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Zwischen Sekt und Sahnetorte stellte Oma die Frage der Fragen: "Kind, willst du nicht endlich heiraten und Kinder kriegen?" Kurz davor hatte es für Henriette 30 geschlagen und ihr unabhängiges Leben war super. Doch über Nacht scheint sie zum Ü30-Härtefall geworden zu sein: Von den einen kritisch beäugt, von den anderen beneidet. Zwischen Bausparvertrag, Dating-Chaos, DJ-Pult und digitalem Nomadentum sucht Henriette Hell nach einem Lebensentwurf, der die inneren und äußeren Fragen zum Verstummen bringt. Bis sie erkennt: Das Leben kann mich mal … so nehmen, wie ich bin!
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Seitenzahl: 227
© eBook: 2021 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München
© Printausgabe: 2021 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München
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Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, sowie Verbreitung durch Bild, Funk, Fernsehen und Internet, durch fotomechanische Wiedergabe, Tonträger und Datenverarbeitungssysteme jeder Art nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.
Projektleitung: Miriam Nüberlin
Redaktion und Lektorat: Alexandra Bauer (textwerk, München), Cornelia Rüping für textwerk, München
Covergestaltung: Dominik Schwarz
eBook-Herstellung: Christina Bodner
ISBN 978-3-8338-7920-3
1. Auflage 2021
Bildnachweis
Coverillustration: Marco Melgrati
Fotos: Melina Mörsdorf
Syndication: www.seasons.agency
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Wie die Zeit verfliegt: Eben war man noch Anfang 20, konnte sich entspannt um das Sexleben kümmern, Auslandserfahrungen sammeln, im Job experimentieren. Und plötzlich ist man 30 – und alle fragen einen ständig, wann man endlich Kinder kriegt, heiratet oder Karriere macht. Auf »Feten« ist man nicht mehr der scharfe Hingucker, sondern: schwer vermittelbar. Berufsjugendlich for life! Tragisch? Nö, völlig normal – das ist bloß die zweite Pubertät. Wenigstens hat man nun genügend Geld, um seine Nerven mit Moët zu beruhigen. Prost!
Die gute Nachricht: Sobald man sich von den gesellschaftlichen Idealen gelöst hat, beginnt die geilste Zeit. In ihren Zwanzigern arbeitete Henriette sich nämlich beinahe kaputt. Auf einer Rucksackreise durch Indien fand sie dann aber wieder zu sich selbst – und schrieb unterwegs versehentlich einen Bestseller. Dadurch dämmerte es ihr: Frauen müssen nicht gleichzeitig erfolgreich, glücklich verliebt, Mutter, politisch engagiert und ausgeglichen sein. Jeder Mensch sollte die Regeln für sein gelungenes Leben selbst festlegen.
M ein Name ist Henriette, ich bin 34, und alles, was mich gerade interessiert, ist, wann die verdammten Clubs nach der Corona-Krise wieder öffnen. Ich bin weder verheiratet noch arbeite ich auf die nächste Beförderung hin. Dafür lege ich größten Wert auf eine anspruchsvolle Freizeitgestaltung. Vor nicht allzu langer Zeit war ich mit meiner Ü-60-Clique auf einem Roland-Kaiser-Konzert. Sitzplätze, Champagner satt, Schunkeln im Takt. YOLO! Einen Tag später habe ich mit Freunden Techno in einem abgeranzten Berliner Club aufgelegt. Die halbe Gage ging auf der Rückfahrt für mieses Tankstellenessen drauf. Dafür war unser Glücksdepot randvoll. Dann kam Corona.
Mein neues Nummer-eins-Hobby sind Spaziergänge. Wenn mir langweilig ist, lungere ich mit einer Freundin vor teuren Hi-Fi-Fachgeschäften herum, die der Laufkundschaft den Sound des neuesten Bose-Soundsystems präsentieren, und freue mich über Gratis-Club-Feeling. Masken finde ich nicht schlimm, die habe ich früher schon auf Raves in staubigen Gefilden getragen. Dazu heimlich ein Schlückchen aus dem Piccolöchen »to go«, versteckt im Eastpak-Rucksack … und – schwups! – fühlst du dich wieder wie früher, mit 16. Statt unser hart verdientes Geld wie sonst für Restaurantbesuche und überteuerte Cocktails auszugeben, hängen meine Freunde und ich neuerdings wieder auf Spielplätzen ab, trinken Eistee (mit Schuss) aus Tetrapacks und spielen Tischtennis. Aus der Bluetoothbox dröhnt Nicht allein von Absolute Beginner. Wir tragen Kapuzenpulli und Gummistiefel. Einer kifft. Wir sind diesen Monat alle in Kurzarbeit: kein Geld, massig Zeit, wenig zu tun. Das fühlt sich an wie endlose Sommerferien auf dem Dorf. Leider geil.
