Im Glanz der Abendsonne - Erwin Neustädter - E-Book

Im Glanz der Abendsonne E-Book

Erwin Neustädter

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Beschreibung

Im Glanz der Abendsonne erscheint manches anders als im grellen Licht des Tages; sie mildert die Kontraste, fasst zusammen, was getrennt schien; dies und das, was übersehen wurde, blinkt in den schrägen Strahlen, die schon zum Untergang sich neigen, auf und erhält einen Schimmer, wo man bloß Alltagsgrau erblickt oder vermutet hatte. Sinnestäuschung? Selbstbetrug? Oder bloß andere Sicht des Alters? Wer vermag das zu entscheiden?...

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“Erst im Alter erfahren wir, was uns in der Jugend begegnet.”

J.W. von Goethe1

1Aus: “Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter in den Jahren 1796 – 1832” (Anm. des Herausgebers)

Inhalt

Vorwort

Mein Eintritt in diese Welt

Treni und die Tiere

Nachbarn

Übersiedlung

Expeditionen

Kornzeile Nr. 7, Apotheke

Der Maulbeerbaum

Nikolo und Entzauberung

Die Zigeuner

Peperl und Schwarz-Gelb

Schulbeginn

Lungenentzündung

„Tantchen“

Die Schwalben

Nachhilfe und „Hätsel“

Jiu-Jitsu, das Mädchen und Sport

„Bilanz“

Papiersoldaten und Krieg 1870/71

Zweierlei Wahrheit?

Spiele

Das Rauchen

Wehrbauten und Jugendkämpfe

Das „Gespreng“ und seine Geschichte

Mit „Krippes“ zum Salomonsfelsen

Das Hockergrab und die „Heldenburg“

Nackte Tatsachen

Sensationen

„Buffalo Bill“ und seine Nachwirkungen

Englisch bei Miss Gray

Herbstjahrmarkt

Großvater Franz (Sindel)

Großvater Friedrich (Neustädter)

Zwei Welten: Pfarrhaus und Burggasse

Fritz Onkel

Hermann Onkel

Lenchen Tant und Sepp Onkel

Die lieben Nächsten (Chamäleon oder Igel?)

Fredi

Huhn und Has und Osterfestprobleme

Von Träumen und Wahrsagereien

Der Tod: Was ist das?

Besuch bei Comes Walbaum 1915

Honterusfest

Erwin Neustädter, Kurzbiografie

Nachwort des Herausgebers

Vorgehensweise bei der Herausgabe

Angaben zu Fotos und Skizzen

Vorwort

Ich weiß es wahrhaftig nicht, wie oft ich mich schon genötigt sah, den Zickzackkurs meines Lebenslaufs nachzuzeichnen. Jawohl, "genötigt", und zwar von außen her, nicht etwa dem eignen Triebe folgend! Ja, denn es gab da im Lauf der Zeit allerlei Umstände, Institutionen, Behörden, die sich, aus sehr verschiedenen Gründen, dafür interessierten und daraus – wie etwa der Arzt aus dem Urin oder Blut – ersehen wollten, ob oder inwieweit ich beruflich, politisch, moralisch, je nachdem, für dieses oder jenes Pöstchen genügend unbescholten und geeignet sei. Kurz: Ich musste um ganz bestimmter Zwecke willen mal dies, mal jenes aus dem Kunterbunt meines Curriculums ins rechte Licht oder unter den linken Scheffel, d.h. in eine zweckbestimmte Perspektive stellen.

E.N. im April 1952

Dass dies nicht immer einfach war, brauch ich wohl nicht besonders zu beteuern, zumal dem gegenüber nicht, der einigermaßen Bescheid weiß darüber, was sich, etwa seit der Jahrhundertwende, im Wetterwinkel Siebenbürgen abgespielt hat. Einem der nicht Bescheid weiß, dies klarmachen zu wollen, würde ein ganzes Buch erfordern, und wer weiß, ob mich der Leser, wenn er es brav durchgeackert, nicht für einen Münchhausen hielte! Wenn ich ihm auch nicht zugemutet hätte, an einen Ritt auf der Kanonenkugel aus einem Lager in das andere, und zwar das des Feindes, zu glauben, so doch daran, dass es möglich war, gleichsam über Nacht, Heer und Front und Staatsform zu wechseln, und zwar sozusagen "legal", oder aber es hinzunehmen, dass man am Abend in einem Königreich zu Bette gehen, am nächsten Morgen aber, ohne sich vom Fleck gerührt zu haben, in einem "Hammer und Sichel"-Staat aufwachen konnte. Dabei konnte es geschehen, dass die, meist mehr nolens als volens, davon Betroffenen von der einen Macht für etwas belobt oder gar ausgezeichnet wurden, was die nächste als ärgsten Frevel verdammte und bestrafte – oder umgekehrt, was hin und wieder auch geschah. Dann aber meist posthum!

Ist es zu verwundern, dass mir bei dieser höchst unfreiwilligen Quadrille mit wiederholtem Partner- und Perspektivenwechsel (wobei der "Große Unbekannte" die Kommandos gab!) allmählich schwummerig wurde und ich den Wunsch verspürte, endlich mal so etwas wie festen Grund unter die Füße zu kriegen, d.h. zunächst mal mir selbst klar zu werden, ob in all dem Hin und Her und auf Auf und Ab sich so etwas wie eine Grundrichtung oder ein Sinn entdecken lasse?

Dies war das eine Motiv, das andere: herauszufinden, welches die Mächte waren, die mich formten zu dem, der ich eben geworden bin, und welches die Hauptabschnitte und Wendepunkte waren in diesem metamorphosenreichen Entwicklungsgang, – wobei es mir weniger auf Vollständigkeit und genaue zeitliche Abfolge, als vielmehr aufs Herausarbeiten des Wesentlichen ankam.

Den ersten dieser Versuche wagte ich schon 1955, als ich nach Internierung in den Lagern Târgu-Jiu, Turnu-Măgurele und Slobozia und Evakuierung aus Wohnung und Vaterstadt, sowie Verlust meiner gesamten Habe und Anstellung wähnte, das Schlimmste überstanden zu haben und so etwas wie ein neues Leben beginnen zu können. Nun, wenn ich auch die wichtigsten Abschnitte als Wendepunkte des Vergangenen im Wesentlichen schon damals richtig erkannte und aufzeigte, so kam doch das menschlich Belangvolle, die innere Entwicklung, die Einwirkung der Umwelt zu kurz. Es war das Ganze eigentlich mehr ein Entwurf, ein Rahmen, der noch der Auffüllung bedurfte. Ich hatte ihn "Rückschau und Rechenschaft" betitelt, – vermutlich mehr von der Alliteration als von einem inneren Muss verführt, denn heut wüsst' ich wirklich nicht mehr anzugeben, was ich mit der "Rechenschaft" eigentlich meinte; wem sollte ich denn solche schulden? Es sei denn meinem ominösen "bessern Ich"? Ob der von dem "anderen Ich" begangenen Torheiten?!

Das getippte Manuskript von 1960 ist nichts weiter als eine Auffüllung des Rahmens, in dem ich den Umwelteinflüssen darin mehr Raum gab.

Die Handschrift von 1961 hingegen verdankt ihre Entstehung anderen Gründen und vor allem dem Gefühl des inneren Abschiednehmenmüssens von der Heimat und allem Gewohnten und des Auskunftgebensollens über all das, was bis zu diesem Punkt geführt hatte. Es schien sich nämlich die Möglichkeit einer Umsiedlung in die BRD anzudeuten, und zwar im Zusammenhang mit der sogenannten "Familien-Zusammenführung". Dass diese bloß für meine Frau zutraf, wog damals für mich nicht zu schwer, schien sie doch geradezu der Rettungsring, um dem allmählich unerträglich werdenden Sog geistigen und materiellen Absinkens zu entrinnen. Auf Grund falscher Informationen in völliger Unkenntnis der tatsächlichen Lage der Dinge in der BRD, und zwar sowohl in puncto meiner materiellen Aussichten (Pension, Haftvergütung, Lastenausgleich usw.) als auch jener als Schriftsteller, konnte ich Hoffnungen hegen, lange zurückgestaute Pläne endlich verwirklichen und nicht nur ein gesichertes, sondern auch erfülltes Leben in der "freien Welt", zusammen mit meiner Frau, leben zu können. Ich wähnte, noch eine Aufgabe zu haben, noch etwas sagen zu können und zu sollen.

All dies ließ mir das Endgültige der Entwurzelung nicht so recht ins Bewusstsein dringen, erleichterte mir das Abschiednehmenmüssen von der Welt des Einst. Aber beim Wandern durch die alten Gassen, beim Betrachten all der Stätten frühen Erlebens und der Grabsteine so vieler Menschen, mit denen ich einst eng verbunden gewesen, begann eben diese Welt des Einst immer mehr an Macht zu gewinnen, das Wichtignehmen des eigenen kleinen Ich zurückzudrängen, zu überwuchern, d.h. es wurde allmählich vom Subjekt zum Objekt und fast zur Funktion jener Welt. Einem Keimling gleich, der noch des Ausreifens bedurfte, senkte sich mir die Frage ein: Wie hat die Eigenart und Formkraft dieser Umwelt sich auf die eigengesetzliche Art meines Ich ausgewirkt? Welches waren die prägenden Kräfte?

