Idaho Winter - Tony Burgess - E-Book

Idaho Winter E-Book

Tony Burgess

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Beschreibung

Der erste Schultag ist immer grausam, aber für Idaho Winter ist er noch grausamer. Er ist bei allen, Mitschülern und Lehrern und selbst bei seinen eigenen Eltern, verhasst und der Feindseligkeit schutzlos ausgeliefert. Selbst die Schülerlotsin fordert die Autos auf, loszufahren, sobald er den Zebrastreifen betritt. Aber an diesem Tag ist alles anders. Denn Idaho Winter macht zwei Entdeckungen, die sein Leben und den Lauf dieser Geschichte radikal verändern. Er begegnet dem ersten Menschen, der ihn wirklich mag: dem freundlichen Mädchen Madison. Mit ihr verlebt er am Fluss einen raren Moment der vollkommenen Harmonie, fernab der aufgehetzten Bluthunde. An diesem Punkt erlebt der Roman einen fundamentalen Twist: Denn plötzlich findet Idaho zu der Macht, sich zu wehren und alles zu verändern respektive zu zerstören. Sogar der Erzähler des Romans muss sich Idahos überbordender, grotesker Phantasie geschlagen geben. Eine abgefahrene Hommage ans Geschichtenerzählen – selbst Lewis Carroll und Roald Dahl können da einpacken!

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Begleiten Sie Idaho Winter auf seinem unvergleichlichen Trip durch die Mühsal des Alltags und der ausufernden Befreiung daraus! Sie werden um Ihren Nachtschlaf gebracht, denn seien Sie versichert: So etwas haben Sie mit tausendprozentiger Wahrscheinlichkeit noch nie gelesen … Eine abgefahrene Hommage ans Geschichtenerzählen – selbst Lewis Carroll und Roald Dahl können da einpacken!

»Der brillanteste Fiebertraum, den Sie je hatten - unwiderstehlich und urkomisch.«  Globe and Mail

Tony Burgess

Idaho Winter

Roman

Aus dem kanadischen Englisch von Hans-Christian Oeser

Verlag Klaus Wagenbach Berlin

Für Griffin und Camille

Erstes Kapitel

Sein Schlafzimmer ist ein enges, schmutzstarrendes Kabuff mit dreckigen, leicht nach innen gebogenen Wänden, die den erbärmlich kleinen Raum noch weiter schrumpfen lassen. Der Fußboden ist ein Mulch aus Papieren, Tannenzapfen und Limonadendosen. Hornissen schweben umher. Den anderen Hausbewohnern dient der Raum als Mülltonne. Die gelbe Tür lässt sich gerade so weit öffnen, dass man eine leere Bohnenkonserve hineinwerfen kann. Das einzige Fenster des Schlafzimmers geht auf eine schmuddelige orangefarbene Backsteinmauer hinaus. Das Bett besteht aus zwei zerschlissenen Handtüchern, die über vier eingerissene und vergammelte Rettungswesten gelegt sind. Der fischige Gestank des Betts erfüllt das ganze Zimmer und schnürt Idaho im Schlaf fast die Luft ab. Armer kleiner Idaho. Er setzt sich auf, beugt sich vor und erbricht sich auf den Rücken einer dicken schlafenden Maus. Die Maus wacht nicht auf. Idaho beobachtet, wie unter Burger-Styroporboxen andere Mäuse hervorhuschen, um das Erbrochene von dem sich hebenden und senkenden Fell des fettleibigen Nagetiers abzulecken. Es ist der erste Schultag nach den Ferien, und zum ersten Mal seit vergangenem Juni muss Idaho das Haus verlassen. Damals endete die achte Klasse.

Die letzten Monate des Schuljahrs hat er eingewickelt in einen Mantel aus Dachpappe verbracht. In der Sonne hat sie sich so erhitzt, dass sie ihm die Haut verbrannt und einen schwarz-roten Streifen hinterlassen hat, der von der rechten Halsseite bis zum linken Hüftknochen verläuft. Er ist den Hügel hinter der Schule hinabgerollt worden. Am Fluss ist er auf einen niedrigen Ast gesetzt worden, wo die anderen Kinder ihn mit schweren Steinen und harten Erdklumpen beworfen und zu Fall gebracht haben. Den Sommer hat er hier verbracht, in diesem ekelhaften Zimmer, sein Rücken mit Teer verklebt und die Füße zerschrammt von einem Winter des Weglaufens. Es ist kein Leichtes, solch schwere Drangsal zu schildern. Der arme, arme Junge, Idaho, dessen Unglück das jedes anderen übersteigt. Niemand hat mehr Grund, aufzugeben und den Rest seiner tristen und maladen Tage als weinerliches, verabscheuungswürdiges Häufchen Elend zu verbringen als der bedauernswerte Idaho Winter.

