Iglhaut - Katharina Adler - E-Book
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Katharina Adler

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Beschreibung

Sie hat eine Vorliebe für Whiskey-Cocktails und alte Sozialdemokratinnen, hat schlechte Backenzähne, Geldprobleme und ein Talent für den Umgang mit Holz: Iglhaut, die im Hinterhof eines Münchner Mietshauses ihre Werkstatt unterhält. Die starke, stachelig schöne Iglhaut, die – ohne eigenes Zutun und definitiv gegen ihren Willen – zum Zentrum nachbarschaftlichen Miteinanders wird.  Katharina Adlers Iglhaut ist eine Heldin nach Art alter Götter. Aus dem Holz für verlässliche Beziehungen ist sie nicht gemacht, weder in der Liebe noch im Geschäft. Auch ihre Laune: so wandelbar wie das Wetter. Nur ihre Überzeugungen sind bis zur Sturheit gefestigt. Allenfalls für einen Fleisch verachtenden Hund namens Kanzlerin könnte sie sich verbiegen – und vielleicht für den Ex-Liebhaber, den sie in einem Moment der Unachtsamkeit wieder in ihr Leben lässt. Doch dann drängen weitere Wahlverwandte und Geschichten – cholerisch, komisch, ungebeten – in diesen zutiefst menschlichen Roman, einen Roman, der das Leben feiert: ungeschönt, mit allen Widrigkeiten. Sie wohnen nämlich nebenan … 

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Katharina Adler

Iglhaut

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Sie hat eine Vorliebe für Whiskey-Cocktails und alte Sozialdemokratinnen, hat schlechte Backenzähne, Geldprobleme und ein Talent für den Umgang mit Holz: Iglhaut, die im Hinterhof eines Münchner Mietshauses ihre Werkstatt unterhält. Die starke, stachelig schöne Iglhaut, die – ohne eigenes Zutun und definitiv gegen ihren Willen – zum Zentrum nachbarschaftlichen Miteinanders wird.

Katharina Adlers Iglhaut ist eine Heldin nach Art alter Götter. Aus dem Holz für verlässliche Beziehungen ist sie nicht gemacht, weder in der Liebe noch im Geschäft. Auch ihre Laune: so wandelbar wie das Wetter. Nur ihre Überzeugungen sind bis zur Sturheit gefestigt. Allenfalls für einen Fleisch verachtenden Hund namens Kanzlerin könnte sie sich verbiegen – und vielleicht für den Ex-Liebhaber, den sie in einem Moment der Unachtsamkeit wieder in ihr Leben lässt.

Doch dann drängen weitere Wahlverwandte und Geschichten – cholerisch, komisch, ungebeten – in diesen zutiefst menschlichen Roman, einen Roman, der das Leben feiert: ungeschönt, mit allen Widrigkeiten. Die wohnen nämlich nebenan …

Vita

Katharina Adler wurde 1980 in München geboren, wo sie nach Stationen in Leipzig und Berlin heute wieder lebt. Ihr viel beachtetes Debüt, «Ida», war für den Alfred-Döblin-Preis, den Klaus-Michael Kühne-Preis und den ZDF-aspekte-Literaturpreis nominiert. 2019 wurde sie mit dem Bayerischen Kunstförderpreis, 2020 mit dem Premio Letterario Adei-Wizo ausgezeichnet. «Iglhaut» ist ihr zweiter Roman.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Mai 2022

Copyright © 2022 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Die Autorin dankt dem Internationalen Künstlerhaus Villa Concordia und dem Bayerischen Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst für die Förderung ihrer Arbeit an diesem Buch.

Covergestaltung Hafen Werbeagentur, Hamburg

Coverabbildung Thomas Dashuber

ISBN 978-3-644-01074-1

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Im Winter

Glück

Die Iglhaut kam aus dem Untergrund. Die Rolltreppe trug sie hinauf. Die Nacht, wie blank poliert. Niemand nahm das zur Kenntnis, nicht einmal die Iglhaut selbst. Sie war müde vom Flug, von der Ferne. Die Narbe an ihrer Seite juckte.

