowjetischer Freund, den ich seit über 20 Jahren kannte und der seinerzeit zum Arbeitsstab von Außenminister Schewardnadse gehörte: »Gorbatschow gibt es in Varianten.« Ich fand diese Aussage ungerecht, denn ich sah damals in Gorbatschows Politik den mutigen Versuch, die Stagnation in der UdSSR zu überwinden und den Sozialismus von seinen Entstellungen zu befreien. In dem Maße aber, wie erim Innern des Landes nichts zustande brachte und außenpolitisch einen faulen Kompromiss nach dem anderen schloss, wuchs die Zahl der Rätsel, die er auch mir aufgab.

Honecker geriet mit Gorbatschow viel früher in Konflikt als ich. Besonders in zwei Fragen waren beide grundsätzlich anderer Meinung. Zum einen: Honecker suchte trotz Zuspitzung der Gegensätze den Ausgleich mit der BRD. Gorbatschow sah es mit Misstrauen und stellte dieser Politik jahrelang viele Hindernisse in den Weg. Zum anderen: Honecker brach das Eis in den Beziehungen zur Volksrepublik China, was ebenfalls Gorbatschows Missfallen erregte.

Gorbatschow passte sich dem machtpolitisch Opportunen an. An die Stelle Marxscher Dialektik setzte er sein »Neues Denken«, obwohl die NATO zu keinem Zeitpunkt bereit war, in den Kategorien der Entspannung neu zu denken. Diffuse »allgemein-menschliche Werte« bekamen einen höheren Stellenwert als die Werte und Ideale des Sozialismus. Er umgab sich mit fragwürdigen Leuten wie Alexander N. Jakowlew und Eduard A. Schewardnadse, die alles andere als geradlinige Mitstreiter waren. So verlor sich rasch der Geist des Aufbruchs in Richtung sozialistischer Erneuerung, den auch viele in der DDR an Gorbatschow schätzten und weshalb sie in ihm einen Hoffnungsträger sahen.

Verrat gibt es ja nicht nur aus Berechnung. Es gibt ihn auch aus Eitelkeit, aus Missgunst, Unwissen, aus Schwäche, Unentschlossenheit, Selbstüberschätzung, Eigenliebe und manch anderem. Doch objektiv bleibt es Verrat. Die Zerschlagung der Sowjetunion und mit ihr des europäischen Teils des sozialistischen Weltsystems beeinflusste Millionen und Abermillionen Schicksale auf negative Weise. Wohl auch deshalb nannte Russlands Präsident Wladimir W. Putin den Untergang der UdSSR die größte globalpolitische Katastrophe am Ende des vergangenen Jahrhunderts.

Friedrich Engels schrieb 1851 in seiner Schrift »Revolution und Konterrevolution in Deutschland«: »Wenn man nach den Ursachen der Erfolge der Konterrevolution forscht, so erhält man von allen Seiten die bequeme Antwort, Herr X oder Bürger Y habe das Volk verraten. Diese Antwort mag zutreffen oder auch nicht […], aber unter keinen Umständen erklärt sie auch nur das Geringste, […] wie es kam, dass das Volk sich verraten ließ.«20

Wir können uns also nicht auf den Verrat eines Einzelnen zurückziehen.

Eine umfassende marxistische Analyse der Ursachen der weltpolitischen Vorgänge von 1989 bis 1991 liegt auch dreißig Jahre später meines Wissens noch nirgendwo vor. Vielleicht auch deshalb nicht, weil manch linke Partei sich der pauschalen Verurteilung des realexistierenden Sozialismus durch dessen damalige und heutige Gegner kritiklos anschließt. Sie grüßen mit gebeugtem Rücken den Gesslerhut, statt selbstbewusst und durchaus selbstkritisch mit diesem Erbe als ihrem eigenen umzugehen.

Dadurch versperren sie sich den Weg zur Erkenntnis, wie man es besser, klüger und erfolgreicher machen könnte, als wir es seinerzeit taten.

