Ihre Antwort ist Shoganai - Frank U. Möser - E-Book

Ihre Antwort ist Shoganai E-Book

Frank U. Möser

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Beschreibung

Am 11. März 2011 um 14:46:23 Uhr Ortszeit bebt in Japan die Erde mit der höchsten je gemessenen Stärke von 9.0 auf der Richterskala. Die Welt hält den Atem an, als erste Berichte und Bilder von der Zerstörung, hervorgerufen durch den darauf folgenden Tsunami, in den Medien zu sehen sind. Wenig später kommt es im havarierten Atomkraftwerk Fukushima Daiichi zu Kernschmelzen und Wasserstoffexplosionen. Mittendrin Frank U. Möser mit seiner japanischen Ehefrau. In den Tagen nach der Katastrophe schickt er E-Mails an Freunde in der ganzen Welt. Darin fasst er seine Eindrücke, Erlebnisse und die Nachrichten der japanischen Medien tagesaktuell für sie zusammen. Daraus ist dieses Buch entstanden, das sich wie ein Aufruf zu mehr Besonnenheit liest, denn ganz besonders fasziniert ihn, wie sich die Japaner in Zeiten größten Unglücks ihren Aufgaben stellen. Ihre Grundhaltung, Shoganai, trägt die gesamte Nation seit Jahrhunderten.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

EINS

Yokohama

Die Schwiegereltern

ZWEI

Das große Ostjapan- oder auch Tohoku Erdbeben

DREI

Die ersten 10 Tage nach dem Beben

Tag 1, 12.03.2011

Tag 2, 13.03.2011

Tag 3, 14.03.2011

Tag 4, 15.03.2011

Tag 5, 16.03.2011

Tag 6, 17.03.2011

Tag 7, 18.03.2011

Tag 8, 19.03.2011

Tag 9, 20.03.2011

Tag 10, 21.03.2011

VIER

Nachlese, März-Oktober 2011

Japans nächster Schritt

Rückblick

FÜNF

Shoganai

Und heute – 2024?

Danksagung

Weiterführende Links

Aus tiefstem Herzen für die Menschen, die die Folgen des schweren Erdbebens vom 11. März 2011 ertragen müssen, allen voran die aufopfernden Kämpfer im Fukushima Daiichi Atomkraftwerk, die unter großen Gefahren für Japan und die ganze Menschheit ihr Leben aufs Spiel setzen – und meine Freunde, die Japaner.

Vorwort

Japan hat am 11. März 2011 um 14.46 Uhr Ortszeit eine dreifache Katastrophe ereilt: Das große Tohoku Erdbeben war das schwerste Erdbeben seit Beginn der Aufzeichnungen um 1900 mit der Stärke 9.0 auf der Richterskala. Ausgelöst durch dieses Beben hat ein Tsunami unvorstellbaren Ausmaßes die Präfekturen Ibaraki, Fukushima, Miyagi und Iwate getroffen. Ganze Städte und blühende Dörfer wurden von einem Augenblick auf den anderen weggeschwemmt. Das Atomkraftwerk Fukushima Daiichi wurde durch den Tsunami so schwer beschädigt, dass sämtliche Strom- und Notstromversorgungen zusammenbrachen. Es kam zur Überhitzung der Reaktoren 1 bis 6 und der darin lagernden gebrauchten Brennstäbe. Es galt, den Super-GAU mit Austritt erhöhter Radioaktivität aufzuhalten. Die Megapolis Tokyo mit 35 bis 40 Millionen Einwohnern, je nach Grenzziehung, liegt nur etwa 230 Kilometer entfernt von Fukushima Daiichi.

Wie Japaner das verheerende dreifache Unglück, die größte Katastrophe seit den Atombombenabwürfen von Hiroshima und Nagasaki, mit einer solchen Ruhe und Gelassenheit ertragen haben, hat die Welt in Erstaunen versetzt und zutiefst beeindruckt. Hunderttausende konnten nur ihr nacktes Leben retten. Sie haben Familienangehörige, Freunde, Mitarbeiter, ihre Community, ihre Häuser, ihre Arbeit, ihre Lebensgrundlage und ihre Perspektiven für die Zukunft verloren.

