Im Kopf des Bösen - Ken und Barbie - Axel Petermann - E-Book

Im Kopf des Bösen - Ken und Barbie E-Book

Axel Petermann

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Beschreibung

Ken und Barbie, das brutale Serienkillerpaar aus Kanada – Ein weiterer schockierender True-Crime-Thriller von SPIEGEL-Bestsellerautorin Petra Mattfeldt und Axel Petermann, dem bekanntesten Profiler Deutschlands!

Köln, Juni 2023: Es ist heiß. Die Sonne brennt. Die Flüsse befinden sich auf neuen Niedrigständen, als eine einbetonierte, zerstückelte weibliche Leiche im Rhein gefunden wird. Sophie Kaiser, die ambitionierte Profilerin des BKA, wird zum Fundort gerufen und übernimmt die Ermittlungen. Durch ihr Asperger-Syndrom bewertet sie Zusammenhänge anders als andere und erkennt bald gemeinsam mit ihrem Kollegen Leonhard Michels, dass ein Serienmörder am Werk ist. Als eine weitere Frau verschwindet, vermutet Kaiser, dass sie nicht nur nach einem Mörder suchen: Ein Täterduo – ein junges Paar, frisch verheiratet – lockt die Frauen in die Falle … Doch wer ist Täter und wer Opfer – und wer treibt ein falsches Spiel?
Wie würde ein moderner Profiler den Fall aufrollen? Die realen Methoden der Fallanalyse, angewandt auf ein wahres Verbrechen!

Lesen Sie auch Band 1 »Im Kopf des Bösen – der Sandmann«.

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Seitenzahl: 348

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Buch

Köln, Juni 2023: Es ist heiß. Die Sonne brennt. Die Flüsse befinden sich auf neuen Niedrigständen, als eine einbetonierte, zerstückelte weibliche Leiche im Rhein gefunden wird. Sophie Kaiser, die ambitionierte Profilerin des BKA, wird zum Fundort gerufen und übernimmt die Ermittlungen. Durch ihr Asperger-Syndrom bewertet sie Zusammenhänge anders als andere und erkennt bald gemeinsam mit ihrem Kollegen Leonhard Michels, dass ein Serienmörder am Werk ist. Als eine weitere Frau verschwindet, vermutet Kaiser, dass sie nicht nur nach einem Mörder suchen: Ein Täterduo – ein junges Paar, frisch verheiratet – lockt die Frauen in die Falle … Doch wer ist Täter und wer Opfer – und wer treibt ein falsches Spiel?

Die realen Methoden der Fallanalyse, angewandt auf ein wahres Verbrechen!

Die Autoren

Petra Mattfeldt ist eine deutsche SPIEGEL- und »Bild«-Bestsellerautorin, die bereits unter ihrem Namen, aber auch unter diversen Pseudonymen veröffentlicht hat. Nach einer Ausbildung zur Rechtsanwalts- und Notarfachangestellten arbeitete sie als freie Journalistin. Inzwischen ist die Schriftstellerei ihr Hauptberuf. Sie ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt in der Nähe von Bremen.

Axel Petermann ist Deutschlands bekanntester Profiler. Er war Leiter der Mordkommission sowie der Dienststelle »Operative Fallanalyse« in Bremen. Als Dozent für Kriminalistik lehrt er seit vielen Jahren an verschiedenen Hochschulen in Deutschland. Als Fachberater für das Fernsehen und als Moderator der ZDF-Reihe »Aufgeklärt – Spektakuläre Kriminalfälle« ist der SPIEGEL-Bestsellerautor einem breiten Publikum bekannt. Axel Petermann hat drei Söhne und lebt mit seiner Frau bei Bremen.

Von den Autoren bereits erschienen

Im Kopf des Bösen – Der Sandmann

Petra MATTFELDT & AXEL PETERMANN

Im Kopf des Bösen – Ken und Barbie

Kriminalroman

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich

Copyright © 2024 by Petra Mattfeldt & Axel Petermann

Copyright © 2024 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Kristina Lake-Zapp

Umschlaggestaltung und -motiv: Guter Punkt, München unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com (Fer Gregory; xpixel); iStock / Getty Images Plus (Tatiana Mezhenina; Zinkevych); iStock.com / PonyWang

Autorenfoto: © Rebekka Schnell

StH · Herstellung: DiMo

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN 978-3-641-30378-5V001

www.blanvalet.de

Prolog Kasselberger Weg am Rhein, Köln Donnerstag, 29. Juni 2023

Das Blut rauschte in seinen Ohren, und mit jedem seiner federnden Schritte erhöhte sich sein Pulsschlag noch mehr, während ihm der Schweiß von der Stirn rann.

Es war eine dämliche Idee gewesen, um diese Zeit noch joggen zu wollen, war es doch in den letzten Tagen immer schon so heiß gewesen, dass man es ab spätestens zehn Uhr kaum noch hatte aushalten können. Inzwischen war es fast halb zwölf, und die Sonne brannte vom Himmel, doch nun, da er bereits die Hälfte seiner üblichen Strecke hinter sich hatte, war es unsinnig umzukehren. Er warf einen kurzen Blick auf seine Smartwatch – sie zeigte eine Herzfrequenz von einhundertdreiundfünfzig an. Er war jung, fit und trainiert, doch es war wohl besser, im Hinblick auf den Pulsschlag etwas langsamer weiterzujoggen.

Die Luft schien zu flimmern, er kniff einige Male die Augen zusammen und wischte sich den Schweiß von den Brauen, um wieder klar sehen zu können. Im Laufen warf er einen Blick über die Schulter, um sicherzugehen, dass kein Fahrrad kam. Dann überquerte er die Straße und passierte die St.-Amandus-Kirche, aus der gerade ein Brautpaar heraustrat, das sich von den Spalier stehenden Hochzeitsgästen beglückwünschen ließ. Eigenartig, an einem Donnerstag um diese Uhrzeit zu heiraten, dachte er noch, dann joggte er weiter auf dem Langeler Damm. Radfahrer kamen ihm entgegen, einige von ihnen hielten ein Eis in der Hand. Vielleicht würde er sich auch eins holen, wenn er den kleinen Strandabschnitt erreicht hatte, an dem sich zu dieser Jahreszeit die Leute nur so tummelten. Einige Minuten später konnte er bereits die Menschen sehen, die sich Abkühlung am Rheinufer erhofften.

Plötzlich erweckte etwas seine Aufmerksamkeit, und er blieb abrupt stehen. Nur ein Stück entfernt parkten mehrere Polizeifahrzeuge, ein größerer Bereich vom Wasser aus bis hoch zum Weg war mit rot-weißen Plastikbändern gesichert.

Einige Schaulustige hatten sich bereits eingefunden, denen die Polizisten die Sicht auf das, was sich dort unten tat, mit weißen Pavillons, die innerhalb des markierten Bereichs aufgebaut worden waren, zu verwehren versuchten.

