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Ist Zeit wirklich Geld? Fühlt man sich reich, wenn man unbegrenzt Zeit hat? Und kann ein anderer Umgang mit Zeit die Gesellschaft verändern?
Greta Taubert will wissen, was Zeitwohlstand ist und besucht Menschen, die ihn leben. Sie nimmt sich Zeit, lässt sich treiben, wird inspiriert - und dabei immer aktiver. Im Club der Zeitmillionäre lernt sie neue Lebensentwürfe kennen und wird vor Herausforderungen gestellt, mit denen sie nicht gerechnet hat. Ein Projekt voller Überraschungen - lebensverändernd und erhellend.
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Seitenzahl: 302
Greta Taubert lebt als freie Autorin in Leipzig. Für Die Zeit, Cicero, taz und die FAS berichtete sie von überall dort, wo es unbequem, schmutzig und riskant ist: von Blutrachehäusern in den Albanischen Alpen, von Kinderhändlern im äthiopischen Hochland und Guerillacamps in Mecklenburg-Vorpommern. Die Initiative newsroom.de zählt sie zu den 500 exzellentesten Frauen der deutschen Medienszene. Ihre Arbeit wurde mit dem »Medienpreis der Kindernothilfe« ausgezeichnet.
GRETA TAUBERT
Im Club der Zeitmillionäre
WIE ICH MICH AUF DIE SUCHE NACH EINEM ANDEREN REICHTUM MACHTE
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Originalausgabe
Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Anabelle Assaf, Berlin
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de
Unter Verwendung eines Motivs von © Milos Djuric, Berlin
Datenkonvertierung E-Book:
hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-2976-6
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Es ist wieder einer dieser Tage, die ich mit dem Wort »Fuck« beginne. Ich liege in meinem Bett, und weil die Vorhänge nie das ganze Fenster abdunkeln, sehe ich durch einen Spalt, wie eine Elster auf einem Löwenkopf der gegenüberliegenden Fassade kauert. Der Löwe ist wirklich gruselig. Aber die Elster reitet das Biest. Weil ich sie sehen kann – die Elster und das Biest –, weiß ich, dass es heller Tag ist. Und dass der helle Tag zum Arbeiten da ist und nicht zum Vögelbeobachten. Ich drücke auf den Knopf am Telefon, die Uhr leuchtet auf und zeigt Dienstag, 8.40 Uhr. Das Ding hätte vor einer Stunde klingeln sollen, hat es vielleicht auch, so genau kann ich mich nicht mehr erinnern. Jedenfalls hat es letztlich den Snooze-Wettstreit gegen mich verloren. Jetzt also Fuck: Ich muss mich beeilen. Fuck: Ich komme zu spät zum Meeting nach Hamburg. Fuck: Wann fährt die nächste Bahn? Fuck: Dann gucken alle so vorwurfsvoll. Fuck: Wie erkläre ich das? Fuck: Ich funktioniere nicht richtig.
In diesem Moment, in dem ich hektisch meine Klamotten zusammensuche, bin ich 31 Jahre alt. Auf eine unbeschwerte Kindheit in der ostdeutschen Provinz folgten Schule, Studium, Praktika, Stipendien, Arbeitswelt. Ich habe immer schön abgeleistet, wenn es etwas zu gewinnen gab. Der Erfolgsgraph ist über die Jahre immer weiter angestiegen – wie auch bei den meisten meiner Freunde, Kollegen, Bekannten. Prospere Dreißiger mit funktionierenden Lebensplänen. Angekommen in der Welt des Machens, des Entscheidens, des Geldverdienens und -ausgebens, des Sich-was-Trauens, des Sich-was-Gönnens, des Versorgens, des Vorsorgens. Es ist schwierig geworden, dass wir uns verabreden, weil wir alle so große wichtige Sachen am Wickel haben: Haus, Kinder, Partner, Job. Immer steht schon irgendwas im iCalendar, das wichtiger ist als mal wieder sinnlos rumzuhängen. »Rushhour« des Lebens nennen Soziologen diesen Lebensabschnitt, weil man richtig Gas geben muss, um all die Verantwortlichkeiten zu packen. Um dem Takt der Alltäglichkeiten standzuhalten. Um zu funktionieren. Aber steht man während der Rushhour nicht immer im Stau und haut mit der Hand auf das Lenkrad und brüllt: Los, beeil dich, du Affe? Man hat keine Zeit – und kommt trotzdem nicht vom Fleck?
Familienstudien zeigen, dass zwei Drittel aller Eltern mit Kindern unter 16 Jahren das Gefühl haben, nicht allen Anforderungen gerecht zu werden. Irgendetwas kommt immer zu kurz. Die Mütter beklagen, dass sie sich nicht mehr genug um ihre eigenen Bedürfnisse kümmern können, die Väter, dass sie zu wenig Zeit für Partnerin, Kinder und Freunde haben. Das Rad der eigenen und fremden Ansprüche ans Leben dreht sich zu schnell. Es ist nicht mehr nur ein Hamsterrad, in dem sie sich abstrampeln. Es sind mehrere gleichzeitig: erfülltes Berufsleben, glückliche Familie, funktionierender Haushalt, bestellter Garten, regelmäßiger Sport, psychische und physische Gesundheit, stabile Freundschaften. Die Imperative des Funktionierens heißen: Du musst dafür arbeiten! Du musst es nur wollen! Du kannst jeden Tag damit beginnen, eine bessere Version deiner selbst zu sein! Das Forsa-Institut befragte im Oktober 2014 mehr als tausend Eltern: 63 Prozent klagten über Zeitsorgen, nur 37 Prozent über Geldsorgen. Wenn ich mir selbst und meinen Leuten zuhöre, dann fängt eigentlich jeder Satz mit »Ich muss …« an. Ich muss das heute noch fertig machen. Ich muss mit den Kindern zum Sport. Ich muss die Wäsche machen. Ich muss dich unbedingt mal wiedersehen. Ich muss zur Therapie.