Die Tür öffnet sich erneut, und ein Hund erscheint: ein gelber Hund mit rotem Maul und gesenktem Kopf, der bereit ist, sich auf ihn zu stürzen.

»Mach, dass der Junge aufsteht, Growler.«

Das ist Idahos Vater. Idahos Vater, der hier am Ort Early Winter genannt wird, stapft am Zimmer des Jungen vorbei die Treppe hinunter in die Küche und setzt sich einer Frau gegenüber an den Tisch. Schweigend schöpft Early aus einem flachen Topf Bohnen in Milch und stiert die Frau, die nur die Frau genannt wird, bedrohlich an. Sie ist hübsch und stumm und dünn und wahrscheinlich hungrig. Sie starrt auf ihren Schoß. Sie wagt nicht aufzublicken. Es ist ihr verboten, von ihren Händen hochzuschauen.

»Growler holt den Jungen.«

Ein Krachen. Bilder fallen herab, und der Putz bröckelt, als Growler, Idahos Schulter im Maul, den Jungen gegen die Wände des schmalen Flurs schleudert und ihn schließlich vor Earlys Füßen fallen lässt. Early sieht auf den erbarmenswerten Jungen herab. Idaho sieht zu ihm auf, blinzelt aus Angst vor diesem hasserfüllten Mann. Earlys Augen sind verborgene Straßen: kalte, krumme Straßen, auf denen sich Mörder Richtung Wald zurückziehen. Earlys Augen sind dieselben geheimen Straßen, die Mörder nehmen. Idaho vergräbt sein Gesicht in den schmalen Händen.

»Schule. Du isst, was das Viech gefunden hat.«

Idaho spürt, wie ihm etwas in den Schoß geworfen wird. Durch seine spindeldürren Finger blickt er auf einen steifen Waschbären, dessen Kehle und Bauch mit Fliegen bedeckt sind.

»Iss die Backen und putz dir mit dem Schwanz die Zähne.«

Unter dem Tisch kann Idaho die schlanken Füße seiner Mutter sehen, ihre großen Zehen sind gekrümmt und weiß. So nah ist er ihr seit vielen Monaten nicht gekommen. Er sieht, wie sich unter ihrem Fuß ein Zeh des anderen Fußes streckt und ein weiterer sich nach oben biegt. Diese Füße scheinen darin vertieft zu sein, sich umeinander zu kümmern. Zwei kleine blinde Puppen, die sich gegenseitig suchen und Zärtlichkeiten austauschen, selbst hier, am schroffsten Ort der Welt. Idaho spürt ein Summen an seinen Knöcheln. Eine Träne hat die Fliegen von seinem Frühstück verscheucht.

Zweites Kapitel

An diesem ersten Schultag steigen dünne Rauchschwaden durch den kühlen Septembermorgen. Vor den Haustüren stellen sich kleine Jungen und Mädchen mit bunten Rucksäcken auf die Zehenspitzen, um ihren Müttern einen Kuss zu geben. Von ihren Veranden trotten sie die kurzen geraden Wege hinunter, öffnen die sauberen weißen Schwingtüren und biegen auf die Bürgersteige ab, die sie zur Schule bringen. Einige bleiben an der Ecke stehen und warten auf Freunde, andere rennen voraus, schwenken die mit einem Gürtel zusammengehaltenen Bücher und springen auf die Verkehrshelferin zu, um sie mit frisch gebackenen Keksen zu begrüßen. Die Sonne scheint hell an diesem Morgen, die wenigen Wolken am strahlend blauen Himmel sind weiß und konturenreich. Ms Joost, die Verkehrshelferin, beugt sich hinab, um die Kekse entgegenzunehmen, richtet sich dann schnell wieder auf und hält Ausschau nach Autos. Ein hübsches kleines Mädchen mit dicken orangefarbenen Ringellocken blickt zu ihr auf.