In den ersten Tagen nach dem Unglück mussten diese Menschen immer noch mit der Angst vor weiteren Nachbeben und mit erneuten Tsunamiwarnungen leben. Selbst die Ungewissheit über das Schicksal ihrer Angehörigen ertrugen sie in den eiligst bereitgestellten Auffanglagern geduldig. Trotz widrigster Umstände, wie den Mangel an Privatsphäre, menschenwürdigen sanitären Einrichtungen, Kerosin zum Heizen kalter Räume, Benzin für die Logistik, Lebensmitteln und den notwendigen Medikamenten, blieben die erst einmal Geretteten im Vertrauen auf die Übernahme der Verantwortung durch Verwaltung und Regierung ruhig. Sie konnten zu dem Zeitpunkt nicht wissen, dass es zum großen Teil keine lokalen Verwaltungen mehr gab und die meisten der vertrauten Bürgermeister und Verwaltungsangestellten im Tsunami umgekommen waren.

Auch nicht unmittelbar Betroffene im Osten Japans, insbesondere in der Region um Tokyo/Yokohama, ertrugen mit der gleichen Ruhe tagelang die durch Stromabschaltungen verursachten Ausfälle des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs, von Verkehrsampeln sowie den täglichem Stromausfall von drei Stunden. Die schnell verbreitete Nachricht von der Möglichkeit eines Super-GAU im zerstörten Fukushima Daiichi Atomkraftwerk wurde ohne Hysterie zur Kenntnis genommen. Und viele haben sofort wieder optimistisch an einen Neuaufbau ihres Umfelds gedacht.

Meine Freunde in Europa, Taiwan und den USA haben mit den Menschen gelitten. Zuerst haben sie sich um mich und meine japanische Familie gesorgt. Seid Ihr o.k.? Gebt uns ein Lebenszeichen. Das waren die ersten Fragen per E-Mail und SMS. Dann haben sie mich gefragt: Warum sind die Japaner so ruhig geblieben, haben all das geduldig ertragen? Warum ist es nicht zu Plünderungen gekommen? Warum wurde nicht gemeckert?

Meine Antwort darauf war, dass ihr Geheimnis in ihrer alten Volksweisheit liegt, die von Generation zu Generation weitergegeben wird und die in einem einzigen Wort mit großem Hintergrund zusammengefasst werden kann: Shoganai.

Als Zeuge und Beobachter der geschilderten Umstände vor Ort habe ich meinen Freunden täglich meine persönlichen Eindrücke und Gefühle übermittelt. Shoganai war immer wieder meine Antwort auf ihre Fragen. Lassen Sie mich etwas weiter ausholen:

EINS

Yokohama

Meine Frau und ich wohnen in Yokohama, der zweitgrößten Stadt Japans mit etwa 3,7 Millionen Einwohnern. Die Stadt mit ihrem internationalen Hafen wird zur Megapolis Tokyo gezählt.

Als wir 2009 das 150-jährige Jubiläum der Hafeneröffnung Yokohamas feierten, wurde mir erstmalig richtig bewusst, dass Yokohama eigentlich eine junge Stadt ist, die noch vor gar nicht so langer Zeit ein übersichtliches Fischerdorf gewesen war.

Erst mit der Eröffnung des Hafens hat sich Yokohama rasant entwickelt. Die erste Wasserleitung und Kanalisation, die ersten Telegrafen, die erste Pferderennbahn, die erste Ziegelsteinfabrik, die erste Bierbrauerei, die erste Reinigung, die erste Eisherstellung, das erste Fleischrestaurant, das erste Fußgängerparadies, alles wurde in Japan zuerst in Yokohama eingeführt und ausprobiert. Selbst die erste Eisenbahn vom Bahnhof Sakuragi-cho in Yokohama nach Shimbashi in Tokyo.

In dieser Stadt konnten zu Beginn des 19. Jahrhunderts Kaufleute mit dem Seidenhandel so reich werden, dass sie öffentlich zugängliche Parks wie das Sankei-en errichten konnten, indem sie japanische Landschaften nachbauten und jahrhundertealte Tempel und Häuser aus dem übrigen Japan zusammentrugen.

Am 1. September 1923 um 11.58 Uhr wurden Yokohama und ein Teil von Tokyo von dem großen Kanto Erdbeben mit der Stärke 7,9 auf der Richterskala überrascht. Die Katastrophe forderte über 140.000 Opfer. Heute genießen die Menschen eine der weltweit schönsten Hafenpromenaden, den Yamashita Park, der aus den Trümmern der zusammengefallenen Häuser und Büros aufgeschüttet wurde.

Im Zuge der Modernisierung der Stadt wurden ab 1983 die alte Mitsubishi Schiffswerft, ein Teil der Hafen- und der alten Dockanlagen auf fast 200 ha zu einem neuen Stadtteil entwickelt – Minato Mirai 21 (Hafen Zukunft 21) – mit dem S-Bahnhof Sakuragicho.