»Ich muss los«, rufe ich meinem Nicht-nur-Mitbewohner Herrn F. zu. »Ich bin viel zu spät. Die Redaktion wird supersauer sein.« Ich schnappe mir einen Apfel und werfe ihn in die Handtasche. »Du wirst es mit deinem Charme ausgleichen«, antwortet er. Es soll mich trösten, aber ich stöhne. Charme ist doch die Waffe der Unperfekten. Dann renne ich los in den Fuck-Tag. Per Smartphone buche ich mein Ticket, setze ein Tschuldigung, wird später ab, checke das Wetter, dann die Mails, dann Facebook. Die Elster auf der Fassade keckert zum Abschied, aber ich sehe sie nicht mehr. Das Biest ist dazwischen. Nicht der Löwe, sondern das Biest des Funktionieren-Müssens.
Ich steige in den Zug nach Hamburg und richte mich ein im blauen Sessel und im Suboptimalen. Das Gewissen bohrt, der Zweifel wuchert. Hektisch krame ich meine Unterlagen hervor, um die Fahrzeit zur Vorbereitung zu nutzen. Als ich gerade meinen Laptop aufklappen will, fällt mir das Magazin ins Auge, das immer im ICE ausliegt. Dort steht in großen Buchstaben unter dem Bild zweier knutschender Zugreisender Diese Zeit gehört dir. Ich gucke mich um im Abteil, und genau wie ich haben die meisten ihren Laptop, ihr iPad oder ihr Smartphone vor sich. Ihre Gesichter sehen im blauen Schein ganz zombiemäßig aus, und ich frage mich, ob hier wirklich irgendeiner gerade frei über seine Zeit verfügt. Was heißt das eigentlich? Und wie soll das aussehen? Knutschen, oder was? Ich schiele zu dem Menschen neben mir, so ein Business-Eumel. Wann hat der zum letzten Mal wild im Zug geküsst? Und ich?
Angekommen am Hamburger Baumwall. Im Konferenzraum eines Verlagshauses diskutiert eine kleine Runde von Journalisten darüber, wie man eine Zeitschrift neu ausrichten kann. Ein Beamer surrt. Es gibt Obstspieße, Filterkaffee und in der Luft liegt Testosteron. Nur Männer in der Runde. Sie tragen bunte Turnschuhe, als kämen sie gerade vom Jogging. Adrian vom Lufthansa-Magazin, Tim vom Nissan-Magazin, Stephan vom Bahn-Magazin. Harte Jungs, die sich auskennen mit Geschwindigkeit. Mit Höher, Schneller, Weiter. Mit dem Sog der Beschleunigung. Ich knalle meine Unterlagen auf den Tisch und tue so, als wäre mein spätes Aufkreuzen normal. Keine Zeit haben – das ist hier bestimmt ein Qualitätsmerkmal. »Starker Auftritt«, raunt mir einer zu, als ich Platz genommen habe. Oh Mann.
Einmal drin im Hamsterrad der journalistischen Leistungsstrampler geht es auch ordentlich rund. Wir pflügen die Zeitschrift durch, formulieren unsere Kritik, präsentieren neue Ansätze, diskutieren, konkurrieren, streiten, finden Kompromisse. Draußen vor den Fenstern ziehen die Containerschiffe auf der Elbe vorbei, die am Hafen ihre Container entladen werden. Geschäftigkeit erzeugt Geschäfte, erzeugt Resultate. Da draußen sind es fassbare Güter, hier drinnen sind es Ideen. Es macht Spaß, mit den Jungs hier drinnen so schnell unterwegs zu sein und gedanklich voranzukommen. Ideencontainer zu verladen. Wenn ich mir nur diesen kleinen Ausschnitt des Tages anschaue, muss ich feststellen: Arbeiten ist doch eigentlich eine feine Sache. Weil es schön ist zu merken, dass man etwas gut kann. Weil es schön ist, das mit anderen zu teilen und zu erweitern. Weil es schön ist, dafür auch noch Geld zu bekommen. Warum war ich heute Morgen noch so fucking genervt? Warum fühle ich das hier nicht immer?
Vielleicht liegt es an dem Wort: immer. Arbeit ist ein Dauerzustand geworden. Egal, wohin ich gehe, meine Arbeit habe ich dabei. Im Kopf, im Telefon, im Laptop. Eine Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach zeigte, dass fast zwei Drittel aller befragten Deutschen für ihren Arbeitgeber auch in der Freizeit erreichbar sind. Die Studie wurde unter dem Titel Trendcheck: Beziehungskiller Job veröffentlicht und zeigt da gleich mal an, wohin das führen kann. Eine andere Studie aus dem gleichen Jahr fand heraus, dass in Deutschland fast die Hälfte der Beschäftigten in ihren Ferien bis zu drei Stunden arbeitet. Arbeit ist immer und überall – das ist der Normalzustand im Zeitalter der ständigen Erreichbarkeit. Mittlerweile achten zwar einige wenige Unternehmen strikt darauf, dass ihre Mitarbeiter nicht mehr nach Dienstschluss die Mails checken und im Urlaub nicht auf ihren Server zugreifen können, aber die Maßnahme bekämpft ja auch nur das Symptom, nicht das Problem selbst.
Und dieses Problem ist das Problem der entgrenzten Pflicht. Ich selbst habe zum Beispiel gar keinen festen Arbeitgeber, der mein Mailkonto mit der Stechuhr abgleicht. Es gibt keinen Chef, der von mir Überstunden erwartet oder einen Auftraggeber, der meinen Tag verplant. Freiberufler eben, yeah. Manchmal habe ich eine Deadline für einen Text oder fest vereinbarte Termine für Interviews oder eben dieses Kreativtreffen im Hamburger Medienhaus. Aber im Wesentlichen zwingt mich niemand dazu, meine Zeit für ihn zu kommerziell zu vertakten und zu vernutzen. Trotzdem begleitet mich im Alltag das ständige Gefühl, noch etwas machen, schaffen, erledigen zu müssen. Es durchdringt jeden Moment der Lebenszeit. Der Sog des ständigen Funktionierens hat offenbar auch mich – genau wie die gesamte Gesellschaft – erfasst. Wenn ich nicht mitmachte beim Höher, Schneller, Weiter, so heißt es, fiele man doch durch das soziale Gitter in die Kanalisation der Gesellschaft: in die unproduktive Unterschicht. Da will ich nicht sein! Da gehör ich nicht hin! Ich gehör an den großen Tisch mit den Leistungsträgern in Turnschuhen!