Er ging noch ein Stück weiter, reckte nun selbst den Hals.

»Was ist denn los?«, fragte er einen Mann, der das Geschehen aufmerksam verfolgte. Er schätzte ihn auf Anfang siebzig.

»Heute in der Früh hat da einer eine Leiche entdeckt«, gab dieser Auskunft, ohne seinen Blick von dem abzuwenden, was sich dort unten tat. »Das Wasser geht ja schon seit Jahren zurück, und durch die Hitze in letzter Zeit wurde die wohl freigelegt.« Der Mann drehte sich zu ihm um. »Klaus«, er deutete mit dem Kinn auf einen anderen Mann, der ein Stück weit entfernt stand, »hat mit dem gesprochen, der sie gefunden hat. Sie soll einzementiert gewesen sein.«

»Einzementiert?«

Der Mann nickte. »Ja. Stimmt doch, oder, Klaus?«, rief er dem anderen zu.

»Ja«, rief dieser zurück und gesellte sich zu ihnen, offenbar erfreut darüber, sein Wissen teilen zu können.

»Ich war ja einer der Ersten hier«, sagte er, und es klang, als empfinde er so etwas wie Stolz. »Der, der sie gefunden hat, ist jetzt da unten bei der Polizei. Aber ich habe vorhin mit ihm sprechen können. Angeblich ist die Leiche zerstückelt und einzementiert. Der skelettierte Kopf hat wohl noch rausgeguckt. Ist ’ne junge Frau mit langen blonden Haaren.« Er schüttelte den Kopf. »Die Haare waren im Beton eingegossen, sonst wären die sicherlich längst ausgefallen, doch am Rest haben sich die Fische wohl ordentlich bedient.«

»Danke«, sagte er und spürte Übelkeit in sich aufsteigen. Ein Blick auf seine Smartwatch verriet ihm, dass sein Puls soeben in die Höhe geschnellt war. Er zog das Handy hervor, ging ein paar Schritte zur Seite und wählte die Nummer seines besten Freundes.

»David, ich bin’s.« Er senkte seine Stimme, damit nicht jeder mitbekam, was er sagte. »Ich bin am Fähranleger Langel. Vielleicht solltest du herkommen. Sie haben eine Frauenleiche mit langen blonden Haaren aus dem Rhein geborgen.«

Sein Freund erwiderte nichts, sondern legte sofort auf. Er steckte das Handy wieder ein und sah, wie nun eine etwa dreißigjährige Frau mit kurzen dunklen Haaren und ein Mann mit braunen Haaren und einem Bart aus dem Pavillon der Polizei heraus ins Freie traten. Die junge Frau blickte zu ihm herauf, und kurz fühlte er sich ertappt, ganz so, als hätte er etwas Falsches getan. Ihr Blick schien ihn zu durchbohren, sodass er sich eilig abwandte. Wer war sie?

1. Kapitel Kasselberger Weg am Rhein, Köln Donnerstag, 29. Juni 2023

Jedes Opfer hat es verdient, dass ihm Gerechtigkeit widerfährt. Und meine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen.

Sophie Kaiser

Sophie Kaiser war zusammen mit ihrem Kollegen vom BKA Wiesbaden, Leonhard Michels, unter dem Pavillon hervorgetreten und sah nun zu den Schaulustigen hinauf. Ihr Blick fiel auf einen Jogger, der direkt zu ihr sah. Etwas an seiner Körpersprache verriet Sophie, dass er mehr an dem, was hier unten geschah, interessiert war als die übrigen Schaulustigen, die sich am Rheinufer eingefunden hatten und die Hälse reckten, um möglichst nichts von dem zu verpassen, was am Fundort vor sich ging.

»Ich brauche Fotos von allen Leuten dort oben. Bitte kümmern Sie sich darum«, wies sie einen uniformierten Kollegen an. »Und die vollständigen Personalien, bitte. Einzelfotos von denen, die keinen Ausweis dabeihaben.«

»In Ordnung«, gab der Polizist knapp zurück und setzte sich in Bewegung.

»Dafür brauchen Sie unsere Einwilligung«, hörte Sophie jemanden laut sagen und sah erneut nach oben, ob es der Jogger war, der sich beschwerte. Doch der hatte sich etwas abseits gestellt, das Handy in der Hand, und schien zu telefonieren. Sophie wandte sich Leonhard zu.

»Denkst du, dass unser Mann dafür verantwortlich ist?«, fragte Leonhard.

»Aufgrund der Auffindesituation nicht«, antwortete Sophie. »Er hat bisher keines seiner Opfer zerstückelt. Und die einzige Gemeinsamkeit sind nach jetzigem Kenntnisstand das Geschlecht und der Rest, der von ihren langen blonden Haaren übrig ist.«

Marcus Brandner von der Spurensicherung trat ebenfalls unter dem Pavillon hervor und gesellte sich zu Sophie und Leonhard, gefolgt von seinem Kollegen Stephan Moritz.

»Und?«, fragte Leonhard nur.

»Was die Spuren angeht, solltet ihr nicht zu viel erwarten. Das Wasser wird einen Großteil vernichtet haben, und wir können lediglich auf Anhaftungen unter dem Zement und am Opfer selbst hoffen. Doch ob hier etwas übrig geblieben ist, ist fraglich. Bei dem Zustand der Leiche werden wir das Opfer wohl nur über die Zähne oder einen DNA-Abgleich identifizieren können.«

»Kannst du schon sagen, wie lange sie in etwa im Fluss gelegen hat?«, fragte Sophie, worauf Marcus sogleich den Kopf schüttelte.

»Das ist zum jetzigen Zeitpunkt unmöglich. Denk an die caspersche Regel: Im Wasser fault eine Leiche bei gleichen Temperaturbedingungen nur halb so schnell wie an der Luft. Da sie aber nur noch Reste ihrer langen Haare hat, wird sie längere Zeit im Wasser gelegen haben, nicht nur Tage, sondern wahrscheinlich Jahre.« Brandner atmete einmal tief durch.

»Also eher nicht Katherine Wolf? Oder Selina Breuer?«, vergewisserte sich Sophie, denn aktuell wurden zwei weitere junge Frauen mit langen blonden Haaren vermisst.

Der Mann von der Spusi zuckte mit den Achseln, brummte: »Eher nicht«, dann wandte er sich an seinen Kollegen. »Komm, machen wir weiter. Je schneller wir bei dieser Hitze und dem Fäulnisgestank der Leiche fertig werden, desto besser.« Damit machte er kehrt und verschwand wieder unter dem Pavillon. Stephan zögerte kurz, dann folgte er Marcus, obwohl ihm anzusehen war, dass er gern noch einen Moment lang pausiert hätte.