Direkt an der Yokohama Bay stehen auf dem alten Werftgelände jetzt Büro- Shopping- und Hotel-Hochhäuser, darunter der Landmark Tower, das höchste Büro- und Hotelgebäude Japans mit 70 Stockwerken, sowie Pacifico, eine kleine Messehalle. In den vergangenen sieben Jahren wurden mehrere Wohntürme mit jeweils 30 Etagen gebaut. In einem dieser Türme wohnen wir auf der 25. Etage.

Die Schwiegereltern

Die Schwiegereltern sind 88 und 87 Jahre alt. Sie wohnen in einem Teil von Yokohama, der früher als ländlich bezeichnet werden konnte. Bei gut fließendem Verkehr sind sie in nur 10 Minuten von unserer Wohnung aus zu erreichen. Der Schwiegervater ist Arzt, er geht noch jeden Tag in die Klinik, um seine Patienten zu behandeln. Die Schwiegermutter ist zeit ihres Lebens mit ihren Hobbys sehr beschäftigt: Japanische Collage-Kunst, Kamakura-Bori (lackierte Holzschnitzereien), Ölgemälde, Ikebana (Blumensteckkunst) und Haikus (17-Silben Gedichte).

Das wunderschöne japanische Haus der Eltern liegt in einer vor ca. 50 Jahren stufenartig angelegten Siedlung an einer verhältnismäßig engen Straße. Im Vorgarten blüht ein knorriger Pflaumenbaum. Eine japanische Kiefer hat sich im Laufe der Jahre, gestützt auf einen starken Holzpfahl, malerisch, so wie das in japanischen Gärten häufig zu sehen ist, über das Eingangstor zum Vorgarten gelegt. Zum eigentlichen Hauseingang gelangt man über verschiedene Trittsteine. Das Haus hat einige, gegeneinander verschobene kleine Dächer und ein riesiges blau gedecktes Hauptdach. Die Nachbarhäuser stehen nur eine etwas erweiterte Armlänge entfernt. Alles ist sehr gepflegt, japanisch. Immer wiederkehrende Erdbeben haben an diesem Haus jedoch auch schon ihre Spuren hinterlassen. So gibt es überall kleinere und größere Risse, die zwar repariert wurden, aber bei einem Holzhaus in dieser erdbebengefährdeten Umgebung unvermeidbar sind.

Im Haus wohnen die Schwiegereltern mit dem 20-jährigen Enkel, der in Tokyo studiert. Es ist eine typische, gut situierte japanische Familie, deren Lebensumstände bestimmt mit vielen Familien in Japan vergleichbar sind. Erklärungen, warum Japaner ihre Einschränkungen so ertragen haben und damit das Ausland in Erstaunen versetzten, kann ich auch am Beispiel dieser Schwiegereltern festmachen.

Was ich schon immer bewundert hatte, war die Einfachheit, mit der die Familie lebt. Bei näherer Betrachtung über die letzten mehr als 30 Jahre entdeckte ich dann die eher verborgenen Schätze der Familie: ihre unerschöpfliche Weisheit. Gespräche im Haus meiner Schwiegereltern verlaufen immer harmonisch. Es gibt niemals eine gegenläufige Diskussion, keine Meinungsverschiedenheiten, keine erhobenen Stimmen, die etwas durchsetzen wollen. Manchmal ist es sogar langweilig, nichts woran ich mich reiben könnte. In aller Ruhe werden Meinungen ausgetauscht. Meine Schilderungen aus dem ‚rauen‘ Deutschland werden mit einem erstaunten, aber verständnisvollen Lächeln aufgenommen, niemals wird etwas bewertet. An diese Art der Familienzusammenkunft musste ich mich über die Jahre erst gewöhnen. Aber die Saat für mein besseres Verständnis der japanischen Kultur und die damit verbundenen Verhaltensweisen wurde dort gelegt. Sie gingen spät, aber glücklicherweise nicht zu spät auf. So wurde ich ganz allmählich an die Feinheiten der japanischen Seele gewöhnt. Die subtilen Nuancen menschlichen Zusammenlebens konnte ich im Laufe der vielen Jahre mit meiner rheinisch-deutschen Art mischen, sie wurden damit auch zu einem Teil meiner Persönlichkeit. Diese unsichtbaren, über Generationen gewachsenen Weisheiten mit den Anpassungen an die heutigen Gegebenheiten konnte ich wie ein Kind aufsaugen und verstehen lernen.