Im vergangenen Sommer bin ich Tante geworden. Das schönste Gefühl der Welt. Was mich selbst angeht – keine Ahnung, ob das was für mich wäre: ein Baby. Meine Oma fragt mich jedes Mal am Telefon, wann es bei mir so weit ist. Nervig! Mag ja sein, dass ich keine 22 mehr bin, aber bei dieser verbissenen Hetzjagd nach dem ultimativen Happy End (aka Haus, Hochzeit, Nachwuchs), die einige Frauen in meinem Alter an den Tag legen, bin ich raus. Tut mir einen Gefallen und fragt uns Singlefrauen nicht bei jedem Treffen nach unserem Beziehungsstatus. »Es ist kompliziert« trifft es in 99,9 Prozent der Fälle. Ein Problemfall bin ich deshalb noch lange nicht. Es gibt tausend verschiedene Gründe, warum Beziehungen scheitern oder jemand für den Moment lieber allein ist. Ratschläge à la »Vielleicht solltest du mal darüber nachdenken, deine Eizellen einfrieren zu lassen« gehören verboten.
Mit Perfektionswahn halte ich mich nicht auf. MEIN Arsch darf ruhig ein bisschen schwabbeln. MEIN Liebesleben muss nicht perfekt sein. Auf MEINEM Konto darf ruhig mal Ebbe herrschen. Beruflicher Erfolg ist für mich, wenn ich maximal vier Stunden täglich dafür aufwenden muss, meine Miete, geiles Essen, qualitativ hochwertige Drinks und Netflix bezahlen zu können. Ein entspannter Lifestyle ist mir wichtiger als Statussymbole. Dafür brauche ich auch nicht 20 Achtsamkeits-Apps auf dem Smartphone. Wenn ich eins gelernt habe, dann das: Menschen, die vermeintlich alles haben, haben auch immer eine Leiche im Keller. Hab ich auch, haben wir alle.
Manchmal gleicht mein Leben einer gigantischen Fuck-up-Night. Ich wurde schon gefeuert, geghostet, ausgeraubt, ausgebuht, abgesetzt und von einem indischen Affen angepinkelt. Als alle meine Freunde studieren gingen, wählte ich den Quereinstieg in die Medienbranche. In meinen Zwanzigern arbeitete ich mich beinahe kaputt: zuerst, um Karriere zu machen, später nur noch, um irgendwie durchzuhalten. Auf einer Weltreise mit dem Rucksack erholte ich mich von dem toxischen Betriebsklima, in dem ich mich viel zu lange bewegt hatte – und schrieb unterwegs versehentlich einen Bestseller. Dadurch dämmerte mir allmählich, worum es geht: Um gut und erfolgreich zu sein, musst du dich nicht abkämpfen. Alles, was du brauchst, trägst du bereits in dir. Vertrau deinem Instinkt. Glaube an dich und deine Talente. Gib deiner Kreativität Raum, um sich zu entfalten. Genieße das Leben. Kurz darauf hagelte es lukrative Jobangebote, aber ich lehnte alle ab und reiste zum Entsetzen meiner Eltern weiter um die Welt. Unterwegs schrieb ich einmal die Woche eine Kolumne für ein großes Magazin. Das reichte knapp, um mir ein kleines Hotel am Strand, haufenweise frische Mangos und abends Meeresfrüchte und Rotwein leisten zu können.
Mein Steuerberater fand das unmöglich: »In zwei Jahren bist du entweder depressiv oder pleite!« Aber ich setzte sogar noch einen drauf und stieg nach meiner Rückkehr zum Ausgleich als DJane bei einem Technokollektiv ein. Von Montag bis Donnerstag arbeitete ich nun als freie Journalistin und an den Wochenenden war ich auf der Bühne zu Hause. Diese bunte Mischung erfüllte mich. Das verstanden allerdings nicht alle. »Du solltest mit dem Quatsch aufhören. Mit Anfang dreißig macht man entweder Karriere oder bekommt ein Kind«, ermahnte mich mein Umfeld. Also gab ich nach und zog mit meinem damaligen Freund zusammen. Dieser Versuch scheiterte schon nach kurzer Zeit, weil das einfach nicht mein Ding war und ist – der klassische Weg.