Am Eck ein Paar, unschlüssig, ob ihr Treffen hier zum Ende kam. Solche Abschiede konnten sich hinziehen, da wollte sie nicht weiter stören und ging näher am Klohäusel vorbei. Vor dem Eingang: zerknüllte Plastikhandschuhe, achtlos weggeworfen. War die Polizei wieder einer armen Seele auf die Pelle –?, dachte die Iglhaut. Es war gerade so ein halber Gedanke. Die andere Hälfte: dass Herakles’ Imbiss sicher schon geschlossen hatte. Aber was sollte sie dem jetzt auch erzählen? Von einem Pauschalurlaub kam eine Iglhaut eigentlich nicht.

Diese Reise hätte sie nie selbst geplant. Sie war ihr widerfahren. Schuld hatte der Uli aus dem zweiten Stock, rechts. Nein, Valeria aus dem zweiten, links. Begonnen hatte es mit Gejammer: «Bei Kreuzworträtseln gewinnt man nicht den Hauptpreis. Das gibt es einfach nicht!» So letzten Monat der Uli bei einer Selbstgedrehten im Hof. «Ägypten. All-inclusive.» Uli, der aus seiner Windjacke den Brief mit der Gewinnbestätigung zog. «Eine Zumutung eigentlich. Was muss man denn gleich so ein Glück –?» Er sprach es aus, als sei das Wort von einem nässenden Ausschlag befallen. Der dritte Preis wäre es gewesen. Den dritten wollte er haben. Einen Allesmixer. Das sagte er zärtlich und mit Sehnsucht.

Die Iglhaut, die nicht mehr rauchte, den Geruch einer brennenden Zigarette aber immer noch schätzte, ließ sich von Uli die Vorzüge des Küchengeräts aufzählen. Er schwärmte von den Standard-Funktionen: Rühren! Häckseln! Kneten! Welche Gerichte mit so einem Gerät möglich wären. Er ließ Soufflés aufgehen, buk eigenes Brot und streute gehackte Kräuter wie Flitter auf Rezepte, die er hoffnungsfroh studiert hatte.

«Was siehst du mich so an?», unterbrach er sich dann.

«Ich?» Die Iglhaut hatte ein Treibholz aus der Garage zur Hand genommen und schnitzte es mit einem Messer zurecht. Sie fuhr mit dem Daumen über eine Wellenmaserung, sagte dann: «Ich schau nicht.»

«Und ob du.»

«Wirklich nicht.»

«Jetzt schaust du schon wieder so!»

«Bild dir nichts ein!» Ein Holzsplitter war ihr von der Schnitzklinge gesprungen. Die Iglhaut sah auf. «Aber wenn du schon fragst. Kochen wird dir der Mixer nicht beibringen.»

Ulis linkes Augenlid begann zu flattern, er faltete die Gewinnbestätigung, schob sie zurück in seine Windjacke. «Fürs Protokoll», sagte er. «Ich habe dieses Kreuzworträtsel in Minuten gelöst. In Rekordzeit, würde ich sogar behaupten.» Seine Zigarette ging empört zu Boden.

Die Iglhaut sah ihr nach. Da ging er dahin, der gute Geruch. Zurück blieb der leichte Muff vom Uli.

«Nichts wird mehr bei so einem Kreuzworträtsel erwartet.» Er schüttelte gleich eine weitere Selbstgedrehte aus dem zerknitterten Kuvert. «Keinerlei höheres Wissen. Die Allgemeinbildung», sagte er, «ist ein siecher Kassenpatient, ohne jede Hoffnung auf einen Termin beim Spezialisten.» Uli zündete die Zigarette nicht an, leider. «Aber das nur am Rande.»

«Natürlich nur am Rande. Wie immer.» Valeria war aus der Haustür getreten, ihr Telefon erleuchtet. Sie drückte die Iglhaut zur Begrüßung, Augen bei der eingehenden Nachricht.

Die Iglhaut nahm ein neues Stück Holz. «Stell dir vor, Valeria, Uli will mir gerade erzählen, wenn er ein Küchengerät gewonnen hätte, wäre er jetzt schon auf dem Weg zum Sternekoch.»

Uli wurde rot. «So doch nicht. Hab ich doch überhaupt nicht. Dass du immer gleich … Das Übertreiben steht dir nicht.»