»Was ist, Madison?«

Zwei Jungen, der eine groß und rund mit massigen, der andere dünn mit knochigen Händen, kommen herbeigerannt und schubsen Madison aus dem Weg.

Ms Joost senkt ihr großes Stoppschild vor den Jungen. »Kyle! Evan! Muss ich schon am ersten Tag einen Vermerk schicken?«

Die Jungen lassen die kleinen, verzogenen Köpfe hängen, und Kyle, der Dicke, wirft Madison einen tödlichen Blick zu.

»Also, Madison, was wolltest du fragen?«

Die Jungen sind sich nicht sicher, ob sie entlassen worden sind, und bleiben wartend stehen. Schon bald beginnen sie zu kichern.

»Sie will was über Kartoffel wissen.«

Kartoffel ist der schreckliche Spitzname, der Idaho von, nun ja, von fast der ganzen Stadt verpasst wurde. In erstaunlichem Maße haben die meisten Menschen akzeptiert, dass Idaho entsetzliche Grausamkeiten erleiden muss. Ms Joost klopft den Jungen auf die Schultern, und sie jagen die Straße entlang, rennen lachend bis zur Bordsteinkante. Ms Joost wirft ihnen einen strengen Blick hinterher, bevor sie auf die Knie geht und eine von Madisons Locken auf ihre Handfläche legt.

»Also, Madison. Du solltest nicht an die Kartoffel denken.«

Madison senkt den Blick, hauptsächlich aus Scham. Sie denkt die ganze Zeit an Idaho. Sie nickt feierlich.

»Gut, meine Liebe. Ich weiß, für dich ist es schwer zu verstehen. Du hast wenig Erfahrung mit Menschen. Aber die Kartoffel wird nicht ohne Grund schlecht behandelt.«

Madison schüttelt ihre Locke aus der Hand der Frau. Sie schaut nicht auf.

»Die Kartoffel ist ein furchtbarer Junge. Er riecht wie verfaulter Fisch. Er trägt verdreckte Kleidung, selbst seine Eltern können seinen Anblick nicht ertragen. Keine Schuhe. Und seine Haare!« Ms Joost hält sich den Mund zu. »Niemand mag ihn, weil es keinen Grund gibt, ihn zu mögen. Für manche Leute ist das schwer zu verstehen, Maddie, aber es ist nun mal so: Manche Menschen kommen in einem sehr fauligen Zustand zur Welt und bleiben dann so. Wir sollten niemals Mitleid mit ihnen haben. Wir sollten sie meiden, bis ihre Fäulnis sie eines Tages verschlingt.«

Madison starrt zu Ms Joost auf. Die Verkehrshelferin hat ein so freundliches Gesicht, denkt sie, mit traurigen, fürsorglichen Augen und einem wunderbaren, lachenden Mund. Ein schönes Gesicht. Warum sagt sie so etwas?

»Eigentlich, Madison, kommen Menschen nicht so auf die Welt, es gibt niemanden, der so ist. Außer ihm. Kartoffel. Wenn er dort vorn am Bordstein steht, werde ich wie jedes Jahr darauf warten, dass ein schnelles Auto um die Ecke biegt, bevor ich ihn über die Straße lasse.«

Madison schnappt nach Luft.

»Ganz recht, Maddie. Das wollen wir alle. Verdirb’s nicht. Und jetzt fort mit dir.«

Madison macht zwei Schritte, dann bleibt sie stehen. Ich muss ihn warnen, denkt sie. Sie dreht sich um und will zurückgehen, aber das große rote Sechseck schlägt gegen ihren Mantel und hält sie auf. Ms Joost zwinkert und rümpft die Nase.