In seiner Autobiografie berichtete Gregor Gysi von einem Telefongespräch, das er mit dem KPdSU-Generalsekretär am 11. Dezember 1989 geführt hatte.21 Gorbatschow, so Gysi, habe ihn beschworen, die SED auf keinen Fall aufzulösen. Geschähe dies, so sei dies zwangsläufig mit einem Ende der DDR und auch der Sowjetunion verbunden. Gysi macht daraus eine Anekdote und meint, dass für einen »kleinen Berliner Advokaten« diese Last zu schwer gewesen sei. Er war aber zu jenem Zeitpunkt schon nicht mehr nur der »kleine Berliner Advokat«, sondern auch Vorsitzender der einst führenden Partei der DDR. Was Gorbatschow ihm am Telefon gesagt hatte, gehörte zu unseren Verfassungsgrundsätzen. Die DDR verstand sich immer als europäischer Vorposten der sozialistischen Staatengemeinschaft. Man muss kein Militär sein, um zu ahnen, was mit dem Hinterland passiert, wenn der Vorposten fällt.

Nach wie vor belastet mich daher auch die Frage, inwieweit die Ereignisse von 1989/90 in der DDR eine, wenngleich nachgeordnete Ursache für das Verschwinden der Sowjetunion von der politischen Landkarte gewesen sind.

Mehr als ein Körnchen Wahrheit ist an Gysis Auffassung, die DDR sei an sich selbst gescheitert. Wir können jedoch bei weitem nicht alle Ursachen für ihren Niedergang auf innere Faktoren reduzieren, wie das faktisch seit fast drei Jahrzehnten überwiegend geschieht. Es wird höchste Zeit, die DDR und ihre Entwicklung in den Kontext der Geschichte des 20. Jahrhunderts einzuordnen. Mindestens zwei Problemkreise spielen dabei eine Rolle.

Erstens: Die DDR war ohne Sowjetunion nicht lebensfähig. Wie die letzte sowjetische Führung das 1989/90 ausnutzte, hat Insider Walentin Falin bisher am klarsten formuliert: Gorbatschow habe die DDR für ein Butterbrot weggegeben. Seine Absprache mit Kohl sei »eine Variante des Münchener Abkommens«22 gewesen, sagte der erfahrene Deutschlandpolitiker. »Wir haben über den Kopf der DDR alles ausgehandelt, wir haben dieses Land verraten.«23

Zweitens: Die Herrschenden in der BRD wollten die DDR vom ersten Tag ihrer Existenz an liquidieren. Als es die DDR noch gar nicht gab, wussten die Väter des Grundgesetzes der späteren Bundesrepublik schon, dass jeder, der sich dem westdeutschen Anspruch auf ganz Deutschland nicht unterwirft, »als Hochverräter zu behandeln […] ist«.24

Was sie beim Verfassungskonvent 1948 nur andeuteten, formulierte nach Herstellung der staatlichen Einheit einer ihrer Ideologen sehr plastisch: Die DDR habe »fast ein halbes Jahrhundert die Menschen verzwergt, ihre Erziehung, ihre Ausbildung verhunzt«, schrieb dieser Arnulf Baring 1991 und gab es wiederholt zum Besten. »Ob sich heute dort einer Jurist nennt oder Ökonom, Pädagoge, Psychologe, Soziologe, selbst Arzt oder Ingenieur, das ist völlig egal: Sein Wissen ist auf weite Strecken unbrauchbar […] Wir können den politisch und charakterlich Belasteten ihre Sünden vergeben, alles verzeihen und vergessen. Es wird nichts nutzen; denn viele Menschen sind wegen ihrer fehlenden Fachkenntnisse nicht weiterverwendbar. Sie haben einfach nichts gelernt, was sie in eine freie Marktwirtschaft einbringen können.«25

Die Folge: Hundertausende der Geschmähten verloren Arbeit und Brot. Nach solchen Vorgaben fand ein Elitenwechsel statt, der jeden Respekt vor den Lebensleistungen von DDR-Bürgern vermissen lässt. Wen wundert es da, dass es noch viele im Osten gibt, die sich als Bürger niederer Klasse fühlen.

