Im Castello des heimlichen Verlangens - Annie West - E-Book

Im Castello des heimlichen Verlangens E-Book

Annie West

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Beschreibung

Ihr Lachen durchdringt wie ein Sonnenstrahl die Dunkelheit seiner Seele: Seit einem tragischen Verlust hat Conte Alessio Dal Lago sich in sein abgelegenes Castello zurückgezogen. Doch nun öffnet ihm seine neue Haushälterin, die charmante Charlotte, wieder die Augen für das Positive in der Welt. Ihr gelingt es sogar, ihn zu überzeugen, einen Ball zu veranstalten! Als Alessio die junge Schönheit zum Tanz in seine Arme zieht, verspürt er plötzlich eine heimliche Sehnsucht, der er auf keinen Fall nachgeben will. Denn seine letzte Liebe endete verhängnisvoll …

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Seitenzahl: 197

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IMPRESSUM

JULIA erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Katja Berger, Jürgen WelteLeitung:Miran Bilic (v. i. S. d. P.)Produktion:Christina SeegerGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

© 2023 by Annie West Originaltitel: „The Housekeeper and the Brooding Billionaire“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London in der Reihe: MODERN ROMANCE Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe 2024 in der Reihe JULIA, Band 2638 Übersetzung: Nicola Mertens

Abbildungen: Harlequin Books S. A., alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 03/2024 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783751524568

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

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1. KAPITEL

Er stand vor dem Bogenfenster und starrte auf die dichte Nebelwand hinaus, die den See verhüllte. Es würde bestens zu seiner Laune passen, wenn die grauen Nebelschwaden sich den ganzen Tag lang halten und die Insel von der Außenwelt und dem Sonnenaufgang trennen würden.

Denn dieser Tag verdiente keinen Sonnenschein.

Du auch nicht.

Ein Stich durchbohrte seine Rippen, ein so vertrautes Gefühl, dass er sich fast darüber freute. Schmerzen waren sein ständiger Begleiter geworden, ein Anzeichen dafür, dass er lebte.

Alessio lachte auf, ein Schnauben ohne jegliche Heiterkeit. An Tagen wie diesem bedeutete lebendig zu sein nicht unbedingt etwas Gutes.

Er massierte seine verspannten Nackenmuskeln. Die ganze Nacht war er wach geblieben, hatte die Auktion in Ostasien als Ausrede vorgeschoben, seinem Bett und den schlaflosen Stunden aus dem Weg zu gehen, die ihn dort erwarteten.

Wie sein gesamtes Personal waren auch seine Angestellten im Asien-Büro die Besten auf ihrem Gebiet und konnten eine spektakuläre Kunstauktion durchführen, ohne dass er ihnen dabei online über die Schulter sehen musste – selbst wenn es wie in der letzten Nacht um riesige Summen ging.

Es war eine der erfolgreichsten Versteigerungen gewesen, die sein Auktionshaus je durchgeführt hatte. Und das bedeutete einiges, denn seine Familie versteigerte schon seit zwei Jahrhunderten Wertsachen für die Reichsten der Welt.

Alessio sollte begeistert sein. Aber der Erfolg dieser Auktion, auf die sie ein Jahr lang hingearbeitet hatten, erfüllte ihn mit keinerlei Freude. Seit jenem Tag vor drei Jahren gab es für ihn keine freudigen Höhepunkte mehr, nicht einmal Zufriedenheit. Er arbeitete härter als je zuvor und trieb sich gnadenlos an, denn Ruhe ließ ihm zu viel Zeit zum Nachdenken und Fühlen.

Er schob seine Hände in die Taschen. Jahrestagen hatte Alessio nie Beachtung geschenkt, doch das heutige Datum war in seine Seele gebrannt. Er hatte getan, was er musste: weitergemacht. Es hingen so viele Menschen von ihm ab; seine Familie, seine Angestellten und die Einwohner, die schon seit Hunderten von Jahren auf Unterstützung vom Conte Dal Lago zählten.

Aber einfach weiterzumachen, war kein Leben. Jedenfalls keins, wie er es einst gehabt hatte.

Alessio verzog den Mund. Er hatte viele Fehler gemacht, aber Selbstmitleid wollte er nicht noch hinzufügen.

Als ein Lichtstrahl der Morgensonne den sich auflockernden Nebel durchbrach, erstarrte Alessio. Sein Herzschlag stockte. Es musste sich um eine Halluzination handeln. Der Schlafmangel machte sich wohl endlich bemerkbar.