Aber hey, das Leben ist zu kurz, um sich ständig aus der Perspektive anderer zu verurteilen! Jeder Mensch sollte die Regeln für ein gelungenes Leben selbst festlegen. Druck brauche ich nur auf meinen Fahrradreifen. Lasst die olle Uhr doch ticken. Frauen müssen nicht gleichzeitig erfolgreich, glücklich verliebt, reich, gertenschlank, topgestylt, Mutter, Ehefrau, Führungskraft, Gutmensch, Abenteuerin, politisch engagiert und ausgeglichen sein. Eins zur Zeit ist auch schon ganz schön gut! Denn es gibt kaum etwas, was sich von Mensch zu Mensch so stark unterscheidet wie die persönliche Definition von Glück.
Oder anders ausgedrückt: Ihr könnt mich mal … so nehmen, wie ich bin.
Weniger Date-Desaster, mehr Selbstliebe – das können die meisten von uns in ihren Dreißigern gut gebrauchen. Oft fühlen wir uns von den Erwartungen, die die Gesellschaft an uns stellt, überfordert: den Mann fürs Leben finden, heiraten, eine Familie gründen … Wollen wir das alles wirklich? Oder denken wir bloß, dass wir das wollen sollten? Was, wenn wir lieber mit dem Rucksack um die Welt reisen, uns sexuell ausleben, in einem Wohnmobil leben wollen? Was, wenn wir alleinerziehend besser dran sind? Oder einfach nicht den Richtigen finden? Ab wann sind wir beziehungsunfähig, selbstverliebt, suchtgefährdet, eingefahren, ein Vorbild, langweilig, ein hoffnungsloser Fall? Und wie schaffen wir es, uns selbst anzunehmen? Wer sind wir ohne Kinder? Unsere Jobs? Geld? Freiheit? Die deutsche Staatsangehörigkeit? Wer zur Hölle bin ich eigentlich?
I ch werde demnächst 35 und habe absolut keine Ahnung, was mich in meinem neuen Lebensjahr erwartet. Ein paar verrückte Geschäftsideen befinden sich schon in der Pipeline und der Plan für meine Geburtstagsparty steht: Ich feiere zusammen mit meiner Freundin Funny. Ihr Name ist Programm. Wir wollen einen dreitägigen Rave in ihrem Schrebergarten im tiefsten Dschungel von Hamburg-Wilhelmsburg veranstalten. Unsere Freunde sollen in Schichten bei uns aufschlagen. Wegen Corona. Die Familien dürfen von 19.00 bis 21.00 Uhr zu Sekt und Kuchen vorbeikommen; Burn-out-gefährdete, dauermüde Workaholics kriegen von 21.00 Uhr bis Mitternacht Schnaps satt und dann geht’s ab ins Bett. Die Harten kommen spät und müssen (!) bis zum nächsten Morgen bleiben, während wir erstklassigen Techno, Trash-Hits und Konfettibomben abfeuern. Kostüme sind Pflicht, das Motto lautet: Glitzerbitches. Als Snacks stehen Mettigel und Bananendelfine bereit.
Danach? Werden wir ungefähr eine Woche lang genüsslich auskatern. Ein guter Zeitpunkt für eine persönliche Bestandsaufnahme: Was habe ich im letzten Lebensjahr verkackt? Was möchte ich besser machen? Bin ich glücklich? Im Großen und Ganzen lautet meine Antwort auf jene kriegsentscheidende letzte Frage aktuell: Ja. Ich bin gesund und habe die Freiheit, tun und lassen zu können, was ich will, zudem Freunde und Familie, die immer für mich da sind. Und verliebt bin ich auch.