»Was überlegst du?«, fragte Leonhard, mit dem sie seit nunmehr einem Vierteljahr fest beim BKA Wiesbaden zusammenarbeitete. Sophie war froh gewesen, dass Leonhard ihr Angebot angenommen hatte, mit ihr zusammen zum BKA zu wechseln und dort in einer neu gegründeten Einheit deutschlandweit tätig zu werden. Nachdem Leonhard und sie gemeinsam den sogenannten Sandmann-Fall hatten aufklären können, war ihr vom Leiter der operativen Fallanalyse des BKA nicht nur der neue Job, sondern darüber hinaus angeboten worden, ihr Team selbst zusammenzustellen. Sophie hatte nicht lange überlegen müssen und sich für Marcus Brandner und Stephan Moritz von der Spurensicherung der Kripo Hannover entschieden. Sie hatte nicht bezweifelt, dass diese ihr zum BKA folgen würden, und sie hatte mit ihrer Einschätzung richtiggelegen. Marcus war in gesellschaftlicher Hinsicht ein recht anstrengender Charakter, zumindest für die Allgemeinheit. Sophie und er jedoch hatten sich von Anfang an gut verstanden, und Sophie war der Ansicht, dass sein Verhalten und seine Art zu denken sehr viel logischer und nachvollziehbarer waren als die der meisten Menschen, mit denen sie zu tun hatte. Marcus Brandner war, was die Spurensicherung anging, eine Koryphäe, weshalb er trotz seiner zahlreichen Marotten von den Kolleginnen und Kollegen akzeptiert wurde. Für Sophie zählte neben seiner akribischen Arbeit vor allem die Tatsache, dass Marcus genau wie ihr selbst Arbeitszeiten vollkommen gleichgültig waren. Für sie war es eine Selbstverständlichkeit, die einzig logische Handlungsoption, sich voll und ganz in seine Arbeit zu knien, wenn ein Verbrechen stattgefunden hatte. Menschen, die mit einem Fall befasst waren und das nicht taten, waren ihr suspekt. Und dass Stephan Moritz nach Marcus’ Zusage ebenfalls mitkommen würde, war für Sophie ebenfalls logisch gewesen. Marcus war für Stephan eine Art Mentor und Stephan vermutlich der einzige Mensch, der vierundzwanzig Stunden am Stück mit Marcus umgehen konnte und dazu auch bereit war. Denn dass Marcus mit seiner Art viele vor den Kopf stieß, hatte Sophie selbst oft genug mitbekommen.

Bei Leonhard Michels dagegen hatte Sophie auf eine Zusage gehofft, wenngleich nicht wirklich daran geglaubt. Immerhin hatte dieser sich in Lübeck eine Karriere aufgebaut, war dort überaus angesehen und geschätzt. Vor allem aber wohnten Leonhards Eltern und die Familie seiner Schwester dort, und Sophie hatte trotz der Freundschaft, die sich zwischen ihnen nach dem Sandmann-Fall entwickelte, nicht einschätzen können, welchen Stellenwert dies für Leonhard hatte. Umso erfreuter war sie gewesen, als dieser ihr, nur einen Tag nachdem sie sich in Lübeck zum Essen getroffen hatten und sie ihm das Angebot unterbreitet hatte, die Zusage gab. Sophie war der festen Überzeugung, dass sie gemeinsam in der Lage sein würden, gute Arbeit zu leisten. Arbeit, die derzeit darin bestand, eine vor drei Tagen entführte Achtzehnjährige zu finden, bei der zu befürchten stand, dass sie einem Serienvergewaltiger und -mörder in die Hände gefallen sein könnte, der bereits mehrere tote Mädchen auf dem Gewissen hatte.

»Sophie?« Leonhard suchte ihren Blick. Wie so oft hatten ihre Gedanken sich verselbstständigt.

»Entschuldige«, bat sie. »Was hast du gefragt?«

»Ich habe dich gefragt, was du denkst«, antwortete er.

Sophie bedeutete ihm, sich noch ein Stück weiter vom Pavillon zu entfernen. Sie wollte vermeiden, dass die Kollegen und Kolleginnen sie eventuell hören konnten.

Sophie war froh, dass sie Leonhard hatte anvertrauen können, dass bei ihr schon im Kindesalter Autismus, genauer das Asperger-Syndrom, diagnostiziert worden war und sie manches anders wahrnahm als er. Sie hatte es für richtig befunden, es ihm zu sagen, hatte gespürt, dass sie ihm vertrauen konnte, was für Sophie eine neue Erfahrung gewesen war. Sie sprach nicht oft mit anderen über sich, eigentlich nie, und zwar nicht nur, weil sie nicht die geringste Lust hatte, sich und ihre Art zu denken und zu handeln auf irgendeine Weise erklären zu müssen, sondern weil sie das Denken und Handeln der anderen häufig für unlogisch hielt, nicht ihr eigenes. Ihr fiel es nicht schwer, sich nicht von ihren Gefühlen leiten zu lassen und damit so kopflos zu reagieren wie die meisten Menschen, mit denen sie zu tun hatte. Ihr Problem war eher, die ihres Empfindens nach unkontrollierten Emotionen anderer nachvollziehen zu können, doch das ließ sie sich nicht anmerken. Genauso wenig wie sie sich anmerken ließ, was sie dachte. Für sie war das, was in ihrem Kopf vorging, überaus persönlich, und wer darüber Bescheid wissen durfte, entschied nur sie allein. Leonhard respektierte das und hatte ihr in dem Gespräch über ihr Asperger-Syndrom sogar gesagt, dass er es geradezu faszinierend fand, auf welch besondere Art sie die Dinge betrachtete und wahrnahm. Das Vertrauen zwischen ihnen war dadurch noch einmal gewachsen und hatte sie noch enger miteinander verbunden. Sophie spürte, nein, sie wusste, dass sie sich zu einhundert Prozent auf Leonhard verlassen konnte. Und schon so manches Mal hatte sie bemerkt, dass er, wenn sie mit ihrer rein analytischen Art wieder einmal jemanden ungewollt vor den Kopf stieß, eingegriffen und die Wogen geglättet hatte. Ihr tat es gut, mit Leonhard einen Vertrauten an ihrer Seite zu haben, und inzwischen konnte sie es zulassen, mit ihm genau über die Dinge zu sprechen, bei denen sie spürte, an Grenzen zu stoßen – bei sich selbst oder bei anderen. Es war noch immer ein seltsames Gefühl, doch eines, das Sophie mehr als nur zu schätzen wusste.

»Ich habe Schwierigkeiten«, flüsterte sie Leonhard nun zu, als sie sicher war, dass niemand sie hören konnte.

Leonhard sah sie fragend an.

»Ich habe Schwierigkeiten, mir ein klares Bild zu machen«, präzisierte sie und deutete mit einer Kopfbewegung in Richtung Pavillon. »Dadurch, dass der Körper zerteilt und in diese Form gebracht wurde, fällt es mir schwer, ihn mir als Frau vorzustellen.«

»Weil er jetzt in diese Würfelform gepresst ist, ich verstehe.« Leonhard nickte.

Sophie legte die Stirn in Falten und schüttelte den Kopf.