Oder spielen mir meine Schuldgefühle einen Streich?

Obwohl in seinem Castello seit über fünfhundert Jahren alle Mitglieder seiner Familie zur Welt gekommen und gestorben waren, glaubte Alessio nicht an Gespenster. Aber was sonst konnte die schattenhafte Silhouette dort unten sein? Auf seinem Rücken machte sich eine Gänsehaut breit, und seine Nackenhaare stellten sich auf.

Er lehnte sich näher an die Scheibe, doch das änderte nichts an dem, was er sah. Unter dem Turm, am einzigen Sandstrand der Insel, befand sich eine Gestalt.

Ein Einheimischer, der im Morgengrauen zu irgendeiner Arbeit über den See fuhr, war es nicht. Auch kein Tourist, der tat, als hätte er sich verirrt und wüsste nicht, dass die Insel Privatgelände und eingeladenen Gästen vorbehalten war. In letzter Zeit gab es keine eingeladenen Gäste mehr.

Die Nebelschwaden wallten, und die Gestalt verschwand. Gerade als Alessio sich sagte, dass es eine optische Täuschung gewesen war, sah er sie erneut – keine Silhouette, sondern eine Frau. Eine junge Frau.

Sein Atem klang rau, und er spürte, wie sich ihm der Magen umdrehte, als sie in den See hinauswatete. Das Wasser stieg bis an ihre schlanken Oberschenkel hoch, dann an ihre Taille. Ihre Fingerspitzen zogen kleine Wellen hinter sich her.

Wie in deinen Albträumen.

Halt suchend griff Alessio nach dem Fensterrahmen. Das war nicht echt. Sie stand nicht da unten. Das konnte sie gar nicht. Sie war seit drei Jahren tot.

Heute sind es drei Jahre.

Aber sie ging weiter, ohne innezuhalten, wie es jeder normale Schwimmer im morgenkalten See getan hätte – hinter ihr der Nebel.

Alessio wurde schwindelig. Er sah Sterne. Ruckartig griff er nach der rauen Steinmauer, die das Fenster umgab, und schürfte sich die Finger daran auf. Wurde er verrückt?

Seine Tante hatte ihm prophezeit, dass es so weit kommen würde, wenn er sich hier verschanzte. Aber er hatte ihre Sorgen abgetan, denn er musste büßen.

Doch er würde hier nicht grübelnd stehen bleiben. Alessio lief aus seinem Arbeitszimmer im Turm und die uralte ausgetretene Steintreppe hinunter nach draußen.

Aber dort war nichts. Es gab keinerlei Anzeichen, dass jemand hier gewesen war. Und auch keine Geräusche. Obwohl … bildete er sich das leise Platschen am anderen Ende der Bucht ein?

Alle seine Sinne spannten sich aufs Äußerste, als er durch den Nebel auf die Landzunge zulief. Aber bis auf seinen hämmernden Puls konnte er nichts hören. Er rannte weiter zum Steg. Die paar Boote kannte er alle. Nichts wies darauf hin, dass sich hier jemand Fremdes herumtrieb.

Es war nur seine Fantasie gewesen, ein durch Schuldgefühle, Trauer und Schlafmangel heraufbeschworenes Phantom.

Alessio fühlte sich zu aufgewühlt, um in sein Büro zurückzugehen. Er bog in die enge gepflasterte Gasse ein, die an den vertrauten Häusern vorbeiführte. Manche standen leer, in manchen wohnten Familien, die hier schon fast so lange wie seine eigene lebten und deren Arbeitsplätze von Alessios Familie abhingen. Sie kannten sich alle und hielten zusammen.

Nicht zum ersten Mal spürte er Dankbarkeit dafür in sich hochsteigen, dass sie nach dem Unglück alle zu ihm gehalten hatten. Die Paparazzi hatten Schreckliches über ihn veröffentlicht. Doch niemand von der L’Isola del Drago hatte einen Kommentar zu den Geschehnissen abgegeben, über die die Welt immer noch Vermutungen anstellte.

Er konnte sich glücklich schätzen, so treue Unterstützung zu haben.

Alessio verzog den Mund. Glücklich? Was die Treue in seinem Umkreis und das Geschäftliche anging, sicherlich. Die drei Jahre, die er sich jetzt ausschließlich der Firma gewidmet hatte, waren von ungeahntem Erfolg gekrönt. Aber was alles andere anging …

Es gibt nichts anderes.

