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Greta Taubert

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Beschreibung

Endlich – die Liebeserklärung an den Ostmann Der Ostmann sächselt, wählt AfD und pöbelt tumb durch Deutschlands Straßen. Dieses Bild vermitteln uns die Medien und es ist mehr als an der Zeit, damit aufzuräumen. In Anlehnung an Maxie Wanders Klassiker „Guten Morgen, du Schöne“ (1977) gibt die junge, ostdeutsche Journalistin Greta Taubert den Ostmännern von heute eine Stimme. Sie sind zwischen Mitte dreißig und Ende fünfzig, sprechen über das Mannsein, über Gleichberechtigung, über die Suche nach sich selbst und die Prägungen durch die Umbrucherfahrung. Greta Taubert ist von Osten nach Westen, von Norden nach Süden gereist und hat sich mit vielen Männern unterhalten. Ihr Buch ist eine charmante und spannende Annäherung an den zu Unrecht unterschätzten „Ossiboy“. »Greta Taubert ist eine, die zuhört und hinsieht, keine Fremde, sondern eine Verbündete, die die Gefühls- und Gedankenwelt ihrer Zeitgenossen festhalten kann. Sie gibt dem Ostmann endlich viele Gesichter. Kurz: Greta Taubert ist die langersehnte Maxie Wander der Wendejungs.« Carolin Würfel, Journalistin und Autorin

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Seitenzahl: 289

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Über Greta Taubert

Greta Taubert ist Reporterin und Autorin in Leipzig. Sie schreibt u. a. für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, das SZ Magazin, Die Zeit und die taz. Als Buchautorin veröffentlichte sie die Titel »Apokalypse Jetzt« (2014) und »Im Club der Zeitmillionäre« (2016), in denen sie unterschiedliche Gesellschaftsutopien untersucht und ausprobiert.

Informationen zum Buch

Endlich – die Liebeserklärung an den Ostmann

Der Ostmann sächselt, wählt AfD und pöbelt tumb durch Deutschlands Straßen. Dieses Bild vermitteln uns die Medien und es ist mehr als an der Zeit, damit aufzuräumen. In Anlehnung an Maxie Wanders Klassiker »Guten Morgen, du Schöne« (1977) gibt die junge, ostdeutsche Journalistin Greta Taubert den Ostmännern von heute eine Stimme. Sie sind zwischen Mitte dreißig und Ende fünfzig, sprechen über das Mannsein, über Gleichberechtigung, über die Suche nach sich selbst und die Prägungen durch die Umbrucherfahrung. Greta Taubert ist von Osten nach Westen, von Norden nach Süden gereist und hat sich mit vielen Männern unterhalten. Ihr Buch ist eine charmante und spannende Annäherung an den zu Unrecht unterschätzten »Ossiboy«.

»Greta Taubert ist eine, die zuhört und hinsieht, keine Fremde, sondern eine Verbündete, die die Gefühls- und Gedankenwelt ihrer Zeitgenossen festhalten kann. Sie gibt dem Ostmann endlich viele Gesichter. Kurz: Greta Taubert ist die langersehnte Maxie Wander der Wendejungs.« Carolin Würfel, Journalistin und Autorin

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Greta Taubert

Guten Morgen, du Schöner

Begegnungen mit ostdeutschen Männern

Inhaltsübersicht

Über Greta Taubert

Informationen zum Buch

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Vorwort

»Weil unseren Eltern ein ’68 gefehlt hat, holen wir Ostmänner das jetzt nach.« Tobias, 38, Erfurt, Puppenspieler, zwei Söhne

»Ich gebe mich in meiner Körperlichkeit völlig auf.« Marc, 33, Heidelberg, Lehrer, keine Kinder

»Aus der Norm zu springen und mein eigenes Ding zu machen war mir nie wichtig.« Mathias, 36, Halle/Saale, Polizist, zwei Töchter

»Für den Vater war ich nur der Arbeiter, der mitmachen musste.« Thomas, 44, Schmölln, Lkw-Fahrer/arbeitslos, eine Stieftochter

»Ich spürte diese angesammelte Schuld und weinte, weinte, weinte.« Tilmann, 34, Leipzig, Musiker, ein Kind

»Was schön war, war nie von Dauer.« Paul (Schorle), 40, Riesa, Kontorist, zwei Kinder

»Ich gehe dem Kampf nicht aus dem Weg – ich gehe ihm entgegen.« Heiko, 48, Uckermark, arbeitslos, vier Kinder

»Ich möchte mit meiner Frau zusammen frei sein.« Gregor, 45, Berlin, Filmproduzent, drei Kinder

»Hier ist es wie in einem Krabbeneimer: Alle hocken darin und versuchen herauszuklettern, ziehen sich dabei aber gegenseitig runter.« Andreas, 41, Tangerhütte, Bürgermeister, zwei Kinder

»Was nicht auf den ersten Blick verfängt, fasziniert länger.« Bolle, 37, Leipzig, Unternehmer, keine Kinder

»Es ist nicht so schwer, dafür zu sorgen, dass sich Menschen gut fühlen.« Sandro, 37, Watamu/Kenia, Hotelmanager, ein Kind

»Ich kann mich nicht mehr selbst verwirklichen, weil es dafür keine Grundlagen mehr gibt.« Jens, 59, Berlin, Callcenter-Berater, zwei Söhne (Vater von Andi)

»Ich möchte an etwas Gutem beteiligt sein.« Andi, 34, Berlin, Aktivist/Fotograf, ein Kind (Sohn von Jens)

»Ich hab das Wesentliche im Leben von Frauen gelernt.« Metulski, 41, Schwerin, Kfz-Mechaniker, vier Kinder