Die Angst vor dem sozialen Abstieg fängt schon an, bevor man überhaupt aufgestiegen ist. Im Januar 2015 berichtete die Wochenzeitung Die Zeit, dass die aktuelle Studierendengeneration den Zustand von Ruhe, Nichtstun und Langeweile als regelrecht unerträglich empfände. »Die Studenten haben schon mit 20 Jahren das Gefühl, sie verplemperten Zeit, wenn sie sich nicht zügig für ein Studium und einen Lebensweg entscheiden.« Verschiedene Studiensurveys der Bundesregierung bezeugen den Trend zur ständig wachsenden Leistungsbereitschaft. Die Burn-out-Diagnosen steigen proportional.
Und so begleitet mich ein ständiges Gefühl des Müssens: stets und ständig mein Potential auszuschöpfen. Es ist die oberste kapitalistische Pflichtübung. Man darf sein Potential nicht verschwenden, man darf sich nicht verschwenden, man darf seine Zeit nicht verschwenden. Aber das geht nur, indem ich zur tickenden Menschenmaschine werde. Funktionieren, Leisten, Dienen – und das möglichst effizient. Aber: wozu? Hat es mich glücklicher gemacht? Hat es überhaupt irgendjemanden da draußen jemals glücklich gemacht, immer nur zu müssen? Wozu strenge ich mich so an?
In Hamburg geht das Meeting zu Ende. Die Tische sind voller kleiner Saftflaschen und bekrümelter Servietten. Die Notizbücher sind voll. Mein Kopf schmerzt – er ist voll und leer zugleich. Mit Stephan, dem Chefredakteur, verlasse ich das Verlagsgebäude. Eine andere Art von Licht lässt das Serotonin tanzen. Alles ist so gleißend: die Sonne am Himmel, die Sonne auf dem Flusswasser, die Sonne in den Glasfassaden. Wir laufen den Jungfernstieg entlang, wo Touristen im frischen Abendwind sitzen, Bratwurst essen und sich der Industrieromantik hingeben. Ich hätte das gern ein bisschen aufgesogen, aber Stephan läuft so schnell, dass ich fast die Schuhe, den Atem, den Verstand verliere. Er ist ein Getriebener, denke ich. Oder es liegt wirklich an diesen knallbunten Turnschuhen, die hier alle zur Arbeit anziehen. Ich halte ihn am Ärmel fest. »Setz dich doch mal«, sage ich und zwinge ihn zum Rasten auf eine Parkbank. Die kalten Finger der linken Hand umklammern eine Club-Mate, in der rechten halten wir eine Zigarette. Stephans Beine wippen unruhig. Er wirkt, als hätte jemand Strom angelegt. »Warum rennst du denn so?«, frage ich. »Tue ich das? Fällt mir gar nicht auf«, sagt er, und in seinem Grinsen steckt ein freches Überlegenheitsgefühl. »Kommst du durch diese Hektik schneller an?«, setze ich noch mal nach. Und er antwortet: »Vielleicht schon, aber ich weiß eigentlich gar nicht so genau, wo. Und ob es dort besser ist.«
Ich muss an den Begriff des »rasenden Stillstands« von Paul Virilio denken. Der Philosoph hat in seinem Essay von 1992 behauptet, wir hätten einen paradoxen Zustand der Geschichte erreicht: hoch beschleunigt und dabei völlig ohnmächtig. Bis heute ist diese technologisch gestützte Beschleunigung – und das damit verbundene Ohnmachtsgefühl – nur noch größer geworden. Mit fatalen Folgen für das, was wir Hoffnung nennen. Das wurde mir klar, als ich mal in Leipzig an einer Diskussionsreihe teilgenommen habe. Sie hieß »Absolute Gegenwart« und fand in einem Elektroclub statt, der ausgerechnet »Institut für Zukunft« heißt. Im Nirgendwo des Alten Messegeländes stiegen wir Kellertreppen runter, auf dem Boden und an den Wänden brüchige Fliesen, dumpfes Licht aus vergitterten Industrieleuchten. Auf einem Plakat stand, was dort sonst so stattfindet: »Pillenrealität«. Es war die Gegenwelt aus Bass, Licht, Schweiß, Glück, Drogen, Menschen, die sich unter dieser Kuppel zum absoluten Moment verdichteten. Studenten in engen Hosen und engen Windjacken besetzten mit Retro-Rucksäcken ihre Stühle, um sich ein Bier zu holen. Die Tresenschlange sah aus wie ein geisteswissenschaftlicher Catwalk, schön, jung, klug, fähig, die Welt zu gestalten. Dann erzählte einer von ihnen im Schummer, was die Quintessenz wochenlanger philosophischer Diskussionen gewesen sei: In einer rasenden, tosenden, beschleunigten Welt gibt es nur das Hier, die Gegenwart. Nichts mehr. Die Gesetze und Moden der Vergangenheit verlören quasi sekündlich ihre Bedeutung. Die Zukunft dagegen sei ein Sammelbecken der Angst. Anders als noch in der Moderne erschiene uns die Zukunft nicht als Hoffnungsfeld, sondern vielmehr als Minenfeld aus ökonomischen und ökologischen Zeitbomben. Und obwohl diese bekannt sind, beschrieben werden und teilweise auch in politischem Protest münden, scheint ihre Bewältigung doch unvorstellbar. Das Wort »Alternativlosigkeit« fiel. Wir könnten den Wohlstand von heute nur sichern, indem wir das Morgen ausblenden. Was bleibe, sei das Jetzt. Und diesem Jetzt seien wir hilflos ausgeliefert: weil es unfassbar sei, flüchtig und viel zu komplex. Die Studenten klatschten, und ich fragte mich, wie man so eigentlich leben soll, als zukunftsloses Objekt vermeintlicher Notwendigkeiten. Dann gingen wir alle an die Bar und holten uns einen Drink.
