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Ein Mann wird wegen Mordes an seiner reichen Tante zu lebenslanger Haft verurteilt – doch die Ermittlungsunterlagen offenbaren haarsträubende Widersprüche. Der Tod einer lebensfrohen Frau wird als Selbstmord deklariert, obwohl belastende Indizien auf den gewalttätigen Ex-Freund hinweisen. Den Mord an zwei jungen Mädchen legt die Schweizer Polizei vorschnell zu den Akten, weil die nötigen Beweise fehlen …
Axel Petermann zeigt anhand seiner neuesten Fälle, warum gängige Ermittlungsmethoden häufig versagen. Als Außenstehender kann er unabhängig ermitteln und trägt mit der »operativen Fallanalyse«, dem Profiling, maßgeblich dazu bei, die komplexen Verbrechen aufzuklären. Fesselnd und detailreich schildert er hier jeden einzelnen seiner Arbeitsschritte – wir sind bei der Wahrheitsfindung hautnah dabei.
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Seitenzahl: 519
Über den Autor:
Axel Petermann hat als Leiter einer Mordkommission in Bremen und stellvertretender Leiter im Kommissariat für Gewaltverbrechen mehr als tausend Fälle bearbeitet, in denen Menschen eines unnatürlichen Todes starben. Im Jahr 2000 begann er mit dem Aufbau der Dienststelle Operative Fallanalyse – auch bekannt als Profiling –, deren Leiter er bis zu seiner Pensionierung 2014 war. Als Dozent für Kriminalistik lehrt er seit vielen Jahren an verschiedenen Hochschulen in Deutschland. Seit 2001 ist er Fachberater für diverse Tatort-Formate sowie für zahlreiche Dokumentar- und Nachrichtensendungen und seit 2018 Moderator und Fallanalytiker der ZDF-Reihe Aufgeklärt – Spektakuläre Kriminalfälle. Er ist Autor mehrerer Bestseller, bei Heyne erschien zuletzt Der Profiler. Axel Petermann engagiert sich für die Opferhilfsorganisation ANUAS als Botschafter und Schirmherr. Er hat drei Söhne und lebt mit seiner Frau bei Bremen.
Über das Buch:
Der Tod einer lebensbejahenden jungen Frau wird als Selbstmord deklariert, obwohl belastende Indizien auf ein Tötungsdelikt hinweisen. Den Mord an zwei jungen Mädchen legt die Schweizer Polizei trotz zahlreicher Verdächtiger zu den Akten. Ein Mann wird wegen Mordes an seiner millionenschweren Tante zu lebenslanger Haft verurteilt, doch die Ermittlungsunterlagen offenbaren haarsträubende Widersprüche.
Immer wieder kommt es bei Mordermittlungen zu Fehlern – aus Unwissenheit, aus Nachlässigkeit oder weil die Ermittler davon überzeugt sind, den Täter bereits zu kennen. Angehörige und Betroffene lassen diese Fälle auch Jahre später nicht los, weshalb sie Axel Petermann um Unterstützung bitten. Mit den Methoden des Profilings rollt er die komplexen Verbrechen neu auf und gewinnt erstaunliche neue Erkenntnisse. Fesselnd und detailreich schildert er dabei jeden einzelnen seiner Arbeitsschritte – und wir sind bei der Suche nach der Wahrheit hautnah dabei.
AXEL PETERMANN
IM AUFTRAG DER TOTEN
COLD CASES
EIN PROFILER ERMITTELT
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
Die in diesem Buch geschilderten Fälle haben sich in Athen, in der Nähe von Zürich und in München ereignet und entsprechen den Tatsachen. Aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen wurden zahlreiche Namen und Schauplätze geändert. Nicht verändert wurden die Leiden der Opfer, das Grauen der Taten und die eisige Kälte des Bösen.