»Dass sich Dinge ändern, macht mir keine Angst.« Dirk, 44, Dölitz-Dösen, Friseur, keine Kinder

»Wer zwischen den Welten groß geworden ist, der kann leichter eine neue denken.« Micha, 34, Berlin, Aktivist, ein Kind

Zum Nach- und Weiterlesen

Dank

Impressum

Für Herrn F., ohne den alles nichts ist

»Nicht gegen die Männer können wir uns emanzipieren, sondern nur in der Auseinandersetzung mit ihnen. Geht es uns doch um die Loslösung von alten Geschlechterrollen, um die menschliche Emanzipation überhaupt.«

Maxie Wander

Vorwort

Wer ist der ostdeutsche Mann? Über diese Frage ist in den Medien weltweit viel diskutiert worden. Man sah hassverzerrte Gesichter von Wutbürgern, hörte sächselnde Wir-sind-das-Volk-Rufer auf Demonstrationen, machte sich über vermeintlich abgehängte Rentner in beigen Windjacken lustig. Zeitungen und Fernsehsender schickten erfahrene Kriegs- und Krisenreporter in die neuen Bundesländer, um einer Spezies nachzustellen, die als eine der gefährlichsten für unsere Demokratie und offene Gesellschaft gilt. Ein Bild wurde dabei seit dem Aufkommen von Pegida immer wieder wiederholt: Da steht ein blöder Mensch in blöder Landschaft und sagt einen blöden Satz in ein Mikrofon. Manchmal schubst er auch das Mikrofon weg oder sogar den Reporter. Man wolle sich von der »Lügenpresse« nicht weiter schmähen lassen, wolle sich von den »linksversifften Gutmenschen« nicht länger Denkverbote erteilen lassen. Nachdem bei der letzten Bundestagswahl jeder vierte ostdeutsche Mann die AfD gewählt hatte, fragte die Bild-Zeitung »warum Ostmänner so böse« seien. Die Berliner Zeitung heftete ihnen das Etikett »Verlierer der Einheit« an. Der Kabarettist Jan Böhmermann schrieb rings um einen entrüsteten Verfassungsschützer mit einem Anglerhut in Nationalfarben ein Lied, das den Ossi als tumben Depp zeigt. Sogar die New York Times sieht im ostdeutschen Mann eine »zerstörerische politische Kraft«.

Würde ich mir den ostdeutschen Mann ausschließlich über die Medien erschließen wollen, dann sähe ich: einen verbitterten, speckigen, sturen Man-wird-ja-wohl-noch-sagen-dürfen-Typen, der sich von allem und allen ungerecht behandelt fühlt. Einen, der den ganzen Tag mit Hassen und Demonstrieren, Flüchtlingsheime-Anzünden und Galgenbauen für Angela Merkel beschäftigt ist. Starke Bilder, die tausendfach geklickt und geteilt werden. Sie graben sich ein – nicht nur bei Menschen, die vielleicht niemals einem Sachsen oder Thüringer begegnet sind, sondern auch bei den Beschriebenen selbst, die direkt oder indirekt mitgemeint sind. Obwohl ich mitten in Leipzig wohne und viele Ausflüge in die ostdeutsche Provinz unternehme, fällt es mir zunehmend schwerer, mich gegen die Stereotypisierung zu wehren, die ich tagtäglich fast beiläufig medial aufsauge. Ich rufe meinem Freund »Bleib hier, Hase« hinterher, wie es eine Chemnitzerin ihrem Partner sagte, der einen Migranten jagen wollte. Oder ich sage mit sächsischem Dialekt wie der Hutbürger »Sie begähn einä Stroftot«, als ein Freund einen Aufkleber auf eine Laterne klebte. Aus Spaß. Natürlich. Aber wie lustig ist das eigentlich, wenn man merkt, dass das eigene Hirn keine Lust mehr auf Differenzierungen hat und es sich lieber in der vermeintlichen Eindeutigkeit des Klischees gemütlich macht? »Ma wörd ja woh noch auslachen dürfn!«

Welche Folgen diese Stereotypisierung hat, beschreibt der Journalist Daniel Schulz in der taz, der als Jugendlicher in den Neunzigern mit Rechten befreundet war, eine Zeit, in der der Ostmann zum ersten Mal als brandgefährlicher Vollpfosten auftauchte. Bis heute steht dafür ikonografisch das Bild aus Rostock-Lichtenhagen, wo Harald Ewert in vollgepullerter Jogginghose den Hitlergruß macht. »In den Zeitungen, im Radio, im Fernsehen lesen, sehen und hören wir die Botschaften: Ostdeutsche sind zu doof, sich in der neuen Welt zurechtzufinden. Ostdeutsche sind faul. Ostdeutsche sind betrunken. Erst schäme ich mich noch, dann schaue ich der geworfenen Scheiße belustigt beim Fliegen zu, und noch später bin ich stolz darauf, dass ›wir‹ härter sind als die so leicht zu schockierenden Wessis, die ihr ganzes Leben als Kausalzusammenhang erzählen können, in dem es für alles einen guten Grund und keine dunklen Flecken gibt. Es kann auf eine dämonische Art befreiend sein, wenn von dir und den Leuten um dich herum nur noch das Schlechteste erwartet wird.«

Das böse Klischee kann also auch eine gewisse Ungeniertheit, eine Scheiß-drauf-Freiheit, eine sich selbst verstärkende, selbst erfüllende Prophezeiung erzeugen.

Die sächsische Integrationsministerin Petra Köpping reiste durch Sachsen und sprach mit Dutzenden von Männern. »Integriert doch erst mal uns«, hörte sie diese häufig sagen – und nannte so auch ihre Streitschrift, in der sie ausführlich auf die Probleme mit dem und des Ossi-Mannes eingeht. Natürlich muss sich eine Politikerin der wachsenden Zahl der Enttäuschten annehmen und fragen: Was ist dein Problem? Aber es manifestiert eben auch das Bild vom Enttäuschten, der ein Problem hat.