Anfang März 2011 begann ein großer Umbau im Haus der Schwiegereltern, bei dem u. a. die linke Seite des Hauses mit dem Bad vollständig bis auf die blanke Erde, die Dachkonstruktion und die Holzverschalung der Wände entkernt wurde. Morsche Balken wurden ausgetauscht, ein neues Betonfundament wurde eingezogen. Wie sich noch herausstellen sollte, eine dringend notwendige Arbeit, die sich bis zum 10. März hinzog, an dem der Rohbau fertiggestellt wurde.

ZWEI

Das große Ostjapan- oder auch Tohoku Erdbeben

Am folgenden Tag, dem 11. März 2011 um 14.46 Uhr, bebte die Erde mit der Stärke 9,0 auf der Richterskala. Ein Erdbeben mit dem Epizentrum 150 Kilometer vor der Küste der Stadt Sendai im Norden von Tokyo/Yokohama, etwa 350 Kilometer entfernt von Yokohama. Es bebte länger als sonst, die Stärke war die höchste seit 1900 gemessene Erdbebenstärke überhaupt. In Yokohama konnte ich es noch mit gefühlten 8,0 wahrnehmen. In diesem Augenblick war ich zusammen mit meiner Frau mit dem Fahrrad unterwegs. An einer roten Ampel mussten wir vom Rad steigen und warten. Da zu der Zeit auch ein starker Wind blies, mussten wir unsere Räder mit der Handbremse stoppen, damit sie uns nicht weggerissen werden konnten. Wie sich herausstellte, war das allerdings nicht der Wind, es war die schwankende Erde, die uns und unsere Räder so stark vorwärts schob. Nach einem Moment der Irritation bemerkten wir, dass sich der Bürgersteig leicht in Wellen anhob, die Masten der hohen Straßenlaternen zunächst zu zittern und dann stark zu schwingen begannen. Ein älteres Ehepaar umarmte sich, um sich gegenseitig zu stützen.

Unser Blick ging zu den modernen Hochhäusern im Hafengebiet Minato Mirai. Das Gebäude der Bank of Yokohama bog sich in den oberen Etagen, das gesamte Hochhaus wankte gegenläufig zum Mitsubishi Heavy-Hochhaus auf der anderen Straßenseite. Selbst die wellenförmig hintereinander aufgereihten Hochhäuser des Büro- und Shoppingkomplexes Queens schaukelten und schwankten. Was wir nicht gesehen haben, war, ob auch der Landmark Tower, das höchste Büro- und Hotelgebäude Japans, schwankte. In der augenblicklichen Betroffenheit hatte keiner von uns die Nerven, zum Landmark Tower mit seinen über 70 Etagen aufzusehen. Wir waren einfach zu beschäftigt, uns mitsamt den Rädern auf den Beinen zu halten. Einen Moment dachte ich sogar daran, mich auf die Straße setzen oder legen zu müssen wie diese alten Leute, die sich zwischenzeitlich hingehockt hatten.

Das Beben dauerte eine gefühlte Ewigkeit, viel länger als sonstige kleinere Erdbeben, die wir meist gar nicht bemerken. Es kam das Gefühl auf, sehr starke Kreislaufstörungen zu haben, die auch nach dem Beben nicht aufhören wollten und die sich auch später, nachdem wir zu Hause waren, immer wieder unangenehm bemerkbar machten. Solche Schwankungen von Hochhäusern, das Beben der Erde und das Wackeln von Laternenmasten habe ich noch niemals erlebt. Auch meine Frau nicht, die bei Erdbeben für gewöhnlich immer cool bleibt. Just in diesem Moment hat sich eindeutig bewahrheitet, dass sich von einer Sekunde auf die andere das Leben verändern oder sogar ganz vorüber sein kann. Alle Erkenntnisse aus meinen Meditations- und Atemübungen, der vergangenen Jahre, kamen in diesem einen Augenblick in mir hoch. Mir schoss ein Satz, den ich so oft ausgesprochen und deshalb auch wohl verinnerlicht hatte, durch den Kopf: In dem Augenblick, in dem du erkennst, dass all dein Reichtum, dein Ruhm, deine Macht und dein Ansehen, deine Pläne und deine Wünsche durch Krankheit und Tod, Gewaltanwendung, Naturkatastrophen oder sonstige Umwälzungen in einem einzigen kurzen Moment weggewischt werden können, wirst du weise und ruhig sein. Daran dachte ich. Ich war ganz ruhig geblieben. Das Beben hörte auf, die vermeintlichen Kreislaufstörungen blieben mir erhalten. Dieses ungeheure Erdbeben, das war uns sofort klar, musste große Schäden angerichtet haben.