Anscheinend aber hatte ich, nach Meinung "höherer Instanzen", noch nicht genügend Material oder Erfahrung zur Verfügung. Mit meiner Verhaftung, dem Prozess und Gefängnis, dem Elend nachher und schließlich mit all dem Drum und Dran der Übersiedlung sollte es mir offenbar geliefert werden. Ich musste also nochmal auf des Lebens Schulbank, um endlich "reif" (lies: mürbe!) und "versetzt" zu werden.

Fünfzehn Jahre sind seither vergangen, seitdem zwei Kommissare mich der Mühe enthoben, mir weiter den Kopf darüber zu zerbrechen, wie viele verschiedene Wahrheiten es eigentlich gebe. In der Zelle lernte ich noch einige kennen. Klar, dass es heute, nach 15 solchen Jahren, nicht möglich ist, einfach dort, wo ich damals abbrechen musste, fortzufahren, und ebensowenig in der Art, wie damals. Ich bin ein anderer geworden und mit mir meine Schau.

Wenn ich meine früheren Versuche, einen Leitfaden und Sinn in meinem Leben zu entdecken, durchlese, so kann ich nur den Kopf schütteln und lächeln. Ein Leben analysieren und gar schematisieren wollen? Du lieber Himmel! Ich fürchte, das führt immer nur zu Konstruktionen, denn es ist ganz unmöglich, all das, was auf einen Menschen einwirkt, diese Vielfalt von Umwelt, Menschen, Ereignissen, als Einflussfaktoren überhaupt bewusst wahrzunehmen, sodann zu entwirren und schließlich hinsichtlich der Rolle, die ihnen zukommt, richtig einzuschätzen. Ein Leben ist kein lösbares Rechenexempel, da zu viele "Unbekannte" mitbestimmen.

Dazu kommt noch, dass die, wenn auch ehrlich angestrebte Objektivität, besonders sich selbst gegenüber, meist auf Selbsttäuschung beruht.

Wenn die Jahre einem auch viel nehmen, so geben sie zuweilen doch auch einiges, z.B. statt Aussichten Einsichten. Man darf bloß nicht, wie gebannt, immer nur dem Entschwinden nachstarren, sondern muss sich umschauen, ob nicht vielleicht irgendwo was Anderes, Neues quasi als Ausgleich auftaucht.

So beschloss ich also die Verlagerung des Schwergewichts oder die Verschiebung der Schau von mir auf die Umwelt, und der Verzicht auf vermeintliche "Objektivität" gewann nun die Oberhand und verwandelte sich zum Entschluß: Die Welt von anno dazumal, d.h. die von der Jahrhundertwende bis zum ersten Weltkrieg, gesehen und erlebt durch mich, den ganz bestimmten und einmaligen E.N., so gut ich das eben vermochte aus meiner Sicht, also subjektiv, darzustellen. Dennoch nicht "Dichtung", sondern "Wahrheit".

War das aber nicht etwas vermessen? Wer war denn ich, dass ich mich dessen unterfing, selbst wenn es sich dabei bloß um den winzigen, abseitigen Erdenwinkel Kronstadt in Siebenbürgen und einige Dörfer drum herum handelte? Und überdies: Wen mochte es schon interessieren, wie dieser – außer einigen Landsleuten seiner Generation – kaum bekannte E.N. seine Umwelt von damals und dort sah? Was qualifizierte ihn dazu, sich an so etwas zu wagen?

Nun, ganz gewiss nicht dies, dass er sich als etwas Besonderes und in irgendeiner Weise "Berufenen" einschätzte, sondern im Gegenteil dass er, je weiter er sich in jene Zeit und Umgebung zurücktastete, umso mehr merken musste, wie sehr er Glied einer Gemeinschaft und "Durchschnitt" war, selbst dort und dann, wenn er Einzelgänger zu sein schien.

Gerade durch ihre Durchschnittlichkeit scheinen mir die Erlebnisse meiner Kindheit und Jugend geeignet, für Viele zu stehen und das erkennen zu lassen, was sie vom heutigen Durchschnitt unterscheidet. Da somit Vieles, was ich erlebte und wie, auch für viele andere gilt, birgt sich darin vielleicht eine gewisse Rechtfertigung, mich überhaupt daran zu wagen.

Obgleich es somit vor allem um das geht, was dieser ganz bestimmte E.N. mit x anderen gemein hatte, so wird, da er nun mal aus seiner Haut nicht heraus kann, doch noch genug, vielleicht sogar zu viel des Besonderen und Persönlichen drin bleiben. Er ist halt kein Computer, der die Daten, die ihm das Leben eingetrichtert hat, unbeteiligt wieder ausspuckt. Nein, wahrhaftig nicht, ganz abgesehen davon, dass es einem solchen nicht gegeben ist, seine "Schau" und Aussage zu ändern, auch unter dem Druck der Jahre nicht.

Just das aber ist, ich erwähnte es schon, mir widerfahren.

Ich bin auf meiner Wanderschaft an einem Punkt angelangt, wo es nur noch abwärts geht, steil abwärts und wo der Blick sich nochmal zurück wendet. Ja, der Tag neigt sich, die Zeit wird knapp! Wenn ich noch etwas ein- und fertigbringen will, muss ich mich zusammenraffen oder von Stein zu Stein springen, im Grenzbach, um ans andere Ufer zu gelangen. All dies zusammen bestimmt, was ich noch zu sagen habe und wie.

Mein Eintritt in diese Welt

Im Glanz der Abendsonne erscheint manches anders als im grellen Licht des Tages; sie mildert die Kontraste, fasst zusammen, was getrennt schien; dies und das, was übersehen wurde, blinkt in den schrägen Strahlen, die schon zum Untergang sich neigen, auf und erhält einen Schimmer, wo man bloß Alltagsgrau erblickt oder vermutet hatte. Sinnestäuschung? Selbstbetrug? Oder bloß andere Sicht des Alters? Wer vermag das zu entscheiden?

Mein Eintritt in diese Welt entbehrt nicht einer gewissen sinnbildhaften Bedeutsamkeit. Er erfolgte nämlich – in schöner Übereinstimmung mit dem Namen des Wochentags – unter solch düsterem Gewölk, Blitz und Donner, dass nicht einmal die Mittagssonne eines Julitages und das Mittagsläuten durchdrang, und unter solchen Fluten des Wolkenbruchs, dass der Hebamme und Großmutter Eintreffen bedenklich verzögert wurde. So blieb nicht anderes übrig, als dass mein Vater vorerst das Nötigste tun musste. Er war glücklicherweise zur Hand, da wir im Stock über der Apotheke, seinem Bereich, wohnten, und er bloß abzusperren und zur Wohnung hinaufzusteigen hatte. Wer sollte schon bei solchem Wetter, und obendrein um Ernte- und Mittagszeit in einer Dorfapotheke etwas zu bestellen haben? Nun, im Endergebnis ging alles gut, zumal ich, gemäß dem Kalender der Natur, durchaus termingerecht, bloß hinsichtlich der augenblicklichen Umstände etwas unzeitig eingetroffen war.

Nun, wenn dergestalt Natur selbst der Natur entgegenwirkt, ist's offenbar nicht gerade leicht, ihren eigentlichen Willen zu enträtseln, somit "dem Gesetz zu folgen, nach dem man angetreten". Dies aber zu ergründen sollte, wie sich im Lauf der Jahre herausstellte, zu einem Leitmotiv meines Lebens werden, – mal mehr, mal weniger deutlich vernehmbar.

Als das Gewitter sacht vergrollte und erste Sonnenstrahlen das abziehende Gewölk durchblitzten, hatten wir's geschafft und ich "das Licht dieser Welt" erblickt, etwa gegen 14 Uhr des 1. Juli 1897, also mit der großen Zehe noch im 19.

Jahrhundert, mit der Nase fast schon im 20. Hätte ich geahnt, was Astrologen etwa 40 Jahre später aus meinem Horoskop meinten herauslesen zu können, – wer weiß, ob ich nicht dankend darauf verzichtet hätte, die Nase in diese Welt zu stecken. So aber gab's nach dieser Turbulenz, als alles gut vorüber war, ein großes Aufatmen im Apothekerhaus zu Tartlau, – war ich doch das erste Kind der jungen Ehe. Dass ich auch das einzige bleiben und ein Sorgenkind werden würde, das war damals noch nicht abzusehen.

Wie ich so in meinen frühesten Kindheitserinnerungen krame, kommt's mich an, dass die ein recht wunderliches Kaleidoskop ergeben. Was mag es wohl gewesen sein, dass gerade diese, voneinander in jeder Hinsicht so grundverschiedenen Begebenheiten in meinem Gedächtnis haften ließ? Im Gedächtnis eines knapp Dreijährigen, wohlgemerkt, da wir bereits 1900 nach Kronstadt übersiedelten, wo Vater die "Schutzengel"-Apotheke auf der Kornzeile gekauft hatte; die in Tartlau hatte er nur als Pächter geführt, nun wollte er unabhängig und – im Hinblick auf meine Zukunft – näher an guten Schulen sein. Was also mit dem Apothekerhaus am Tartlauer Marktplatz, dem ehemaligen Gemeindewirtshaus gegenüber, zusammenhängt, muss ich vor der Vollendung meines dritten Lebensjahres erlebt haben.