Aber in Hamburg, auf der Parkbank mit Elbblick, erfasste mich der alte Zweifel wieder. Es war zwar schön, auch mal schnell unterwegs zu sein, schnell voranzukommen, mit Stephan erst mit dem Kopf und dann mit den Füßen geradezu zu rasen. Aber wenn diese Schnelligkeit zum Normalzustand wird, wenn ich versuche, immer schnellerhöherweiter zu sein als die anderen, wenn ich mussmussmuss, zeigt sich mir die Welt nur noch in Schlieren. Sie verschwimmt und wird unbegreifbar. Wenn diese Raserei noch dazu aus einem eigenen tief verinnerlichten Gefühl des Abliefern-Müssens geboren wird, dann verschwimmt auch das Ich und wird mir unbegreifbar. Ich ziehe an meiner Zigarette, und mir ist völlig klar, dass ich aus diesem Turbohamsterrad rauswill und das Turbohamsterrad aus mir. Nur wie?
In der Ferne schießt ein Scheinwerfer vom Hamburger Dom in den Himmel und malt kryptische Kreise in den mittlerweile dunklen Abendhimmel. »Los, weiter«, sagt Stephan, und wir hasten dem Licht entgegen durch weite stille Magistralen. Der Rummel drischt dann umso gnadenloser auf uns ein. Blinkende Glühbirnen, brüllende Kirmesmusik, künstliche Farbstoffe. Wir sehen Waffelverkäuferinnen, die an die Jacob Sisters erinnern, und Kartenabreißer, die aussehen wie die Nachher-Version des »jungen Mannes zum Mitfahren«. Testosteronvergleiche am Schießstand, Mädchenkreischen von der Wilden Maus. Eine Losverkäuferin hat sich vom Shoppingkanal schulen lassen und behauptet, ihre »Mitarbeiter an den Losständen seien gut eingewiesen und würden ständig mit neuen Gewinnen versorgt werden«. In ihren Gesichtern rührt sich nichts. Eine merkwürdige Gleichzeitigkeit übersteigerter Glücksversprechen und offensichtlicher Desillusionierung. Hier sieht alles aus wie von gestern, einem Gestern, das allerdings auch kein Morgen kennt. Nur hier sein, im Jetzt.
Stephan steuert auf einen rotierenden Riesenarm zu, der sich pfeifend über unseren Köpfen erhebt. An dessen Ende drehen sich Gondeln um die eigene Achse. Stephan grinst. Ich sage Neinneinneinneinnein, und er ist schon beim Ticketstand angekommen und winkt mit den Karten. »Ich hab dir doch gesagt, dass ich keinen Bock auf diese beschleunigte Scheiße habe«, brülle ich ihn an, um die Achtzigerjahre-Lasergeräusche aus den Boxen zu übertönen. Er schafft noch ein »Hehehehe« als Antwort und dann winkt uns ein hektischer Karusselltyp heran, zeigt wortlos auf den Schalensitz, drückt uns den Bügel zwischen die Beine und grinst unverhohlen. Panik steigt in mir auf, als die Gondel in den Nachthimmel abhebt. Langsam, damit der Kitzel langsam steigt. Auf sechzig Metern im Zenit stehen wir eine Weile still. Unten das urbane Lichtermeer, oben die Urangst. Ich versuche, die Situation zu theoretisieren, um mich abzulenken: Wie man wohl fremdgesteuerte Beschleunigung übersteht? Wie man die Raserei überlebt? Die Zeit steht so still wie die Gondel. Als sie sich nach unten bewegt und zunehmend beschleunigt, steigt die Panik. Der Fahrtwind reißt an den Klamotten, die Finger umklammern den Metallbügel. Die ersten Runden bin ich in Schockstarre. Das Blut rauscht in meinen Ohren. Ich weiß, dass ich nicht rauskomme aus diesem gottverdammten Schleudertrauma. Es ist wie in der Welt jenseits der Gondel: Du kannst schreien, so viel du willst, aber die Maschine läuft einfach weiter. Ich weiß nicht mehr, wie oft mich der Arm hoch- und runter-, hin- und herreißt. Wie oft wir uns so überschlagen, dass erst die Wolken und dann der Boden zum Greifen nah sind. Wie lange sich das große Rad mit der eigenen Achsdrehung verwirbelt. Aber irgendwann passiert es. Irgendwann kommt der Moment, in dem sich die Hilflosigkeit verflüchtigt und der Lust Platz macht. Das Gleichgewichtsorgan muss wohl das Verorten aufgegeben haben, genau wie der Kopf das Erklären und der Bauch das Rebellieren. Es ist der Moment des Loslassens, das große Glück. Einfach hingeben. Ich beginne, jeden Schwung, jede Umdrehung, jede Beschleunigung zu genießen. Der Kitzel steigert sich und feuert das Hormonprogramm ab, das für Höhepunkte jeglicher Art verantwortlich ist. Ich schreie und stöhne, als würde ich einen Rummelorgasmus synchronisieren. Es gibt kein Oben und kein Unten. Kein Müssen und kein Sollen. Kein Geradeeben und Später. Es gibt nur noch diesen Moment.