Nachdem ich mich seit vielen Jahren mit den inneren Ursachen des Niedergangs der DDR beschäftigt habe, versuche ich mit diesem Buch das Dreiecksverhältnis UdSSR, DDR und BRD in den Auseinandersetzungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu beleuchten, wie ich es in meinen Funktionen erlebt habe.

Gerade weil ich vieles aus eigenem Erleben und nicht vom Hörensagen kenne, folge ich nicht jenen, die die DDR von Anfang an als Schacherobjekt zwischen der UdSSR und den USA sehen wollen. Was in der Endphase der DDR zweifellos so war, trifft keineswegs auf alle DDR-Jahre und jede sowjetische Führung zu. Ohne die flexible Außenpolitik der DDR hätte es weder 1970 den Moskauer Vertrag mit der BRD noch 1971 das Vierseitige Abkommen gegeben. Die Bundesrepublik profitierte vom guten Verhältnis der DDR zur Sowjetunion, indem beispielweise Pieck und Ulbricht – und eben nicht nur Adenauer – die letzten deutschen Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion holten. Dass 1955 der Bundeskanzler öffentlich diese Zusage bekam, war der Beitrag der DDR zur Aufnahme der diplomatischen Beziehungen der UdSSR zur Bundesrepublik. Die DDR-Führung hoffte damals, allerdings vergebens, dass diese Geste helfen könnte, die Hallstein-Doktrin26 zu vermeiden.

Wenn ich mich zu Widersprüchlichkeit und Unentschlossenheit Gorbatschows äußere, dann nicht nur, weil inzwischen viele Unwahrheiten über die DDR und die Sowjetunion verbreitet werden. Auch nicht deshalb, um Erinnerungen an beträchtliche Differenzen, die ich mit Erich Honecker hatte, zu relativieren. Ich habe die Auseinandersetzung darüber viel zu spät und zu inkonsequent geführt. Gewiss, es gab objektive Schranken, aber eben auch subjektive Fehleinschätzungen. Heute weiß ich: Selbst die beste Konzeption hätte damals nichts genutzt. Wir hatten das Vertrauen großer Teile des Volkes verloren.

Was immer meine Fehler waren: Die Initiative zur Absetzung Honeckers gehört nicht dazu. Das hat aber damals nicht geheißen und heißt heute erst recht nicht, dass in der Auseinandersetzung mit Erich Honeckers Politikauffassung jene Momente verloren gehen, die sich positiv auf die Entwicklung der DDR und ihres Verhältnisses zur übrigen Welt ausgewirkt haben. Und die gab es ohne jeden Zweifel. Mehr als um die Vergangenheit, geht es mir um die Zukunft.

Die Mutter von Heinrich Graf von Einsiedel, der als Leutnant bei Stalingrad abgeschossen wurde, in sowjetische Kriegsgefangenschaft kam und danach dem Nationalkomitee »Freies Deutschland« angehörte, schrieb am 25. Januar 1947 einen Brief an den Russen Tulpanow, den ich aus mehreren Gründen insbesondere der deutschen Bundeskanzlerin und ihrem Außenminister zur Lektüre empfehle. Er enthält das außenpolitische Vermächtnis des »Eisernen Kanzlers«: »Es schreibt Ihnen die Enkelin des bedeutenden Staatsmannes Bismarck, dessen Vermächtnis immer ein ewiger und unzerstörbarer Frieden mit Russland war. Sogar auf dem Sterbebett, nachdem Wilhelm II. unter dem Einfluss finsterer Mächte meinen Großvater in den Ruhestand gezwungen hatte, hat dieser wiederholt: ›Nie gegen Russland!‹«27

Ein gutes Verhältnis zu den Russen ist eine Schicksalsfrage für die Deutschen. Wer nicht versteht, dass es auch eine Frage der Vernunft ist, mit Russland zusammenzustehen, der verstößt gegen elementare deutsche Interessen. Die Mehrheit der Bürger der DDR sind im Herbst ’89 nicht auf die Straße gegangen, damit deutsche Truppen wieder an Russlands Grenzen stehen und Bundeswehrsoldaten zu Auslandseinsätzen befohlen werden.