Da war also zunächst ein – für meine Begriffe – riesengroßes, helles Zimmer, dessen zwei Fenster Ausblick in eine Weite und Welt boten, mit der ich vorerst noch nichts anzufangen wusste; es war die des Marktplatzes bis zum Kirchenkastell und den Schulen hin. Ein drittes, schmales, von wildem Wein umranktes Fenster, in dem es immer von Spatzen schilpte, ging rechts gegen das Gassentürchen, unsern Hof und den Schmiednachbar hinaus. Mein Lieblingsplatz scheint jedoch zunächst unter dem Tisch gewesen zu sein, einem massiven Ungetüm, dessen Beine diagonal durch Stege verbunden waren, an deren Kreuzung eine Holzkugel eingezapft, die mir, da sie recht locker saß, alsbald als Spielball diente. Dort saß ich wie in einem Häuschen, stand niemand im Wege und fühlte mich sicher, sodass ich auch später noch, als ich schon längst auf allen Vieren überall umher wieselte, mich dorthin zurückzog, wenn Besuche kamen, die ich nicht kannte oder mochte.

Zwei Ereignisse aus jener ganz frühen Zeit haben sich mir besonders eingeprägt und beide Male wurde ich von Mutter auf das Fensterbrett gestellt, um von dort aus, sicher in ihre Arme geschmiegt, sehen zu können, was sich draußen begab.

Das Eine war ein wohllautendes Tönen, das, obgleich es mich unsagbar anzog, mir doch zugleich Tränen entlockte durch den seltsamen Zwiespalt von Lust und Schmerz. Natürlich wollte ich wissen, wo das herkam, und was ich dann zu sehen bekam, war erst recht dazu angetan, mich aufzuregen. Quer über den riesigen Platz kam von der Kirche her ein dunkler Zug gekrochen, Männer, Frauen, anders gekleidet als sonst, und vorne, wie ein dicker Kopf, ein Haufen, der seltsame, blinkende Dinge trug. Diesen, so schien's, entquoll das wunderbare Tönen, erregend zugleich durch ein dumpfes Gleichmaß von Bumm! Bumm! – wie Herzschlagpochen. Ich wusste nichts von Tod und Leichenzug, aber der Trauermarsch hatte es in sich! Er vermochte, das Leid der Welt mich derart erfühlen zu lassen, dass ich losheulte, fortgebracht werden musste und lange nicht zu trösten war.

Das andere Mal war's Nacht, als gelles Tönen, Klirren, Brüllen mich aus dem Schlaf schreckte, meine Mutter mich auf den Arm nahm und ans Fenster des Schlafzimmers trug, das gegen den Hof des Nachbars zur Linken, des Bäckers Kurmes, ging. Dort schlugen Flammen aus dem Dach, das nur noch ein glühendes Gitterwerk von Balken und Latten war, aus dem ganze Schwärme goldener Funken gegen den Nachthimmel stoben, wenn prasselnd ein Balken zusammenbrach, und Wolken graulichen Dampfes, wenn ein Guss Wassers aus Eimer oder Schlauch hineinzischte. Dazu das Schreien der Menschen, das Brüllen, Wiehern, Quieken der Tiere, die aus den Ställen gezerrt wurden, das Hin und Her schattenhafter Gestalten – oh, war das schön! Wild! Aufregend! Ganz anders, als das mit der Musik! Aber dann war auf einmal Vater da in der Schlafstube, schwarz im Gesicht, dass ich mich erschreckte, und sein Hemd war zerrissen und angesengt, und er ließ sich schwer keuchend auf einen Stuhl fallen. Mutter stellte mich schnell ins Bettchen, kniete vor Vater hin, zog ihm einen Schuh aus, schlug die Hände zusammen, sprang auf und holte Wasser und weiße Binden, und das Wasser in der Schüssel und die Binden um den Fuß wurden rot, denn Vater hatte sich einen glühenden Nagel in den Fuß getreten. Und von draußen zuckte der Feuerschein durchs Fenster, in der Stube aber das Kerzenflämmchen, und riesige Schatten tanzten an den Wänden auf und nieder, und auf einmal war alles nicht mehr schön, sondern schrecklich, besonders als ich sah und hörte, wie weh Vater der Fuß tat, sodass ich für ihn weinen musste.

Dass all dies stimmte, bestätigten mir die Eltern, als ich einmal einen Aufsatz über Kindheitserinnerungen schreiben musste.

Dann: schneebleiche, frostige Winternacht. Ich werde, bis zur Nasenspitze dick eingemummt, auf einen sog. "Schweineschlitten" gepackt (ein niederes, breites Schlittengestell, dessen Kufen durch Latten verbunden sind, und das in diesem Fall sogar eine Lehne aufweist), und fort geht's, von Vater gezogen, durch leise knirschenden Schnee über die Weite des nachtstillen Platzes bis zu dessen jenseitigem Ende, wo die Großeltern wohnen, der Kirche gegenüber im Pfarrhaus.

Dort werde ich ausgepackt und durch mehrere herrlich nach Backwerk und Tannen duftende Stuben geführt, bis wir vor einer verschlossenen Tür haltmachen, um die sich Alfred und Erich, meine Onkels, sowie Hilde, meine Tante, alle damals noch im Schüleralter, in Paradeadjustierung, geschniegelt und gebügelt, merkwürdig steif und erwartungsvoll herumdrücken, kurz, sich ganz anders betragen, als ich's von ihnen gewohnt bin. Dazu noch das geheimnisvolle Getue der "Großen", Getuschel, Geraschel, Gerede von einem "Christkind", von dem ich nichts begreife – dann auf einmal ein silbriges Gebimmel hinter der Tür, die lautlos aufgeht – und dahinter etwas Riesengroßes, Glitzerndes, Leuchtendes, bis an die Ecke Hinaufreichendes ... Mutter schiebt mich durch die Tür zwischen Alfred und Erich und damit näher an dies unheimlich blendende, knisternde Ding heran, neben dem auf einmal ein kugelrundes schwarzes Männchen steht, mit dem einen Arm sich etwas unter das Kinn schiebt, mit dem anderen ein Stöckchen drüber hin streicht, worauf es zu tönen beginnt, ganz zart und heimelig, und dann singt es auch neben und hinter mir, alle Großen singen und starren in das Glitzern... Da plötzlich Alfreds ausgestreckter Arm neben mir und seine aufgeregte Stimme: "O – die Schlittenhunde dort!" und aus der Reihe bricht, mit schrillem Schrei, Hilde: "Mein Puppenwagen!" und zerrt ihn unterm Baum hervor, Oma erwischt noch gerade ihren Zopf und zieht sie in die Reihe zurück, Ota klopft ärgerlich auf die Geige, die Jungen versuchen, irgendetwas aufzusagen, verschlucken und verheddern sich, weil die Augen immer Neues entdecken, was mit dem zu Sagenden nichts zu tun hat, es zerbröckelt, die Ordnung löst sich auf, geht unter in Ohs und Ahs, Geraschel und Geräuschen verschiedenster Art, während man mir einen großen roten Ball mit weißen Punkten in die Hände drückt, mit dem ich nichts Besseres anzufangen weiß, als ihn klirrbatsch!, mitten auf der festlichen Tafel landen zu lassen. Was diesem Knalleffekt folgte, entzieht sich meiner Erinnerung an diesen, meinen ersten Weihnachtsabend; vermutlich hat man mich schlafen gelegt, was wohl einige Mühe und Geduld erforderte, da ich völlig durcheinander war. Die späteren Weihnachtsfeste sind schon durch die von

den Erwachsenen genährten Vorstellungen und Erwartungen verfälscht. Es war dies wohl das einzige, wo ich völlig arglos war.

Treni und die Tiere

Während ich mich menschlicher Gespielen aus jener frühen Zeit nicht entsinne, sind mir sehr wohl verschiedene Vierbeiner erinnerlich, mit denen ich mich gut verstand und die mir anscheinend vollauf genügten. Da war zunächst Schnurri, die schwarzweiße Katze, die sich mit erstaunlicher Geduld herumschleppen und ins Wägelchen packen ließ, dessen Räder wie Vögel piepsten und so schöne Spuren in Sand und Staub hinterließen. Sodann ein schwarzer Hund, der im Hof an langem Laufdraht hin und her jagte und aufs schnatternde und gackernde Federvieh zu achten hatte, damit nicht etwa streunende Zigeuner das Gassentürchen sacht aufdrückten oder von hinten, vom Feld her, durch Obst- und Gemüsegarten hereinschlichen und irgendetwas klauten.

Ja, der Garten, der mich Knirps mit all seinen Bäumen, Sträuchern, Beeten riesengroß dünkte, wurde für mich nicht nur zum Inbegriff des Erstrebenswerten, sondern auch des Geheimnisvollen, da ich dorthin nie allein durfte, – vermutlich weniger um das Genasche zu verhüten, als vielmehr einen verdorbenen Magen, vor allem aber das Ertrinken in dem unheimlich dunklen Teich oder Weiher ganz hinten am Gartenzaun gegen das Feld hin. Hinter dem Komposthaufen verborgen lag er, von Himbeergestrüpp umstanden, von Schneeballen, Goldregenbüschen, krüppeligen Weiden und langhaarigen Birken überschattet, der dunkle Glanz eines Spiegels, hin und wieder von Libellenschwirren überblitzt, von unsichtbaren Unken umquarrt.