«Natürlich steht ihr das!» Valeria tippte eine Antwort an ein mögliches Date. «Übertreibung», Valeria suchte ein Emoji in ihrer App, «Übertreibung», setzte sie noch einmal an, «ist das Rouge auf den Wangen des Alltags.»

Die Iglhaut schob beeindruckt die Unterlippe vor, aber Valeria war schon wieder ins Telefon abgetaucht.

Ulis Miene: Pein.

«Bist du gar nicht auf die Idee gekommen, dass du auch den ersten machen könntest?», fragte die Iglhaut, um ihn abzulenken.

Uli seufzte. «Sachpreise verstehe ich. Sind direkt Werbung fürs Produkt, wenn man die abbildet. Aber eine Reise?»

Auf das Stichwort hin tauchte Valeria aus ihrem Telefon auf. «Du hast eine Reise gewonnen? Wie phantastisch! Ich habe noch nie, ich wollte schon immer!»

Ulis Augenlid senkte sich müde. «Das Glück trifft stets die Falschen.»

Nach zwei Wochen Hurghada wollte die Iglhaut ihm zustimmen. Leicht waren die Ferientage nicht für sie gewesen, alleinstehend unter Familien, Mittvierzigerin unter Pensionisten, Schattenfreundin unter Sonnenbränden, eine, die ein Buch las zwischen lauter Telefonen. Und wem hatte sie das zu verdanken?

So ein Gewinn sei doch immer für zwei, hatte Valeria – mit halbem Blick aufs Telefon – angemerkt. Sie selbst könne ja nicht, wegen Thea. Aber die Iglhaut, die sei schon so lange nicht mehr weg gewesen, und wenn Uli sich mit seinem Glück derart schwertat, warum sich nicht zusammentun?

Die Iglhaut hatte erst noch gestaunt, als Uli, bedächtig nickend, den Brief wieder aus seiner Windjacke zog, dazu einen stumpfen Bleistift, und doch tatsächlich fragte: «Soll ich bei der Rückantwort besser Lebensgefährtin sagen oder doch Lebensabschnittspartnerin?»

«Da kannst du improvisieren», bestimmte Valeria über Iglhauts Kopf hinweg. «Aber, ganz wichtig: Du bittest um getrennte Hotelzimmer!»

«Ge-trennt», notierte Uli.

«Genau, weil deine Liebste schlimm schnarcht», diktierte Valeria.

Die Iglhaut staunte nicht mehr. Sie begann, innerlich zu fluchen.

«Wisst ihr, was noch viel schöner klingt?» Der Uli hob die Bleistifthand mit einem doppeldeutigen Lächeln. «Nicht Lebensgefährtin, Verlobte! Zweien, die sich versprochen sind, werden vor der Hochzeit Einzelzimmer bestimmt nicht versagt.»

«Wunderbar», lobte Valeria. «Da denkt einer mit.»

«So ersparen wir uns auch die Peinlichkeit mit dem Schnarchen», fügte Uli hinzu und zog ab, mitsamt ungerauchter Zigarette.

Als er im Haus verschwunden war, richtete die Iglhaut ihr Schnitzmesser auf Valeria. Auf keinen Fall werde sie Ulis «Glück» mit ihm teilen, nirgendwohin wolle sie verreisen mit dem!

Valeria schreckte das Messer nicht. «Beruhige dich. Ich hab dir Ferien umsonst besorgt.»

Aber der Ärger ging der Schreinerin so schnell nicht aus dem Messer. Von umsonst könne keine Rede sein! Vierzehn Tage mit Uli seien ein hoher Preis.

Valeria legte ihren Zeigefinger auf die Klinge, lenkte die Spitze von sich weg. «Iglhaut. Wann hat der Uli das letzte Mal die Stadt verlassen?»

Anfang der Zweitausender, hatten sie dann überschlagen. Seitdem nicht mehr. Schon wenn er in ein anderes Viertel musste, klagte er, als rechne er mindestens mit Jetlag. Und darauf fußte Valerias Idee: «Wir bestärken den Uli in dem Gedanken, dass er hier über sich hinauswachsen kann. Damit tut man ihm etwas Gutes.»