Als ich wieder vom Plastiksessel rutsche, will ich, dass mein Leben eine Karussellfahrt ist. Das ist vermutlich ganz normal, wenn man endorphinmäßig hochgepitscht ist. Auch Stephan hopst glücklich über den tosenden Platz. Aber ich meine es ernst: Ich will raus aus dem Hamsterrad des Müssens, rein ins Karussell des Könnens. Ich will nicht mehr einer ungewissen Zukunft mit meiner Leistungsbereitschaft dienen, sondern mich konkreten Momenten mit meiner Leidenschaft hingeben. Kann man das Hamsterrad in ein Karussell verwandeln? Wenn der Augenblick, das Jetzt, der Moment alles ist, was uns übrig geblieben ist, dann sollte er uns heilig sein. Aber kann das funktionieren – kann man der Logik des Kapitalismus die Idee des Momentalismus entgegensetzen? »Kannst du machen«, sagt Stephan, »aber dann verarmst du eben.« Er rennt schon wieder. Ich bleibe stehen. »Nein«, denke ich, eben nicht. Ich will reich sein – reich an Momenten. Warum sollte eigentlich nur immer Geld anzeigen, wie gut es mir und den anderen und der Gesellschaft geht? »Zeit ist Geld« ist die Formel des Turbokapitalismus – aber vielleicht sollte ich anfangen, sie mal für nichtbare Münze zu nehmen – und neu denken: Zeit nicht nur als Ressource, die monetarisiert wird, sondern als eigene Währung.
Der Diskurs um einen neuen Wohlstandsbegriff drängt sich im Moment ja auch auf – angesichts sich immer weiter verschärfender ökologischer, ökonomischer und sozialer Krisen: Klimawandel, Artensterben, Rohstoffknappheit, Landgrabbing, Flüchtlingsströme. Sie alle sind Spätfolgen einer rasanten, enthemmten Wirtschaft, die nur ein Ziel kennt: immer schneller immer mehr haben. Aber dieses Mehr lässt sich nicht ewig steigern. Das alte Versprechen »Wohlstand durch Wirtschaftswachstum« verfängt allmählich nicht mehr, das Bruttoinlandsprodukt hat als Gradmesser gesellschaftlichen Wachstums ausgedient. Es braucht eine Umbewertung von Wohlstand – weg von einem Streben nach materiellem Reichtum hin zu einem Streben nach zeitlichen Ressourcen.
Ich weiß, dass ich mit meinem Wunsch nach einem anderen Wohlstand nicht allein bin. Es formiert sich in Europa, den USA und in Lateinamerika derzeit eine immer größer werdende Bewegung des »Postwachstums«. Sie fordert eine Abkehr vom Wachstumsdogma und schlägt eine »sozial-ökologische Transformation« vor, an deren Ende eine umfassende, neu justierte Vorstellung von Gesellschaft steht. Wissenschaftler wie der Ökonom Niko Paech oder der Beschleunigungsforscher Hartmut Rosa untersuchen neue Zeitmodelle der Zukunft und fordern zum Diskurs auf. Politische Parteien wie Die Grünen und Die Piraten haben seit Kurzem das Thema »Zeitpolitik« in ihre Programmdebatten aufgenommen, der Europarat hat einen Resolutionsentwurf über eine neue lokale Zeitplanungspolitik in der Schublade, Thinktanks wie die Heinrich-Böll-Stiftung, Attac, das Konzeptwerk Neue Ökonomie und das Netzwerk Wachstumswende erarbeiten konkrete Alternativen für eine ökologische Wirtschafts- und Lebensweise, die auf einem neuen Zeitverständnis aufbaut. Die IG Metall hat die Idee aufgegriffen – eine Befragung von einer halben Million Beschäftigten ergab, dass viele sich eine kürzere Arbeitszeit wünschen. Darunter hauptsächlich Mütter und Väter. Auch die Sozialwissenschaftlerin Jutta Allmendinger fordert eine 32-Stunden-Woche für alle – allerdings als Durchschnittswert über das gesamte Erwerbsleben.
Das Thema ist kein Rand- oder Wohlfühlthema mehr, darüber sind sich die Vordenker einig, weil ein neues Zeitverständnis – basierend auf Entschleunigung, Arbeitszeitverkürzung, Muße – einen Weg aus den multiplen Krisen unserer Zeit bedeutet. Hinter diesen als Krisen bezeichneten Dauerphänomenen stecken existentielle Dilemmata wie Überarbeitung, Arbeitslosigkeit, Hyperkonsum, Kohlendioxid-Emissionen, Arm-Reich-Gefälle, gegenseitige Fürsorge und nicht zuletzt die individuelle Frage nach einem erfüllten, selbstbestimmten Leben.
Darüber zu diskutieren ist das eine. Aber was passiert, wenn man tatsächlich aus dem Hamsterrad aus- und in den Karussellsessel einsteigt? Auf dem Hamburger Rummel, auf dem mich die Lichter blenden und die Geräusche umtosen, auf dem sich der menschliche Wille zum Grenzenüberschreiten geradezu grotesk verdichtet, fasse ich einen Entschluss: Ich möchte herausfinden, wie Zeitwohlstand funktioniert. Nicht nur in meiner eigenen Welt, sondern auch in der anderer Menschen. Dazu muss ich für eine Weile aussteigen aus der schnellen Welt des Erwerbslebens. Ich sage Stephan und dem Journalismus für eine Weile Adieu – und ich werde ihn suchen, mich ihm anschließen und herausfinden, wie es sich in ihm lebt: im Club der Zeitmillionäre.
Der Entschluss ist also gefasst: Ich möchte lieber nicht mehr müssen. Das passt mir gerade sehr gut in den Kram, denn selbiger türmt sich auf meinem Schreibtisch in Form von To-do-Listen, Briefen, herausgerissenen Berichten, Projektideen, Interviewprotokollen, Erinnerungs-Post-its. Auf dem digitalen Schreibtisch sieht es nicht anders aus. Da bilden Textdokumente verschiedenen Formats einen weißen Flickenteppich. Normalerweise legen sich diese Zeugnisse des Müssens wie ein Gewebe aus schlechtem Gewissen über meine gute Laune. Heute aber nicht, heute bin ich hochmotiviert, denn das kommt alles weg. Mit großem Eifer beginne ich das Aufräumen. Das, das, das – kommt in einen anderen Ordner. Klick, klick, klick – Mülleimer. Dummdidummdidumm – gelöscht. Nach ein paar Stunden habe ich sowohl die Tisch- als auch die Festplatte wie mit einem Kärcher aller Pflichten bereinigt. Sie sind vielleicht noch da, aber ich sehe sie nicht mehr. Für den Anfang ist das doch nicht schlecht.