Was es war, was mich unwiderstehlich zu diesem stillen Winkel zog, vermag ich nicht zu sagen; das Verbot der Eltern, mich ihm zu nähern, erhöhte seltsamerweise, da ich sonst doch keineswegs unfolgsam war, seine unheimliche Anziehungskraft, bis ... nun ja, bis es mir eines Tags gelang, der Obhut Trenis, der kleinen Dienstmagd, die irgendein Gemüse aus dem Garten holen sollte, zu entwischen. Bevor sie meine Abwesenheit auch nur richtig bemerkte, stak ich schon drin im Moder, und zwar kopfüber, da ich nach den gespiegelten Blüten des Goldregens gelangt hatte. Wessen Schreck größer war: meiner, der Trenis oder der meiner Eltern – wer vermag das zu entscheiden? Jedenfalls war er bei jedem von anderer Art und bei mir das Schlimmste schon überstanden, während er bei ihnen so richtig erst einschlug, als Treni ihnen ein schwärzlich triefendes, japsendes, koboldartiges Wesen heranschleppte.

Was mich an diesem Ereignis am Tiefsten beeindruckte, war weder der Sturz in den Porl2, noch die Klapse, die ich nachher erhielt, sondern das, was ich damals nicht begriff: Warum nämlich Treni, die ich sehr gern hatte, so herzzerbrechend weinte und Haus und mich verlassen musste. Wahrscheinlich dachten meine Eltern, dass es nicht gut sei, ein Kind zum verantwortlichen Wächter über ein anderes Kind zu setzen, für keins von beiden gut! Von da ab kam ich unter die Fuchtel der Altmagd Zirr3, die Augen und Ohren überall hatte, – auch wo sie's besser hätte lassen sollen!

So kams, dass ich Treni sehr nachtrauerte, denn unter anderem war sie es doch gewesen, die tiervertraute Bauerntochter, die mir durch ihr Verhalten beigebracht hatte, wie mit dem Viehzeug umzugehen war, vor allem: Keine Bange zeigen! Dafür aber die Peitsche! Ja, die war ein richtiger Zauberstab! Und solch einen hatte sie mir eigenhändig gemacht: den kurzen Stiel geschnitzt, die lange Schnur am oberen Ende zu einem kurzen Zopf geflochten, dann immer dünner auslaufend zu einer schmissigen Quaste gedreht – mit einem Wort: eine richtige Hirtenpeitsche, die herrlich knallte, – wenn man's nur mal heraushatte! Da wichen auch die stursten Büffel dem knallenden Knirps aus, wenn er sich ihrer schleppfüßigen, staubaufwirbelnden Heimkehr in den Weg stellte oder sie von den Alleebäumen vertrieb, an denen sie ihre schlammverkrusteten Rücken scheuerten. Gefährlicher als diese schwarzen Ungetüme war aber der harte Galopp der grunzenden, quiekenden Borstentiere, am schlimmsten jedoch die Gänse, die, völlig respektlos vor der Peitsche, mich selbst mit langgestreckten Hälsen, schrill trompetend und mit weit gespreizten Schwingen, als wollten sie mich einhüllen, angingen. Da nicht Reißaus zu nehmen, war allerhand, doch brachte ich's, dank Treni, fertig, da sie mir bewies, dass nichts die Angriffslust mehr reizte, als Angst und den Rücken zu zeigen; wer der Gefahr jedoch ins Auge blickte und gar noch die Zähne wies, konnte aufatmend meist erleben, dass die den Rücken kehrten. Hoffentlich hat dir, du tapfere, kleine Treni, diese Einsicht nachmals im Leben auch so gut geholfen wie mir!

Nachbarn

Seltsam, dass jene Zeit und Welt in Tartlau mir wie ein einziger langer Sommertag erscheint, als hätt es nie die Ödnis grauer Regentage, Schneematsch und Schlackerwetter gegeben! Und keine Langeweile! Dort gab's doch immer Neues zu entdecken! Dort, wo mich jeder in der Nachbarschaft wie einen "schlechten Kreuzer" kannte, durfte ich nach Herzenslust herumstreunen. Von rechts lockte ein stählern gelles Klingen in aufregendem Dreitakt auf und abschwellend, von links das wunderbar-anregende Duften frischgebackenen Brotes und Hanklichs. Rechts ging es laut und gewaltsam zu; dort werkten dunkle Gestalten in düsterer Höhle vor rotgolden zuckender Glut mit gewaltigen Hämmern und Stangen, es fauchte und zischte, Dampf paffte auf, Funken sprühten, rotglühende Reifen wurden Rädern angeschmiegt und Eisen an die Hufe schnaubender Gäule genagelt. Links schleppten weiße Gestalten mächtige weiße Säcke hin und her, schütteten weißes Mehl in riesige Tröge, Wasser dazu, begannen mit nackten, weißen Armen das Zeug zu vermischen und zu kneten, auf weiße Tische hinzuklatschen, zu drehen, zu formen zu sonderbaren bleichen Gebilden, die dann auf lange Schieber oder in schwarze Bleche gelegt und schließlich ins dunkle Maul des Backofens geschoben wurden. Und wenn über all diesem Treiben auch meist lustiges Pfeifen und Singen schwebte, mit dem Gedröhn von rechts konnte es sich nicht messen, und was bedeutete schon ein noch so köstlich duftender Kipfel oder Brezen gegen die Lust auf dem Rücken eines Gaules thronen zu dürfen, solange der beschlagen wurde! Nein, die friedliche weiße Kunst zog gegenüber der abenteuerlichen schwarzen bei mir entschieden den Kürzeren!

Dann gab's noch etwas, das mich durch seine Undurchschaubarkeit anlockte. Der Apotheke schräg gegenüber, dort wo die Kroner Straße zum Marktplatz einbiegt, zog sich ein langgestrecktes Anwesen mit weitem Hof, Ställen und Schuppen hin, wo sich zuweilen allerlei Absonderliches tat. Tagsüber lag es meist recht still und wie verschlafen da, doch wenn die Dämmerung sank, schien es aufzuwachen. Dann sickerte aus seinen Fenstern trübes Licht und allerlei Getöne drang herüber: Tiefes Gebrumme oder Knurren von mächtigen Tieren, Gequieke, wie von Schweinen, Geklimper, wie von unserem Klavier, dazu Johlen, Brüllen, Kollern und Klackern, das ich mir lange nicht zu deuten wusste, bis Vater mich einmal hinüber führte und mir die Kegelbahn zeigte. Es war das Gemeinde-, Gast- und Einkehrhaus. Manchmal freilich war auch tagsüber dort viel Kommens und Gehens von fremdartigem Volk mit Wagengerassel, Gewieher, Geschrei, kurz allerlei buntscheckig wüstem Treiben, das von der sonstigen Stille aufregend abstach. Dass dies Rumoren meist nur an Wochenenden, Markt- oder Feiertagen und gelegentlich bei Hochzeiten stattfand, fiel mir natürlich nicht auf; die abenteuerlichen Ausnahmen waren es, die sich mir eingeprägt und dem so nüchternkahlen Bau den Anhauch des Absonderlichen verliehen, sodass mir immer bangte, wenn ich Vater hinüber gehen und dort verschwinden sah. Ihn abzuholen aber kam einer Bewährungsprobe gleich, – schlimmer, als dem Angriff der Gänse standzuhalten, denn hier half keine Peitsche!

Übersiedlung

Mit all diesen Herrlichkeiten eines Lebens in Weite und Freiheit der Bewegung hatte es eines schönen Sommertags ein Ende, als ein Riesentrumm von Wagen, fast wie ein kleines Haus so groß, in unseren Hof einfuhr und Stück um Stück all dessen, was ich kannte, zwischen und mit dem ich gelebt, in sein Dunkel zu schlucken begann. Fassungslos irrte ich in den immer kahler und fremder werdenden Räumen zwischen den Beinen der schleppenden, schnaufenden Männer und bauschigen Röcken der Frauen umher, besorgt, meine paar Habseligkeiten vor dem Untergang zu retten. Die einzige, die mich zu begreifen schien, war offenbar Schnurri, die gleich mir ganz verstört durch die Räume schlich, bis wir schließlich, eins beim anderen Trost suchend, im Dämmer des Holzschopfens eine Zuflucht fanden. Dort muss ich wohl, Schnurri im Schoß, eingeschlafen sein, sodass ich all das Rufen und Suchen nach mir nicht mitbekam und sehr bestürzt war ob all der Aufregung mit Schelten, Tränen, Küssen, als wir endlich aufgestöbert wurden. Aber das Schlimmste kam noch! Aus mir unbegreiflichen Gründen wurde Schnurri meinen Armen entwunden, in einen Sack gesteckt, dieser ins Dunkel des Möbelwagens geschoben, die Türen knallten zu und ab ging's, der Stadt, dort unter den blauen Bergen, der neuen Heimat zu!