Manchmal komme ich mir inmitten der Artikel, Podcasts, Bücher, Fernsehsendungen, Social-Media-Kommentare über die neuen Bundesländer (und darüber hinaus) vor wie in einem schwarzen Strudel der Negativität. Fast jede Äußerung – egal von welcher Seite – ist heute eine Kritik, ein Debattenbeitrag, eine Abrechnung, ein Rant, eine Polemik, eine Satire, ein Urteil. Was keine spitze These, klare Kante und dezidiertes Problem beinhaltet, wird gar nicht mehr verstanden.

Der Philosoph Thomas Bauer beschreibt in seinem Essayband Die Vereindeutigung der Welt, »dass Menschen von Natur aus mehrdeutige, unklare, vage, widersprüchliche Situationen tendenziell meiden«. Sie seien »ambiguitätsintolerant«. Jeder versuche, seine eigene Meinung immer wieder bestärkt zu sehen. Heute zu postulieren, dass es auch ostdeutsche Männer gibt, die andere, weitaus positivere Lehren aus der Transformation gezogen haben, passt nur schwer in das seit Jahren schematisierte Bild. In diesem Buch möchte ich genau das versuchen.

Hass ist krass, Liebe ist krasser

Dem sei ein Geständnis vorangestellt: Alle Männer, die ich liebe und jemals geliebt habe, sind Ostdeutsche. Opa, Vater, Bruder, Partner, Ex-Freunde. Dazu kommt ein weiter Kreis von ostdeutschen Freunden, Nachbarn, Bekannten, die ich sehr mag. Ich bin gern in Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern unterwegs und habe mich 35 Jahre lang dort bewegt. Dabei habe ich eine Beobachtung gemacht: Es gibt etwas speziell männlich Ostdeutsches, das ich sehr mag und das sich so gar nicht mit dem wüsten Unhold aus den Medienbildern vereinbaren lässt. Ich kann es nur nicht so richtig fassen. Noch nicht.

Meine Haltung ist also nicht ganz objektiv. Ich bin eine Liebende, ein Fan, eine langjährige teilnehmende Beobachterin von Ossi-Männern. Und vielleicht genau deswegen die Richtige, um die Stigmata zu übersehen. Dreißig Jahre nach dem Mauerfall werde ich mich mit ostdeutschen Männern verabreden, mit ihnen über ihr Leben und ihr Leiden sprechen, sie ohne Schablone erzählen lassen. Ich frage sie: Wer bist du, was liebst du? Was ist für dich männlich? Was bewegt dich? Was berührt dich? Und welche Rolle spielt dabei das Ostdeutschsein?

Die Tatsache, dass in der sächsischen Landtagswahl vor allem junge Männer die AfD gewählt haben, schockiert mich zutiefst. Aber ich kann und will nicht länger auf Balkendiagramme glotzen, in denen immer nur der blaue Neurechte wie ein Monolith heraussticht. Wenn in Sachsen jeder dritte junge Mann, der zur Wahl gegangen ist, die AfD angekreuzt hat, ist das dramatisch. Aber was ist eigentlich mit Mann eins und Mann zwei? Warum sagen die denn nichts? Warum sieht die niemand? Ich möchte einen eigenen Blick auf Ostmänner zeigen, der etwas bisher öffentlich nicht Beachtetes freilegt. Es ist eine Form der pragmatischen Emanzipation, eine Rollevorwärts im Gender-Diskurs, die sich zeitgleich zur Rückwärtsrolle der Neuen Rechten unter den Männern der sogenannten Dritten Generation Ost entwickelt hat.

Meine Beobachtung bisher war: Bei jenen Ostmännern, die 1989 noch Kinder waren, bedeutete die Wende eine Stunde null. Alles, was ihre Eltern und Lehrer ihnen zuvor gesagt, gezeigt, empfohlen hatten, galt nicht mehr. Ihre Väter taugten nicht als Rollenmodelle – weder um sie zu übernehmen, noch um sie zu bekämpfen. In diesem Vakuum experimentierten die jungen Wilden mit der Freiheit herum. Bei ihnen fiel der Anarchismus der Nachwendejahre mit dem Anarchismus der Jugend zusammen. Was ist auf diesem unordentlichen Feld gewachsen?

Es gab nichts, von dem sie sich abgrenzen mussten. Und auch sonst gab es oft nichts: kein Erbe, keine Netzwerke, keine Immobilien, kein Status. Da war einfach nicht mehr viel Belastbares, aber auch noch nicht viel Belastendes.

Der Journalist Christian Fuchs schrieb in einem Essay: »Die meisten jungen ostdeutschen Männer, die ich kenne, entschieden sich für die größtmögliche Freiheit. Sie wählten Selbstständigkeit statt Festanstellung. Sie wohnten in Abrisshäusern, heizten ihre Kohleöfen und suchten in ihrer Arbeit Sinn statt Positionen. Sie entschieden sich für ein Leben statt für einen Lebenslauf.«