Egon Krenz,

Dierhagen im April 2019

1 Telegramm J. W. Stalins anlässlich der Gründung der DDR, in: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Dietz Verlag, Berlin 1966, Bd. 7, S. 335

2 Ebenda

3 Revolutionäre deutsche Parteiprogramme, Dietz Verlag, Berlin 1967, S. 191ff.

4 Dokumente zur Geschichte der FDJ, Das Neue Leben, Berlin 1964, 2. Aufl., S. 85

5 Das Zitat wird meist Konrad Adenauer zugeschrieben. Tatsächlich ist es die Argumentation Eisenhowers in einer Rede, die dieser am 2. April 1952, nach der Stalin-Note, gehalten hatte. Die Rede wurde im »Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung«, Bonn 1952, Nr. 39, S. 40, publiziert. Wie die oft zitierte Kurzfassung entstand, wo sie erstmals und von wem verwandt wurde, ist nicht bekannt. Bereits am 22. Februar 1946 hatte der US-Gesandte Kennan aus Moskau telegrafiert: »Die Idee, Deutschland gemeinsam mit den Russen regieren zu wollen, ist ein Wahn. […] Wir haben keine andere Wahl, als unseren Teil Deutschlands […] zu einer Form der Unabhängigkeit zu führen, die so befriedigend, so gesichert, so überlegen ist, dass sie der Osten nicht gefährden kann. […] Besser ein zerstückeltes Deutschland, von dem wenigstens der westliche Teil Deutschlands als Prellbock gegen die Kräfte des Totalitarismus wirkt, als ein geeintes Deutschland, das diese Kräfte wieder bis an die Nordsee vorlässt.« Zitiert in: George F. Kennan: Memoiren eines Diplomaten, München 1982, S. 264

6 Brief des Ministerpräsidenten der DDR, Otto Grotewohl, an den Jungen Pionier Egon Krenz, in der Wochenzeitung »Der Junge Pionier« vom 14. Juni 1952

7Rheinischer Merkur vom 20. Juli 1952

8 Rudolf Augstein: »Konrad Adenauer und seine Epoche«, in: Der Spiegel 41/1963

9 Vgl. Pawel A. Sudoplatow: Die Handlanger der Macht. Enthüllungen eines KGB-Generals, Econ Düsseldorf-Wien-New York-Moskau 1994, S. 422f.

10 Nadja Stulz-Herrnstadt (Hrsg.): Rudolf Herrnstadt. Das Herrnstadt-Dokument. Das Politbüro der SED und die Geschichte des 17. Juni 1953. Rowohlt Verlag, Reinbek 2002, S. 72

11 Viktor Knoll / Lothar Kölm (Hrsg.): Der Fall Berija, Aufbau Verlag, Berlin 1993, S. 66

12 Inge und Michael Pardon: Tulpanow. Stalins Macher und Widersacher. Die Biografie, Verlag edition ost, Berlin 2019

13 Thomas Mann in New York Times Magazin, zitiert in: Inge und Michael Pardon, Tulpanow …, a.a.O.

14 »Die Freundschaft zur DDR ist ureigenste Herzenssache des Sowjetvolkes«, in: Neues Deutschland vom 7. Oktober 1969

15 Oliver Dürkop / Michael Gehler: In Verantwortung: Hans Modrow und der deutsche Umbruch 1989/90, StudienVerlag Innsbruck-Wien-Bozen 2018, S. 225