Darf man einer Untersuchung des Schweizer Ökonomieprofessors Hannes Schwandt Glauben schenken, ist mein gegenwärtiges Glücksgefühl nicht normal. Mehr noch: Es grenzt fast an ein kleines Wunder! Der Mann hat nämlich herausgefunden, dass wir mit 23 und 67 Jahren am glücklichsten sind. In der Zwischenzeit seien eher Stress und Krisenstimmung angesagt.1
Hm, mal kurz überlegen, was mit 23 so bei mir los war: meine erste eigene Wohnung in meiner Traumstadt Hamburg, mein erster richtiger Job, das erste Mal Backpacking in Asien, wilde WG-Partys nonstop. Jap, die 23 rockt. Die ganze Welt liegt einem zu Füßen, und man denkt, es geht immer so weiter. Bis einem irgendwann die Realität eins mit dem Vorschlaghammer überzieht. Vielleicht wirst du gefeuert. Von der (vorläufigen) Liebe deines Lebens abserviert. Machst Bekanntschaft mit dem Tod. Verlierst Freunde. Scheiterst. Bereust. Viele stürzen dann erst mal in die Quarterlife-Crisis, wenn sie zum Beispiel bemerken, dass der von ihnen erwählte Beruf oder Studiengang überhaupt nicht zu ihnen passt. Vielleicht folgen Selbstfindungstrips in Dritte-Welt-Länder, Experimente mit Drogen, Therapien, ein beruflicher Neuanfang. Sexuelle Umorientierung. So manch einer resigniert auch einfach. »Bis Ende zwanzig kommt man noch damit über die Runden zu denken, dass alles gut laufen wird«, erklärt Hannes Schwandt gegenüber jetzt.de. »Aber irgendwann wird dann doch klar, dass das Leben doch keinen so wahnsinnig glorreichen Weg geht.«2
Die Midlife-Crisis ist kein Klischee – sie lebt! Das hängt laut Schwandt damit zusammen, dass wir uns in unserer Lebensmitte ständig irren, wenn wir uns unsere Zukunft ausmalen. Klar, ich war mit 20 schon davon ausgegangen, dass ich in meinen Dreißigern zusammen mit (m)einem Mann in einer luxuriösen Altbauwohnung residieren und irgendeine hoch bezahlte Führungsposition innehaben würde. Am Ende kam alles anders. Zum Glück! Heute weiß ich, dass ich in völlig anderen Dingen Erfüllung finde. Bis zu dieser Erkenntnis war es ein langer, schmerzhafter Prozess. Die Kunst liegt darin, Enttäuschungen in Gewinne zu verwandeln. Und bloß nicht alles so ernst zu nehmen.
Das gelingt natürlich nicht allen, etwa wenn jemand durch eine Trennung plötzlich alleinerziehend wird oder durch permanente Überforderung im Job krank. Solche Probleme sind einem mit 23 wahrscheinlich noch eher fremd. Aber zwischen 30 und 50 werden viele Menschen davon überrollt. Deshalb ist es auch naiv anzunehmen, dass unsere Zufriedenheit mit fortschreitendem Alter immer weiter ansteigt. Aber genau das tun wir Menschen! Hinter diesem sogenannten Overoptimism steckt laut Schwandt ein evolutionärer Nutzen. »Wenn die Menschen wohlgeeichte Erwartungen davon hätten, wie viel Stress Kinder bedeuten, würden wahrscheinlich sehr viel weniger Leute Kinder bekommen.«3 Irgendwann, mit Ende vierzig/Anfang fünfzig, käme dann der totale Tiefpunkt.
Tolle Aussichten! Enttäuscht von all dem Mist, der einem bis dahin passiert sein wird, und weil der Lack ab ist, verlieren viele quasi komplett die Hoffnung, was die Zukunft angeht. Aber – und jetzt kommt’s: Sobald man sich mit diesem desolaten Zustand arrangiert habe, würde es wieder bergauf gehen. Viele hätten dann begriffen, dass die Würfel gefallen seien. Und das sei ungeheuer befreiend. Ältere Menschen könnten darüber hinaus besser mit Enttäuschungen umgehen, weil ihnen ihr jugendlicher Ehrgeiz nicht mehr im Weg stehe.4 Klar, irgendwann hat auch der Letzte geschnallt, dass man sowieso immer wieder aufs Neue verkackt. Egal, wie gut der Plan war.
Es soll ja Leute geben, die ihr ganzes Leben nach Zahlen ausrichten. Bis 25 möchten sie irgendeinen sexy Abschluss in der Tasche haben, bis 29 eine Weltreise gemacht haben, bis 30 verheiratet sein, bis 33 ein Kind oder die Beförderung bekommen haben und bis 40 ein Eigenheim besitzen. Wenn etwas schiefläuft, fühlen sie sich als Versager beziehungsweise Versagerinnen. Wozu dann überhaupt der Stress?
Die wahren Vorteile der Dreißiger sind ganz andere. Jetzt beginnt der beste Teil unseres Lebens! Wer das leugnet, ist wahrscheinlich unter 18 oder hat auf seiner ersten Ü-30-Party in einer ländlich gelegenen Großraumdisco ein Trauma erlitten.