Mein Nicht-nur-Mitbewohner und Bürokollege Herr F. guckt mir von seiner Seite der Tischplatte aus zu. Er hat rings um seinen Stuhl Aktenordner und kopierte Stapel ausgebreitet. Auf seiner Stirn sehe ich eine angestrengte Falte. Wenn ich es mir nicht einbilde, riecht es sogar nach echtem Arbeitsschweiß. ›Gleich fragt er bestimmt, seit wann ich beim Aufräumen so gut gelaunt bin‹, denke ich. ›Und dann springe ich auf meinen leer geräumten Schreibtisch und verkünde, dass ich ab jetzt nicht mehr mitmache im Redaktionsbüro. Vielleicht mache ich auch einen auf Edith Piaf und singe »Je ne veux pas travailler« und stecke mir eine Zigarette an und steppe.‹ Leider fragt Herr F. nicht, und ich bleibe auf meinem Stuhl sitzen. Es ertönt der Ping meiner Mailbox und erinnert mich daran, dass ich ja noch einiges zu tun habe: alle Alerts abbestellen, den Spamfilter meines Mailprogramms drastisch verschärfen, alle Push-Nachrichten auf dem Mobiltelefon abschalten, den Klingelton lautlos stellen, ach, eigentlich kann der Vibrationsalarm auch weg. Das wird das Gebimmel und Geblinke, das mich ständig daran erinnert, noch irgendetwas machen zu müssen, auf quasi null zurückfahren. Ich kann dann selbst entscheiden, wann ich meine SMS, WhatsApp, Mails oder Facebook-Nachrichten anschaue und vielleicht auch beantworte. Wenn ich dazu in der Stimmung bin. Bereits angenommene Aufträge mache ich aber noch fertig. Dazu gehört die Mitarbeit an einem Recyclingmagazin, das ich jetzt schon seit fünf Jahren redaktionell betreue, eine Investigativrecherche, für die ich bereits Geld eingesammelt habe, und ein paar Lesungen. Alles, was neu dazukommt, will ich absagen – wenn es nicht meiner neuen Berufung als Zeitwohlständler dient. Dafür bereite ich eine freundliche Absage-Mail vor. Lieber XY, vielen Dank für Ihre Nachricht, über die ich mich wirklich sehr gefreut habe. Leider kann ich zu der von Ihnen vorgeschlagenen Lesung/Veranstaltung/Einladung nicht kommen, da ich gerade einer sehr zeitintensiven Recherche nachgehe. Trotzdem vielen Dank für Ihr Interesse und herzliche Grüße.
In den nächsten Tagen beobachte ich mich und meine neue Nicht-Arbeitssituation. Wie gewohnt setze ich mich morgens an meinen Schreibtisch. Wenn das Telefon klingelt, geht Herr F. ran und sagt: »Ja, mach ich.« Wenn bei meinem Telefon das Display leuchtet und ich es zufällig sehe und eventuell rangehe, sage ich: »Nein, ich möchte lieber nicht.« Oder ich schicke die vorformulierte Absage. In meiner Vorstellung treffe ich bei meinen Verweigerungen auf basses Staunen, auf Unverständnis, vielleicht sogar auf Empörung. Sind sie nicht ein großer Akt der Rebellion? Eine Absage an die Leistungsgesellschaft? Ein Widerstehen der großen kapitalistischen Verwertungslogik? Und werde ich nicht mit jedem »Nein« zur Heldin der Arbeitsverweigerung aufrücken?
So hatte ich das zumindest verstanden, als ich mich mit den Klassikern der Arbeitsverweigerung eingedeckt hatte, um Argumente für das Dagegen-Sein zu sammeln. Falls doch mal einer fragte. Ich las zum Beispiel »Das Recht auf Faulheit« von Paul Lafargue, der in seiner Streitschrift aus dem 19. Jahrhundert den 3-Stunden-Arbeitstag fordert. Damals wie heute eine undenkbare Provokation.
Die Bibel aller Nichtstuer war im Jahr 2014 wieder neu aufgelegt und von dem Soziologen Stephan Lessenich mit einem neuen Vorwort in unsere Gegenwart geholt worden. Lessenich ist Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, leitet den entsprechenden Lehrstuhl an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und arbeitet selten weniger als 60 Stunden in der Woche, wie er der Süddeutschen Zeitung verraten hat. Trotzdem findet er es heute wichtiger denn je, sich das »Recht auf Faulheit zu erarbeiten«. In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung begründete er das damit, dass die Gesellschaft seit zehn bis 15 Jahren einen starken Produktivismus erlebe. Alles ziele darauf ab, die Ressourcen sämtlicher Arbeitenden möglichst umfassend abzuschöpfen und ihre Leistungen auszunutzen, so lange sie auch nur im Geringsten zum weiteren Wirtschaftswachstum beitragen können. Obwohl wir jedes Quartal mehr produzieren und unseren Wohlstand statistisch angeblich mehren, hat die soziale Ungleichheit in der vergangenen Dekade stark zugenommen. Je größer aber die soziale Ungleichheit sei, desto stärker sei auch der soziale Druck, mehr Arbeitsstunden zu leisten. Jeder schiele zum Nachbarn, der noch länger arbeite, ziehe gleich – und treibe damit die Zeitnotstandsspirale weiter an.