16 »Befehl Nr. 11/89 des Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates der Deutschen Demokratischen Republik über Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit und Ordnung in den Bezirken der Deutschen Demokratischen Republik vom 03.11.1989«, Dokument im Besitz des Autors

17 a.a.O., S. 189

18 Condoleeza Rice: »Es ging um den Jackpot«, in: Der Spiegel 39/2010

19 Egon Krenz: Widerworte. Aus Briefen und Zeugnissen 1990 bis 2005, edition ost, Berlin 2006, S. 179

20 Marx-Engels-Werke (MEW), Dietz Verlag Berlin, Berlin 1960, Bd. 8, S. 6

21 Gregor Gysi: Ein Leben ist zu wenig. Die Autobiografie, Aufbau Verlag, Berlin 2018, S. 295f.

22 Am 29. September 1938 vereinbarten Deutschland, Italien, Frankreich und Großbritannien in München – daher »Münchner Abkommen« – die Abtretung tschechischen Territoriums, das sogenannte Sudetenland, binnen zehn Tagen an Hitlerdeutschland. Die betroffene ČSR war weder konsultiert noch zu Verhandlungen hinzugezogen worden. Mit diesem Diktat glaubten die Westmächte, den Frieden gerettet zu haben

23 Zitiert in: »Verrat an der DDR«, Der Spiegel 45/2009

24 Zitiert in: Verfassungskonvent von Herrenchiemsee vom 10. bis 23. August 1948, Protokolle der Sitzungen der Unterausschüsse, hier Unterausschuss I: Grundsatzfragen, s. https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Verfassungskonvent_von_Herrenchiemsee,_10.-23._August_1948

25 Arnulf Baring: Deutschland, was nun?, Siedler Verlag, Berlin 1991

26 Die nach dem Staatssekretär im Auswärtigen Amt Walther Hallstein benannte Doktrin galt zwischen 1955 und 1969 als außenpolitische Anweisung, mit der ein Alleinvertretungsanspruch der BRD durchgesetzt wurde. Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur DDR wurde demnach als »unfreundlicher Akt« betrachtet, der mit Sanktionen bis hin zum Abbruch der Beziehungen durch Bonn geahndet wurde. Ziel dieser Politik war die außenpolitische Isolierung der DDR

27 Zitiert in: Inge und Michael Pardon: Tulpanow. Stalins Macher und Widersacher. Die Biografie, edition ost, Berlin 2019

Jahresauftakt 1989: Diplomaten geben der DDR ein langes Leben

Beim traditionellen Neujahrsempfang für das Diplomatische Korps im Staatsrat überboten sich die Botschafter der NATO-Länder mit Lob für die DDR und ihr Staatsoberhaupt. Als stünden sie im Wettbewerb um die innigste Sympathiebekundung für Erich Honecker. Der US-Botschafter und mit ihm der Leiter der BRD-Vertretung in der DDR interessierten sich ausschließlich für eine Frage: Wird Honecker 1989 die USA besuchen? Sowjetbotschafter Wjatscheslaw I. Kotschemassow, ein guter Freund, erkundigte sich bei mir, ob wir hinter »dem Rücken von Gorbatschow« ein Gipfeltreffen mit dem US-Präsidenten vorbereiteten.

Obwohl ich in der Regel mehr als offen zu ihm war, musste ich in dieser Sache schweigen. Honecker hatte mich vergattert. Ich hätte Kotschemassow gern reinen Wein eingeschenkt, weil ich zu diesem Zeitpunkt immer noch davon überzeugt war, dass Gorbatschow sich gegenüber der DDR aufrichtig und ehrlich verhielt, weshalb wir es eben auch sein sollten. Der erste Mann in Moskau sollte genau wissen, welche Intentionen Washington in Bezug auf die DDR verfolgte, und die waren gewiss nicht auf die Förderung der Freundschaft zwischen Moskau und Berlin ausgelegt.