Fangen wir mit dem Offensichtlichen an: Wir kleiden uns besser, haben endlich den Style und das Geld für Lala Berlin und Co. Statt uns in der Bar 99 Cent halb blind zu saufen, trinken wir Cocktails in gediegenen Lokalen. Oder mixen selbst hinter unserem hauseigenen Tresen. Wir schämen uns nicht mehr für alles und jeden, stehen zu peinlichen Vorlieben. Volare von den Gipsy Kings oder I’d do anything for love von Meat Loaf mit voller Lautstärke bei offenem Verdeck hören? Wir tun es. Wahrscheinlich sind wir dabei gerade auf dem Weg zu einem gemütlichen Kochabend bei Freunden, um dort so exotisch-abgefahrene Sachen wie Jackfruit-Gyros oder Gulasch vom Wildschwein zuzubereiten.
Im Job haben wir uns mittlerweile etabliert und können uns allmählich (unauffällig) zurücklehnen. Wir sind schnell, sicher und gut in dem, was wir tun. Wenn die Praktikantinnen und Praktikanten von ihren letzten Wochenenden erzählen, können wir nur schwerlich ein Gähnen unterdrücken. Wenn die Frischlinge wüssten, was WIR damals so alles getrieben haben … In den wilden, äh, 2000ern. Gekocht hat damals keine Sau. Als Hauptnahrungsmittel fungierten Käsebrote. Donnerstags war grundsätzlich »After Work« angesagt. Sprich: Druckbetankung bis 4.00 Uhr morgens auf dem Kiez. Und am nächsten Tag verkatert auf der Arbeit so tun, als wäre man voll seriös bei der Sache. Davon nehmen wir heute Abstand. Unsere Donnerstage verbringen wir vorzugsweise im Spa. Wenn es drauf ankommt, können wir Nietzsche zitieren. Aber auch immer noch Frank Drebin.
Peinliche Stille gibt es in unserem Leben schon lange nicht mehr. Egal ob mit Vorgesetzten, Promis oder attraktiven Vertretern des anderen (oder eigenen) Geschlechts – uns fällt stets die passende Anekdote ein. Wir kennen mittlerweile den Unterschied zwischen Traminer und Tiramisu, wissen, wie man ein Baby wickelt und Austern schlürft. In einem Sternelokal bewegen wir uns ebenso souverän wie an einem überfüllten Busbahnhof in Neu-Delhi. Wir sehen das große Ganze. Nicht nur unseren eigenen Kosmos.
Nun müssen wir allerdings stark sein, denn die Gesellschaft möchte uns plötzlich vorschreiben, was wir jetzt bitte schön mit unserem Leben so anfangen sollten – jetzt, wo wir ein bestimmtes Alter, eine gewisse Reife erlangt haben. Aber das lassen wir uns schon lange nicht mehr sagen. Dazu haben uns intellektuelle Freigeister ermutigt, deren Nähe wir zunehmend suchen. Wenn wir unser gesamtes Hab und Gut verkaufen und in einen VW-Bus ziehen wollen, tun wir das. Und wenn wir mit 40-Stunden-Wochen, Bürojobs oder Babypartys nichts anfangen können, dann wird uns niemand aufhalten können, unsere Surfschule auf Bali zu eröffnen (außer vielleicht Corona). Das nötige Startkapital für solch verrückte Träume haben wir mittlerweile nämlich locker angespart.
Es wird ein bisschen anstrengender für uns, sobald wir gegen den Strom schwimmen. Aber damit können wir leben. Manchmal sind wir grundlos traurig, haben Weltschmerz. So naiv und zuversichtlich wie in unseren Zwanzigern sind wir längst nicht mehr. Zum Glück! Heute wissen wir, was falsch läuft in der Welt, wir engagieren uns, tun (fast) alles, was in unserer Macht steht, um das Klima zu retten. Unsere Herzen sind vernarbt, wir wurden verletzt oder enttäuscht und stellen viel Althergebrachtes infrage. Manchmal haben wir richtig Angst und zweifeln an uns selbst. Aber genau das ist es, was uns immer wieder weiterbringt und kreativ werden lässt. Es ist 2021 und wir sind keine Kinder mehr. Die Welt hat uns und unsere Visionen nie dringender gebraucht als heute.