«Aber er wird es nicht schaffen», wandte die Iglhaut ein.

Valeria hob die Arme. «Ja eben: Vierzehn Tage, die dich nichts kosten, und nur für dich allein!»

Auch wenn das einleuchtend klang, die Idee hatte ihr nicht geschmeckt. Erst recht nicht, als der Uli, jetzt doch glücklich, bei ihr vor der Tür gestanden hatte, um ihr mitzuteilen, die Reise der «Verlobten» sei gemäß den Forderungen der «Hochzeitsplanerin» bei der Gewinnstelle organisiert.

Er hatte sich sogar ein paar neue Sandalen gekauft, wo eine Nagelschere die wichtigere Anschaffung gewesen wäre. Überlegte, ob er zur Vorbereitung ins Solarium solle, da die ägyptische Sonne völlig neue Anforderungen stelle an seinen «nordischen Teint».

Nordisch. Die Iglhaut schüttelte den Kopf, Uli war Hauttyp «Stubenhocker». Auch deshalb bereitete ihr seine überraschende Geschäftigkeit Sorgen.

Im Vorderhaus wurde schon geredet. Frau Ivanović (3. Stock, links) passte sie im Hof ab: Eine Hochzeitsreise, bevor man überhaupt vor den Altar getreten ist … Wäre sie nie draufgekommen. Aber gut.

Tildi Rolff (3. Stock, rechts): «Immer wieder erstaunlich, dass der aufgeklärte Bürger so gern dort seinen Urlaub verbringt, wo die Grundrechte wenig gelten.»

Jasmina aus der betreuten Wohngemeinschaft (1. Stock, rechts): «Mit dem Reizberg? Haben Sie Torschlusspanik, Frau Iglhaut? Ich meine, da würde ich meine Schnecke lieber vertrocknen lassen, bevor der mich bewässert.»

Die Iglhaut knurrte Jasmina fort. An sich war sie Derbheiten nicht abgeneigt, aber Schnecke bewässern lassen. Das war ihr doch ein bisschen zu viel.

Frau Ivanović, noch mal: «Dass Sie beide heiraten, joj! Hat man im Haus gar nicht bemerkt, die heimliche Liebe. Sie ziehen jetzt sicher zusammen. Wissen Sie, mein Neffe sucht wirklich dringend. Also, Sie geben gleich Bescheid, wenn Ihre Wohnung frei wird, ja?»

Selbst die Garage im Hof, wo die Iglhaut ihre Werkstatt eingerichtet hatte, selbst diese Garage schien eine Meinung zu ihrer Reise zu haben. Ständig fiel etwas herunter in den letzten Tagen, das Winkelmesser, die Säge, nichts war an seinem Platz. Aber was genau das bedeuten sollte? Die Garage hielt sich bedeckt.

Wenn sie so überlegte: Auch die Schriftstellerin aus dem Dachgeschoss machte sich rar. Das war an sich nicht ungewöhnlich. Genauso wie von der Zenkerin (2. Stock, Gartenhaus) kein müdes Wort kam. Das konnte so viele Gründe haben wie das Jahr Tage. Oder nur einen: den Zenker. Und das Paar im Erdgeschoss war zu beschäftigt, um sich für das Glück anderer Leute zu interessieren – die waren ihr von allen Nachbarn die liebsten.

Die Zweige des Kirschbaums tippten wie zufällig ans Werkstattdach. Die Iglhaut beugte sich über den Zargentisch (Auftrag 12). Die alte Lackschicht musste von der Platte herunter. Eine erste weiße Strähne fiel ihr ins Gesicht. Sie klemmte sie unter das Haarband, das sie beim Arbeiten trug. Urlaub. Ein Laut wie aus einer unbekannten Sprache. Urlaub, dachte sie, brachte nur Erholung, wenn man ungestört war. Für einen Schwatz von ein paar Zigarettenlängen war der Uli schon in Ordnung. Innerhalb des Hinterhofs. Darüber hinaus wurde es schon schwierig.