Doch ich war zum Schweigen verpflichtet, »kein Wort!« hatte Honecker gesagt, nicht einmal zu den eigenen Genossen. So blieb ich gegenüber Kotschemassow wortkarg. »Es könnte sein.«

Allein diese drei Worte gaben Moskaus Misstrauen Nahrung. Ein Treffen mit Reagan ohne Absprache mit Gorbatschow – wie es Honecker bei seinen Reisen 1986 in die Volksrepublik China und 1987 in die Bundesrepublik gehalten hatte – wäre aus der Sicht des Kreml ein weiterer Skandal. Aus unserer Perspektive allerdings die endgültige Weihe der Souveränität. Die meisten NATO-Staaten hatte Honecker bereits besucht. Die DDR war international anerkannt und hochgeschätzt. Außenpolitisch standen wir kurz vor einem Gipfel, innenpolitisch jedoch ging es bergab. In den Führungsetagen des Westens frohlockte man, wie leicht wir es ihnen machten, die zwischen Moskau und Berlin existierenden Meinungsverschiedenheiten anzuheizen.

Der Besuch Honeckers in den USA schien zum Greifen nahe. Klaus Gysi28 war von seiner Funktion als Staatssekretär freigestellt worden, um seine Kontakte in den USA und speziell im Umfeld von Präsident Ronald Reagan dafür zu nutzen. Gysi hatte sich Honecker für diese Aufgabe angeboten, nachdem er als Gast am Neujahrsempfang im Weißen Haus teilgenommen hatte. US-Präsident Reagan hatte ihn gebeten, herzliche Grüße an »Präsident Erich Honecker« zu übermitteln, was als Signal interpretiert worden war. Die Mission war so geheim, dass vermutlich Klaus Gysi selbst seinem Sohn Gregor gegenüber Stillschweigen wahrte. Der jedenfalls erwähnt in seiner Autobiografie nichts davon. Ich traf gelegentlich mit Klaus Gysi im Vorzimmer von Honecker zusammen, wenn er von unserem gemeinsamen Chef kam, dem er über den Fortgang der konspirativen Mission berichtet hatte. Ich ertappte die beiden gewissermaßen »auf frischer Tat«, was Honecker wohl veranlasste, mich bei dem Thema auf dem Laufenden zu halten. Dabei erinnerte er mich, dass die US-Administration mich 1985 eingeladen hatte, das Land zu besuchen. »Die wollten dich kennenlernen, aber du wolltest ja damals nicht«, scherzte er.

Im Sommer 1985 hatte eine DDR-Delegation am New Hampshire Symposium in Conway teilgenommen. Dort, auf dem Campus der University of British Columbia in Vancouver, trafen sich seit 1975, also seit der Helsinki-Konferenz, regelmäßig Geistes- und Sozialwissenschaftler insbesondere aus den USA und den beiden deutschen Staaten, um sich jeweils sieben Tage lang mit der DDR zu beschäftigen. Die Initiatoren sahen in dem formellen und informellen Austausch von Ideen einen Beitrag zur Sicherung des Weltfriedens durch ein besseres gegenseitiges Verständnis, womit sie gewiss nicht irrten, und weshalb die DDR regelmäßig daran teilnahm. Nach der Rückkehr vom 11. Symposium in New Hampshire berichtete die DDR-Delegation: »Es bestehe großes Interesse daran, Egon Krenz zu einem Besuch in den USA zu bewegen. Über Egon Krenz als zweiten Mann und mutmaßlichen Nachfolger Erich Honeckers wisse man in Washington wenig. Zugleich wisse auch Egon Krenz nichts über die USA, die er noch nie gesehen habe. Egon Krenz kenne zwar die Sowjetunion und andere sozialistische Länder, sei aber nicht aus eigener Anschauung mit den westlichen Ländern vertraut. Das sei ein Hindernis für die Entwicklung langfristiger Beziehungen zwischen der DDR und den USA.«29