Ich aber, ein untröstlich heulendes Häufchen Elend vor Trennungsschmerz, wurde in den "Koberwagen" Großvaters verfrachtet, in dem fahren zu dürfen sonst eines der größten Vergnügen war, diesmal aber versagte sowohl sein leises Schaukeln als auch sein schummriges, von altem Leder-, Staub- und Heugeruch durchwobenes Dämmer, mich einzulullen. Erst als wir kurz vor der Stadt an einem Zigeunerlager mit Tanzbären vorüberzockelten und ganz nah ein Eisenbahnzug, schwarz und gewaltig daherschnob und klirrte, dass die Pferde scheuten, begann das Neue den Kummer zu verdrängen.

Ja, das war für mich ein tiefgreifender Wechsel des ganzen Weltbildes, der ganzen Lebensgewohnheiten, den diese Übersiedlung mit sich brachte. Es war ja nicht nur die vom Dorf zur Stadt, sondern auch die aus Weite in Enge. Dort hatte ich aus dem Fenster über der Apotheke das Wandern der Sonne über den Himmel hin sowie das der Gänse über den Anger verfolgen können – hier kroch mein Blick aus Erdgeschossfenstern in eine enge Gasse, in der sich so gut wie nichts tat, und das Vorhandensein der Sonne machte sich nur für kurze Zeit an den gegenüberliegenden Häuserwänden bemerkbar. Im düsteren Hof aber konnte ich bestenfalls etliche Frauen und Mägde mit Besen und Eimern hantieren, Wäsche waschen, tratschen oder armselige Hendel in einer ebensolchen Hühnersteige füttern sehen! Dazu die Übersiedlung aus Vagabundenfreiheit des rundum Bekannten in die des anonymen, stadtunkundigen Fremdlings; einem aus dem Nest gefallenen Spatz, der obendrein auch noch in einen Käfig gesperrt wird, mochte ähnlich zumute sein, wie mir damals war, – wenigstens in der ersten Zeit. Schnurri und ich, wir waren sterbensunglücklich, und schlichen wie zwei aus dem Paradies Verbannte in der ebenerdigen, engdunklen Hofwohnung herum.

Ausgerechnet in die Burggasse, in die am längsten vom Zinneschatten überlagerte Straße der Stadt, hatte das Schicksal uns verschlagen! Wenn in den übrigen Straßen der Stadt schon längst die Morgensonne in den Fensterscheiben blinkte, hockte in der Burggasse, besonders auf der hangwärts gelegenen Straßenseite, noch lange feuchtkühles Dämmern in allen Ecken, und in die Gärten an der Stadtmauer guckte die Sonne erst am späten Vormittag; so kam's, dass auch der Winter hier länger und härter herrschte, als ein paar hundert Schritte westwärts auf den Hängen um den "Schwarzen" und "Weißen" Turm. Doch von denen wusste ich dazumal noch nichts; die musste ich sehr viel später erst für mich entdecken, als wir schon längst in den Stadtkern umgezogen waren und ich mir Schul- und Spielkameraden gefunden hatte.

Vorerst galt's aber die nähere Umwelt zu entdecken, was mit einigen Schwierigkeiten für mich verbunden war. Vor unserer Haustür floss damals nämlich noch ein Bächlein, oder richtiger Kanal, hier und dort mit dicken, aber ziemlich morschen und wackligen Bohlen bedeckt. Auch in der Schwarzgasse floss so ein Bächlein, das dort den Lederern zum Waschen ihrer Tierhäute diente, während hier die Tuchmacher ihre Tuche wuschen, bzw. früher gewaschen hatten. Wenn dieses Bächlein auch nur einen guten Schritt breit, kaum ein Meter tief war und selten mehr Wasser führte, als einem Erwachsenen etwa bis zum Knie reichte, so hätte es doch – wenn schon nicht dem Leben, so doch den Kleidern eines Knirpses von drei Jahren gefährlich werden können. Was dort nämlich vor Einführung der Kanalisation dahinfloss, ließ nicht vermuten, dass eine knappe Stunde zu Fuß talauf sich noch Forellen in seinem kaltklaren Gebirgswasser tummeln konnten. Und dann: es wimmelte von feisten Ratten! Gewöhnlich, d.h. am lauten, lichten Tag, bekam man sie kaum zu sehen, doch wenn die Dämmerung sank und es still wurde, begann es schattenhaft zu huschen zwischen Kanal, Kellern und Gossen, und wenn vollends ein Wolkenbruch das Bächlein und die Gasse zu strudelndem Wildbach anschwellen ließ, der die deckenden Bohlen aufhob und mit sich riss, dann mussten die Bewohner dieser Unterwelt ihre Schlupflöcher verlassen und um ihre Leben kämpfen, und zwar nicht nur gegen die wirbelnde Flut, sondern auch gegen die Lehrlinge und Gesellen der anliegenden Werkstätten der Tuchmacher, Seiler, Lederer, die mit Stangen und Haken zwar vor allem die davontreibenden Bohlen bergen sollten, aber lieber auf die aufgescheuchten eklen Schädlinge Jagd machten.

Dies turbulente Ereignis und die unableugbare Tatsache, dass einer der an der wilden Hatz beteiligen Lehrlinge, ein vierschrötiger Bursch, durch einen Rattenbiss auf den Tod erkrankte und fast ein Bein verlor; dies brachte fertig, was die elterlichen Warnungen und Verbote nicht vermocht hatten, nämlich mir das Spielen an dem so harmlos scheinenden Bächlein zu verleiden und die Gassenjungen nicht mehr darum zu beneiden.

Es gab aber auch bald keinen Grund mehr, sie dieserhalb zu beneiden, denn ähnliche Vorkommnisse und allgemeinere Erwägungen über gesundheitliche Gefahren, sowie endlich die gänzliche Einstellung der letzten häuslichen Tuchmacherei- und Ledereibetriebe, bzw. ihr Übergang zu fabriksmäßiger Herstellung, ließen die Bächlein nicht mehr nötig erscheinen, und so verschwanden sie, die einst auch zum Feuerlöschen gedient hatten, aus dem Straßenbild der Burg- und Schwarzgasse. Mit ihnen auch die Holzgestelle auf dem nach ihnen benannten "Rahmenberg", unterhalb des sog. "Königswegs" zwischen "Weißem und Schwarzem Turm". Dort hatten die Tuchmacher jahrhundertelang in friedlichen Zeiten ihre berühmten Kroner Tuche gespannt und getrocknet. Jetzt erinnern nur noch die schmalen Terrassen oberhalb des Ilie-Pintilie-Spitals an die einstigen Rahmengänge.

Einstweilen ist es aber noch keineswegs soweit; das Bächlein fließt und stinkt noch; mir unbekannte Jungen, meist größer als ich, toben draußen und schauen mich scheel an, wenn ich mich blicken lasse, was zunächst aber selten geschieht, denn erst gilt es Hof und Garten mit seinen mancherlei Bewohnern zu erkunden und Mutter bei ihren Einkaufs- und Besuchsgängen zu begleiten. Dazu kam noch, dass meine Eltern nach unserer Übersiedlung in die Stadt nicht mehr sächsische, sondern ungarische Dienstboten hielten, – warum, ist mir unbekannt. Jedenfalls bedeutete all dies zusammen für mich eine gewaltige Umstellung, die mir sehr zu schaffen machte, mich wie man heut' zu sagen pflegt: verunsicherte.

Nicht wenig trug dazu noch bei, dass Schnurri, mein bester Spielkamerad, nach 2-3 Tagen verstörten Herumschleichens plötzlich verschwand und trotz allen Suchens und Lockens nicht mehr zum Vorschein kam. Es war der erste Schmerz um den Verlust eines geliebten Wesens, dessen ich mich entsinne. Das Versprechen meiner Eltern, mir eine andere Schnurri zu beschaffen, vermochte mich nicht nur nicht zu beschwichtigen, sondern empörte mich geradezu, – vermutlich weil ich's als Verrat empfand, bis, nach etlichen Tagen, aus Tartlau die erstaunliche Kunde kam, Schnurri sei in der alten Wohnung aufgetaucht, zaundürr und struppig, und habe zwar ihr altes Plätzchen im Holzloch unter dem Küchenherd bezogen, doch gänzlich verwandelten Wesens, verwildert und abweisend gegen jedermann! So also war das! Sie hatte mich verlassen! War nicht gestorben! Nun hatte ich gegen eine Nachfolgerin nichts mehr einzuwenden. Um jedoch nicht neuerlich Kummer und Enttäuschung heraufzubeschwören, vertrösteten mich meine Eltern auf die Zeit nach dem Umzug in die neue Wohnung auf der Kornzeile, im Hof der "Schutzengel-Apotheke", die Vater, mit Unterstützung seiner Eltern und Geschwister, gekauft hatte.

Wie ahnungslos doch Kinder in ihrer Welt reiner Herzensbeziehungen neben der meist von Verstand und Zweck bestimmten der Erwachsenen dahinleben! Und wie selten geschieht es, dass diese sich ihrer Nöte von einst erinnern, sich zurückversetzen können in die Gefühlswelt der Kleinen und – sie ernst nehmen! Dass meine Eltern das, trotz ihrer damaligen Sorgen, konnten, muss ich ihnen hoch anrechnen. Ging es doch für sie, wie ich sehr viel später erfuhr, um völlige Neugründung ihrer Existenz, nicht nur unter dem Druck beträchtlicher Schuldenlast, sondern auch dem Zwang, den Ruf der Apotheke zu verbessern, der unter dem Schlendrian des Vorgängers sehr gelitten hatte.