Ich schiele zu meinem Tischnachbarn Herr F., der gebannt auf seinen Bildschirm starrt. Das gleichmäßige geräuschvolle Klackern der Tastatur macht mich nervös. Meine Untätigkeit fühlt sich jetzt bleiern an. Arbeit ist ansteckend, denke ich. Wenn Herr F. arbeitet, kann ich meine Verweigerung gar nicht genießen. Fast lasse ich mich mitreißen vom Strom des Machens, da werfe ich eine Frage ins Dauergeklacker. »Wusstest du, dass chronische Geschäftigkeit dem Gehirn schadet?«, frage ich. Er guckt hoch, murmelt ein »Mhhhh?«. »Ein Neurowissenschaftler in St. Louis hat 2001 zufällig ein Netzwerk im Gehirn entdeckt, das nur dann aktiv wird, wenn wir nichts tun.« Der Neurologe Marcus Raichle hatte Probanden in einen Hirnscanner geschoben und wollte mit ihnen neurologische Experimente machen, wie man sie so kennt: Der Versuchsperson wird eine Aufgabe gegeben, das Gehirn erhöht seine Aktivität, und Raichle erkennt auf einem Monitor, welche Hirnregion an der Aufgabe beteiligt war. Als die Versuchspersonen ganz entspannt dalagen, vor sich hinträumten, sich ausruhten, war ein Netzwerk von Hirnregionen hochaktiv: das sogenannte Leerlauf-Netzwerk oder Default Mode Network. Interessanterweise umfasst dieses Netzwerk anatomisch betrachtet genau jene Hirnregionen, die mit dem Selbstbezug, dem persönlichen Erinnern und Ausmalen zukünftiger Ereignisse zu tun haben. Dem Tagträumen also, dieser schönen Parallelwelt der unendlichen Möglichkeiten. Es ist wie ein nie ganz geschlossenes Tor, durch das wir im entspannten Zustand in unsere Innenwelt gleiten können. Dorthin, wo die unordentlichen, die kreativen, die freien Gedanken wohnen. »Auch wenn unser Geist für intensive Aktivitäten außerordentlich gut entwickelt ist, muss unser Gehirn, um normal funktionieren zu können, auch müßig sein, und das sogar sehr häufig«, schreibt der Neuro- und Kognitionswissenschaftler Andrew Smart in seinem Buch Öfter mal auf Autopilot. Warum Nichtstun so wichtig ist.
»Und du stimulierst jetzt dein Leerlauf-Netzwerk, oder was?«, fragt Herr F.
»Ja, genau«, erkläre ich und erwarte Fragen, Kritik, Hohn, Zweifel.
Er guckt mich interessiert an, nickt langsam. »Finde ich gut«, sagt er stattdessen. »Finde ich eine richtig gute Idee.«
»Echt?«, frage ich ungläubig.
»Darum geht’s doch im Leben.«
»Ja schon. Aber findest du das nicht bedenklich, dass ich alle Aufträge und Sicherheiten über Bord werfe? Ich könnte dir irgendwann schmarotzend auf der Tasche liegen.«
»Glaub ich nicht. Das wird sicher sehr interessant. Mach das mal!«
Ich bin ein bisschen beleidigt, dass meine große Verweigerungspose so widerstandslos akzeptiert wird. Auch die Mailschreiber und Anrufer reagieren auf meine Absagen äußerst verständnisvoll. Selbst wenn ich keine anderen Arbeiten vorschiebe, sondern ganz ehrlich gestehe – ich möchte jetzt nicht arbeiten –, sagen die meisten: »Ach so, klaro, verstehe ich. Schade, na ja, ein anderes Mal vielleicht.« Selbst meine Mutter, die eine sehr tugendhafte und fleißige Frau ist, hält das Experiment Zeitwohlstand endlich mal für eine sinnvolle Beschäftigung. Beziehungsweise Nicht-Beschäftigung. Was ist da nur los? Ausgerechnet diejenigen, die am ordentlichsten arbeiten und ableisten, unterstützen mich auf der Suche nach der verlorenen Freizeit? Denken sie, ich meine es nicht ernst? Oder ist die Karriereverweigerung längst salonfähig geworden?
Etwa zur gleichen Zeit, während ich an meinem Schreibtisch Ordner schließe, öffnet sich in Berlin die digitale Pforte zum »Haus Bartleby – Zentrum für Karriereverweigerung«. Das Logo auf der Startseite sieht aus wie ein Jugendstil-Schild mit Muschel-Applikationen in jeder Ecke. Ein weißes Hermelin flitzt durch pulvrigen Schnee. Noch bevor ich draufklicke, ahne ich, dass das wohl kein Sammelbecken von Menschen mit Iros oder Dreads oder Oppositionsbart sein wird, sondern ein Salon tendenziell gut gekämmter, künstlerisch versierter Bürgerkinder. Und tatsächlich beschreibt sich das Haus Bartleby auf den Folgeseiten als »eine Akademie der eleganten Faulheit und einen Ort der Verschwörung gegen die Düsternis unserer Zeit«. Man versammle Arbeiter, Architekten, Denker, Konstrukteure, Financiers und deren Kritiker – und damit sind sowohl beim Haus Bartleby als auch bei mir immer Frauen, Männer und Transmenschen gleichermaßen gemeint –, also »junge Dummheitsverweigerer, die am Ende einer Wirtschaft forschen, wie wir sie kennen und verachten.« Den Namen Bartleby haben sie sich aus Herman Melvilles Novelle geborgt, in der der gleichnamige Held beschließt, nicht mehr mitzumachen. Verstörend höflich und konsequent wehrt der Antiheld alle Dienstherren mit der Formel ab: I would prefer not to. Ich möchte lieber nicht. Seine Berliner Erben greifen das auf und hinterfragen ein System, in dem die berufliche Karriere der wichtigste Faktor für den Marktwert eines Menschen ist. Man wolle dem Phänomen »Arbeit« auf die Spur kommen, indem man sich von ihr und ihren hässlichen Abhängigkeiten löst. »Wir meinen: Eine Zeitenwende steht ins Haus. Es könnte besser werden, wenn wir denn etwas dafür tun.« Ich bin sofort euphorisiert. Da ist sie also: meine bessere Gesellschaft, die mit größtmöglicher Geschliffenheit und ästhetischer Inszenierung zum lebenslangen Generalstreik aufruft. Die erkannt hat, dass Produktivismus dem Hirn, dessen Besitzer und der Gesellschaft insgesamt schadet – und die ihn rundweg ablehnt. Ist das der Club der Zeitmillionäre?