»Geh schon, Kind. Ab in den Unterricht. Es ist der erste Schultag!«

Madison fühlt sich schwindlig, als sie den Bordstein erreicht. Ihr Weg zur Schule führt über die mit Apfelbäumen bestandene Wiese neben dem Traktorhändler. Heute will sie allein gehen. Am Bach bleibt sie stehen und beobachtet, wie die Schlüpflinge auf dem Wasser treiben. Von der Weide segelt weißer Flaum herab und landet auf der trägen, stillen Oberfläche. Am Ufer setzt sich Madison auf einen länglichen kühlen Stein und lagert ihre winzigen blauen Schuhe auf einem nassen Stück Holz. Es ist Zeit, über Dinge nachzudenken. Warum sind die Menschen alle so gemein zu diesem Jungen? Abscheulich. Und heute, in der Schule, werden sie ihn mit Steinen bewerfen, bis er zu verletzt ist, um am Unterricht teilzunehmen, und nach Hause geschickt wird – nach Hause geschickt von einer Lehrerin, die ihn untersucht und ihre spitzen Finger in seine Wunden drückt, bevor sie ihn zur Tür hinausschiebt. Nach Hause: Wie sieht sein Zuhause aus? Wissen seine Eltern, wie schlecht er behandelt wird? Madison spürt, wie sich das Licht verändert, die kleinen Diamanten an den Steinen neben ihren Füßen sind verschwunden. Seine Eltern kümmert es nicht. Madison fährt sich mit der Hand über das nasse Gesicht. Seine Eltern sind die schlimmsten von allen. Heute gehe ich nicht zur Schule, denkt sie. Der Bach ist so schön, er wirkt wie von Feen bevölkert. Libellen. Pummelige Bienen. Wasserkäfer weben und entweben ein zitterndes Tuch auf den kalten blauen Steinen.

Drittes Kapitel

Idaho geht ganz langsam. Seine Füße sind wund von tiefen Hundebissen; von der madigen Pfote, die sein Vater ihn zu essen genötigt hat, dreht sich ihm der Magen um. Schwer zu sagen, wie Idaho wirklich aussieht. Sein Haar ist vermutlich braun, aber so verfilzt vom Kot der Bettwanzen, dass es auch rot sein könnte. Seine Augen habe ich noch nie gesehen; er hält sie nicht einfach nur gesenkt; sie sind von einer Kapuze bedeckt, verborgen, hohl. Vielleicht ist nicht genug Nahrung in ihm, um sie zum Leuchten zu bringen, oder er findet einfach keine Veranlassung, in die Welt hinauszuschauen. Seine Hände sind aufgedunsen, aber ich glaube nicht, dass er ein dicker Junge ist; vermutlich sind seine Gliedmaßen geschwollen von den infektiösen Mäulern, die ihn beißen, wenn er schläft oder einfach nur daliegt, wie er es den ganzen Sommer über getan hat – ein regungsloser, unglücklicher Junge, der keinen Grund hat, aufzustehen.

Jetzt aber ist er aufgestanden, trottet die Pappeln entlang, allein und etwas dunkler als sein eigener Schatten. Ich wünschte, ich könnte sagen, was er denkt, aber ich weiß nicht einmal, ob er überhaupt denkt. Es ist eine Tatsache, dass ein Mensch, wenn er mehr Leid erfährt, als er ertragen kann, in gewisser Weise aufhört, Mensch zu sein – um sich zu schützen, um nicht länger angreifbar zu sein, um nicht mehr so zu sein wie wir. Deshalb ist es nicht möglich, Idahos Schmerz zu verstehen, denn Idaho fühlt ihn nicht mal selber richtig. Idaho ist vielmehr entleert. Er ist eine gähnende Leere. Wie ein Raum, den man verlässt, wenn man von einem Stuhl aufsteht. Es ist wie nach einem lauten Geräusch, wenn man nur noch das Geräusch des eigenen Lauschens vernimmt. Was ist, ist nur noch ein »war«. Das ist es: Idaho ist ein »war«.

Er bleibt am Bordstein stehen und hört den schrillen Pfiff der Verkehrshelferin, dann tritt er auf die Straße. Er weiß, dass ein Auto naht, und springt im letzten Moment beiseite.

»Du elender kleiner Mistkerl!« Ms Joost ist auf ihn zugelaufen und schwingt ihr Schild wie eine Axt. Idaho rennt so schnell er kann davon, der schildschwingenden Lotsin aber immer nur einen Schritt voraus. Er schafft es auf die andere Straßenseite und rennt dann weiter den Gehsteig entlang, ohne auf die Risse zu achten, die sich zwischen seinen trockenen Zehen bilden, oder auf den brennenden Essig seiner Tränen.

»Renn nur, Kartoffel! Morgen mach ich dich fertig!«

Idaho rast den Gehsteig entlang, zwischen den Kindern hindurch, die in Paaren dort entlanglaufen. Sie nehmen die Verfolgung auf. Bald ist eine ganze Kinderschar hinter ihm her, blindlings rennt er durch einen Vorgarten.