Da ich von alledem natürlich nichts mitbekam, hing ich bloß meinen "Problemen" nach. Eines davon war: Wie hatte Schnurri es fertig gebracht, den Weg nach Tartlau zurückzufinden?! Ich hatte doch selbst gesehen, wie man sie in einen Sack gesteckt und diesen in den dunklen Möbelwagen verstaut hatte! Mir machte es Mühe, mich in der neuen Umwelt mit ihren vielen Gassen und Gässchen zurechtzufinden, geschweige aber den Weg zur Stadt hinaus, Richtung Tartlau! Dabei hätte ich notfalls auch noch jemand fragen können und mich nicht vor jedem Hund zu fürchten brauchen! Nun, dass ich damals des Rätsels Lösung nicht finden konnte, obgleich die Eltern sogar den Lieben Gott in der Sache bemühten, brauch' ich wohl nicht ernstlich zu versichern, aber – bin ich ihm heute eigentlich näher gekommen? Ist es nicht vielmehr so, dass die Welt mich heute mit fast ebenso vielen Fragezeichen umstellt, wie den Knirps von damals, – wenn sie auch meist von anderer Art sind?!

Expeditionen

Wie wahr ist doch das Goethewort, dass man erst im Alter begreift, was einem in der Jugend begegnete! Weiter oben habe ich erwähnt, dass ich in jener ersten Kronstädter Zeit Mutter bei ihren verschiedenen Gängen, sei's in Geschäfte, sei's zu Bekannten, meist begleiten musste. Für mich bedeuteten das Expeditionen in Unbekanntes, die mit sehr gemischten Gefühlen verbunden waren. Nicht nur, weil ich dann mein Spielen unterbrechen und umgezogen werden musste in Kleidchen, in denen man dies und das nicht tun durfte, was man sonst gern getan hätte; und um dies ganz sicher zu verhindern, hieß es "brav" an Muttis Hand gehen, was wiederum äußerst unangenehm war, da ich dabei achtgeben musste, nicht auf ihre langen, hin und her schwingenden Röcke zu treten. All dies hatte es in Tartlau nicht gegeben! Waren die Geschäfte imstande die Freiheit von einst, die Schmiede und Bäcker Kurmes aufzuwiegen?! Gewiss, es gab da Manches, was durch Gerüche oder Aussehen verlockte, z.B. die Heringstonne, die so herrlich "wild" roch, oder die flachen Kästchen mit den in goldnem Braun schimmernden Sprotten drin, die Feigenkränze und Dattelstäbchen, die Säcke, Kisten, Laden mit allerlei Zeug drin, das nicht einmal Mutti immer zu benennen wusste – oh, gewiss, das lohnte sich, oder die Nase plattzudrücken an den Schaufenstern der Spielwarenhandlung "Brüder Gebauer" – dort waren Herrlichkeiten, von denen man nur träumen konnte, gewiss! War das aber nicht etwas viel verlangt von einem Knirps, sich bloß mit dem Träumen begnügen zu sollen?

Ach, und dann die Besuche bei allen möglichen Onkels und Tanten, wo man immer "brav" sein (o, wie ich dies Wort zu hassen begann!), d.h. meist Stillsitzen und Red' und Antwort stehen musste, auf Fragen, die mich unendlich töricht dünkten, statt herumstöbern oder mit Hund und Katz spielen zu dürfen.

An Kinder erinnere ich mich, merkwürdigerweise, kaum, bis auf zwei Vorfälle, die beide mit der Familie des "Schnaps-Neustädter" zusammenhängen (nicht etwa, weil er solchen konsumierte, sondern produzierte, damals noch in kleinem Umfang im Keller seines Hauses, Ecke Brunnengasse und Schulmeistergasse, später in der Spirituosenfabrik in Tartlau).

Der hatte zwei Söhne, der eine etwas älter, der andere jünger als ich, und zwei Töchter. Es muss bei der Taufe der jüngeren gewesen sein. Ihren Höhepunkt bildete das Auftragen eines wahren "Kunstwerks" von Torte aus leuchtend rotem Zuckerguss, der sich in gewagten Schnörkeln, nach oben sich verjüngend emporschwang zu einem golden schimmernden Ding, das mit durchscheinenden Libellenflügeln über dem Ganzen zu schweben schien. Atemberaubend schön! Und dieses Wunderwerk möglichst schnell zu zerstören und sich ins Maul zu stopfen, konnten sich meine Vettern, Carla und Walterchen, gar nicht genug beeilen! Ich war zunächst empört und dann nicht wenig enttäuscht, als die wunderschönen roten Schnörkel im Mund wie Glas splitterten und eigentlich recht irdisch wie andere Zuckerl schmeckten.

Bei einer anderen Gelegenheit geschahs, dass Walterchen mir, vermutlich ob einer Meinungsverschiedenheit, mit der Lokomotive seiner "Schu-schu-"Bahn den Schädel fast einschlug. Als das Blut mir übers Gesicht lief und ich losbrüllte, flüchtete er durchs Fenster auf das fast flache Dach des Schuppens darunter, und bald gab es, zu meinem nicht geringen Ärger, um ihn bald mehr Aufregung als um mich. Es war so schön, doch allzu kurz gewesen, alle Erwachsenen um mich herum tanzen zu sehen! Mittelpunkt der Besorgnis zu werden, war wohl einige Schmerzen wert; man konnte sie ruhig ein wenig übertreiben und damit dem feigen Flüchtling Schuld anlasten. Sich hinabzulassen auf das Dach hatte er fertig gebracht, aber sich selber wieder heraufzuziehen oder ziehen zu lassen, gelang ihm ebensowenig wie in den Hof hinabzuklettern. Man musste irgendwoher eine Leiter beschaffen, um ihm vom Hof her beizukommen. Da ich der Rettungsaktion mit viel Interesse vom Fluchtfenster her zusah, beruhigten sich die Gemüter ob meiner zuerst so gefährlich scheinenden Verletzung, die mir bloß eine tüchtige Beule und einen Turbanverband eintrug, Walterchen aber, nach seiner Rettung, eine Tracht Prügel. Während ich diese, vor allem seiner schnöden Flucht wegen, mit einer gewissen Genugtuung quittierte, empfand ich die Forderung, mir nun auch noch Abbitte leisten zu lassen, genau so übertrieben, wie er, und so zog ich den verbockt Dastehenden kurz entschlossen zum Spielen fort. Möglich, dass diese beiden Vorfälle sich nur der besonderen Umstände halber mir eingeprägt haben; jedenfalls entsinne ich mich keiner anderen mit Kindern aus dieser frühen Zeit in der Umwelt des neuen Heims.

Ja, die neue Umwelt! Binnen weniger Monate die zweite Umpflanzung! Und zwar eine von äußerlich einschneidender Bedeutung wie die vom Land in die Stadt. Man sollte es kaum für möglich halten, aber Burggasse und Marktplatz, nur wenige hundert Schritt voneinander entfernt, beide zum alten Stadtkern gehörig, waren damals zwei verschiedene Welten!

Dort lockte ein Wagengerassel noch Köpfe an die Fenster, in denen Bettzeug bis in den späten Vormittag zum Lüften lag; Geräusche waren nur gedämpft aus den langen schmalen Höfen zu vernehmen – Hämmern aus irgendeiner Werkstatt, Surren oder Klappern irgendeiner kleinen Maschine, Teppichklopfen, zuweilen auch Hundegebell oder ein Kikeriki und Gesang ungarischer Mägde; die Gasse aber war in schulfreien Stunden Tummelplatz für die wilden Spiele aller "Lauser" der Nachbarschaft, und die Sprache, in der da herumgeschrien oder getratscht wurde, wenn wir oder Bürger einander begegneten, war die deutsche oder gar noch sächsische!

Ganz anders das Leben und Treiben auf dem Marktplatz und rings um ihn herum auf den "Zeilen", deren Namen bloß winters nicht von dem abgelesen werden konnte, was in den anderen Jahreszeiten jeweils dort verhökert wurde, als da war: Korn, Blumen, Obst, Flachs und Böttchereiwaren. In den Erdgeschossen der Häuser aber, die rings um den Markt und um die klobige Wucht des Rathauses sich reihten, stieß Laden an Laden, nur hier und dort noch durch eine der alten breiten Toreinfahrten voneinander getrennt. Stille gab's dort, d.h. auf dem "Platz", höchstens an Sonntagnachmittagen oder nach Mitternacht, wenn der letzte Zecher sich aus dem "Süßen Loch", der "Gabel", oder dem "Hirscherkeller", mehr oder weniger sachte heimverkrümelt hatte.