I ch habe eine gute Freundin. Ihr Name ist Polly, sie ist 54 und arbeitet als Drehbuchautorin. Ihre große Liebe hat sie erst mit Mitte vierzig getroffen. Sie und ihr Partner wohnen in getrennten Wohnungen, treffen sich immer nur dann, wenn sie Lust aufeinander haben. Mit seinen schmutzigen Socken möchte Polly nichts zu tun haben. Sie lebt für glamouröse Partys, reist viel um die Welt und liebt ihre Arbeit. Wir haben schon häufig zusammen an Texten gefeilt, dabei trinken wir Wein und landen früher oder später auch immer beim Thema Liebe und Männer. Normal. Polly hat mal etwas zu mir gesagt, was mich nachhaltig beeindruckte. So hatte ich das zuvor noch nie irgendwo gehört, aber es machte für mich auf Anhieb Sinn: »In den Dreißigern wird verhandelt: Willst du Kinder oder nicht? Wenn du keine willst, bekommst du auch keinen von den lieben, fürsorglichen, bindungswilligen Typen, die auf Hausbau und Familie aus sind. Männer sehen in dir dann keine Frau fürs Leben, sondern eine für ein Abenteuer. Wahrscheinlich wirst du lange keine glückliche Beziehung führen. Ab 40 entspannt sich die Lage wieder. Sobald die Rushhour des Lebens vorbei ist und du weder ›Frischfleisch‹ noch ›Muttermaterial‹ bist, beginnt die beste Zeit. Die Leute hören endlich auf, dich zu bewerten, du kannst tun und lassen, was du willst, und die ersten Geschiedenen werden auf den Markt gespült. Erntezeit!«
Auch heute noch habe ich keine Ahnung, wie ich damit umgehen soll. Soll ich mich jetzt auf meine Vierziger freuen und bis dahin auf Durchzug schalten? Ich glaube nämlich fest daran, dass irgendwo da draußen ein Mann auf mich wartet, der so tickt wie ich: freiheitsliebend, offen für alles Mögliche, nicht so verbissen, was die eigene Lebensplanung angeht. Ein verbindlicher, liebevoller Lebemann. IST DAS ETWA ZU VIEL VERLANGT?! Ich hoffe nicht. Andere haben schließlich auch bekommen, was sie wollten oder zu wollen glaubten: Die Hälfte meiner Freundinnen ist mehr oder weniger glücklich vergeben, alle paar Monate presst eine von ihnen ein niedliches rosafarbenes Etwas aus ihrer Vagina. Die andere Hälfte steht am Rande des Wahnsinns, weil sie in toxische On-Off-Liebeleien verwickelt ist. Einige haben komplett resigniert, andere amüsieren sich köstlich mit wechselnden Lovern. Und ich? Schwebe irgendwo in der Mitte. Meine Suche nach einem coolen, finanziell einigermaßen gefestigten, ehrlichen, kunstaffinen, intellektuell stimulierenden Freund ohne nennenswerte psychische Störung und mit gutem Musikgeschmack kommt mir immer öfter vor wie Frodos Wanderung zum Schicksalsberg: Ich muss jederzeit mit einem glitschigen Gollum rechnen!
Manchmal ist es fast schon einfacher, wenn ein Flirt online bleibt. Nett hin und her schreiben. In der Fantasie bleiben. So kann nichts zusammenbrechen. Ich kenne einige Frauen, die sich einen Boy in ihrem Handy halten. Alles, was sie von ihm wollen, sind zuckersüße Nachrichten, um sich weniger allein zu fühlen, abends, auf dem Sofa. Dafür füttern sie ihn ihrerseits mit verheißungsvollen Nachrichten und Fotos. Ein stillschweigender Deal, der in der »Generation beziehungsunfähig« immer beliebter wird.
Im Zeitalter von Individualismus, #MeToo,KitKatClub, Dating-Apps, Designerbabys und Sextoys mit Orgasmusgarantiewird es immer schwieriger, einen Menschen zu finden, der sich überhaupt noch langfristig binden will. Viele sammeln nur noch und scheinen vergessen zu haben, wie hoch die Belohnung ist, wenn man sich wirklich auf jemanden einlässt und sagt: »Dich will ich und sonst keinen!« Ganz egal, ob in Timbuktu vielleicht jemand sitzt, der theoretisch NOCHbesser zu einem passen würde.