»Nein. Das ist keine Würfelform«, widersprach sie. »Ein Würfel besteht aus sechs Seitenflächen, acht Ecken und zwölf Kanten, und alle Seitenflächen sind gleich große Quadrate.«

»Aber es sieht aus wie ein Würfel«, versuchte Leonhard zu erklären, »also … fast.«

Wieder schüttelte Sophie den Kopf und krauste die Stirn. »Die obere und untere Seite des Zementblocks«, stellte sie dann klar, »sind weit länger als die Seitenflächen, sodass die Form eher an einen Quader als an einen Würfel erinnert, wobei ein Quader ein regelmäßiger Körper mit rechten Winkeln ist. Diese sind hier nicht gegeben.« Sie schüttelte bekräftigend den Kopf. »Darüber hinaus sind bei einem Quader die gegenüberliegenden Seiten parallel zueinander und gleich lang und …«

Leonhard legte vorsichtig seine Hände auf ihre Schultern und unterbrach so ihren Redeschwall.

»Das da drin entspricht keiner regelmäßigen geometrischen Form, du hast vollkommen recht. Mein Fehler.« Er hob abwehrend die Hände. Sophie setzte zu einer Erwiderung an, doch dann brach sie ab. Sie kannte Leonhard inzwischen gut genug, um zu wissen, dass er ein gutes Regulativ für sie war. Außerdem stellte sie verwundert fest, wie selbstverständlich inzwischen Körperkontakt zwischen ihnen geworden war, auch wenn dieser sich auf leichte Berührungen an Armen oder Schultern beschränkte. Zwar hatte sie es Leonhard nie gesagt, doch er schien zu ahnen, dass Sophie allgemein übliche soziale Gesten wie Händeschütteln geradezu absurd fand und sich mehr oder weniger dazu zwingen musste. Genau das wusste Sophie zu schätzen, gab es ihr doch das Gefühl, sich weder ständig hinterfragen noch erklären zu müssen.

Sie beugte sich nach vorn und konzentrierte sich.

»Ich frage mich, weshalb der Täter die Frau verstümmelt hat. Es sieht auf den ersten Blick nach einer defensiven Mutilation aus.«

Mutilation kam aus dem Lateinischen von mutilare und bedeutete so viel wie jemanden schwer zu verletzen, meistens mit dem Verlust von Körperteilen, erinnerte Sophie sich an ihr Studium. Mit ihrem eidetischen Gedächtnis konnte sie nicht anders, als alle Informationen, die sie zu einem Thema oder Begriff verinnerlicht hatte, unbewusst abzurufen. Das konnte sehr anstrengend sein. Besonders wenn sie kurz vor der Aufklärung eines Falles stand, hatte sie das Gefühl, ihre Gedanken kaum noch kontrollieren zu können.

Sophie atmete tief durch, versuchte ein Gefühl für die Leiche zu bekommen. Bei der Frau im Beton sah es auf den ersten Blick so aus, als habe es sich um eine pragmatische Entscheidung des Täters gehandelt. Möglicherweise konnte er die Tote nicht in einem Stück abtransportieren, zum Beispiel weil er fürchtete, Nachbarn könnten ihn dabei beobachten. Deshalb trennte er die Extremitäten vom Körper ab und transportierte die Leichenteile an einen Ort, wo er den Torso und die anderen Körperteile in Beton goss. Wie aber mochte es ihm gelungen sein, ohne Hilfe ein solches Gewicht in den Rhein zu verfrachten? Und war das wirklich das Motiv des Täters für die Verstümmelung? Sie würde mehr darüber sagen können, wenn sie erfuhr, welche Verletzungen der Körper der Toten noch aufwies. Sophie hatte in der Vergangenheit mit einigen Tätern gesprochen und zahlreiche Protokolle studiert. Viele von ihnen beschrieben das Prozedere des Tötens als einen unglaublichen Rausch. Sadisten beispielsweise ergötzten sich am Schmerz ihres Opfers, ehe sie es umbrachten. Manchmal war die Wut von Tätern sogar so groß, dass ihre Gewalt über den Tod hinausging. War dies hier der Fall gewesen? Dann würde der Modus Operandi des Täters ins Raster der aggressiven beziehungsweise offensiven Form der Leichenverstümmelung fallen. Sophie spürte, wie ihre Finger zu kribbeln begannen. Sie brauchte mehr Informationen, und zwar so schnell wie möglich.

»Was denkst du?«, fragte Leonhard.

Sophie richtete sich auf. »Ich brauche mehr Informationen, um mich dem Täter anzunähern. Es macht mich …«, sie suchte nach dem richtigen Wort, »nervös, so wenig zu wissen.«

Einen Moment sahen sie sich an, dann nickte Leonhard.

»Ich weiß, was du meinst. Hier können wir im Augenblick sowieso nichts mehr tun. Das Beste wird sein, wir fahren ins Präsidium und machen dort weiter, bis wir die Nachricht erhalten, dass der Leichnam aus dem Zement befreit wurde und wir in die Rechtsmedizin können, um uns die Verletzungen anzusehen. Ich hoffe, es dauert nicht zu lange, die Todesursache zu bestimmen.«

Sophie nickte. »Ja, das wird das Beste sein.«

Leonhard zwinkerte ihr zu. »Und übrigens: Für mich fühlt sich die Form, in der sich der Körper befindet, auch falsch an. Wahrscheinlich für jeden, außer für den, der dafür verantwortlich ist.«

Sophie lächelte. »Fahren wir«, sagte sie dann, wohl wissend, dass Leonhard ihr mit seinen Worten ein gutes Gefühl geben wollte. Sie streiften die Einmalhandschuhe ab und gaben den Kollegen Bescheid, dass sie in die Dienststelle fahren würden, wo eigens für sie und die weiteren Mitarbeiter, die ihnen für die Aufklärung der Fälle zur Verfügung standen, mehrere Büroräume eingerichtet worden waren.

Als beide wieder unter dem Pavillon hervortraten, sah Sophie, dass ein Mann, sie schätzte ihn auf Anfang dreißig, sich an den uniformierten Kollegen vorbeizudrängeln versuchte.

»Sie können hier nicht durch! Nehmen Sie doch Vernunft an!«, forderte der Polizist, der oben die Fotos gemacht hatte und die Personalien der Schaulustigen hatte aufnehmen sollen.

Sophie sah, wie der Jogger, zu dem sie vorhin Blickkontakt gehabt hatte, den Mann ebenfalls zu beruhigen versuchte.

»Ich will mit den Verantwortlichen sprechen!«, brüllte der jedoch und stieß den Polizeibeamten so heftig gegen die Brust, dass dieser taumelte und zu Boden ging.

Zwei weitere Polizisten bekamen den kleinen Tumult mit und eilten ihrem Kollegen zu Hilfe.

»Halt!«, rief einer der Beamten, was jedoch keinerlei Wirkung zeigte. Daraufhin brachten sie ihn gemeinsam recht unsanft zu Boden und fixierten ihm die Hände auf dem Rücken.