Er roch den Duft von frisch gebackenem Brot und merkte, dass er die kleine Insel bereits umrundet hatte und bei der winzigen Bäckerei angekommen war, die die Bewohner mit frischen Backwaren versorgte.

Er könnte auf einen frühmorgendlichen Schwatz zu Mario hineingehen. Es war schon Wochen her, dass er bei dem alten Mann vorbeigeschaut hatte. Aber Alessio brachte es nicht fertig, heute mit jemandem zu reden, selbst wenn dieser Jemand ihn schon von Kindesbeinen an kannte.

Besonders, wenn dieser Jemand ihn so gut kannte.

Alessio wollte gerade zurück zum Castello gehen, als der Nebel über dem See sich lichtete und ihm alle Haare zu Berge standen.

Das ist sie.

Die Frau, die er vorhin gesehen hatte.

Ein verirrter Lichtstrahl beleuchtete ihre Silhouette von hinten, als sie aus dem grünen Wasser stieg und mit schwingenden Hüften auf zutiefst weibliche und anziehende Art auf das Ufer zuging.

Alessios Herz drohte, aus seinem Brustkorb zu springen. Ihr Gesicht lag im Dunkeln, die nassen Haare hingen ihr über die Schultern. So schlanke Arme. Eine schmale Taille und weit geschwungene Hüften.

Er musste irgendein Geräusch von sich gegeben haben, denn sie blieb stehen und riss den Kopf zu ihm herum, als hätte sie ihn vorher nicht bemerkt.

Noch eine weitere grausame Sekunde lang hielt sich die Illusion, dass dies Antonia war – oder ihr Geist.

Aber es war kein Geist, keine gnadenlose Erinnerung. Die Lücke im Nebel riss weiter auf. Der Sonnenstrahl wurde breiter und tauchte einen Arm der jungen Frau und einen blassen feuchten Oberschenkel in goldenes Licht, verwandelte sie von einem Schatten in einen lebendigen Menschen.

Alessio holte so tief Luft, dass ihm die Rippen wehtaten.

Natürlich war es nicht Antonia.

Sie war seit drei Jahren tot. Und sie hatte auch keinen saphirblauen Badeanzug besessen. Antonia hatte lieber Bikinis getragen.

Blinzelnd musterte er die schlanke Frau, die im knietiefen Wasser stehen geblieben war, als fragte sie sich, ob es gefährlich war, ans Ufer zu gehen.

Wäre Alessios Kehle nicht wie mit Stacheldraht zugeschnürt, hätte er ihr gesagt, dass die Insel verflucht war und dass sie sich dahin zurückscheren sollte, wo sie hergekommen war.

Doch er konnte nur mit verkrampften Händen dastehen, seinem hämmernden Puls lauschen und die Frau anstarren.

Der hochgeschlossene Badeanzug müsste bieder wirken, aber er schmiegte sich an äußerst schöne Kurven und eine schmale Taille. Alessio fühlte sich an das Renaissance-Gemälde der dem Meer entsteigenden Venus erinnert, das in der Gästewohnung hing. Allerdings fehlte der Venus der erregende Sex-Appeal dieser Frau. Selbst ihre blassen, in den ersten Sonnenstrahlen glitzernden Schultern sahen verführerisch aus.

Endlich befreite er sich aus seiner Lähmung. Dies war kein Gespenst, sondern eine Frau aus Fleisch und Blut.

Sein Körper bestätigte ihm das ebenfalls mit einer abrupten, fast brutalen Reaktion. Heiß schoss ihm das Testosteron durch die Adern.

Alessio drückte die Knie durch und stellte sich breitbeiniger hin. Das quälende, wenn auch belebende Gefühl war wie das Prickeln von kältetauber Haut, die sich wieder erwärmte. Schon jahrelang hatte er das nicht mehr gespürt.

Waren seine körperlichen Reaktionen so gelähmt wie sein Herz gewesen?

Außer sich vor Wut über diese wildfremde Frau, die ihn verwirrte und erregte, die Reaktionen bei ihm auslöste, die er nie erwartet und nie wieder gewollt hatte, stürmte er auf sie zu.

„Sie befinden sich unbefugt auf Privatgelände. Verschwinden Sie.“

Es kam wie ein Knurren aus seiner verkrampften Kehle heraus. Auch gut. Mehr als die meisten seiner Vorfahren wurde er dem alten Titel Der Drache vom See gerecht.