Der Lack ließ sich nur schwer vom Tisch schmirgeln. Die Iglhaut setzte die Schleifmaschine noch einmal mit mehr Druck an. Allein schon Ulis lose Zunge! Wirklich überall hatte er von ihrer «gemeinsamen Reise» erzählt. Bestimmt «nur am Rande». Aber wie konnte irgendjemand glauben, dass sie mit dem …?

Die Iglhaut und die Liebe, das waren einige gekrachte Hölzer, ein paar Spreißel, in jedem Fall alles aus einem anderen Holz als dieses Zweiglein von Uli. Torschlusspanik. Keine Ahnung hatte diese Jasmina! Und die Frau Ivanović mit ihren Vorstellungen. Auf ihre Wohnung im Gartenhaus hoffte der Neffe vergeblich. Ein Schmuckstück mit Veranda nach Süden! Die würde sie erst auf der Bahre verlassen. Wenn hier jemand zu jemandem zöge, dann dieser Jemand zu ihr. Allein die Idee: zum Uli, der in der Küche nur eine Heizplatte hatte und dessen Backofen zum Bücherregal umfunktioniert worden war? Ein Horter war er, der Postkarten seit dem Ersten Weltkrieg sammelte und ein Faible hatte für Atlanten, in denen Grenzen eingezeichnet waren, die heute längst nicht mehr existierten. Auch für jemanden wie Uli gab es bestimmt die Richtige irgendwo, aber eine Iglhaut war es nicht.

Sie zog die Schleifmaschine energisch über die Tischbeine. Außerdem konnte sie immer noch abspringen, sagte sie sich, müsste es, wenn der Uli doch Ernst machte. Sie hatte niemandem etwas versprochen und keinerlei Verpflichtungen. Allenfalls gegenüber der Kanzlerin.

Zorn

Die Iglhaut räumte die leeren Flaschen aus dem Wohnzimmer. Sie schüttelte ausgedrückte Zigaretten aus einer Tasse in den Müll. Der herbe Herrenduft weigerte sich, zum geöffneten Fenster hinauszugehen. Auf ihrem Telefon: Valeria, Valeria, Valeria, Valeria.

06:07 Uhr

Du bist schon wieder da? Ich dachte, du kommst erst heute Abend.

 

06:09 Uhr

Ich hätte doch alles, wirklich ALLES aufgeräumt. Ich musste nur schon so früh, weil heute die Vernissage, und gestern … Erkläre ich dir auch noch.

 

09:54 Uhr

Iglhaut. Schläfst du noch?

 

10:02 Uhr

Es wäre alles perfekt aufgeräumt gewesen, ich schwöre. Noch mehr picobello als zuvor.

Eine Iglhaut machte vielleicht keinen Pauschalurlaub, aber Zimmerservice hätte sie jetzt doch gerne gehabt. Und ein Frühstücksbuffet. Stattdessen wischte sie mit einem feuchten Tuch Aschereste und Tabakkrümel von ihrem Couchtisch. Am Boden: eingetrockneter Sirup. Hier kümmerte sich keiner mehr um sie. Noch schlimmer, sie musste sich mit dem Dreck von anderen befassen.

Die morgendliche Iglhaut war ein bisschen wehleidig. Suhlte sich. Vergaß auch um des Grolls willen, dass der Fehler bei ihr lag. Sie hatte Valeria tatsächlich gesagt, sie komme erst heute Abend zurück. Auch ihrem Vater. Hatte den Irrtum später bemerkt, ohne ihn aufzuklären. Noch ein wenig für sich sein, bevor der Wahnsinn wieder losgeht, so hatte sie es sich gedacht.

Ihr Telefon vibrierte wieder. Ruhe war das nicht. Ihr Vater saß wahrscheinlich auch bald vor dem Bildschirm, würde sich ausrechnen, wie lange sie bis nach Hause brauchte. Er steckte sich gerne Ziele. Ihre Treffen genau zu timen, ohne Kontakt zuvor aufzunehmen, war so eines. Um dann alles, was sie durchlebt hatte, anhand der technischen Daten mit ihr durchzusprechen. Sie würde den Flug, der heute ging, verfolgen müssen, damit sie nachher wenigstens ungefähr Bescheid wusste, wie er verlaufen war.