Rathaus mit Kornzeile

Aus den Fenstern der Patrizierhäuser guckte man dort aber höchstens am Sonntagvormittag, wenn nach den Gottesdiensten der evangelischen, katholischen und orthodoxen Kirchen die Militärmusik, manchmal auch die "Stadtkapelle" zwischen Rathaus und Kornzeile mit schmetterndem Trara den genießerischen Korso der "Jeunesse dorée" der Stadt und Garnison anfeuerte. Sonst aber klackerte es hier von Pferdehufen übers Kopfsteinpflaster, sei's der Fiaker, die ihren Stand auf der Ostseite des Platzes, der Polizei gegenüber hatten, sei's all der dörflichen Fuhrwerke, die Milch, Gemüse, Korn, Stroh und Brennholz, je nach Jahreszeit, in die Stadt karrten.

Auf die schmale Westseite des Platzes aber kroch aus der Klostergasse schnaubend, qualmend, klirrend ein schwarzes Monstrum, ein Wurm mit dickem kaffeemühlenartigem Kopf und etlichen schachtelförmigen Gliedern: die Trambahn! Einst Wunderwerk des Fortschritts, Kronstadt voran! Die erste Straßenbahn Siebenbürgens! Schrecken seiner Ackergäule und Herausforderer seiner Büffel, die in dem schwarzen Ungetüm einen Rivalen witterten. Wie sich die Zeiten wandeln! Vor wenigen Jahren noch ein Wunderwerk, wurden die beiden braven Dampfloks schon zu meinen frühen Schülerzeiten nur noch als "Kaffeemaschinen" eingestuft und schließlich von irgendwelchen Bosnickeln4 getauft: die eine "Luther", die andere "Galilei" – unter Berufung auf des Einen schicksalträchtiges "Hier stehe ich ..." und des Anderen ebenso gewichtiges: "Und sie bewegt sich doch!"

Wie staunten aber die Lästerer, als diese beiden Veteranen es 1916, als die Rumänen unversehens über die Grenze hereinbrachen, fertigbrachten, nicht nur sich selbst dem Zugriff des Feindes zu entziehen, sondern auch noch die Eisenbahner mit ihren Familien und wichtigsten Habseligkeiten, sowie die Kasse ihrer Gesellschaft wohlbehalten nach mehrtägiger Fahrt in Budapest abzuliefern. Trotz dieser Glanzleistung wurde die Tram dann aber allmählich, als "modernen Anforderungen nicht mehr entsprechend", zunächst aus dem Stadtkern verdrängt, d.h. vom Marktplatz auf die "Promenade", von dort an den Stadtrand zu den Fabriken, zu und von denen sie noch jahrelang die Arbeiter aus den "Sieben Dörfern" beförderte. Als dann die Bus-Verbindungen überhandnahmen, hatte sie endgültig ausgedient. "Luther" und "Galilei" verschwanden aus der Landschaft mitsamt Gepfeife, Geklirr und Rauchfahne, mir unbekannt, ob auf einen Schrottplatz oder in ein Museum; einen Platz in einem solchen hätten sie verdient, als Zeugen für eine Zeit, die auch mit primitivsten Mitteln Beachtliches geleistet hat. Von ihren Zeitgenossen in ihrer Jugend bewundert, von uns schon gutmütig belächelt, wäre sie für die Heutigen nur mehr zum Gespött geworden.

Ja, damals, als wir auf den Marktplatz, genauer: auf die Kornzeile Nr. 7, umzogen, da trug die Tram durchaus noch dazu bei, das Leben dort noch bunter zu gestalten, ihm geradezu etwas vom "Duft der großen, weiten Welt" zu verleihen. Sie war es doch, die, unter anderem auch die Reisenden, die sich keinen Fiaker leisten konnten, vom Bahnhof weit draußen, am Ende der "Blumenau", hierher ins Zentrum beförderte, wo immer einige "hordárs" (Last- oder Gepäckträger) herumlungerten. Konnte der Fremde sich mit ihnen auf Rumänisch oder Ungarisch verständigen, war es nicht allzu schwierig, mit einem von ihnen handelseins zu werden, dass er ihn und sein Gepäck für ein paar Kreuzer zu einem der wenigen Gasthöfe mit Fremdenzimmern führe (Hotels gab es, meines Wissens, dazumal noch nicht; sowohl Hotel "Krone", als auch "Continental" wurden erst später gebaut.), schlimm aber stand es um den der Landessprachen Unkundigen! Der wurde nach Strich und Faden gerupft, wenn er nicht das Glück hatte, dass sich ein zufällig des Weges daherkommender Bürger seiner annahm.

Wenn ich da schlichtweg von "Bürger" spreche, so war darunter nach damaligem Sprachgebrauch eigentlich nur der sächsische gemeint, als derjenige, der damals noch Gesicht und Leben der Stadt vornehmlich prägte, seine Kaufleute, Handwerksmeister, Unternehmer und Beamten stellte und somit für Wohl und Wehr der Stadt verantwortlich war. Diese Vielfältigkeit der Berufe und Verpflichtungen brachte es mit sich, dass die meisten dieser Bürger, nolens volens die Sprachen ihrer Kunden, Arbeiter, Dienstboten, Lehrlinge, kurz, all derer, mit denen sie tagtäglich zu tun hatten, mehr oder weniger beherrschen mussten. Da überdies in vielen Familien schon die Kinder durch Umgang mit Dienstboten in diese Mehrsprachigkeit hineinwuchsen, ergab sich wie von selbst für die sächsische Bevölkerung eine Art Dolmetscher- und Vermittlerrolle zwischen den Nationen.

Was man am häufigsten zu hören bekommt, das prägt sich am besten ein, nicht wahr? So war's denn kaum verwunderlich, dass ihnen zunächst ein erstaunliches Repertoire an Flüchen und Schimpfwörtern zu Gebote stand da solche zum Alltag der beiden Mitnationen ebenso gehören, wie Treibstoff und Öl zum Autofahren.

Ja, auf dem Marktplatz gab's also immer was zu sehen und zu hören, und zwar letzteres in allen drei Landessprachen, ja, manchmal sogar noch in etlichen anderen dazu. So etwa, wenn im Winter die italienischen Maronibrater mit ihren Eisenöfchen anrückten und an den Straßenecken ihre heiße Ware ausriefen, oder im Sommer Türken mit ihren Bauchläden, darauf sich Halva5 in fettigen Holzspanschachteln türmte oder Würfel von weißem, rosa oder dunkelrotem Rahat6, Kränze grünlichgrauer Feigen, goldbraun glänzende Datteln, Tässchen mit Rosenscherbett7, Johannisbrotschoten, kurz, für uns Knirpse alle Herrlichkeiten des Morgenlandes.

In den "Gewölben" aber, wie die Kaufläden dazumal nicht nur hießen, sondern was sie meist auch noch waren, drängte sich ebenso wie auf den Zeilen vor ihnen ein Gewimmel, das mich, der solche Menge und Betriebsamkeit nicht gewohnt war, gleicherweise anzog wie abschreckte, obgleich ich eigentlich weder misstrauisch noch ängstlich war, auch Fremden oder gar Tieren gegenüber nicht.

Kornzeile Nr. 7, Apotheke

All das ging mir natürlich erst sehr viel später allmählich auf; vorerst stand ich dem bunten Treiben ähnlich hilflos staunend gegenüber, wie etwa Gulliver dem im Lande der Riesen. Ich brauchte bloß vor unser Tor hinaus auf die Kornzeile zu treten, was mir zunächst freilich nur in Begleitung eines Erwachsenen gestattet war, oder bei Eders (im ersten Stock über der Apotheke) aus dem Fenster über die Weite des Marktplatzes zu schauen, wenn Mutti mich dorthin zu einem Plausch mit Mariechentante mitnahm. Was alles gab es dort für einen Knirps wie mich zu sehen und zu hören! Dass hier das Herz der Stadt pochte, verspürte ich schon damals, sowohl Lockung, als auch leises Gruseln vor all dem Fremden, bisnoch Unverständlichen weckend. Diese Welt außerhalb von Haus und Hof und Apotheke von Kornzeile Nummer 7 blieb mir aber vorerst noch vorenthalten; zunächst galt es den Innenbereich zu entdecken, der wahrhaftig genug des Sonderbaren bot!

Es war ein uraltes Gebäude, dies Walbaum-Ederische Haus, dessen Mauerwerk, Gebälk und Grundeinteilung anscheinend bis in die Wiederaufbauzeit nach dem Großen Brand von Kronstadt, 1689, zurückreichte. Die Gründung der Apotheke erfolgte, wie dokumentarisch belegt, 1712, im Ederischen Teil des Hauses, d.h. dem rechts von der Toreinfahrt gelegenen, wenn das Gesicht ihr zugewendet ist. Es gehörte zu den wenigen Häusern der Inneren Stadt, die noch doppelte Aufböden und mit Schindeln gedeckte Dächer hatte. Dass seine Erdgeschossräume, also Apotheke, Labor, Kammern und Keller gewölbt waren, unterschied es indessen nicht von den Erdgeschossräumen der meisten alten Häuser im Stadtkern, von denen man daher fast immer als von "Gewölben" sprach, besonders wenn darin Geschäfte oder Läden untergebracht waren. Ja, diese Bezeichnung war damals die dort ortsübliche und hatte sich sogar aufs Ungarische ausgewirkt, da "bolt" für Laden oder Geschäft nichts anderes bedeutet als "Gewölbe".