Die Ostmänner, die ich liebe, hatten keine Lust, in den Westbetrieben karrieremäßig nach oben zu klettern. Bis heute gibt es unter den knapp 200 Vorständen von Dax-Unternehmen nur vier Ostdeutsche, drei davon sind weiblich. Und auch in anderen Chefpositionen sitzen inzwischen eher Ostfrauen als Ostmänner. Das ist bedauerlich, aber manchmal habe ich die Vermutung, dass die neuen Ostmänner auch gar keine Lust auf diesen Eiertanz um Geld, Macht und Status haben. Sie haben die Freiheit gekostet, die lassen sie sich doch jetzt nicht wieder von irgendeinem anderen System wegnehmen! Sie arbeiten Teilzeit, kümmern sich um ihre Kinder, engagieren sich ehrenamtlich, legen einen Garten an, stellen auffällig häufig den Inhalt ihrer Arbeit über das Jahresgehalt und wertschätzen selbstbewusste Frauen. Oder wie es Fuchs formuliert: »Natürlich haben wir ostdeutschen Männer ohne Festanstellungskarrieren auch mehr Zeit für unsere Kinder. Wir erwarten nicht, dass sich unsere Partnerinnen nur noch um den Nachwuchs kümmern. Während im Westen weiter die Ein-Versorger-Familie dominiert und die meisten Mütter bestenfalls dazuverdienen, wollen wir Ostmänner keine Hausfrauen an unserer Seite. Wir wollen selbstbewusste Frauen – diese Rolle kennen wir von unseren Müttern. Wir hatten keine soccer mums, die uns überallhin kutschierten, seit der ersten Klasse waren wir Schlüsselkinder. Die Selbstverständlichkeit der arbeitenden Frau in der DDR kombinieren wir mit dem gewandelten Männerbild der Emanzipationsbewegung West. Man könnte sagen, wir haben uns das Beste aus beiden Welten genommen.«

Die Söhne der Schönen

Welchen Einfluss hatten die emanzipierten, arbeitenden Mütter auf ihre Söhne? Im Jahr 1977 erschien in der DDR das Buch Guten Morgen, du Schöne von Maxie Wander. Darin erzählen 19 Frauen protokollarisch von ihrem Alltag im realexistierenden Sozialismus. Privates wird öffentlich gemacht, Verschwiegenes verbalisiert, Widersprüchliches stehen gelassen. Aus der Gesamtheit der Protokolle entsteht ein Bild von Frauen, die sich selbst und ihre Sehnsüchte und Realitäten zeigen. Diese eigentlich so konkreten Erzählungen des Alltäglichen haben nicht nur in der DDR große Wirkung entfaltet. Das Buch, später von Luchterhand auch in der BRD verlegt, gilt als eines der erfolgreichsten DDR-Bücher überhaupt, weil es auch in der westdeutschen Frauenbewegung den Kern des Revolutionären in tatsächliche Schicksale übersetzt. Bis heute wird es unter ostdeutschen Frauen wie ein Heiligtum weitergereicht, wie es beispielsweise die Publizistin Carolin Würfel in einem Text in der Zeit beschreibt: »Es gibt kein anderes Buch, das sich so in die eigene, in meine Identität eingeschrieben hat. Und das für mich und die Frauen meiner Familie zugleich über Jahrzehnte nichts von seiner Einmaligkeit und Kraft eingebüßt hat. Dabei passiert das ja eigentlich fast immer, wenn die Vergangenheit versucht, einen Platz in der Gegenwart – oder, noch schlimmer: in der Zukunft – zu finden.«

Auch auf meinem Schreibtisch liegt dieses Buch schon lange wie ein Fels, der sich von den schäumenden Wellen der Erregung über das Ostdeutschsein nicht erschüttern lässt. Die Protokolle überdauern die Ost-West-Debatten, die historischen Nostalgien oder Klitterungen der formal gleichgestellten Sozialistin und die ideologischen Verzerrungen der Erinnerung. Die Zeugnisse des Erlebens sind da und so direkt, dass man glaubt, in einen Austausch mit den Erzählenden zu treten.

»Ich habe nicht nach äußerer Dramatik gesucht oder nach persönlicher Übereinstimmung«, schreibt Maxie Wander im Vorwort des Buches. »Ich halte jedes Leben für hinreichend interessant, um anderen mitgeteilt zu werden. Repräsentativen Querschnitt habe ich nicht angestrebt. Entscheidend war für mich, ob eine Frau die Lust oder den Mut hatte, über sich zu erzählen. Mich interessiert, wie Frauen ihre Geschichte erleben, wie sie sich ihre Geschichte vorstellen. Man lernt dabei, das Einmalige und Unwiederholbare jedes Menschenlebens zu achten und die eigenen Tiefs in Beziehung zu anderen zu bringen. Künftig wird man genauer hinhören und weniger zu Klischeemeinungen und Vorurteilen neigen. Vielleicht ist dieses Buch nur entstanden, weil ich zuhören wollte.«

Wanders Ansatz ist heute aktueller denn je, wie ich finde. Und er hat mich zum Nachdenken gebracht: Damals waren es die Frauen und Mütter, die aus dem Schweigen des alles überformenden Patriarchats heraustraten. Wäre das auch mit deren Söhnen möglich? Mit jenen, die sonst nicht die Stimme erheben? Die lieber nicht auffallen wollen?

Zwischen den unterschiedlichen Lebensentwürfen der zu porträtierenden Männer gibt es eine verbindende Erfahrung: Wer 1989 bereits einen Funken Bewusstsein hatte, musste erleben, wie die alten Autoritäten von heute auf morgen erodierten. Vor allem auch: die männlichen Autoritäten. Den einstigen männlichen Vormündern wurde vom einen auf den anderen Tag alles genommen, was sie irgendwann mal zum Macker gemacht hatte oder machen würde: Status, Einfluss, Ressourcen. Alles war plötzlich weg. Ihre Fähigkeiten wurden oft nicht mehr gebraucht, ihr Stil galt als grausam, die Musik als krampfig. Dass nach dieser flächendeckenden Enteierung zunächst die Frauen umso stärker hervortraten, verwundert nicht. Was aber bedeutet das für die Söhne?