Die Spuren von Valerias Stelldichein waren noch nicht vollends beseitigt, aber die Iglhaut hatte genug. Sie wollte Ulis Buch zu Ende lesen. Der stand sicher gleich wieder vor ihrer Tür. Sie legte sich aufs Sofa, suchte nach der Stelle, über der sie letzte Nacht eingeschlafen war. Genau. Um den Vater der Hatschepsut ging es. Nicht er habe das Tal der Könige ausschlagen lassen, nein, die Tochter hatte den Friedhof der Pharaonen eröffnet!

Das regte die Iglhaut auf. Natürlich hatte man sich nicht denken können, dass die Hatschepsut das war – ein weiblicher Pharao? Unvorstellbar! Aber sie schweifte ab. Beim Herrschernamen vom Vater der Hatschepsut, da war sie hängen geblieben, «Mondkind» hatte er sich genannt. Das war schon herzig. So ganz anders als ihr eigener Name.

Die Iglhaut wusste noch, wie sie schreiben lernte – viele, viele Monde war das her –, da hatte der Vater ihr erklärt, ihr Name, das sei ein versehrter Igel, ein armes Tier, dem ein Stachel ausgerissen worden ist. Als kleinem Mädchen war ihr das schrecklich vorgekommen, und bis heute spürte sie einen gewissen Respekt. An guten Tagen brachte eine Iglhaut etwas Widerständiges, ja Rebellisches mit sich. An schlechten fühlte sie sich darunter, als sei ihr tatsächlich ein Stachel ausgerissen worden. Und in ganz, ganz dunklen Stunden kehrte sich die Sache um: Bei unbegründeten Reklamationen gab sie noch Rabatt, fing einmal sogar an, entschuldigend zu lächeln, als einer nicht glauben wollte, dass in der Holzwerkstatt Iglhaut eine Frau der Meister war.

Wieder bei Kräften und mit allen Stacheln bewehrt, konnten solche Szenen ihr überhaupt nichts anhaben. Da fand sie es nur klug, die Schreinerei nicht unter ihrem vollen Namen zu betreiben. Wer wollte sich schon in der Anbahnungsphase mit den Vorurteilen potenzieller Kundschaft herumschlagen?

Männergebrüll von oben riss sie aus ihren Gedanken. Der Zenker wieder. Etwas ging krachend zu Boden. Stampfen und Gebrüll. Die Zenkerin schimpfte zurück.

Hatten die nur auf ihre Heimkehr gewartet? Die Iglhaut legte Ulis Buch weg. Noch ein Donnerschlag. Gift und Galle von der Zenkerin. Brauchten die sie als Publikum? Die Kinder waren anscheinend nicht da. Tagsüber, wenn die Kleinen außer Reichweite waren, intervenierte sie nicht. Eine Iglhaut mischte sich nicht ein, solange sie den Eindruck hatte, dass Schwächere keinen Schaden nahmen.

12:08 Uhr

Komm nachher in den Markt. Bitte, Iglhaut! Wir müssen das aus der Welt schaffen. Sonst wird es größer, als es ist.

 

12:09 Uhr

Wenn du nicht langsam mal antwortest, bin ich selber beleidigt.

Na gut, sagte sich die Iglhaut, dann eben später zu Valeria in den Supermarkt. Da musste sie irgendwann sowieso hin. Sie nahm das Telefon und tippte eine einsilbige Nachricht. Valeria antwortete überschwänglich. Von oben weiterhin Eruptionen einer Ehe. Die Iglhaut stand auf, war nicht bereit, länger das Publikum zu mimen. Sie packte den Koffer ihres Vaters und trug ihn hinunter zur Werkstatt.

Die Garage tat unbeeindruckt, als die Iglhaut aufsperrte. Nur der Kirschbaum tippte leise aufs Dach. Sie nahm es als Willkommensgruß, hob den Koffer auf die Arbeitsfläche und sah sich die Stelle an, wo die Rolle abgebrochen war: Die Halterung war nicht beschädigt, nur die beiden Räder waren verloren.