Zwischendurch lohnt es sich immer mal wieder, den eigenen Suchverlauf bei Google unter die Lupe zu nehmen, um den eigenen Seelenzustand auf etwaige Mängel zu überprüfen. (Liegt es vielleicht doch an mir – weil ich IRRE bin?!) Heute zum Beispiel kam bei mir Folgendes zusammen:
Spiegel Online, Die Zeit, Bild, Süddeutsche, New York Times
Resterezept aus Senf, Tonic Water, Parmesan
best of Claudia Obert
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Wirkung DMT
Anzeichen Trennung
Liebeszauber
Reizwäsche pink
aufbauende Zitate Buddha
Promi-Scheidungskriege
die krassesten TV-Ausraster aller Zeiten
Doku Crystal-Meth-Junkies
Definition Unterschicht Oberschicht
Flugsuche Hamburg Kalkutta
Selbsttest: Bin ich Alkoholiker?
Yoga-Retreat Detox
Corona-Update
Domian Podcast
Alles im grünen Bereich. Finde ich. Vieles ist sowieso zyklusbedingt. In ihrer PMS-Phase braucht frau sich nicht großartig über partiellen Wahnsinn, depressive Schübe oder völlig abgedrehte Escape-Fantasien à la »Ich kündige und wandere morgen nach Bali aus!« wundern. Schon mal von der Böser-Eierstock-guter-Eierstock-Theorie gehört? In manchen Monaten stecken wir Frauen unsere Tage ganz easy weg, in anderen leiden wir wie Brasilien im 1:7-WM-Halbfinale 2014 gegen Deutschland – und zwar weil sich unsere Eierstöcke monatlich abwechseln und einer von ihnen immer die Rolle des »Bad Cop« übernimmt. Wenn der Schicht hat, ist bei uns dunkler Schacht. Schmerzen! Trauer! Wahnsinn! Doch statt unser PMS zu verfluchen, sollten wir diese Überempfindlichkeit lieber zu unserem Vorteil nutzen – als eine weibliche Superkraft, die uns dabei helfen kann, ein glücklicherer Mensch zu werden. Die, die es wissen müssen, haben herausgefunden, dass die emotionale Intelligenz in dieser Phase auf ihrem Höhepunkt ist und uns hilft, außergewöhnlich kluge Entscheidungen zu treffen. Hinter vermeintlichen Kleinigkeiten, die uns nerven – Unordnung, Lärm, Jobfrust, ein unaufmerksamer Partner oder die Menschheit an und für sich –, stecken in Wahrheit oft sehr reale Dinge, die uns traurig und unzufrieden stimmen. Wir können das sonst bloß besser verdrängen. Das PMS stellt sich ein, sobald der Östrogenspiegel sinkt, und schon sind wir nicht mehr kompromissbereit und stellen alles infrage: Job, Partnerschaft, Politik, Lebensinhalt. Das kann ein Hinweis darauf sein, dass wir dringend an ein paar Stellschrauben in unserem Leben drehen sollten.
»Piep.« Oh, ein Match. Wenn es ein gutes ist, könnte ich mich für heute Abend noch verabreden. Falls damit nicht eine einzigartige Lovestory beginnt und der Typ auch nicht als »plus eins« taugt, könnte das Date bestenfalls als Stoff für einen lustigen Artikel reichen. Man muss ja heutzutage recyceln, wo es nur geht. Oh. Mein Match ist Astronaut! Verdammt, der sieht ja genauso aus wie jener Astronaut, den meine beste Freundin Kaja gerade bei Tinder kennengelernt hat. Fuck. Es IST der Astronaut, den Kaja seit zwei Wochen trifft. Ich schicke ihr einen Screenshot und rate ihr, keine weitere Energie an die Null zu verschwenden. Danach verabrede ich mich mit ihm. Natürlich bloß, um ihn zu versetzen, damit ich Kaja rächen kann. Puh, war das wieder ein anstrengender Tag …
Ich hätte meine Kolumne längst abgeben müssen. Trotzdem starrte ich seit einer Stunde auf das leere Dokument in meinem Laptop und grübelte über dies und das. Deshalb störte es mich auch nicht, als plötzlich der kleine goldfarbene Elefant aus Messing, den ich von einer Indienreise mitgebracht hatte und der seither seinen festen Platz auf meinem Schreibtisch hatte, anfing, mit mir zu sprechen: »Du tust mir leid. Ein wirklich erbärmliches Dasein, das du hier fristest. Ungekämmtes Haar, Schlafanzug, blasses Gesicht. Kein Wunder, dass du Single bist! Aus Mitleid erfülle ich dir drei Wünsche.«