Aber die Frau kam trotzdem näher und schwang locker die Arme, während sie auf ihn zuging. Die Sonne beschien jetzt ihre gesamte Gestalt. Alessio sah, dass ihre Haare von derselben Farbe waren wie der antike Goldschmuck unten im Tresor des Castellos.

Er runzelte die Stirn. Verstand sie kein Italienisch? Er wiederholte seine Worte auf Englisch.

Doch sie blieb erst stehen, als sie im knöchelhohen Wasser vor ihm angekommen war.

„Ich habe es schon beim ersten Mal verstanden. Aber ich bin hier nicht unbefugt. Ich bin Charlotte Symonds.“ Dann lächelte sie.

Charlotte lächelte tapfer weiter, während sie zu seiner finsteren Miene hochschaute. Die vielen Jahre Erfahrung mit anspruchsvollen Gästen kamen ihr zugute, obwohl ihre innere Stimme sie warnte, dass dieser Mann vollkommen anders war als alle schwierigen Hotelgäste, mit denen sie je zu tun gehabt hatte.

Er ließ sich nicht mit anderen vergleichen.

Sie atmete tief durch, suchte nach der inneren Ruhe, mit der sie diese Situation meistern würde, und bemerkte, wie sein Blick zu ihren Brüsten hinunterglitt. In seinen dunkelgrünen Augen blitzte etwas auf, das Charlotte wie ein elektrischer Schlag durchfuhr.

Sie spürte, wie sich ihre Nackenhaare aufstellten. Sie war nicht außergewöhnlich schön, löste aber regelmäßig genügend männliches Interesse aus, um die Kunst der schnellen Abfuhr zu perfektionieren.

Doch in diesem Moment fühlte sie sich der Situation nicht gewachsen. Und zum ersten Mal seit ewig langer Zeit reagierte sie nicht mit einer Abfuhr. Ihr Lächeln und ihr Selbstbewusstsein gerieten plötzlich ins Wanken.

„Wer Sie sind, interessiert mich nicht“, grollte er. „Das hier ist Privatgelände.“

Er verschränkte die Arme, als wäre er bereit, sie körperlich daran zu hindern, sich an ihm vorbeizudrängen.

Eine alberne Vorstellung. Mit seinen hohen aristokratischen Wangenknochen wirkte er etwas abgezehrt, aber er war groß und muskulös gebaut. So wie er dastand, breitbeinig und mit verschränkten Armen, die seine ausladenden Schultern betonten, wirkte er unumstößlich und unzugänglich. Er war kein Mann, den sie beiseiteschubsen konnte.

Sie streckte ihm ihre Hand entgegen. „Schön, Sie kennenzulernen, Conte Alessio. Ich bin …“

„… hier nicht willkommen.“

Das schöne Gesicht mit den scharfen Gesichtszügen nahm einen harten Ausdruck an – bis auf die kleine Ader an seiner Schläfe, die im Pulstakt zuckte und bewies, dass er aus Fleisch und Blut bestand. Ein weiteres Indiz dafür waren der dunkle Bartschatten und seine glänzenden, zerzausten Haare.

Beinahe ähnelte er einem Piraten, und er hatte auch die Ausstrahlung eines Mannes, der ohne Zögern jede Regel brechen würde, wenn es ihm passte und er dadurch bekam, was er wollte. Und seine Miene verriet ihr, dass er daran gewöhnt war, genau das zu bekommen, was er wollte.

Trotz der kühlen Morgenluft breitete sich eine erregende Hitze in Charlotte aus. Als fände sie eine solche Rücksichtslosigkeit aufreizend! Dabei verabscheute sie herrische Männer, die erwarteten, ihren Willen zu bekommen.

Der Mann vor ihr sah unbezwingbar aus. Einschüchternd. Interessant.

Unglaublich sexy.

Charlotte hätte darauf vorbereitet sein sollen. Aber die alten Fotos, auf denen sie ihn gesehen hatte – als Sinnbild von Erfolg, akkurat rasiert im maßgeschneiderten Anzug oder makellos leger und modisch gekleidet auf einer Jacht –, ließen nichts von seiner Ausstrahlung erahnen. Seiner reinen packenden Anziehungskraft.

Sie schluckte schwer und versuchte, ihre Gedanken wieder zu beherrschen.