Sie kramte im Altholzkasten nach einem Klotz und vermaß den Umfang der verbliebenen Kofferrolle. Aus dem Block fräste sie zwei Räder. So war das. Massenware bekam ein Holzrädchen nach Maß. Sie wusste, dass eine solche Arbeit hoffnungslos rückständig war. Aber, sagte sie sich, der Koffer veraltete in seiner Machart schließlich auch! Das Ende der Massenproduktion war längst eingeläutet. Irgendwann würden Alltagsgegenstände individuell konfigurierbar sein: produziert von Objektdruckern im 3-D-Copyshop ums Eck. Sie hatte nichts dagegen, wenn die Digitalisierung gleich morgen eine Menge Arbeitsplätze vom Markt fegte. Dann kämen sie am Grundeinkommen für alle nicht länger vorbei. Ihr eigenes Konto lechzte Monat für Monat nach einer solchen Überweisung.

Was sie dann machen würde? Einfach so weiter in ihrer Garage, nur weniger nervös, mit einer bedingungslos guten Grundlaune. Sie war sich sicher, dass die meisten einer Beschäftigung nachgehen würden, nur eben einer, die sie für wirklich sinnvoll hielten. Wobei. Wenn alle anfingen, nach dem Sinn zu fragen, dann wäre vieles bald nicht mehr so unglaublich bedeutend.

Eine Klingel und ein Mountainbike, das vor der Garage abbremste. Ronnie L. ließ sein Fahrrad auf den Boden fallen, ein Wimpel mit dem Abzeichen des Pflegediensts, für den er arbeitete, pendelte am Gepäckträger aus.

«Iglhaut!» Er schleuderte seinen Rucksack neben das Rad. «Gott, wie hab ich dich vermisst!» Er warf sich in den Sessel neben dem Werkstatttor, holte ein Taschentuch aus seiner weiten Hose, wischte sich über die Stirn.

«Aha», nickte die Iglhaut. «Und du? Immer noch nicht hinter Gittern?»

Der Pfleger schlug sich auf die Schenkel, irre komisch fand er das. Er wischte sich noch einmal über die Stirn. «Rucksack, Rucksack, Rucksack. … Ach so, hier.» Er stand auf und griff sich seinen Rucksack, ließ sich wieder in den Sessel fallen und begann zu kramen. Erst verschwand der Arm, dann der Kopf. Ronnie L. tauchte wieder auf, versuchte es mit dem anderen Arm. «Oh nee, echt. Habe ich das jetzt auch noch daheim liegen gelassen? Ich bin so ein Trottel … Ah nee, okay, da ist es. Hätte ich mal lieber früher geschaut. Was ist denn heute schon wieder?»

«Heute?», fragte die Iglhaut von ihrer Werkbank.

«Ja, ist ja gut. Bei mir ist immer ein bisschen Chaos. Geb ich sofort zu.»

Er zog eine Schere und eine Tabakdose aus der Seitentasche seines Rucksacks, feuerte ihn auf den Boden, nahm die Dose auf das eine Knie, auf das andere die Schere, schloss die Augen, wie um sich zu sammeln, öffnete sie wieder. «So. Wie war dein erster Urlaub seit der Steinzeit? Ich will alles hören. Ägypten stelle ich mir wahnsinnig spannend vor. Unsereiner kommt ja höchstens einmal im Jahr in die Berge.»

«So spannend war es nicht.»

«Wie, nicht spannend? Du warst doch hoffentlich in Kairo?»

Die Iglhaut schüttelte den Kopf.

«Oder Alexandria? Die Große Bibliothek.»

«Nur ein Tagesausflug ins Tal der Könige. Sonst Hurghada.»

Ronnie L. schnitt mit seiner Schere ein Zigarettenblättchen zurecht und befeuchtete es mit der Zunge, um es mit einem zweiten Blättchen zu verkleben. «Und was hast du da sonst gemacht? Sag bitte nicht: Strand.»

Die Iglhaut nahm einen Stift zur Hand und zeichnete aus dem Gedächtnis die Kartusche der Hatschepsut, die sie auf einer Abbildung in Ulis Buch gesehen hatte: ein längliches Oval, das in einer Schlaufe endete, und darin, in altägyptischen Zeichen, ihr Herrschername. «Nicht so viel Strand», erwiderte sie nach einer Pause. «Hauptsächlich Pool.»

«Pool, aber nicht Kairo. Das pack ich einfach nicht.»