»Lassen Sie ihn los!«, mischte sich der Jogger ein und machte einen Schritt auf die ringende Dreiergruppe zu, dann bückte er sich und sah den am Boden liegenden Mann an. »Mensch, David, lass den Scheiß!«

Leonhard, der den uniformierten Kollegen hatte beispringen wollen, ging nun ebenfalls in die Hocke und sprach den Mann an. »Wenn meine Kollegen Sie jetzt loslassen, werden Sie sich dann benehmen?«

Der Mann, den der Jogger »David« genannt hatte, nickte, erwiderte aber nichts.

»Lasst ihn los!«, ordnete Leonhard an.

»Verdammte Polizeigewalt!«, schnauzte einer der Schaulustigen weiter oben, doch keiner von ihnen ging darauf ein.

Die Beamten ließen den Mann los und halfen ihm auf. Mittlerweile war auch der gestürzte Polizist wieder aufgestanden und gesellte sich zu ihnen.

»Wie heißen Sie?«, fragte Sophie den Mann ruhig.

»David, David Specker.« Mit Tränen in den Augen deutete er auf den Pavillon. »Ist das dort Mirja?«

»Mirja …?«,

»Mirja Schmieder«, antwortete David Specker stockend.

»Wir wissen noch nicht, wer das Opfer ist«, erklärte Sophie, dann wandte sie sich dem Jogger zu. »Und Sie sind?«

»Niklas Harms. Ich bin Davids Freund und habe ihn angerufen, als ich sah, was hier vor sich ging«, antwortete er.

»Ist Mirja Schmieder Ihre Frau?«, fragte Leonhard Specker.

»Meine Verlobte.«

»Mein Name ist Sophie Kaiser, das ist mein Kollege Leonhard Michels«, stellte Sophie Leonhard und sich vor, ohne ihre Ausweise vorzuzeigen oder zu erwähnen, dass sie vom BKA waren. »Seit wann wird Ihre Verlobte vermisst?«

»Seit sechs Monaten und vierundzwanzig Tagen«, gab David Specker kraftlos zur Antwort, und Sophie konnte die Verzweiflung des Mannes in seinen Augen lesen.

»Darf ich bitte mal Ihre Personalausweise sehen?«, fragte Sophie, worauf David Specker seinen hervorzog, Niklas Harms jedoch mit den Schultern zuckte.

»Ich habe beim Joggen keinen Perso dabei. Ich weiß, müsste ich haben, habe ich aber nicht«, sagte Harms.

»In Deutschland gibt es zwar eine Ausweispflicht, jedoch keine Mitführpflicht«, klärte Sophie ihn auf. »Insoweit liegt kein Fehlverhalten Ihrerseits vor.«

Harms sah erst Specker und dann Leonhard an, ohne dass er etwas auf Sophies Ausführungen erwidert hätte.

»Danke«, sagte Sophie nun und reichte Specker den Personalausweis zurück. »Kommen Sie, gehen wir ein Stück«, bat sie ihn anschließend.

»Bitte lassen Sie mich nachsehen, ob sie es ist«, flehte Specker.

Leonhard schüttelte den Kopf und positionierte sich so, dass Specker die Sicht zum Pavillon verwehrt wurde. »Das geht nicht«, sagte er und sah dem Mann fest in die Augen. »Die Spurensicherung ist noch dabei, ihre Arbeit zu machen.«

»Bitte, ich will doch nur Gewissheit haben!« Tränen traten in die Augen des Mannes.

»Herr Specker«, versuchte Sophie, ihn zur Vernunft zu bringen. »Mein Kollege hat recht. Wir können Sie nicht dorthin lassen. Lassen Sie unsere Kollegen ihre Arbeit machen, damit wir eine Chance haben, die Tote zu identifizieren und den zu finden, der für diese Tat verantwortlich ist.« Er klappte den Mund auf, um zu widersprechen, doch sie blickte ihm fest in die Augen. »Selbst wenn es sich um Ihre Verlobte handelt, könnten Sie sie unter den gegebenen Umständen nicht zweifelsfrei identifizieren. Sobald wir mehr wissen, sehen wir weiter.«

Specker hob die Hände vor den Mund und atmete mehrmals hinein, um nicht zu hyperventilieren. Sophie merkte ihm deutlich an, dass ihm übel geworden war. Nach einer Weile blickte er seinen Freund Niklas an, der ihm zunickte.

»Gehen wir ein Stück«, forderte Sophie Specker erneut auf und deutete zum Weg, der oben am Fluss entlang verlief.

Specker sah noch einmal zum Pavillon, dann setzte er sich in Bewegung. Zu viert gingen sie unter den Blicken der Schaulustigen die Böschung hinauf.

»Ihre Verlobte ist also im Dezember verschwunden?«, begann Sophie, als sie den Weg erreichten, ein Stück von den Schaulustigen entfernt, sodass diese ihre Unterhaltung nicht mitbekamen. »Erzählen Sie uns bitte von dem Tag«, forderte sie Specker auf, der tief durchatmete und dann zu reden begann.

2. Kapitel Kasselberger Weg am Rhein, Köln Donnerstag, 29. Juni 2023

Sophie mag manch einem eigenartig erscheinen. Für mich jedoch ist sie der logischste Mensch, der mir je begegnet ist.

Leonhard Michels

»Ihre Verlobte ist also im Dezember verschwunden. Können Sie uns erzählen, wie der Tag verlief? Ist Ihnen irgendetwas Besonderes aufgefallen?«, fragte Sophie erneut, während sie, David Specker, Niklas Harms und Leonhard sich Schritt für Schritt immer weiter vom Leichenfundort und der Gruppe Schaulustiger, die sich oberhalb der von der Polizei aufgestellten Pavillons versammelt hatte, entfernten.

Specker nickte, jetzt ein klein wenig gefasster. »Es war ein ganz normaler Montag«, begann er. »Einen Tag vor Nikolaus. Es hat geregnet, und Mirja und ich haben gefrühstückt und uns gewünscht, dass endlich mal Schnee fällt, denn wir wollten uns am nächsten Tag mit einigen Freunden auf einen Glühwein und eine Bratwurst treffen.« Er nickte zu Niklas Harms hinüber. »Bei Nik und Leonie im Garten.«

»Das stimmt«, bestätigte Harms. »Wir machen das jedes Jahr, reihum.«

»Mit wie vielen Leuten?«, fragte Sophie.

»Mit zwölf. Wir sind sechs Paare«, gab Specker Auskunft.

»Wobei wir in dem Jahr elf Leute gewesen wären, weil Julian und Alena sich kurz zuvor getrennt hatten«, stellte Harms klar.