Kornzeile Nr.7 (2. Haus von rechts, schmal, 2 Fenster, unten Apotheke (seit 1712)

Was mochte Vater bewogen haben, sich just für diesen alten Kasten zu entscheiden? Viel, viel später erst drängte sich diese Frage mir auf, erst dann nämlich, als ich bei Vater als Apothekerlehrling praktizierte und mich im Labyrinth des alten Kastens zurechtfinden musste. Die Lage war's, die allen Bedenken zum Trotz den Ausschlag gegeben hatte. Dort, dem Rathaus gegenüber, wurde dazumal noch der größte Teil des Wochenmarktes und zweimal im Jahr der Große Jahrmarkt abgehalten. Durch die Tartlauer Jahre den Umgang mit der Landbevölkerung gewohnt, konnte Vater hier den ländlichen Kundenkreis erweitern und vermochte allmählich durch geschickte Modernisierung der Einrichtung, Einführen neuester Heilmittel und rastlosen Dienstes auch die Städter zu gewinnen. Es muss eine schwere, sorgenvolle Zeit für ihn und Mutter gewesen sein, besonders bis er die Darlehen zurückerstatten und sich Angestellte leisten konnte. Wenn ich jener frühen Jahre gedenke, sehe ich Vater eigentlich immer nur unten, in den Räumen der Apotheke, in der Wohnung fast nur zu den Mahlzeiten und abends, wenn es für mich zu Bett gehen hieß. Und gar nicht selten schrillte noch die Nachtklingel und holte ihn aus dem Bett. Nicht einmal die Sonn- und Feiertage waren für ihn immer frei, Ausflüge selten und Urlaub oder Ferien gab es, soweit ich mich zurückerinnern kann, eigentlich immer nur für Mutter und mich, meist in der Noua8, wohin er mit der letzten Tram zu uns heraus kam. Aber es hatte sich gelohnt. Bis zum ersten Weltkrieg hatte er's geschafft, aus der fast noch mittelalterlichen Alchimistenküche seines Vorgängers, die einen Dr. Eisenbarth und jedes kulturhistorische Museum entzückt hätte, die beste Apotheke der Stadt zu machen. Fast ohne eigenes Kapital, von Schulden belastet, hatte er 1900 angefangen und bis 1914 nicht nur sämtliche Schulden getilgt, sondern noch ein Joch Gartengrund in der Schützgasse (ein Stück des großen Bachmaierschen Gartens) erworben und darauf ein dreizimmeriges solides Haus erbauen lassen, in das wir nach dem Krieg ganz übersiedelten.

Was hatte ich von all dem Sorgen, Planen, Mühen, ja Rackern mitbekommen? So gut wie nichts! Nutznießer war ich davon, in das Entdecken und die Problemchen meiner kleinen Welt verstrickt, und Vater war nicht der Mann, andere mit seinen Schwierigkeiten zu belasten und viele, oder gar große Worte zu machen. Mutter musste wohl mehr erraten, wo jeweils der Schuh drückte, und wo es mitzutragen galt, als dass sie von ihm darum gebeten wurde, doch bin ich gewiss, dass sie das Ihre tat, und zwar weit über ihre Kräfte, denn als der schweren Jahre Ende abzusehen war und die Zeit des Erntens zu nahen schien, da waren ihre Kräfte zu Ende und die Früchte des Friedens konnte sie nicht mehr genießen.

Der Maulbeerbaum

Doch ich habe weit vorgegriffen. Einstweilen galt es ja, mit all dem Neuen, was die Übersiedlung auf die Kornzeile, ins Eder-Walbaumsche Haus, mit sich brachte, fertig zu werden, und das war für solch einen neugierigen, phantasiebegabten Knirps wie mich wahrhaftig nicht wenig.

Da war also zunächst das uralte, weitläufige Doppelhaus der beiden verwandten Familien in der Mitte der Kornzeile, dem Rathausturm gerade gegenüber. Durch eine rundbogige, düstere Toreinfahrt, die unter dem Stockwerk der Straßenfront durchführte, waren die beiden langen, bis zum "Rosenanger" durchlaufenden Trakte getrennt, durch zwei Schwibbögen aber auch wieder verbunden, – es sei denn , dass man deren Aufgabe anders rum deutete, nämlich, dass sie verhindern sollten, aufeinander zu fallen. Jedenfalls war ihr baulicher Zweck nicht recht einzusehen; die einzigen Nutznießer waren Katzen, die aus den Fenstern des Stockwerks der einen Seite zu jenen der anderen hinüber balancieren konnten.

Die Toreinfahrt war so breit und hoch, dass auch Fuhren mit Scheitholz und Mehlsäcken, notfalls auch der Pumpenwagen der Feuerwehr, durchfahren konnten. Dumpf polternd wie Donnergrollen rumpelten aber auch kleinere Fuhrwerke, wie z.B. der Handkarren der Apotheke, über die Katzenköpfe unter dem Stockwerk und dann unter den Schwibbögen hin gute 30 Schritt weit, wo dann die rechte Hauswand endete, sodass die Torenge sich dort zu einem geräumigen Binnenhof ausbuchtete.

In seiner Mitte ragte ein mächtiger alter Maulbeerbaum, voll vom Geflatter und Gezwitscher der Spatzen und Stare sowie vom Geschrei sämtlicher Buben der Nachbarschaft, wenn seine raupenähnlichen Beeren zu reifen begannen, d.h. schön dunkelviolett, saftig und süß wurden, und zur Verzweiflung der Mütter so wundervoll waschbeständige Flecken auf Händen, Hosen und Jacken zauberten. Aber auch seiner Blätter wegen hatte der einsame Riese, als die Mode der Seidenraupen-züchterei bei uns aufkam, viel zu dulden. Dann tobten richtige Raufereien mit Fäusten und Knütteln um das begehrte Futter, und der Arme sah oft schon vor dem Herbst, wenigstens in seinen erreichbaren Regionen, erbarmungswürdig herbstlich aus.

Da hatten es die vier krüppligen Kugelakazien im hintersten Winkel des Hofes vor dem Pferdestall besser; von denen wollte niemand etwas, die taugten nicht einmal für Kletterübungen, – der ganz respektablen Dornen wegen! Es sei denn für Katzen, wenn sie vor einem Köter dort hinauf flüchteten; und dann und wann spannte der Kutscher zwischen ihnen, die schön im Viereck standen, Seile, um die Pferdedecken darauf zu trocknen, oder Frau Vajda tat das Gleiche, wenn sie große Wäsche hatte.

In beiden Fällen ergab das, wenn rundum die großen Stücke herunter hingen, so etwas wie ein Zelt, was natürlich wieder zu Spielen anregte, es etwa als Wigwam zu benützen.

Skizze E.N., Hof hinter der Apotheke, Eingang vom Rosenanger

Die ebenerdige Behausung der Frau Vajda, der Tapeziererfrau, schloss – quer zur Achse des Hofes – diesen gegen den Rosenanger hin ab und bot zugleich das Widerlager für das Tor, das zu ihm hinausführte, ähnlich mächtig, wie das vordere zur Kornzeile hin, sodass man den ganzen Hof von vorn oder hinten her mit großen Fuhrwerken durchfahren konnte, ohne wenden zu müssen.

An dieses Tor schloss sich dann der linke Trakt, der Walbaumische, des Doppelhauses an, in dessen Erdgeschoss der alte Hiemesch seine Buchbinderwerkstatt hatte.

Zwischen dieser Werkstatt und der Buchhandlung Hiemesch (die nur durch die vordere Toreinfahrt von der Apotheke getrennt, wie diese auf den Marktplatz hinaus sah), zogen sich im Erdgeschoss Magazine hin, beginnend mit einem Vorraum und dem Treppenhaus zum 1. Stockwerke, wo über der Buchhandlung die Urahne, die alte Walbaum, Hausbesitzerin, und gegen den Hof über den Magazinen hin, wir wohnten. Das eine, oft recht übel duftende, gehörte der Rothischen Lederei, im anderen stapelten sich die Mehlsäcke der Bäckerei Siegens, kgl. rumän. Hoflieferanten des berühmten Kronstädter Ibacks. Beide hatten ihre Läden in der unmittelbaren Nachbarschaft.

Über der Buchbinderei hauste damals das kinderlose Ehepaar Ljubinkovitsch, er einstiger kuk. Ulanrittmeister, damals Bankbeamter, kugelrund, mit lang ausgedrehtem, schwarzgewichstem Schnurrbart, Allerweltsfreund, fast berstend von gepfefferten Witzen und Anekdoten; sie, Schwester des Bankdirektors Eder, somit Tante von Hans und Mariechen Eder, blond, stattlich, personifiziertes Nachschlagwerk in Bezug auf Kochkünste und andere hausfrauliche Tugenden, bei ihres Gatten Witzen – wenn sie diese verstand – schamhaft errötend; meist schien sie es aber vorzuziehen, sie nicht zu verstehen.

Zu Ljubinkovitschs führte, dem Maulbeerbaum gerade gegenüber, eine steile Treppe – von ihm immer nur die "Hühnersteige" benannt – hinan, sodass unsere Wohnung zwischen der ihren und der der alten Walbaum lag.

In diesen langgestreckten, schmalen, alten Gebäuden waren alle Räume im "Waggonsystem" gebaut, d.h. in einer Reihe