„Wenn Sie jetzt nicht sofort gehen, werde ich Sie persönlich vom Grundstück jagen.“

„Das ist nicht nötig.“ Charlotte richtete sich auf. Es war doch egal, dass sie einen Badeanzug statt ihrer Arbeitskleidung trug. Oder? „Ich arbeite hier. Ich bin die Vertretung für Ihre Haushälterin.“

Er zuckte mit keiner Wimper. Nichts an seiner finsteren Miene veränderte sich. Er hob lediglich hochmütig eine Augenbraue, als glaubte er ihr nicht.

Charlottes Brustkorb krampfte sich zusammen. Aber sie war an spöttische Blicke gewöhnt. Ihr Vater beherrschte sie perfekt, wobei auf seine Blicke sofort eine Schimpftirade folgte, die sich über alle ergoss, die es wagten, sich ihm nicht unterzuordnen.

Von den Drohungen ihres Vaters ließ sich Charlotte schon lange nicht mehr einschüchtern. Ihr neuer Arbeitgeber würde noch lernen, dass eine hochgezogene Augenbraue keine Wirkung auf sie hatte. Auch wenn sie nur eine Angestellte war – tyrannisieren ließ sie sich nicht.

„Ich bin gestern Abend angekommen. Anna wollte mich Ihnen vorstellen, sobald Sie Zeit haben.“ Denn der Conte durfte unter keinen Umständen gestört werden, wenn er arbeitete. „Aber dann kam mitten in der Nacht ein Anruf aus Rom, und sie musste sofort los.“

Er ließ seine verschränkten Arme sinken. „Von ihrer Tochter?“

„Ja, bei ihrer Schwangerschaft sind Komplikationen aufgetreten. Sie ist im Krankenhaus.“

Charlotte suchte in seinem Gesicht nach einem Anzeichen von Milde, aber seine Miene schien sich nur noch mehr zu verhärten, während er die Finger streckte und zusammenkrampfte. Und doch hätte sie schwören können, so etwas wie Schmerz über sein Gesicht huschen zu sehen.

Vielleicht war er nicht so gefühllos, wie überall behauptet wurde.

Oder du bildest dir das nur ein.

Sie hatte schon immer versucht, das Gute in den Menschen zu sehen.

Mit finsterem Blick zog er ein Handy aus der Tasche, machte auf dem Absatz kehrt und ging mit langen Schritten davon. Charlotte hörte, wie er Anna begrüßte und dann einen Strom von Worten folgen ließ, die ihr rudimentäres Italienisch überstiegen. Kurz darauf steckte er das Handy weg. Er musste seiner Haushälterin wohl eine Nachricht hinterlassen haben.

Hatte er verlangt, dass sie sofort zurückkam?

Oder sich erkundigt, wie es ihr und ihrer Tochter ging?

Plötzlich gingen Charlotte all die Dinge durch den Kopf, die sie über den Conte Dal Lago gelesen hatte. Er stand einer der ältesten Adelsfamilien Italiens vor, war der Nachkomme von Räubern und Kriegern, die in den Seen und Bergen von Norditalien ihr eigenes Lehnswesen gegründet hatten, reich und schließlich vornehm geworden waren. Aber die Familie stand weiterhin im Ruf, erbarmungslos zu sein. Einer Webseite zufolge waren die Grafen vom See, wie der Titel übersetzt lautete, als die treuesten Freunde und unbarmherzigsten Feinde bekannt.

Charlotte erschauderte und rieb sich die Gänsehaut auf ihren Armen.

Als sie in ihrer gemütlichen Wohnung in der Schweiz von den Dal Lagos gelesen hatte, war sie einfach davon ausgegangen, dass die Berichte wie üblich übertrieben waren.

Aber als der Graf – Conte auf Italienisch – sich zu ihr umdrehte und sie mit Augen musterte, die von der gleichen Farbe wie der See hinter ihr waren, erinnerte Charlotte sich an die Berichte neueren Datums über diesen Mann. Den Einsiedler. Den gefühllosen barbarischen Blaubart. Den grausamen Tyrannen, der Blut an den Händen hatte. Es gab die wildesten Spekulationen darüber, wie er seine schöne prominente Frau hier von der Welt abgeschottet hatte, wo sie angeblich an einem gebrochenen Herzen gestorben war, weil sie mit einem herzlosen Despoten verheiratet war.