Ich finde auf der Seite einen Leitfaden zur Karriereverweigerung mit drei Stufen: Phase eins sei das anfängliche Unbehagen mit unserer Arbeitswelt, das An-sich-selbst-Zweifeln und die Unlust auf das »stumpfe Abgestrampel«, in Phase zwei habe man bereits einiges an systemkritischer Literatur gelesen, fühle sich dadurch in seiner Unlust bestätigt, wisse, dass irgendwas passieren müsse, was dann logischerweise in Phase drei folgt: »Sie sind krass entschlossen, haben Entscheidungen getroffen, reden offen über Ihre Haltung, sind engagiert und mutig.« Ich mache innerlich einen Haken an alle drei Etappen und suche nach einem Kontaktfenster. Aber so einfach ist das nicht. Das Haus Bartleby versteht sich als eine geschlossene Loge, in die man nicht einfach so hereinkommt.
Meine brachliegenden journalistischen Fähigkeiten aktivierend, recherchiere ich die Gründer der Loge, darunter der Dramaturg Anselm Lenz und die Journalistin Alix Faßmann. Letztere hatte 2014 eine Anleitung zur Karriereverweigerung geschrieben, ein Buch, das den Titel Arbeit ist nicht unser Leben trägt und auf meinem Nachttisch liegt. Darin beschreibt die 33-Jährige, wie sie ihren Job als Politikberaterin bei der SPD hinschmeißt, sich ein Wohnmobil kauft und auf die Suche nach echtem Leben macht – jenseits von Geld, Konsum und Karriere, diesseits von Freundschaft, Glück und Muße. Ich hab das gern gelesen, war am Ende aber etwas enttäuscht, als sie nach ihrem Ausbruch dann doch wieder in einen anderen Erwerbsjob zurückgekehrt ist. Aber, so rechtfertigt sie sich, ohne sich selbst zu opfern. Niemand verdiene ihre Liebe, der damit Geld verdiene – das totale Karriere-Ende habe sie fest im Blick. Einen Satz hatte ich mir im Buch dick unterstrichen: »Keine Angst zu haben und sich sein Leben nicht zur Job-Hölle machen zu lassen ist das Coolste und Revolutionärste, das uns heute möglich ist.«
Nun also scharen Alix und ihre Mitstreiter die coolen Revolutionäre tatsächlich um sich. Zu offenen Gesprächskreisen kommen zum Beispiel der Philosoph des Müßiggangs Guillaume Paoli (Die Glücklichen Arbeitslosen) oder der Faulheits-Verteidiger Patrick Spät (Und, was machst du so? Fröhliche Streitschrift gegen den Arbeitsfetisch). Man kann sich die Videos der Stuhlkreisrunden im Netz angucken, wenn man Zeit und Muße hat. Und wenn nicht, dann sollte man es erst recht tun.
Ich schreibe den Lobbyisten der Verweigerung eine huldigende Mail. Es ist eigentlich ein Liebesbrief, mit Knicks und Verneigung und Hermelinpelz-weichem Verehrungston. Als patente Drei ihres Stufenmodells würde ich gern in Phase vier übergehen, also nach Mitstreitern suchen, die einen neuen Wohlstandsbegriff haben – und ihn ausleben. Nicht Geld, sondern Zeit. Die Antwort kommt prompt – verbunden mit einer Einladung nach Berlin.
Wir sind im Körnerpark verabredet, einer neobarocken Grünanlage mit Orangerie, Wasserspielen und Staudenpflanzen. Eine ausladende Steintreppe führt hinab, dort wartet Anselm Lenz, Jahrgang 1980, pomadiertes Haar, ernstes Gesicht, einst Dramaturg am Hamburger Schauspielhaus, jetzt Dramaturg des Generalstreiks. Anselm hat in seinen Hamburger Jahren einen wunderschönen Sammelband mit dem Titel Das Ende der Enthaltsamkeit herausgegeben, und es wäre außerordentlich passend, zwischen den Schnörkeln des Parks und den Schnörkeln der Kapitalismuskritik einen Wein zu heben. Aber wir bleiben bei Kaffee und Zigaretten und Diskurs. Die genauen Inhalte verrate ich nicht, es ist ja schließlich ein vertrauliches Logen-Treffen, aber es fallen viele Namen toter linker Intellektueller, historischer linker Bewegungen, strapazierte linke Kampfbegriffe, vergangene Schlachten. Und es hängt die Frage über dem herrschaftlichen Platz: Was kommt jetzt? Welches Format linker Kapitalismuskritik braucht es heute? Muss sie genauso lustvoll dekadent, so freudig verschwenderisch, so anmaßend herrschaftlich daherkommen wie der Kapitalismus?
Innerhalb der Loge geht es jedenfalls ganz und gar nicht müßig zu. Als wir uns treffen, will das Haus Bartleby den Kapitalismus symbolisch verklagen. In einem Aufsehen erregenden Prozess werden die Verbrechen gegen die Menschen und die Menschlichkeit verhandelt. »Kapitalismustribunal« soll die Veranstaltung heißen. Es seien große internationale Vordenker an Bord. Darunter der Club of Rome, die Heinrich-Böll- und die Rosa-Luxemburg-Stiftung. Jeder lebende Mensch kann auf einer Internetplattform seine Klage einreichen, diese werden gesammelt, aufbereitet, 28 Fälle werden in Wien mit Anklageteams und Verteidigungsteams vor dem Tribunal verhandelt. Es werden Urteile gesprochen und Sanktionen festgelegt, aber es gibt keine Exekutive. Ich frage, ob es auch Klagen aus dem Bereich Zeit gebe. Anselm schüttelt den Kopf. »Nicht direkt. Du kannst aber gern eine formulieren und einreichen.« Es ist ein schönes Gespräch von mehreren Stunden. Wir frieren, rauchen und debattieren gleichmäßig lustvoll. Als wir uns verabschieden, geben wir uns Küsschen auf die Wangen. Ich wäre gern ein Teil ihrer Loge, denke ich danach. Mit ihnen könnte ich bestimmt Zeit als neuen Wohlstandswert in die Welt heben.