Idaho bleibt vor Mr Harris stehen, der seinen Garten mit einem Schlauch bewässert, dessen Sprühkopf die Form eines riesigen Gänseblümchens hat. Über seine Brille hinweg blickt er auf die Meute, die sich am Rand seines Rasens versammelt hat. Die Kinder treten schuldbewusst von einem Bein aufs andere, rühren sich aber nicht vom Fleck.

»Was ist los? Was geht hier vor?«

Mr Harris bemerkt, dass Idaho auf allen vieren auf dem nassen Rasen hockt. Er hechelt. Der alte Mann berührt ihn an der Schulter.

»Alles in Ordnung, mein Junge?«

Kyle bahnt sich einen Weg zur vordersten Reihe der Meute. »Das ist Kartoffel. Wir wollten ihn vor der Schule verprügeln.«

Mr Harris richtet sich auf und schaltet sein Gänseblümchen aus. »Wozu denn das?«

Kyle schnauft trotzig, doch um eine Antwort verlegen. Evan stellt sich vor seinen Freund; er spricht mit einer Stimme, die viel ruhiger und erwachsener klingt als Kyles.

»Wir verprügeln ihn vor dem Unterricht, damit er nicht zur Schule kommt.«

Das empört Mr Harris. Er blickt auf Idaho hinab, greift dem Jungen unters Kinn und hebt seinen Kopf an. Rot geränderte Augen und geschwollene Lippen. Ein blasses Gesicht mit fast durchsichtiger Haut, gleichzeitig düster, mit tiefen Sorgen- und Schmerzfalten. Ein unglaubliches Gesicht, denkt Mr Harris, so was hab ich noch nie gesehen. Er stellt sein Gänseblümchen wieder an und zeigt auf Idahos Augen.

»Runter von meinem Rasen, du Kartoffel! Kinder! Kommt und schafft ihn weg!«

Idaho krümmt sich zusammen und bedeckt die Ohren mit den Händen. Die Schläge kommen von überallher. Tritte in die Rippen. Hiebe und Stöße gegen die Beine. Erde und Lehm fliegen ihm in den Mund. Er schließt die Augen und sinkt in sich zusammen. Er verliert das Bewusstsein. Es ist keine richtige Ohnmacht, eher ein träger Rückzug von der Welt. Wie eine Schnecke, die sich in ihr Haus zurückzieht, um sich zu verstecken. Ich sollte Ihnen berichten können, was dort mit ihm passiert, doch soweit ich es beurteilen kann, ist er einfach verschwunden, verschlungen von seinem eigenen Nichtvorhandensein. Trotzdem lassen die Kinder weiterhin Fäuste, Bleistifte und Lehm auf ihn herabregnen. Selbst der wunderbare alte Mr Harris kann nicht umhin, dem Jungen eine Tomatenstange durch die Finger ins Ohr zu schieben. Sie alle wirken so verzweifelt – verzweifelt suchen sie ihm wehzutun, als hinge von den Schmerzen des Jungen ihr Wohlergehen ab.

Doch irgendwann lassen sie von ihm ab und hüpfen wieder auf den Gehweg. Mr Harris wälzt den Jungen zum Rinnstein und gibt ihm einen letzten Tritt. Zusammengerollt liegt der arme Idaho Winter in der Maple Street, bedeckt von Blättern und Stöcken, und niemand schert sich um ihn. Niemand. Sein Vater sitzt zu Hause mit dem bösartigen Hund, der sich von Idahos Füßen ernährt. Auf dem Schulweg attackieren seine Klassenkameraden sich gegenseitig mit Büroklammern, Papierkügelchen und Reißzwecken, die sie sich an die Knöchel kleben. Die Lehrerin wartet hinten im Klassenzimmer mit einem kleinen Käfig voller Feuerameisen. Sogar die Verkehrshelferin ist bereit – sie will nichts dem Zufall überlassen, sitzt in ihrem großen braunen Lieferwagen und lässt den Motor aufheulen, gewillt, mit quietschenden Reifen auf die Straße hinauszuschießen, sollte Idaho Winter sie noch einmal überqueren wollen.