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Copyright © 2021 by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Angelika Lieke
Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
unter Verwendung eines Fotos von Stefan Kuntner
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN: 978-3-641-27331-6V002
www.heyne.de
Prolog – Der andere Blick auf die Wahrheit
Tod in Athen – Ich bin ein Mädchen aus Piräus
Das Rätsel der Kristallhöhle – Velo-Ausflug in den Tod
Die Tote im Parkhaus – 23 Stufen in die Freiheit
Epilog – Ein Blick zurück
Danksagung
Die Frage ist nicht, auf was du schaust,
sondern was du siehst.
Henry David Thoreau
1817–1862
Das leuchtend rot lackierte Treppengeländer wirkt vor den weiß gestrichenen Flurwänden wie ein Stoppschild. Doch es hat seine Wirkung offenbar verfehlt. In einer Ecke des Raumes sitzt ein Mann auf dem Boden. Sein Oberkörper ist nach rechts geneigt, der Kopf lehnt unnatürlich abgeknickt an der Wand, die Augen sind geschlossen. Er trägt ein graues T-Shirt, Jeans und schwarze Socken; keine Schuhe. Ich bin einen Moment irritiert, ehe ich neben dem Körper des Mannes eine Abplatzung im Mauerwerk bemerke, die von blutigen Spritzern umsäumt ist. Der Mann ist offensichtlich tot. Das blutdurchtränkte Hemd ist in Höhe seines Herzens sternförmig aufgerissen und lässt einen Einschuss in der Haut erkennen. Die rechte Hand ist zur Faust geballt. Sie ruht unterhalb der Verletzung auf dem Boden.
Um den Körper des Toten setzt sich das Signalrot des Treppengeländers auf den hellen Natursteinfliesen fort. Es müssen gut anderthalb Liter Blut sein, die eine riesige Blutlache gebildet haben. Eine schwarz brünierte Pistole der österreichischen Marke Glock, Kaliber 10 mm, liegt vor dem linken Knie der Leiche. Eine Kultwaffe, die auch in Serien wie Miami Vice und anderen Krimiformaten das Publikum faszinierte und längst ihren Einzug bei der Armee und dem FBI gehalten hat. An der Oberfläche der Selbstladepistole haften runde Antragungen, möglicherweise Blut. Das Szenario spricht für einen Suizid.
Jahre später sitzt mir der Bruder des Toten gegenüber. Er ist extra aus der Schweiz angereist, denn er vertraut der offiziellen Suizid-Version der Ermittler nicht. Für ihn war es Mord, doch noch fehlen ihm die Beweise. Ich soll ihm bei der Suche nach den Schuldigen helfen. Ein schwieriges Unterfangen, denn die Ermittlungen sind bereits abgeschlossen, der Leichnam wurde ohne Obduktion kremiert, Antragungen von Schmauchspuren an den Händen des Toten wurden nicht untersucht, sämtliche Beweismittel vernichtet – schließlich wurden sie in diesem vermeintlich eindeutigen Fall nicht mehr benötigt.
Neben einigen Fotos vom Tatort hat der Bruder des Toten auch Aufnahmen von der aufgebahrten Leiche mitgebracht. Der Körper ruht in einem mit Seide ausgekleideten Sarg. Das gestärkte weiße Totenhemd und die weiße Fliege betonen den dunklen Teint des Verstorbenen. Deutlich haben sich späte Male des Todes im Gesicht und am Hals ausgebildet. Die sind ungewöhnlich, erinnern mich an die Eindrücke von Fingernägeln und könnten auf einen Angriff gegen den Hals zu Lebzeiten hinweisen.
Und so sage ich dem Bruder meine Unterstützung zu und verspreche, mich bei ihm zu melden, sobald ich nähere Informationen zur Todesursache habe. Ich werde meine Eindrücke mit einem Rechtsmediziner besprechen.
Situationen wie diese habe ich seit meiner Pensionierung immer wieder erlebt, und jedes Mal bringen sie mich zurück zu jenem Moment vor sieben Jahren, als ich meine »Amtsstube« räumte.