Honecker wusste genau, warum ich diesem Vorschlag nicht nähergetreten war: Moskau hatte grundsätzliche Bedenken gegen meine Reise. Die Reagan-Administration wolle, so hieß es, nur einen Keil zwischen die Sowjetunion und die DDR treiben. KPdSU-Generalsekretär Konstantin Tschernenko hatte ihm schon im Sommer 1984 unmissverständlich gesagt: »Es darf nicht der Eindruck erweckt werden, dass der harte Kurs der Reagan-Administration gegen die sozialistischen Länder durch die DDR noch belohnt wird.«

Der weltpolitische Blick aus dem Kreml auf die USA war in der Regel ein anderer, sachkundiger als er etwa aus der DDR sein konnte.

Dieser indirekten Einladung an mich war bereits eine ähnliche Offerte an Honecker vorausgegangen. Ex-Präsident Jimmy Carter hatte »Seine Exzellenz Erich Honecker« wissen lassen, dass er mit Ex-Präsident Gerald Ford eine Beratung über internationale Sicherheit und Rüstungskontrolle im Carter Center der Emery Universität in Atlanta abhalten und leiten werde. Eine Delegation aus der DDR sei herzlich willkommen.30

Was im Herbst ’89 an die Oberfläche kam, hat seine Vorgeschichte

Diese Einladung vom 28. Februar 1985 muss man im zeitlichen Kontext sehen, um ihre Bedeutung zu verstehen. KPdSU-Generalsekretär Tschernenko war noch im Amt, aber gesundheitlich nicht mehr voll handlungsfähig. Der Westen hatte in der sowjetischen Führung keinen kompetenten Ansprechpartner mehr. Von vielen Regierungschefs und Politikern aus westlichen Ländern wurde Honecker als Mittler zwischen Moskau und dem Westen betrachtet. Von Anfang bis Mitte der achtziger Jahre war er der begehrteste Gesprächspartner des Westens im Osten. Selbst bei Papst Johannes Paul II. in Rom, im April 1985 hatte Honecker den Vatikan besucht. Man sprach schon von einer internationalen Pendeldiplomatie. Bundesdeutsche Politiker buhlten um Gesprächstermine bei Honecker. Nachwuchspolitiker aus der SPD, der CDU, der Grünen und der FDP wandten sich an mich, damit ich solche Gespräche vermittelte. Gerhard Schröder, damals Spitzenkandidat der SPD für die Landtagswahl in Niedersachsen und später Bundeskanzler, schrieb mir nach einem Treffen mit Honecker, das ich arrangiert hatte: »Die Gespräche in der DDR waren offen und informativ. Besonders war ich von Erich Honecker beeindruckt. Durchhaltevermögen, das Du mir wünschst, brauche ich in diesem arbeitsreichen Wahlkampfjahr ganz bestimmt. Aber auch Du wirst für Euren Parteitag31 und die Volkskammerwahlen32 sicher viel Kraft und vor allem Gesundheit benötigen. Beides wünsche ich Dir von ganzem Herzen.«33

Der damalige Bundesminister Wolfgang Schäuble, heute Präsident des Deutschen Bundestages, verschob extra seinen DDR-Besuch, weil Honecker wegen kurzfristig angesetzter internationaler Verpflichtungen den Gesprächstermin mit dem Bonner Gast nicht wahrnehmen konnte. Der CDU-Politiker brauche, so wurde unserem Außenministerium mitgeteilt, für seinen Bundestagswahlkampf unbedingt ein Foto mit Honecker, im Januar 1987 sollte ein neuer Bundestag gewählt werden. Gute persönliche Beziehungen zur DDR galten damals offenkundig für westdeutsche Politiker als Empfehlung.