»Richtig.« Specker nickte. »Inzwischen sind sie wieder zusammen. Ist eine On-off-Beziehung bei den beiden. Aber das spielt für Ihre Ermittlungen wohl kaum eine Rolle.«

»Sie haben also zusammen gefrühstückt«, brachte Sophie ihn auf den Tagesablauf zurück. »Haben Sie das immer gemacht?«

»Meistens«, antwortete Specker. »Ich arbeite als Systemadministrator, da kann es schon mal passieren, dass sich bei einem Kunden morgens der Server verabschiedet und nichts mehr geht. In so einem Fall werde ich um sechs aus dem Bett geklingelt, aber das kommt nicht allzu oft vor – und wenn doch, dann ist Mirja immer noch liegen geblieben, sie muss ja erst um halb zehn bei der Arbeit sein.«

»Als was arbeitet Ihre Verlobte?«, wollte Leonhard wissen.

»Sie arbeitet in einer Marketingagentur.«

»Uns ist klar, dass Sie das alles wahrscheinlich schon bei Ihrer Vermisstenanzeige angegeben haben«, sagte Sophie. »Macht es Ihnen etwas aus, es uns noch einmal zu erzählen?«

»Nein, überhaupt nicht«, antwortete Specker sofort. »Vielleicht finden Sie ja einen neuen Ansatz. Ihre Kollegen tappen bisher vollkommen im Dunkeln.« Die Hoffnung in seiner Stimme war nicht zu überhören.

Leonhard war klar, weshalb Sophie diese Frage gestellt hatte. Menschen, die ein schlechtes Gewissen oder etwas mit einer Tat zu tun hatten, schilderten ihre Wahrnehmung der Ereignisse im Regelfall nur ungern ein weiteres Mal, geschweige denn weitere Male. Sophie hatte Leonhard außerdem einmal erklärt, dass Lügner dazu neigten, das bereits Gesagte in exakt derselben Reihenfolge zu wiederholen, eine Erfahrung, die er bei seiner Arbeit auch schon mehrfach gemacht hatte. Diejenigen, die die Wahrheit sagten, sprangen in ihren Schilderungen zeitlich hin und her, korrigierten sich, führten Details aus und bezogen sich selbst mit ein.

»Wir geben unser Bestes«, versprach Sophie, dann hakte sie nach: »Worüber haben Sie sonst noch gesprochen? Wissen Sie das noch?«

»Ja. Ich glaube, ich weiß noch jedes Wort.«

Leonhard sah, wie Specker erst nickte und dann den Kopf schüttelte.

»Es ist schon eigenartig, oder? Ich könnte Ihnen nicht spontan sagen, ob ich letzte Woche am Dienstag oder am Mittwoch einkaufen war, aber was Mirja und ich an dem Tag besprochen haben, weiß ich noch, als wäre es heute gewesen.«

Leonhard sah ihn von der Seite an. »Und was haben Sie besprochen?«

»Organisatorische Dinge, im Grunde belanglos. Wir haben das Weihnachtsfest geplant, wie wir es in diesem Jahr halten wollten. Wir waren sonst immer am ersten Weihnachtstag bei ihren Eltern, am zweiten bei meinen. Diesmal aber wollten meine Eltern am zweiten Feiertag verreisen, deshalb baten sie mich, die Tage zu tauschen und am ersten Weihnachtstag zu ihnen zum Essen zu kommen. Das ging jedoch nicht, denn Mirjas Bruder und seine Frau hatten nur am ersten Weihnachtstag Zeit, die Familie wäre dann nicht zusammengekommen.« Specker sah Leonhard an. »Belangloser Alltagskram, ich weiß. Aber Sie haben gefragt.«

»Wie haben Sie das Ganze gelöst?«, erkundigte sich Sophie.

»Na ja, an dem Morgen gar nicht. Wir wollten später nach einer gemeinsamen Lösung suchen, doch dazu sind wir nicht mehr gekommen.« Speckers Stimme brach.

»Wann ist Ihre Verlobte aus dem Haus gegangen?«

»Ich weiß es nicht genau, ich vermute aber, so gegen neun. Sie geht immer so gegen neun Uhr aus dem Haus.«

»Und wieso wissen Sie das nicht?«, fragte nun wieder Leonhard.

»Weil ich früher losmusste wie immer. Ich habe mich gegen kurz nach acht auf den Weg gemacht. Meine Arbeitsstelle ist nur zehn Minuten mit dem Auto von unserer Wohnung entfernt, fünfzehn, wenn der Verkehr sich staut. Ich fange regulär um halb neun an.«

»Wie hat Ihre Verlobte auf Sie gewirkt, als Sie gegangen sind?«, fragte Sophie.

»Ganz normal.« Er zuckte mit den Achseln. »Wirklich, genau wie immer. Ich habe ihr einen Kuss gegeben und ihr einen schönen Tag gewünscht.«

»Es hat keinen Streit gegeben?«, hakte Sophie nach. »Ich meine, wegen der Aufteilung zu Weihnachten.«

»Nein.« Specker schüttelte den Kopf. »Ich fand ja, dass sie recht hatte.«

»Recht womit?«

»Na ja, Mirja war der Ansicht, dass meine Eltern nicht einfach alles umstoßen können, was wir die ganzen Jahre über immer so gemacht hatten, und ich war ihrer Meinung. Es wäre wohl darauf hinausgelaufen, dass wir meine Eltern zu Weihnachten diesmal nicht besucht hätten.«

»Und das war wirklich okay für Sie?«, fragte Leonhard.

Specker blieb stehen. »Sie wollen mir jetzt aber nicht unterstellen, dass ich etwas mit Mirjas Verschwinden zu tun habe, weil ich möglicherweise meine Eltern zu Weihnachten nicht hätte sehen können?«

Sophie schüttelte den Kopf. »Nein, das wollen wir Ihnen nicht unterstellen. Die Frage meines Kollegen zielte darauf ab, in Erfahrung zu bringen, in welcher Stimmung Ihre Verlobte war, als sie später das Haus verließ und sich auf den Weg zur Arbeit machte«, erklärte sie.

Specker setzte sich wieder in Bewegung. »Ich vermute, in guter. Wirklich, es gab keinen Streit zwischen uns. Wir fanden das Theater wegen Weihnachten eher lächerlich.«

»Mirja war immer sehr entspannt«, erklärte nun Niklas Harms. »Wir anderen haben die beiden immer nur als das ›Vorzeigepaar‹ bezeichnet.«

Leonhard fiel auf, dass Harms die Vergangenheitsform benutzte, und er war sich sicher, dass Sophie es ebenfalls bemerkt hatte.

»Konnte von unseren Kollegen seinerzeit ermittelt werden, wann genau Ihre Verlobte verschwunden ist?«, fragte Sophie.

»Das muss irgendwann auf dem Weg zur Arbeit gewesen sein, denn dort ist sie nie angekommen«, antwortete Specker, und Leonhard konnte deutlich hören, wie er schluckte.

»Ist es denn sicher, dass sie das Haus verlassen hat?«, fragte sie weiter, und Leonhard war überrascht, dass seine Kollegin bei dieser Frage nicht David Specker ansah, sondern nach rechts blickte zu dessen Freund Niklas Harms.