Viertes Kapitel

Aber es gibt eine Person, die sich nicht verschworen hat, Kartoffel Schmerzen zuzufügen. Sie sitzt allein auf einem sonnenbeschienenen, kieselbedeckten Fleckchen am Bach, die Arme verschränkt, die Stirn gerunzelt. Vor ihr liegt die ungerechte Welt, und sie weiß noch nicht, was sie tun wird, nur dass sie etwas tun wird. Wenn man die Dinge so sieht, wie sie sind, ganz gleich wie sie sind, nimmt man sich einen Moment Zeit und plant ein paar Veränderungen.

Und unterdessen? Für den armen Idaho Winter wird es immer schlimmer.

»Madison Beach?«

Mrs Hail klopft mit ihrem Schuh gegen das Lehrerpult. Sie klappt das Anwesenheitsbuch zu und setzt sich aufs Pult.

»Zwei fehlen. Idaho Winter und Madison Beach.«

Die Kinder reißen die Augen auf und tauschen vielsagende Blicke aus. Kyle, der nicht clever genug ist, um Blicke zu werfen, stöhnt. Evan klopft Kyle mit einem Lineal auf den Nacken.

»Aua!«

Mrs Hail sieht Kyle drohend an.

»Weißt du, wo die beiden sind, Kyle?«

Evan zischt leise. »Sag’s ihr.«

Mrs Hail reckt das Kinn und ertappt Evan beim Flüstern.

»Weißt du etwas, Evan?«

Evan hüstelt und stößt, an Kyle gewandt, hinter seinem Hüsteln das Wort »tot« hervor. »Ja, Frau Lehrerin.«

Mrs Hail ist überrascht und erfreut. Mit dem langen Bleistift zwischen ihren langen Fingern bedeutete sie Evan, fortzufahren.

»Madison hat nach der Kartoffel gesucht, er muss sie wohl gefunden haben.«

Die anderen Kinder geben ein zustimmendes Geräusch von sich.

»Na, dann. Das ist gar nicht gut. Ist die Kartoffel immer noch gefährlich?«

Alle Kinder reden durcheinander. »Ja! Ja! Die Kartoffel ist der Schlimmste! Er ist der Schlimmste! Der Allerschlimmste!«

Mrs Hail sieht grimmig zu, wie die Kinder schreien. Sie bringt sie zum Schweigen, indem sie mit dem Bleistift in die Luft sticht. »Nun gut. Dann ist dieses hübsche Mädchen also verschwunden, und dieses widerwärtige kleine Gemüse ist dafür verantwortlich?«

Inzwischen ist die Klasse fast auf den Beinen, johlt und jubelt, stößt Fäuste in die Luft.

»Ruhe, Kinder. Bitte, ich muss nachdenken.« Mrs Hail tippt sich mit ihrem Bleistift ans Kinn und blinzelt: Ein böser Junge hat ein braves Mädchen entführt. Sie greift hinter sich, holt ein winziges Handy hervor und hackt mit dem Bleistift darauf ein.

»Hier spricht Mrs Hail, Klassenlehrerin an der St. John’s Wort Middle School. Eine meiner reizenden Schülerinnen ist von einem Jungen entführt worden, und wir wissen nicht, wo die beiden sind.«

Sie lächelt der schweigenden Klasse zu und zwinkert.

»Miss Madison Beach. Richtig. Ja, sie ist ein perfektes kleines Mädchen. Ich weiß, es ist furchtbar. Sein Name ist Idaho Winter. Ja. Das ist er. Danke.« Sie klappt das Mobiltelefon zu und blickt schelmisch in die Klasse. »Die Polizei stellt Suchhunde zusammen, sie sagen, sie werden sie finden.«

Die Klasse klatscht und jubelt.

»Was passiert mit ihm? Was werden sie mit der Kartoffel machen?«

Mrs Hail schlägt mit der Faust aufs Pult, und die Kinder erstarren. »Die Polizei sagt, wenn sie ihn finden, werden sie ihn nach Hause bringen. Und wenn sie ihn finden, werden sie ihn an die Hunde verfüttern.«

Die Kinder springen auf die Tische und schleudern ihre Bücher in die Luft.

Und so beginnt der erste Schultag.

Ich lehne mich einen Moment zurück und staune über das schreckliche Drama. Bestimmt werden die Leute ein Einsehen haben, bestimmt werden sie sich ändern, bevor sie etwas wirklich Entsetzliches tun.

Fünftes Kapitel

Mr Finchy senkt den Kopf und öffnet den drei Polizisten das Gartentor.