Die dritte Generation

Die Männer in meinem Buch entspringen mehrheitlich der dritten Generation, also den Wendekindern. Die erste Generation waren die Kriegskinder, die den Sozialismus aufgebaut haben. Die zweite Generation die Eltern, die in der DDR geboren, sozialisiert und ausgebildet worden sind. Die dritte Generation hat den Systemwandel zwar miterlebt, die traumatischen Erfahrungen ihrer Vorfahren aber eher unterbewusst in die eigene Biographie eingewebt.

Anders als die Initiative Dritte Generation Ost, die vor zehn Jahren gegründet wurde, um die Unsichtbaren zu vernetzen und zu organisieren, möchte ich aber keinen Bund der besten Boys des Ostens anregen, sondern eine Ergänzung, Erweiterung zu dem liefern, was die Gründerin der Initiative, Adriana Lettrari, damals so beschrieb: »Das kognitive und emotionale Wissen, dass es im Leben auch ganz anders und manchmal sehr überraschend kommen kann und dann doch weitergeht, ist bei der Dritten Generation Ostdeutschland tief verankert.«

Dass ausgerechnet halbalten Männern so viel Raum gegeben wird, um über sich selbst zu reden, ist momentan unter Zeitgeistern nicht besonders en vogue. In einer immer noch männlich dominierten Welt sollen nun endlich die Frauen zu Wort kommen. Sie sollen beschreiben, bestimmen, bewerten. Und das tun sie. Die Netzfeministin Sophie Passmann hat den Spieß in ihrem Buch Alte weiße Männer umgedreht und sich mit prominenten Alphas getroffen und sie hart konfrontiert: Kai Dieckmann, Jörg Tadeusz, Robert Habeck – alle mussten sich von ihr die gemeine, aber berechtigte Frage anhören, ob sie zu der ausgedienten, abgehalfterten Spezies gehören. Danach ist Passmann nach Hause gegangen und hat die Männer in »okay« und »nicht okay« eingeteilt. Das war äußerst unterhaltsam, aber damit wird das dahinterliegende Prinzip des Wer-hat-den-Größten ja leider nur durch Frauen fortgeführt. Denn immer war klar: Sie hat den Größten. Das kann ein genialer erzählerischer Trick sein. Aber kommt die Welt voran, wenn wir einander nur noch begegnen, um danach zu urteilen: Bist du so, wie du in meiner Welt zu sein hast?

Als ich im Oktober 2017 einen »Offenen Brief an den ostdeutschen Mann« im Stern schrieb und die AfD-Wähler darum bat, mit ihren lautsprecherischen Hassparolen nicht den Ruf meiner süßen Ossiboys zu ruinieren, tat ich das allerdings auch. Es war der am meisten diskutierte Text meiner journalistischen Laufbahn. Es meldeten sich geifernde alte ostdeutsche Trolle und die westdeutschen Schon-immer-alles-gewusst-Haber. Lange habe ich mich gefragt, was an dem doch als Liebeserklärung gedachten Brief eigentlich so provokant war. Warum regten sich die Männer so auf? Aber erst in Vorbereitung dieses Projekts fand ich heraus, dass es wohl eine Form des umgekehrten »Mansplaining« sein musste. Das Wort hat seit 2008 im Englischen und inzwischen auch im deutschen Sprachraum eine gewisse Karriere gemacht und beschreibt laut Wörterbuch: »Das, was geschieht, wenn ein Mann herablassend mit jemandem (vor allem einer Frau) über einen Themenbereich spricht, in dem er nur unvollständige Kenntnisse hat. Dabei nimmt er fälschlicherweise an, er wisse mehr über den Gegenstand als die Person, mit der er spricht.«

Als Frau Männern zu erklären, wer sie sind, ist also zugegebenermaßen eine außerordentliche Frechheit. Mansplaining bekommt dabei eine ganz neue Bedeutung – Männererklärung – und verlangt dem Protagonisten insofern ab, sich einer anderen, einer weiblichen Sichtweise anzuvertrauen. Das passiert hier allerdings nur indirekt.

Die Männer sollen sich auf meiner Reise selbst erklären dürfen – und werden dabei von mir so wenig wie möglich gebrieft, im Gespräch gelenkt und nachträglich gestaltet. Ich möchte keinen der Männer nach Originalität, Exklusivität oder Klugheit bewerten, sondern mich einfach darauf einlassen, wer sie sind oder wie sie sich selbst sehen.

Wie bei jedem Date-Marathon konsultiere ich aber zwischendurch auch Frauen und frage bei ihnen nach: Wie siehst du den ostdeutschen Mann?

Die Auserwählten

Dating im Osten ist ausgesprochen schwierig – zumindest für die Männer. Seit dreißig Jahren herrscht von Mecklenburg-Vorpommern bis nach Sachsen ein eklatanter Mangel an Frauen. Während gut ausgebildete Frauen unter dreißig wegziehen – in die Städte, in prosperierende westdeutsche Gegenden, ins Ausland, bleiben die Männer zurück. Europaweit ist keine Region so männlich dominiert wie der deutsche Osten, schreibt die Autorin Elsa Köster im Freitag. Der Exportschlager »Ostfrau« und der sitzengelassene Ostmann werden schon seit mindestens zwei Jahrzehnten soziologisch analysiert. »In Regionen mit Männerüberschuss hält die soziale Kälte Einzug«, sagt beispielsweise die Autorin einer Studie von 2017 über die Abwanderung von Frauen von der Hochschule Zittau/Görlitz. Männer, die von den erstarkten Frauen »zurückgelassen« wurden, hätten häufiger das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden. Die Kriminalitätsrate in Gebieten mit vielen Single-Haushalten steige. Es bildeten sich patriarchale und antifeministische Reflexe: deutsche Frauen für deutsche Männer.