Abbildung: Westdeutsche Politiker bemühten sich um gute Kontakte, hier Gerhard Schröder im Jahr 1986

Solcherart Honecker-Sympathie bei der politischen Elite im Westen trug ihm merklich Schwierigkeiten bei unseren sowjetischen Freunden ein. Diese verfolgten misstrauisch alles, was ein »gesamtdeutsches Denken« befördern konnte. In verschiedenen BRD-Medien gab es Bemerkungen, die Moskaus Argwohn gegenüber Honecker objektiv nährten, vielleicht war das sogar gewollt. Man fragte immer häufiger: Ist Honecker ein deutscher Kommunist oder ein kommunistischer Deutscher? Für Altbundeskanzler Helmut Schmidt war Honecker kein »Funktionär Moskauer Prägung«. Er charakterisierte seinen Gesprächspartner vom Werbellinsee34 mit den Worten: »Seine Hoffnung auf Entspannung und Abrüstung war echt. Je älter er wurde, desto deutscher wurde sein Empfinden.«35 Bonns Vertreter in der DDR, Klaus Bölling, meinte: »Es gibt in der Führung der SED kaum einen Kommunisten, der deutscher wäre als er.«36 Nicht nur Kommunist, sondern auch deutscher Patriot sei er, meinte Bundespräsident Karl Carstens.37 Der konservative Alfred Dregger von der CDU äußerte, als deutscher Demokrat habe er viel Gemeinsames mit dem deutschen Kommunisten Honecker.38 Willy Brandt sagte über Honecker: »Das ist der letzte Gesamtdeutsche. Die nachkommen, sind DDR-Deutsche.«39

Ähnlich äußerte sich auch das Hamburger Magazin Stern: »Hat sich der gebürtige Saarländer Honecker noch eine gefühlsmäßige Bindung an den Westen Deutschlands bewahrt, ist Krenz, dessen pommersche Geburtsstadt heute zu Polen gehört, frei von gesamtdeutschen Mentalitäten. Für ihn ist die DDR sein sozialistisches Vaterland.«40 Das traf zu und wurde von diesem Blatt im Jahr 1984 als nachteilig für die Einheit Deutschlands interpretiert.

Honecker als »Gesamtdeutscher«: Das klang in Moskau nicht gut. Erst recht nicht, was Klaus Bölling – einst Regierungssprecher in Bonn und Ständiger Vertreter der BRD bei der DDR – über ihn gesagt hatte: »Entscheidend scheint mir zu sein, dass er kein sowjetischer Kommunist geworden ist, der die Geschichte der eigenen Nation einfach verdrängt hat.« Solche Bemerkungen sorgten in der sowjetischen Führung für keine gute Stimmung. Und auch Honecker selbst bewegte sich manchmal auf ganz dünnem Eis, wenn er nicht nur am sowjetischen Partner, sondern nicht selten auch am Politbüro vorbei handelte. Mir fällt da der 3. Mai 1983 ein. Kurz vor der Regierungserklärung des neuen Bundeskanzlers Helmut Kohl41 am 4. Mai 1983 hatte der CSU-Chef, Bayerns Ministerpräsident Franz Josef Strauß, den Rivalen aus Oggersheim öffentlich auf eine Konfrontation mit der DDR festgelegt. Ein westdeutscher Transitreisender hatte bei einer Vernehmung durch DDR-Zöllner einen Herzinfarkt erlitten, was Strauß wider besseren Wissens, aber mit politischer Absicht zu einem »Mordfall« machte, der von den einschlägigen Medien aufgeblasen wurde. In Springers Welt hieß es, der Mann sei »regelrecht totgeschlagen worden«.42

Die DDR stand vor der Frage: Wie auf die Hetze reagieren? Das wurde umso dringender, weil UdSSR-Botschafter Pjotr A. Abrassimow bei Honecker vorstellig geworden war und diesen aufgefordert hatte, mit aller Härte auf die Bonner Ausfälle zu reagieren. Honecker sagte daraufhin den für 1983 vereinbarten Besuch in der Bundesrepublik ab.