Charlotte hatte das als Medienhysterie abgetan. War das ein voreiliger Schluss gewesen?

Der Conte kniff die Augen zusammen, als könnte er ihre Gedanken lesen. Sie stand wie hypnotisiert da und fragte sich, wie vernünftig ihr Plan war, hier drei Monate lang zu arbeiten.

„Die Vertretung für meine Haushälterin?“, fragte er.

Seine Stimme war jetzt weich wie Samt, und etwas Dunkles lag darin, das Charlotte sich nicht erklären konnte; ein Unterton, bei dem ihre Knie weich wurden. Sie wünschte sich, sie trüge statt des nassen Badeanzugs ihre Arbeitskleidung.

Der Conte starrte zwar nicht wie andere Männer, die fanden, dass Hotelpersonal intime Dienste leisten sollte, aber er wandte seinen Blick auch nicht von ihr ab. Die ungewohnte lodernde Glut in ihrem Schoß brachte Charlotte aus dem Konzept –genau wie ihr Verdacht, dass er es merkte.

„Kommen Sie in dreißig Minuten in mein Büro.“

Sein Ton ließ ahnen, dass ihr erster Arbeitstag noch schwieriger werden würde, als sie befürchtet hatte.

2. KAPITEL

Eine halbe Stunde später klopfte Charlotte an eine Eichentür und hoffte, dass es die des Arbeitszimmers war.

Anna hatte keine Zeit gehabt, ihr viel zu erklären. Der Lageplan, den Anna ihr vom Castello und den umliegenden Häusern gegeben hatte, war recht ungenau. Charlotte hätte eigentlich mehrere Tage lang mit der Haushälterin zusammenarbeiten sollen, bis sie zur Geburt ihres ersten Enkelkinds abreiste. Nun hatte sie wegen Annas überstürzter Abreise nur die allerwichtigsten Informationen bekommen.

Erstens: Die Privatsphäre des Contes stand über allem. Charlotte durfte auf der Insel nicht fotografieren und niemandem sagen, was sie über den Conte, die Insel oder etwas, das mit ihm zusammenhing, erfuhr. Die in ihrem Arbeitsvertrag angedrohten hohen Strafen machten dies eindeutig klar.

Zweitens: Besucher waren auf der Insel ohne Genehmigung nicht erlaubt (siehe Regel Nummer eins). Falls Charlotte diesbezüglich noch Zweifel gehabt hatte, so waren sie durch die Begegnung mit ihrem Arbeitgeber beseitigt worden.

Drittens: Wenn der Conte in seinem Büro arbeitete, durfte er unter keinen Umständen gestört werden, es sei denn, es ging um Leben und Tod. Egal, wie lange es dauerte, bis er das Arbeitszimmer verließ. Siehe Regel Nummer eins.

Viertens: Wenn sie keinen perfekten Espresso machen konnte, brauchte sie gar nicht erst auszupacken.

Angeblich ließ sich der dämonische Conte mit einem anständigen Kaffee besänftigen. Aber so, wie er vorhin gelaunt gewesen war, würden ein paar Kaffeebohnen wohl kaum einen großen Unterschied machen.

Was war wohl nötig, um diesen steinernen Gesichtszügen ein Lächeln zu entlocken?

Das, liebe Charlotte Symonds, geht dich überhaupt nichts an.

Sie straffte die Schultern, betastete ihre noch feuchten Haare, die sie wie üblich im Nacken zu einem Chignon geschlungen hatte, und klopfte erneut.

„Avanti.“

Sie trat ein, blieb jedoch auf der Türschwelle stehen, und spürte, wie ihr das Herz im Hals schlug. Nicht wegen Conte Alessio, der seine schlechte Laune gerade auf sein Handy statt auf sie konzentrierte.

Es war das außergewöhnliche Zimmer, das sie wie angewurzelt stehen bleiben ließ. Es nahm fast das gesamte Stockwerk ein. An drei Seiten strömte das Morgenlicht durch hohe Fenster herein, die eine atemberaubende Aussicht auf die Berge boten, die in sanfteren grünen Hängen zum in Nebel getauchten See abfielen.

Speziell angefertigte Bücherregale schmiegten sich an die runde Wand, und die Fensterrahmen waren breit wie Bänke und mit Kissen bestückt – wie gemacht zum Lesen oder Handarbeiten.