Laut der soziologischen Schlussfolgerungen klingt das also nicht gerade nach dem schönsten Landstrich, um sich ein paar Monate lang unverbindlich durch Städte und Gemeinden treiben zu lassen und sich mit Männern zu verabreden. Es klingt, als könnte ich von einer Horde sexhungriger Blood-and-Honour-Rudel überfallen werden. Es klingt nach No-Womens-Land.

Da es ja genau darum geht, diese Stereotypisierungen zu überwinden, verabrede ich mich einfach wild drauflos. Mit Männern, die ich gar nicht, ein bisschen und gut kenne. Mit solchen, die ich mag, und solchen, die ich nicht mag. Mit Muskulösen und Kreativen, mit Armen und Reichen, mit Dagebliebenen und Fortgezogenen. Es gibt keine Regel, keinen Algorithmus, keine Vorschrift, außer: Dass der Gesprächspartner ein in Ostdeutschland geborener Mann ist.

»Weil unseren Eltern ein ’68 gefehlt hat, holen wir Ostmänner das jetzt nach.«Tobias, 38, Erfurt, Puppenspieler, zwei Söhne

Die Hitze steht flirrend zwischen den Plattenbauten, als wir uns zum ersten Mal treffen. Tobias hat Schweißtropfen auf der Stirn und ein Lächeln im Gesicht. Er ist einer der ersten Männer, die ich im echten Leben treffe, nachdem ich den Aufruf ins Internet gestellt hatte: »Ostmann gesucht!« Daraufhin waren unzählige Nachrichten eingetroffen. Manche schrieben von Flucht und Fremdsein, andere nur ihr Alter und den Geburtsort. Einer gab sich als das Taufkind von Joachim Gauck zu erkennen, ein anderer hatte ein Meerschweinchen als Profilbild und erzählte von seiner Einsamkeit. Einer schickte mir Bilder seiner Ferienwohnung an der Ostsee, ein anderer spammte mich mit Kaffeeeinladungen voll. Es war nicht einfach.

Tobias schrieb in seiner Nachricht, dass er sich viel mit seiner ostdeutschen Prägung beschäftige. Er habe eine Art »Generationenverschiebung« festgestellt. Gerade im Bereich Kindererziehung. Im Vergleich zu Menschen, die in den siebziger oder achtziger Jahren in Westdeutschland geboren seien, hätten ostdeutsch Sozialisierte einerseits vieles aufzuholen. In manchem hätten sie aber auch einen Erfahrungsvorsprung. Ich wollte wissen, was das bedeute. »Wo hast du denn deine Rose im Knopfloch?«, frage ich ihn, als wir uns zum ersten Mal gegenüberstehen. Er lacht: »Wenn wir ein Erkennungszeichen für dieses besondere Blind Date bräuchten, dann ja wohl eine rote Nelke!«

Als Puppenspieler bin ich immer mein eigener Regisseur. Ich gucke von oben auf die Puppe drauf, die ich selbst bin. Ich beobachte sie, ich steuere sie. Und so ist das manchmal auch außerhalb der Bühne. Das Stück, das ich im Leben spiele, ist natürlich noch nicht abgeschlossen, aber es gibt darin Szenen, die mich bewegen. Wenn ich darüber nachdenke, gibt es durchaus ein erstes Erlebnis, das nur ich als Ostdeutscher habe oder haben kann. Das war 1989. Ich war gerade acht Jahre alt und stand mit meiner Mutter auf dem Anger in Erfurt. Um uns herum hielten sich Menschen an den Händen, sie bildeten eine Kette und riefen etwas. Uns gegenüber standen die Volkspolizisten. Die waren alle total jung, und ich hab deren Angst gesehen vor dieser immer lauter werdenden Masse, die um ihre Freiheit kämpfte. Meinem Kinderkopf war bewusst, dass hier irgendetwas passierte. Nur was, das ist mir erst rückblickend klar geworden.

Mein Vater war zu dieser Zeit schon lange weg, im Westen. Er wollte flüchten und ist beim Fluchtversuch gefasst worden. Monatelang wusste niemand, wo er ist. Erst als die Eltern meines Vaters einen Brief bekommen haben, wussten wir, dass er im Knast sitzt. 1982 ist er freigekauft worden und nicht mehr zu uns zurückgekommen. Ich war gerade erst auf der Welt. Meine Mutter wusste davon nichts. Sie hat erst später bei der Gerichtsverhandlung davon erfahren. Sie war damals ja erst 18 Jahre alt, hatte eine Ausbildung angefangen und war total mit sich selbst beschäftigt. Sie hätte mich vermutlich weggegeben. Zum Glück hat meine Oma gesagt: »Das Kind bleibt!« Dafür bin ich ihr bis heute dankbar. Sie hat sich auch sehr fürsorglich um mich gekümmert, und ich bin zum größten Teil bei ihr aufgewachsen. Wir sind die ersten Jahre auf dem Dorf geblieben, ich erinnere das als eine schöne Zeit. Man war halt viel draußen, ist rumgestreunt und in Fuchsbaue geklettert. Als einziges Spielzeug hatte ich Holzbauklötze und diese kleinen Gummiindianer und -soldaten. Mehr gab es nicht. Wenn wir einen Konflikt hatten, haben wir uns gekloppt. Und wenn uns etwas weh getan hat, haben die Erwachsenen gesagt: »Das ist nicht so schlimm! Hab dich nicht so!« Für meine Mutter war es normal, dass sie mich als Ersten in den Kindergarten bringt und als Letzten abholt, selbst wenn ich heulend in der Tür gestanden hab. Irgendwie war alles ein bisschen rauer als heute, habe ich den Eindruck. Es gibt für unsere Generation da einen großen Nachholbedarf, gerade was Erziehung betrifft. Uns fehlt da etwas. Mir kommt das so vor, als würde ein wesentlicher Entwicklungsschritt regelrecht aus den Biographien herausgeschnitten. Ostdeutschland hatte kein ’68. Unsere Eltern haben sich nicht damit auseinandergesetzt, wie eine Erziehung ohne Bestrafung oder Druck aussieht. Das stand gar nicht zur Debatte. Die haben immer gearbeitet und die Sachen so gemacht, wie man sie halt zu machen hatte. Weil es unseren Eltern gefehlt hat, kommt das jetzt erst bei uns als Thema auf. Wir Ostmänner beginnen da von vorn. Das meine ich mit »Generationenverschiebung«.