»Was ist denn das für eine Frage?«, entgegnete Harms überrascht, und Specker blieb erneut stehen, worauf auch die drei anderen stoppten.

»Nun, es wäre doch möglich, dass der Täter bei Ihnen geklingelt hat, von Ihrer Verlobten reingelassen wurde und eine mögliche Entführung erst später stattfand«, antwortete Sophie und sah zunächst Specker, dann Harms an.

»Aber …« Specker zog die Augenbrauen zusammen. »Aber hätte es dann nicht irgendwelche Kampfspuren bei uns zu Hause geben müssen?«

»Wurde Ihre Wohnung denn dahingehend untersucht?«, fragte Leonhard.

»Nein. Ich meine, es gab ja auch überhaupt keinen Grund dafür. Als ich nach Hause kam, war nichts durcheinander, nichts deutete auf einen Kampf hin. Alles war wie immer, nur eben, dass Mirja nicht da war.«

»Sie hatten also den ganzen Tag keinen Kontakt?«, fragte Sophie nun.

»Nein.« Specker schüttelte den Kopf.

»War das normal? Ich meine, die meisten Paare schicken sich doch zumindest in der Pause eine WhatsApp oder fragen, ob sie noch was vom Einkaufen mitbringen sollen«, meinte Leonhard.

»Ja, das stimmt.« Specker nickte.

»Aber Ihre Verlobte hat sich den ganzen Tag über nicht gemeldet?«, hakte Sophie nach.

»Nein.«

»Doch Gedanken gemacht haben Sie sich deshalb nicht?«

»Na ja, ich hatte an dem Tag einiges zu tun und habe nicht ständig aufs Handy gesehen. Außerdem hätte es ja auch sein können, dass sie ihres zu Hause vergessen hatte.«

»Ist das öfter vorgekommen?«, wollte Leonhard wissen.

»Nein, eigentlich hatte sie es immer bei sich«, räumte Specker ein.

»Muss die Fragerei wirklich sein?«, schaltete sich Harms dazwischen. »Er hat nichts mit Mirjas Verschwinden zu tun, und ihn quält das Ganze schon genug.«

»Und Sie?«, fragte Sophie und sah ihn an, ohne eine Miene zu verziehen.

»Was soll das? Ich habe zu der fraglichen Zeit gearbeitet, das kann jeder in meiner Firma bezeugen. Außerdem hätte ich überhaupt keinen Grund gehabt, Mirja was anzutun«, empörte sich Harms.

»Meine Frage galt nicht dem ersten Teil Ihrer Bemerkung, sondern dem zweiten«, stellte Sophie klar. »Sie sagten, Herr Specker habe nichts mit dem Verschwinden seiner Verlobten zu tun und das Ganze würde ihn schon genug quälen«, wiederholte sie. »Ich dagegen möchte von Ihnen wissen, ob Sie das Verschwinden der Verlobten Ihres Freundes ebenfalls quälen würde.«

Harms war anzusehen, dass er nicht recht wusste, wie er mit ihrer Erwiderung umgehen sollte. »Ja, allerdings. Es quält mich, weil so was einfach keinen Menschen kaltlässt«, sagte er zögernd.

»Woher kennen Sie eigentlich den genauen Zeitpunkt von Frau Schmieders Verschwinden?«, hakte Sophie weiter nach.

»Den kenne ich nicht«, knurrte Harms.

»Aber sagten Sie nicht eben, dass Sie zur fraglichen Zeit bei der Arbeit waren, was jeder in der Firma bezeugen könnte? Wie können Sie das behaupten, wenn Ihnen die fragliche Zeit doch gar nicht bekannt ist?«

»Ich gehe davon aus, dass Mirja auf dem Weg zur Arbeit verschwunden ist!«, stieß Harms aufgebracht hervor. »Auch Ihre Kollegen sind seinerzeit davon ausgegangen.«

»Verstehe.« Sophie sah nun wieder Specker an. »Haben Sie eine Visitenkarte für mich, damit ich Sie kontaktieren kann, sobald wir die Leiche aus dem Fluss identifiziert haben?«

»Sicher.« Specker fasste in seine Gesäßtasche und holte sein Portemonnaie hervor, in dem er nach einer Visitenkarte kramte.

»Wie alt war Frau Schmieder zum Zeitpunkt ihres Verschwindens?« Sophie nahm ihm die Karte aus der Hand, die er ihr entgegenstreckte.

»Neunundzwanzig«, antwortete Specker.

Leonhard und Sophie tauschten einen kurzen Blick. Sie hatten bisher zwei Leichen gefunden, beide sehr zierlich und mit langen blonden Haaren. Die beiden jungen Frauen waren vergewaltigt und offenbar auch gefoltert worden. Die eine war siebzehn, die andere sechzehn Jahre alt gewesen, eine neunundzwanzigjährige Frau entsprach also erst einmal nicht dem Opfertypus. Vielleicht war sie einem anderen Täter zum Opfer gefallen, vielleicht war der Täter von seinem üblichen Beuteschema abgewichen. Oder hatte der Täter sein Opfer so angepasst, dass es seinem Ideal gerecht wurde? Sophie hatte Leonhard auf Fälle hingewiesen, in denen Täter ihre Opfer schminkten oder ihnen bestimmte Kleidung anzogen, damit sie ihren Fantasien entsprachen. War dies auch hier der Fall? Leonhard konnte es kaum erwarten, Sophie nach ihrer Meinung zu dieser These zu fragen.

»Vielen Dank, Herr Specker«, sagte er. »Sie hören von uns.«

»Danke.« Specker war sichtlich mitgenommen und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen.

»Sagen Sie, haben Sie ein Foto von Ihrer Verlobten bei sich?«, fragte Sophie und deutete auf die Brieftasche.

»Ich habe Fotos auf meinem Handy«, erklärte Specker und zog sein Mobilgerät aus der rechten Gesäßtasche. Er entsperrte es und klickte in seinen Alben auf Favoriten. Leonhard sah, dass seine Hand zitterte.

»Hier, das ist Mirja. Bei einem Kurzurlaub in Berlin. Das war ungefähr zwei Monate vor ihrem Verschwinden. Das Foto habe ich damals auch Ihren Kollegen geschickt. Es müsste sich in der Vermisstenakte befinden.«

»Darf ich mal?« Sophie nahm ihm das Handy ab und zeigte das Foto Leonhard.