Ich erschrak. War es wirklich so offensichtlich, dass ich mich diese Woche ein bisschen hatte gehen lassen? Unangenehm. »Das ist wegen meiner Trennung, die hat mich ein bisschen runtergezogen«, entgegnete ich schwach und versuchte, mich zu rechtfertigen: »Sonst bin ich überhaupt nicht so.«
Der Elefant hob seinen Rüssel, als wollte er mich aufmuntern. »Drei Wünsche, Süße. Schieß los. Ich hab nicht ewig Zeit.«
Ich überlegte kurz. Hatte ich abgelaufene Milch getrunken? Hatte mir jemand halluzinogene Pilze in den Kaffee gemixt? Ach, egal. So eine Chance bekam man schließlich nicht alle Tage. »Ich wünsche mir, dass du meinen Artikel fertig schreibst. Und am besten auch das ganze Buch, an dem ich gerade arbeite.«
Der Elefant stieß ein spöttisches »Torööö« aus. »Dann wärst du aber arbeitslos und hättest gar keine Aufgaben mehr. Was bleibt dir denn dann noch?«
Ich seufzte. Auch wieder wahr. »Aber der Druck wäre weg und ich könnte in Ruhe netflixen oder ein Bad nehmen.«
»Früher oder später käme ein neuer Auftrag«, entgegnete der Elefant. »Und Binge-Watching macht dumm.«
Das sah ich sogar ein. Prokrastination war sonst überhaupt nicht mein Ding. Aber heute, da fühlte ich mich einfach antriebslos. »Dann wünsche ich mir, dass ich nächste Woche nicht allein auf diese blöde Hochzeit gehen muss.«
Der Elefant kam ein paar Schritte näher. »Wieso wäre das eine Erleichterung?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Die fragen mich da bestimmt alle über meinem Ex-Freund aus. Und ich komme mir vor wie die allerletzte Loserin.«
»Sorry, ich bin kein Therapeut. Also, machen wir’s kurz: ICHwerde kommenden Samstag mit dir auf diese Hochzeit gehen. Einen Rat möchte ich dir vorher aber noch geben: Die vermeintlichen Insignien eines gelungenen Erwachsenenlebens sind keineswegs zu verwechseln mit geistiger Reife, einem gefestigten Selbstwertgefühl, Intelligenz und Erfolg. Verstehst du, was ich dir sagen will? Du kennst die Beweggründe der anderen Menschen nicht. Vielleicht wollen sie sich selbst etwas beweisen, etwas darstellen, was sie gar nicht sind, oder einfach nur einen Haken auf ihrer Liste machen. Das alles sagt wenig bis rein gar nichts über die Qualität ihrer Beziehung aus. Du weißt nämlich nicht, was hinter verschlossenen Türen vor sich geht.«
Ich dachte schmunzelnd an die irre Scheidungsschlacht zwischen Johnny Depp und Amber Heard, in der es um Kokain, Kloppereien und Kot im Ehebett gegangen war. Jedes noch so kleine entwürdigende Detail ihrer kaputten Ehe wurde 2020 vor Gericht ausgebreitet. Dabei hatte alle Welt stets angenommen, dass es sich bei diesem Couple um eins der heißesten handelte, das Hollywood je gesehen hatte. Allerdings war das genaue Gegenteil der Fall gewesen: Bei einem Streit soll Heard zwei Wodkaflaschen nach ihrem Gatten geworfen und ihm dabei eine Fingerkuppe abgetrennt haben. Depp wiederum soll gedroht haben, ihren Hund in die Mikrowelle zu stecken. Und an ihrem 30. Geburtstag soll sie vor lauter Wut darüber, dass er zu spät zur Party erschien, ein Häufchen ins gemeinsame Ehebett gemacht haben. Noch Fragen?
Der Elefant stampfte ungeduldig mit seinem rechten Vorderfuß auf. »Hallo, Erde an Henriette. Dein zweiter Wunsch?«
Ich räusperte mich. »Kannst du mir meinen Traummann herbeizaubern, der auch unsterblich in mich verliebt ist?«
Daraufhin bekam ich erneut ein verächtliches Schnaufen zu hören. »Klar kann ich das, aber möchtest du wirklich mit einem Mann zusammen sein, den ich dir auf dem Silbertablett serviere? Das kannst du doch genauso gut selbst regeln. Bist ja schließlich ein heißer Feger.«
So langsam fing das Rüsseltier an, mir auf den Senkel zu gehen.
»Ich würde gerne mal auf dir um die Alster reiten.«
»Wie peinlich.«
»Für wen?«
»Uns beide. Ich bin doch kein Zirkustier!«
»Dann wünsche ich mir eben, dass du mich auf der Stelle nach Hawaii beamst.«