Ich stehe vor den gerahmten Titelseiten der Jugend, einer Wochenzeitung für Kunst und Leben des auslaufenden 19. Jahrhunderts. Die Illustrationen begleiten mich schon seit vielen Jahren. Symbolisieren sie für mich doch nicht nur eine Kunstrichtung, sondern auch meine Ansprüche an Aufbruch, Freiheit der Gedanken, Gleichberechtigung und den Bruch mit tradierten Anschauungen und Zwängen – und die gab es nicht nur in der wilhelminischen Kaiserzeit. Wie oft habe ich diese lähmenden Hemmschuhe auch bei der kriminalistischen Arbeit gespürt, die Kreativität und Innovation häufig sehr erschwerten.
Während ich die Kunstblätter in Kartons verstaue, das Licht meiner Kommissarslampe ausknipse, einen letzten Blick durchs Zimmer schweifen lasse, bevor ich diesen Ort für immer verlasse, weiß ich, dass ich mich auch weiterhin um ungeklärte Todesfälle kümmern werde.
Obwohl ich häufig belastenden Momenten ausgesetzt bin – tragischen Beziehungstaten, Grausamkeiten, menschlichen Abgründen, tödlichen Unfällen oder Suiziden – liebe ich meinen Beruf als Fallanalytiker oder auf Neudeutsch Profiler. Ich kann mir keinen kreativeren Beruf vorstellen. Die Aufgabenstellung ist einfach, aber zugleich eine unglaubliche Herausforderung: Es geht darum, einzelne Umstände und kleinste Hinweise, die wie die Teile eines Puzzles zunächst keinen Zusammenhang ergeben, zu einem Gesamtbild zu verbinden. Doch es ist nicht nur dies, was mich an meiner Arbeit fasziniert, sondern darüber hinaus auch die Vielfalt der unterschiedlichen Aufgaben und die Gelegenheit, in mannigfaltige Lebensformen und Kulturen einzutauchen, die mir sonst verborgen geblieben wären. Das Spannende an meinem Beruf sind aber auch die Begegnungen mit so vielen unterschiedlichen Menschen, gleichgültig, ob arm oder reich, alt oder jung, unbekannt oder prominent, etabliert oder am Rande der Gesellschaft.
Natürlich kann ich auch die Faszination des Bösen nicht leugnen und die Spannung bei der Frage nach dem Whodunit – also nach dem Täter – und schließlich dem Rätsel des Warum.
Doch ich habe noch einen weiteren Antrieb bei meiner Arbeit: Ich möchte der Gesellschaft etwas zurückgeben für die Privilegien, die ich jahrzehntelang genossen habe; für die soziale Absicherung im aktiven Dienst und im Alter, die stetige Chance, mich – trotz all der genannten Erschwernisse – in meiner Arbeit zu verwirklichen, all die Kreativität bei der kriminalistischen Arbeit entwickeln zu dürfen, nur meinem Gewissen und den Gesetzen zu folgen bei der Aufklärung von Unrecht und Ungerechtigkeit, auf der Suche nach Recht und Gerechtigkeit.
Allerdings konnte ich beim Abschied von meinem Ermittlerbüro nicht ahnen, wie häufig mich auch danach noch Hilferufe von verzweifelten Menschen erreichen würden; sei es von Opfern und Hinterbliebenen oder auch von verurteilten Tätern. Mehrmals in der Woche erhalte ich Anrufe oder Briefe von Betroffenen. Und auch bei Lesungen wenden sich immer wieder Zuhörer mit den verschiedensten Sorgen an mich.