Ich habe zwei Söhne. Der erste ist schon 18 Jahre alt und wohnt in der Nähe von Ulm. Und der Kleine ist jetzt fünf und geht in den Kindergarten. Dort gibt es immer noch so alte Osterzieherinnen. Die haben zwar eine große Herzlichkeit, aber eben auch Strenge. Es gibt noch Bestrafungsmethoden und Regeln, die überhaupt keinen Sinn machen. Zum Beispiel beim Schlafengehen. Das ist ein Muss. Nach wie vor. Selbst wenn es in der Hausordnung steht, dass es respektiert werden soll, wenn ein Kind nicht schlafen will. Aber die Erzieherinnen setzen das nicht um. Die machen das lieber so, wie sie es immer gemacht haben und für richtig halten. Das wäre bestimmt im Westerwald so nicht möglich. Da wurde der Muff von 1000 Jahren schon gelüftet von der Elterngeneration. Dort ist es Alltag und Normalität geworden, dass Kinder nicht von Autoritäten bestraft werden. Aber bei uns müssen wir das jetzt machen, wir müssen uns das selbst aneignen und verstehen, warum das nicht sein darf. Ich denke ganz viel darüber nach: Woher kommt dieses Bestrafen überhaupt? Wieso machen Menschen das?

Als ich meinen ersten Sohn bekommen habe, war ich auch sehr jung, 20 Jahre erst, und mitten im Studium. Und für mich war von Anfang an klar, dass ich es anders machen wollte als meine Eltern. Ich wollte möglichst viel für das Kind da sein und so viel wie möglich über die Bedürfnisse des Kindes lernen. Ich war da sehr neugierig, was das überhaupt bedeutet: Bedürfnisorientierung. Ich möchte dabei sein, wie mein Kind Sachen erlebt. Viel lieber noch, als mit ihm etwas zu erleben. Das finde ich total spannend zu verfolgen, wie er eigene Lösungen für Probleme findet. Das ändert sich ja auch ständig: Gerade spielen wir viele Karten- und Brettspiele. Noch vor einem halben Jahr war es kein Problem für ihn, wenn er verloren hat. Dann hat er sich noch mitgefreut, wenn man gewonnen hat. Und jetzt plötzlich ist das ein Riesenproblem. Dann bockt er. Da muss man doch nicht mit Drohung oder so was reagieren, sondern sich damit auseinandersetzen: Was geht in dem Kind gerade vor? Was will es wirklich? Ich merke das auch in meinem Beruf ständig, wenn ich vor Kindern spiele. Die sind dann wirklich voll da, ganz unmittelbar und pur. Da kommt man an ungefilterte Emotionen ran. Das ist so aufregend, sich damit auseinanderzusetzen, wie man damit umgeht, wenn sie sich weh tun oder etwas nicht gut finden. Ich will das ganz anders machen, als ich es in meiner Kindheit gehört habe. Da hat man immer gesagt: »Das ist nicht so schlimm!« Aber es war vielleicht schlimm, für mich. Aber eben nicht der Ball am Kopf, sondern etwas anderes, das schmerzt.

Ich finde das schwierig, dass in unserer Gesellschaft immer alles einen Begriff braucht. Das ist antiautoritär, das sind Helikopter-Eltern. Es gibt doch so viele Aspekte, die zum Zusammenleben dazugehören. Das lässt sich nicht auf ein Prinzip festlegen. Das ist wie bei einem guten Gericht. Da gehören viele Zutaten und Gewürze rein, und man schmeckt immer mal wieder ab, ob es so passt. Ich möchte da flexibel und offen bleiben und mich nicht unter die feste Hülle eines Begriffes begeben.

Die Entscheidungen für das Kind teilen wir uns als Eltern fifty-fifty auf. Aber ganz ehrlich: Das setzt immer einen langen Kommunikationsprozess voraus. Meine Partnerin kommt ursprünglich aus Münster, und da gibt es Themen, die schwierig sind. Zum Beispiel Impfen. Ich persönlich habe kein Problem damit. Wir wurden damals ja alle durchgeimpft. Aber ich verstehe, dass es problematisch sein kann, wenn man nur noch Fünffach- oder Siebenfach-Impfungen bekommt und keine Wahlfreiheit mehr haben soll. Das wird einem dann so komplett aus der Hand genommen. Meine Partnerin ist aber total gegen das Impfen, weil sie Angst vor Impfschäden hat. Ich sage dann: Wenn viele so denken, treten die Masern wieder auf, und dann haben wir alle ein Problem. Das ist eine wirklich schwere Krankheit. Das ist ein Punkt, an dem sich die Ost- und Westsozialisation deutlich reibt. Es geht beim Impfen nicht nur um das eigene Wohl, sondern um das einer ganzen Gruppe. Aber wie soll ich ihr das erklären? Unser Sohn lag nach der Geburt drei Wochen auf der Intensivstation in der Uni-Klinik und wurde nach dem Gießkannenprinzip mit Medikamenten vollgepumpt. Da hat sie viel Vertrauen in die Schulmedizin verloren. Und auch der Kleine hat panische Angst vor Ärzten. Im Moment hat er nur eine Masernimpfung, aber er braucht ja möglichst bald danach die zweite. Das bedeutet: Entweder er ist nicht geschützt oder er wird am Ende zwei Mal geimpft.