Wir fuhren weiter zum Supermarkt, um einzukaufen, was wir für den kommenden Tag benötigten. Der Markt wurde just in diesem Moment geschlossen, es musste erst untersucht werden, ob Waren aus den Regalen gefallen waren und es keine Gefahr für die Kundschaft gäbe. Die Menschen, die sich vor dem Laden sammelten, waren ruhig, jeder sprach allerdings über seine beängstigende Erfahrung im Augenblick des Bebens. Wir warteten nicht lange, denn der Supermarkt wurde schon bald wieder geöffnet. Die Stimmung war ganz gelassen. Nach dem Einkauf fuhren wir schnell wieder mit dem Rad nach Hause, wir wollten im TV checken, wie stark das Beben gewesen war und wo das Epizentrum lag.

Auf den Straßen war wieder alles normal, der Anfangsschock war verflogen. Ohne weiter nachzudenken, drückten wir im Gebäude den Rufknopf für die Aufzüge in die 25. Etage. Das war zu optimistisch, denn die Aufzüge waren durch die heftigen Schockwellen sofort gestoppt worden. Sie mussten erst überprüft werden, bevor sie wieder freigegeben werden konnten. Also setzten wir uns in die Empfangshalle und warteten. Die Halle füllte sich, viele Bewohner unseres Hauses konnten nicht mehr in ihre Wohnungen zurückgehen. Wir waren von einem zum anderen Moment zu sogenannten kosobil nomado (Hochhaus-Nomaden) geworden, zu Menschen, die beim Ausfall von Aufzügen nicht mehr in ihre Wohnungen in den oberen Etagen gelangen können.

Mit dem Erdbeben war auch das Mobilfunknetz ausgefallen. Informationen konnten nur über Internet-Handys verbreitet werden. Zum Glück konnte einer unserer Mitnomaden entsprechende Informationen empfangen. Er erklärte uns, dass wir sofort in die 2. Etage gehen müssten, es gäbe bereits eine Tsunamiwarnung. Da die Versammlungsräume auf der oberen Etage jedoch schon mit Kindern und Müttern mit ihren Babys überfüllt waren, zogen wir es vor, wieder unten in der Empfangshalle zu warten. Hier flitzten die Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes, die Ingenieure für alle Eventualitäten, die immer vor Ort sind, und unsere Hausmeister mit ernsten Mienen zu den Garagen, zu den Erdbebensicherungen unter dem Gebäude und zu den verschiedenen Technikräumen. Es wurden blaue Fahrbahnmarkierungshütchen gebracht und zur Warnung da aufgestellt, wo es zu Schäden am Haus gekommen war. Unter den Ingenieuren erkannten wir einen Herrn wieder, der uns mit der Gruppe unserer Düsseldorfer Freunde im Oktober noch die Erdbebensicherungen unter unserem Wohnturm gezeigt hatte. Auf einer Unzahl von tief im Untergrund fest verankerten Stahlsäulen, liegt eine Grundplatte aus Beton. Das Hochhaus selbst steht auf einem Stahlbetonrahmen. Dieser Rahmen ist mit der Grundplatte durch zimmergroße Stoßdämpfer aus Metall-Gummi-Elementen, Stahlfedern in der Breite von Lkw-Reifen und elefantenfußdicken, gebogenen Bleirohren verbunden. Damit kann das Gebäude mit seinem Rahmen bei einem Erdbeben unabhängig von den Stoßwellen über der Betonplatte schweben. Es wird zugesichert, dass selbst bei schwersten Beben das Gebäude sicher sei. Wer diese Einrichtung einmal gesehen hat, wird nicht so schnell Ängste vor einem Erdbeben entwickeln. Sicherlich hatte der Ingenieur gerade untersucht, wie sich die Stoßdämpfer bei einem Beben dieser Stärke bewährt haben und ob sie nicht verrutscht sind.

In der Empfangshalle sprachen wir noch etwas abschätzig über die Tsunamiwarnung unseres Mitbewohners und fragten uns, warum sich die Leute solche Sorgen machten. Dabei lächelten wir uns zu. Wir waren ahnungslos. Um die nicht vorhersehbare Wartezeit nutzbringend auszufüllen, gingen wir zunächst in ein nahe gelegenes Restaurant und aßen erst einmal zu Abend. Bei jedem kleinen Nachbeben verstummten die Gespräche im Lokal. Jeder blickte zu den schwingenden Lampen hoch, die an langen Pendeln von der Decke hingen. Sobald sich die Pendel beruhigt hatten, ging die Unterhaltung weiter. Noch ahnte niemand, was genau eigentlich passiert war.

Endlich, um 18 Uhr, nach zweieinhalb Stunden konnten wir wieder in unsere Wohnung hochfahren, und immer noch hatten