So unterschiedlich diese Anfragen auch sein mögen, eines eint diese Menschen: Sie finden ihre Interessen nicht gebührend berücksichtigt, mögen der offiziellen Beweisführung nicht folgen. Viele können sich nicht mit dem Gedanken abfinden, dass ein vermeintliches Verbrechen ungesühnt bleibt und der oder die Täter – oftmals unerkannt – in Freiheit leben. Andere wiederum sind selbst Verurteilte, die darauf hoffen, rehabilitiert zu werden.
Dabei zeigt sich: Nicht nur das Leben der direkt Betroffenen wird zerstört, sondern auch das Leben von völlig unschuldigen Partnern, Eltern, Kindern und anderen Angehörigen – sei es von Opfern als auch Tätern – und eben auch das Leben von zu Unrecht Beschuldigten.
Häufig handelt es sich bei den Hilfesuchenden um Menschen, die sich bei ihrem Bemühen um Anerkennung finanziell bereits völlig verausgabt haben und die nicht mehr in der Lage sind, die Kosten für weitere Anwälte, Experten oder Gutachter zu tragen. Von diesen Leidgeprüften nehme ich immer wieder Pro bono, also unentgeltlich, Mandate an, um sie bei der Suche nach der Wahrheit zu unterstützen. Meine einzige Bedingung: Ich möchte im Anschluss über die Fälle berichten dürfen, sollte ich auf Hinweise gestoßen sein, dass Ermittlungen einseitig geführt oder möglicherweise falsche Urteile gefällt wurden.
Man mag es kaum glauben, doch ob jemand in Deutschland Gerechtigkeit widerfährt, ist auch zu einer Frage des Geldes geworden. Die Redewendung vom »fairen Prozess« ist für manche Opfer und Täter leider nur noch eine Worthülse. Die Stundensätze eines renommierten Anwalts von mehreren Hundert Euro können sich viele von ihnen niemals leisten. Ebenso wenig einen forensischen Sachverständigen, der vorliegende Beweise aufwendig untersucht und kritisch bewertet. Und so bleibt ihnen nur die bange Frage, ob sich der vom Gericht bestellte Pflichtverteidiger wirklich in dem Maße für sie einsetzen wird, wie es ihnen gebührt, und ob ihre Würde als Opfer oder Hinterbliebene im Prozess und in der Öffentlichkeit wirklich gewahrt bleibt.
Im Lichte dieser gesellschaftlichen Entwicklung begann ich nach meiner Pensionierung nach und nach, mich in viele rätselhafte Fälle einzuarbeiten: Tötungsdelikte, vermeintliche Unfälle oder Suizide. Und je intensiver ich die Akten las, je häufiger ich Tatorte aufsuchte, Gutachter im In- und Ausland kontaktierte, desto mehr offenbarte sich mir eine Vielfalt behördlichen Versagens und ein wiederkehrendes Muster von Mängeln bei der Spurenbewertung. Fehlende oder unterdrückte Beweise, mangelnde fachliche Kompetenz oder die Profilierungssucht einzelner Ermittler, die nur um die Bestätigung der eigenen Überzeugungen kämpften und wenig Energie darauf verwandten, ihre Anschuldigungen kritisch zu hinterfragen.
Ein weiterer Schwachpunkt zeigte sich aber auch in falschen Stellungnahmen von wild spekulierenden Spezialisten und Gutachtern, denen es offensichtlich an unparteiischem, unabhängigem oder fachlich kompetentem Verhalten mangelte. Ein Manko, das fatale Folgen nach sich ziehen kann. Denn werden inkorrekte Gutachten nicht rechtzeitig widerlegt, so kann das zu Fehlurteilen führen.
In besonders öffentlichkeitswirksamen Fällen kam es mir zudem manchmal so vor, als seien Verdächtige von Justiz und Strafverfolgung mit einem Malus belegt; als hätten Ermittler, Staatsanwälte und Richter in ihrem Drang, der Öffentlichkeit den »Skalp« eines Prominentenmörders zu präsentieren, die Grundsätze eines fairen Verfahrens aus dem Blick verloren.