Für uns beide ist es aber eine Selbstverständlichkeit, dass wir uns gleichberechtigt um das Kind kümmern. Das ist ja mittlerweile auch gesellschaftlich so gesetzt, oder? Da bin ich ganz froh über meinen Job. Wenn ich morgens eine Vorstellung habe, setze ich mich danach wieder in den Zug und bin mit Glück um eins zu Hause. Dann kann ich das Kind um zwei aus dem Kindergarten holen – und das ist das Allerwichtigste. Das ist das Kernthema des Vaterdaseins: für das Kind da sein und nicht weg.

Was eine Vaterfigur sein kann, ist für mich ein großes Thema. Ich bin ja quasi ohne Vater aufgewachsen. Zuerst mit meiner Oma, später hat mich meine Mutter mit nach Erfurt genommen. Da hat sie als OP-Hilfe im Krankenhaus gearbeitet, und wir sind ins Schwesternheim gezogen. Das erinnere ich als eine sehr schöne Zeit, weil wir da wie in einer WG mit anderen zusammengewohnt haben. Da bin ich dann mit meiner Mutter als Team zusammengewachsen. Einmal hatte sie einen Freund. Mit dem sind wir zu Weihnachten aufs Dorf zu meiner Großmutter gefahren. Wir saßen alle zusammen im Auto, draußen war es so richtig kalt und eisig. Meine Mutter und der Typ hatten Streit. Plötzlich blieb er mitten im Nirgendwo stehen, machte die Tür auf und schmiss uns raus. Wir mussten über die Felder zurücklaufen. Da hat mich meine Mutter an der Hand genommen und gesagt: Der tut uns nicht gut, den sehen wir nie wieder. Von da an waren wir so richtig fest verschweißt. Das war großartig.

Um die Wendezeit hat meine Mutter meinen jetzigen Stiefvater kennengelernt und noch mal mit ihm ein Kind bekommen. Das war schwierig. Die Klinik wurde zu dieser Zeit dann auch abgewickelt, und wir mussten aus dem Schwesternheim raus. Das Bauamt hat gesagt: »Nach den neuen Vorschriften dürfen sie hier gar nicht mehr wohnen. Der Balkon fällt ja fast ab.« Und von da an ging es bergab. Da fiel nicht nur der Balkon, sondern auch alles andere in sich zusammen.

Die DDR trat der BRD bei, meine Mutter trat der Partnerschaft mit dem neuen Mann bei. Und meine Welt war weg. Wie heißt es so schön: Die Verträge waren gemacht. Da waren neue Wirklichkeiten, die für einen Neunjährigen nicht so leicht zu akzeptieren waren. Mit 16 bin ich dann ausgezogen, weil es wirklich gekriselt hat. Ich habe eine Wohnung gesucht, und ich weiß noch, dass ich unbedingt in etwas Altes ziehen wollte. Aber nicht etwa, um Geld zu sparen. Ich habe etwas gesucht, das ich von früher kannte. Etwas, das mir weggerissen wurde und das ich vermisst habe. Etwas, wo der Balkon wackelt. Ich bin zur kommunalen Wohnungsbaugenossenschaft in Erfurt gegangen und hab gesagt: Ich möchte in der Innenstadt in etwas Unsaniertem wohnen. Die Mitarbeiterin hat schon ganz mitleidsvoll gelächelt, aber trotzdem in ihrem Computer nachgeguckt. »Die Besichtigung wäre aber nur mit Bauhelm möglich«, hat sie mir gesagt. Und da habe ich mich wahnsinnig drüber gefreut, weil ich diesen Drang danach hatte, etwas Unfertiges zu haben. Ich wollte selbst gestalten. Es war ein altes Haus aus dem 17. Jahrhundert, das in den Achtzigern zuletzt saniert worden war. Das Bad von oben drüber war durchgekracht, und die Wohnungsbaugenossenschaft hat tatsächlich noch mal zehntausend Mark investiert, um das einigermaßen bewohnbar zu machen. Wir haben dann da zu fünft für 500 Mark auf 140 Quadratmetern gelebt.

Auch heute merke ich das noch, dass ich immer überlege: Kannst du aus diesem oder jenem noch etwas machen? Ich habe eine unheimliche Abneigung gegen alles Fertige. Das ging ja im Osten auch ziemlich schnell, dass alles so schnell und billig zu Tode saniert wurde. Und dass hier alle auf diesen Zug aufgesprungen sind, nachdem immer alles billig und bequem zu sein hat. Nicht nur beim Bauen. Als ich noch auf dem Dorf gewohnt hab, da wurde noch selbst geschlachtet. Wir haben unser eigenes Gemüse angebaut und die eingeweckten Sachen im Keller gelagert. Im Herbst haben wir die Äpfel weggebracht, um Most daraus zu machen. Und dann kam die Wende und der erste Aldi, und ich habe mich gewundert: Warum ist die Wurst in Plastik eingewickelt? Man kann doch einfach zum Fleischer gehen und sie sich in Scheiben ins Papier legen lassen. Das soll jetzt nicht ostalgisch oder retrofanatisch klingen. Ich meine nur, dass ich diese selbstgemachten und unfertigen Sachen tatsächlich vermisse. Im Alltag, ganz konkret.