Als Charlotte eintrat und die stromlinienförmigen Aktenschränke neben der Tür sowie die vielen Computermonitore auf dem Schreibtisch sah, revidierte sie ihren ersten Eindruck von altmodischer Behaglichkeit. Selbst die Sessel vor dem riesigen Kamin waren modern und vereinten Gemütlichkeit mit moderner Dynamik.

„Ist das Kaffee, den ich da rieche?“ Der Conte sah nicht mal hoch. Seine dunklen Augenbrauen waren immer noch zu einem verärgerten oder konzentrierten V zusammengezogen.

Charlotte wusste von Anna, dass sie ihren Arbeitgeber nicht oft zu sehen bekommen würde. Auch das Einstellungsgespräch hatte nicht er, sondern Anna mit ihr geführt, und der Vertrag war von einer bekannten Kanzlei in Rom aufgesetzt worden.

Trotzdem spürte sie Verärgerung in sich hochsteigen. Sie war zwar daran gewöhnt, wohlhabenden Hotelgästen fast unsichtbar Dienste zu leisten, aber er würde ihre Anwesenheit doch wohl über den Kaffee hinaus bestätigen können.

Langsam ging sie um den Schreibtisch herum und hielt ihm das Tablett hin.

„Danke“, murmelte er, den Blick weiterhin auf das Display geheftet. Ansatzweise besaß er also doch Manieren. Charlottes Vater hatte das Personal auf ihrem Landsitz stets ignoriert und erwartet, dass ihm seine Wünsche von den Augen abgelesen wurden.

Sie sah, wie der Conte blinzelte, als er die zweite kleine Tasse auf dem Silbertablett bemerkte. Als wäre er nie auf den Gedanken gekommen, dass seine Haushälterin nach dem frühmorgendlichen Schwimmen und seinem gebieterischen Befehl keine Zeit zu frühstücken gehabt hatte.

Vielleicht hast du es jetzt zu weit getrieben.

In dem kleinen, aber äußerst exklusiven Berghotel, in dem Charlotte dem Housekeeping-Team vorgestanden hatte, war sie vom Manager als Gleichgestellte behandelt worden. Für einen Aristokraten in seinem eigenen Haus zu arbeiten, war zwar anders, aber Charlottes Mutter war adlig gewesen, und Charlotte wusste, dass ein wahrer Gentleman sein Personal rücksichtsvoll behandelte und nicht nur herumkommandierte.

Die waldgrünen Augen begegnetem ihren Blick. „Bitte setzen Sie sich doch.“

„Haben Sie etwas von Anna gehört?“

„Bei ihrer Tochter musste letzte Nacht ein Notkaiserschnitt gemacht werden, aber es geht ihr gut und ihrer kleinen Tochter auch.“ Sein Mund wurde weicher, und Charlotte spürte seine Erleichterung. Vielleicht waren seine zusammengezogenen Augenbrauen ein Zeichen von Konzentration gewesen, als er die SMS gelesen hatte. Seine nächsten Worte schienen das zu bestätigen. „Wir haben dafür gesorgt, dass sie in das beste Privatkrankenhaus von Rom kommen. Daher wird es hoffentlich keine Komplikationen geben.“

Wir? Charlotte nahm an, dass er das arrangiert hatte. Sie bezweifelte, dass Anna oder ihre Tochter und ihr Schwiegersohn sich die besten Ärzte leisten konnten.

Als sie auf einen Stuhl vor dem Schreibtisch zuging, deutete der Conte auf zwei kleine Ledersofas. „Hier bitte.“

Sie stellte das Tablett ab, setzte sich und trank mit genussvoll halb geschlossenen Augen einen ersten Schluck Kaffee. Beim Schlucken sah sie zu ihm hinüber. Er saß ihr mit lang ausgestreckten Beinen gegenüber und betrachtete sie. Er würde sie doch nicht schon feuern, bevor sie überhaupt angefangen hatte?

Nein, er war ein Mann, der daran gewöhnt war, bedient zu werden. Er würde sich nicht selbst durchschlagen wollen, bis er einen Ersatz für sie gefunden hatte. Hoffentlich.

Charlotte lehnte sich zurück und schlug ihre kalten Beine übereinander. Da sie sich hatte beeilen müssen, ihm den Espresso zu machen, war ihr keine Zeit geblieben, ihre Strumpfhose anzuziehen.

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, sagte er: „Sie tragen nicht die übliche Haushälterinnenkleidung.“

„Ist meine Kleidung ein Problem?“