Ich weiß, es sind gravierende Anschuldigungen, die ich hier erhebe. Doch trotz jahrzehntelanger Berufserfahrung hat mich die unterschwellige Arroganz mancher Vertreter dieser Berufsstände schockiert. Sie halten sich selbst gerne für die Elite – zudem gestärkt durch die Gewissheit, von übergeordneten Institutionen faktisch nicht kontrolliert zu werden –, und mir sind Zweifel gekommen, ob sie ihrer Verantwortung wirklich immer gerecht werden. Von ihnen hängt schließlich ab, ob ein Angeklagter schuldig gesprochen wird oder nicht, ob der Tod eines Menschen als Suizid, Unglücksfall oder Verbrechen gewertet wird. Es liegt mir fern, diese Berufsgruppen unter Generalverdacht zu stellen – immerhin gehörte ich selbst lange dazu –, doch gibt es diese Auswüchse von Fehlverhalten leider viel zu oft.
Objektivität und Ehrlichkeit bei den Ermittlungen sind oberstes Gebot nicht nur beim Umgang mit Angehörigen, sondern auch gegenüber Tatverdächtigen. Als Ermittler muss ich mir stets bewusst sein, dass meine Recherchen unparteiisch zu erfolgen haben, dass ich mich nicht vom eigenen Erfolgsdruck oder dem in der Öffentlichkeit vorherrschenden Bild des vermeintlichen Tathergangs leiten lassen darf.
Somit besteht meine Aufgabe darin, sowohl belastende als auch entlastende Beweise zu sammeln. Diese Vorgehensweise soll dazu beitragen, dass ich eine faire Einschätzung vornehmen kann, ob ein Verdächtiger eine Tat begangen haben könnte – oder eben auch nicht. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, die allerdings, wie ich aus eigener Erfahrung weiß, nicht immer beherzigt wird.
Auch ich habe vor langer Zeit einmal fast 20 Jahre lang einen Mann fälschlicherweise für einen Mörder gehalten und ihm das Leben schwer gemacht, ehe die von mir in Auftrag gegebene Untersuchung einer winzigen DNA-Spur seine Unschuld bewies – späte Früchte der Forschung.
Der Forderung nach Objektivität zu folgen bedeutet auch, respektvoll mit seinem Gegenüber umzugehen. Und so hörte ich mir in Vernehmungen aufmerksam und interessiert die Gründe für das Verhalten und die Motive der mutmaßlichen Täter an. Ein alter Vernehmungsgrundsatz besagt: »Der Täter muss sich und sein Motiv verstanden wissen.«
Zugleich muss ich mich als Ermittler aber auch abgrenzen. Das Verständnis, das ich aufbringe, darf vom Verdächtigen nicht als Zustimmung zur Tat missverstanden werden. Allerdings wurde mir im Laufe der Jahre immer bewusster, dass Täter nicht per se böse Menschen sein müssen. Das Böse lebt in der Tat. Und deswegen sind Begriffe wie Unmensch, Monster und Bestie völlig fehl am Platze, wenn es um die Beschreibung von Täterpersönlichkeiten geht. Fast immer habe ich die Täter als normale Menschen erlebt; häufig unbeholfen, unauffällig, tapsig, schüchtern. Die Gründe für ihre Taten oftmals profan: die Dynamik der Situation, mangelnde Impulskontrolle, Eifersucht, verletzte Gefühle, Einsamkeit und Hass. Und aus diesem Grund halte ich die populäre These, dass praktisch jeder von uns zum Mörder werden könne, auch für überzogen.