»Ihre Verlobte war neunundzwanzig?«, fragte Leonhard überrascht. »Ich hätte sie um einiges jünger geschätzt.«

»Ja«, stimmte Specker zu. »Sie sieht viel jünger aus, wahrscheinlich auch, weil sie so zierlich ist. Sie hat immer geflucht, wenn sie an der Supermarktkasse ihren Ausweis vorzeigen musste, sobald sie Alkohol kaufen wollte.« Specker lächelte, als Sophie ihm das Handy zurückreichte. Er strich mit dem Daumen über das Foto, dann steckte er das Handy wieder ein, atmete tief durch und wandte sich zum Gehen. Harms schloss sich ihm an. Er war noch immer verärgert, das konnte Leonhard ihm deutlich ansehen. Als die beiden außer Hörweite waren, sagte Leonhard zu Sophie: »Als ich hörte, dass sie neunundzwanzig ist, dachte ich sofort, sie passt nicht, aber nun …«

Sophie nickte. »Ja, das ging mir genauso, doch jetzt, mit dem Foto, habe ich meine Meinung geändert. Sie ist genau der gleiche Typ wie die beiden toten Mädchen«, pflichtete sie ihm bei.

Sie gingen langsam zurück zur Fundstelle. Marcus Brandner und Stephan Moritz waren inzwischen auch unter dem Pavillon hervorgetreten und entledigten sich soeben ihrer weißen Overalls. Brandner war darunter wie immer ganz in Schwarz gekleidet.

»Was macht ihr denn noch hier?«, fragte Brandner verwundert. »Ich dachte, ihr wolltet längst zurück im Präsidium sein.«

»Wir haben noch eine Aussage aufgenommen«, erklärte Leonhard.

»Die Verlobte des Mannes ist vor einigen Monaten spurlos verschwunden, und als sein Freund mitbekommen hat, dass eine Leiche gefunden wurde, hat er ihm Bescheid gegeben, weshalb er auf schnellstem Wege hergekommen ist.«

»Seit wie vielen Monaten wird sie jetzt vermisst?«, fragte Brandner.

»Seit etwas über sechs Monaten«, antwortete Leonhard.

»Seit sechs Monaten und vierundzwanzig Tagen«, korrigierte Sophie. »Er sagte ›sechs Monate und vierundzwanzig Tage‹.«

»Stimmt. Er sagte sechs Monate und vierundzwanzig Tage«, stellte Leonhard richtig und seufzte innerlich. Es war wirklich nicht immer leicht mit Sophie, doch um keinen Preis der Welt würde er die Zusammenarbeit mit ihr missen wollen.

»Hm.« Brandner deutete zum Pavillon. »Wenn ihr mich fragt, liegt die Tote seit mindestens zwei Jahren im Rhein, womöglich auch länger. Aber mit Wasserleichen ist das so eine Sache.«

»Verstehe«, antwortete Leonhard und warf Sophie einen Blick zu.

»Wir warten dennoch bis nach der Autopsie und der eindeutigen Identifizierung, bis wir ihm Bescheid geben«, befand Sophie. »Nur um sicherzugehen.«

»Eure Entscheidung.« Brandner griff nach dem Beweismittelkoffer, den er vor sich abgestellt hatte. »Wir fahren jetzt in die Rechtsmedizin und versuchen, die Körperteile vom Beton zu befreien. Sobald wir mehr wissen, geben wir euch Bescheid. Bis später.« Damit schickte er sich an, die Böschung hinaufzusteigen, dicht gefolgt von Stephan Moritz.

»Danke!«, rief Leonhard den beiden nach, dann wandte er sich Sophie zu, die nachdenklich in Richtung Pavillon blickte.

»Was denkst du?«, fragte er sie. »Könnte es unser Mann sein? Wenn ja, hätte er seinen Modus Operandi geändert.«

»Wir haben momentan nur Informationen zur Leichenentsorgung, doch die ist viel aufwendiger als bei den anderen, die einfach nur wie Unrat weggeworfen wurden. In diesem Fall ist es möglich, dass mehrere Täter zusammen agiert haben, denn es braucht Kraft, um diesen Betonklotz bewegen zu können. Und vermutlich haben sie Zugang zu einem Boot, denn irgendwie muss die Leiche ja in den Rhein gekommen sein. Lass uns abwarten, was uns die sterblichen Überreste sagen, wenn sie erst einmal aus dem Beton befreit sind«, schlug Sophie vor. »Vom Opfertyp her könnte es passen«, fuhr sie nach kurzem Überlegen fort. »Mich interessiert aber ganz besonders, warum der Täter seinen Modus Operandi bei seinem Nachtatverhalten verändert hat. Bei der Betonleiche konnte er nahezu sicher sein, dass sie niemals gefunden wird, bei den anderen Opfern nicht. Da war es ihm offenbar egal, ob jemand sie entdeckt oder nicht.«

»Ich weiß«, räumte Leonhard ein. »Ich wollte nur wissen, was du denkst.«

»Ich denke, dass wir uns der Antwort nach und nach nähern werden.«

»Ja, natürlich. Klar.« Leonhard ersparte sich jede weitere Bemerkung. Sophie war eben Sophie.

»Komm«, sagte er. »Fahren wir.«

Sophie nickte, dann machten sie sich zusammen auf den Weg zu seinem Auto. Leonhard hatte darauf bestanden, seinen Wagen zu nehmen, da Sophie sich noch immer kein neues Auto angeschafft hatte und er ihrem uralten Golf nicht vertraute. Dass das Ding überhaupt noch fuhr, grenzte für ihn an ein Wunder. Dabei konnte sich Sophie nun wirklich ein neues Auto leisten. Genau genommen könnte sie sich sogar gleich ein ganzes Autohaus kaufen, ohne dass sich dies großartig auf ihren Kontostand auswirkte, denn Sophie war nicht nur reich, sondern stinkreich. Ihrer Familie gehörte ein Millionenunternehmen, weshalb sie in finanzieller Hinsicht schon jetzt, mit gerade mal dreiunddreißig Jahren, komplett ausgesorgt hatte. Allerdings interessierte Sophie sich ganz und gar nicht für Geld und hätte dies Leonhard gegenüber vermutlich nie erwähnt, hätte er sie nicht ganz konkret danach gefragt, da ihm entsprechende Gerüchte zu Ohren gekommen waren.

David Specker und Niklas Harms standen vor einem Wagen, der ein Stück von Leonhards schwarzem BMW X2 entfernt am Straßenrand parkte. Specker hatte die Hände auf die Heckklappe gestützt, als sei ihm übel, Harms stand neben ihm und sagte etwas zu ihm, was Leonhard auf diese Entfernung nicht verstehen konnte. Er warf Sophie einen Blick zu, dann stiegen sie ein.

»Muss hart sein«, sagte Leonhard und deutete mit einer Kopfbewegung auf Specker und Harms, anschließend ließ er den Motor an, blinkte und fuhr an den beiden vorbei.

Sophie blickte aus dem Fenster, dann sah sie Leonhard an.

»Wenn Marcus’ Einschätzung stimmt und diese Leiche schon mindestens zwei Jahre im Rhein versenkt war, kann es zumindest nicht Mirja Schmieder sein«, fasste sie zusammen. »Wir müssen mit unseren Ermittlungen weiter zurückgehen«, überlegte sie laut, »und uns alle Vermisstenfälle der letzten fünf Jahre ansehen. Aber im Moment sollten wir uns erst einmal auf die aktuellen Fälle konzentrieren.«