Allerdings ist es meiner Erfahrung nach auch richtig, dass kein Mensch sicher wissen kann, wie er sich verhalten würde, wenn er an die Grenzen seiner psychischen Belastbarkeit und Handlungskontrolle gerät. Aus diesem Grunde habe ich auch kein Problem damit, rechtskräftig verurteilten Menschen zu helfen, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind: Sie müssen glaubhaft machen können, dass sie unschuldig sein könnten, und es muss Hinweise auf ein fehlerhaftes Gerichtsverfahren geben. Dann bin ich bereit, diese Menschen bei ihrem Bemühen um ein Wiederaufnahmeverfahren zu unterstützen.
Doch der Weg zum Erfahren später Gerechtigkeit ist dornenreich. Die Justiz hat einen Parcours mit hohen Hürden aufgebaut, den es zu durchlaufen gilt: mit neuen Beweisen und innovativen Untersuchungsmethoden, die helfen, falsche Ermittlungsergebnisse zu widerlegen.
Und so möchte ich Sie auf den nächsten Seiten einladen, mir bei meiner Arbeit über die Schulter zu schauen und mich auf der Suche nach der Wahrheit zu begleiten. Lassen Sie uns gemeinsam der Frage nachgehen, was eigentlich das Böse ist.
Mit den nachfolgenden Fällen habe ich aus einer Vielzahl ungeklärter Tötungsdelikte drei prominente Beispiele ausgewählt, die ich über einen langen Zeitraum begleitete. Die Fälle sind geprägt von gravierenden Unterlassungen, Vorurteilen, falschen Annahmen oder fehlerhaften Expertisen sowie nicht immer nachvollziehbaren Schlussfolgerungen und Beweisführungen.
Bevor Sie nun in diese Randbereiche des menschlichen Zusammenlebens aus drei Ländern mit ungewöhnlichen neuen Erkenntnissen eintauchen, möchte ich noch eine Erklärung in eigener Sache abgeben. Mit der Veröffentlichung meiner Rechercheergebnisse habe ich durchaus nicht die Absicht, Ex-Kollegen vorzuführen. Vielmehr möchte ich auf Widersprüche in den beschriebenen Fällen aufmerksam machen und auf das Leid der Opfer sowie der möglicherweise zu Unrecht verurteilten Täter und ihrer Angehörigen. Schließlich besitzt niemand die absolute Wahrheit. Auch ich nicht. Es geht vielmehr darum, die Suche nach der Wahrheit so lange nicht ruhen zu lassen, wie noch Zweifel bestehen.
Das heißt auch, wir müssen alle bereit sein, über unseren eigenen Schatten zu springen und eventuell gemachte Fehler einzugestehen. Eine Stärke, die ich leider in heutigen Zeiten bei vielen Menschen vermisse – nicht nur bei Ermittlern, den forensischen Wissenschaften und in der Justiz.
Aus rund 35 Jahren Arbeit als Mordermittler und Fallanalytiker weiß ich natürlich auch, dass viele Faktoren ein Ermittlungsergebnis negativ beeinflussen können: menschliche Schwächen, kollektive Scheuklappen, Vorgaben und Erwartungshaltungen von Vorgesetzten, hoher Arbeitsdruck, mangelnde Ressourcen, aber auch ein dysfunktionales System von Ermittlern, Gutachtern, Staatsanwälten und Richtern. All dies kann Einfluss nehmen auf die Arbeit eines einzelnen Ermittlers. Äußere Umstände, die er nicht zu verantworten hat, die ihn aber unter Umständen dazu bringen, einen Fall abzuschließen, obwohl noch nicht alle möglichen Untersuchungen veranlasst wurden.
Mir ist aber auch bewusst, dass manche Ermittler – gerade, wenn es um die Würdigung ihrer eigenen Arbeit geht – meine Recherchen und Ergebnisse argwöhnisch beäugt haben. So war ich beispielsweise bereits bei der Vorbereitung dieses Buches persönlichen Anfeindungen ausgesetzt. Sie werden mich jedoch nicht davon abbringen, auch zukünftig einen anderen, unabhängigen Blick auf das Böse und die Wahrheit werfen zu können.
Axel Petermann im Juni 2021
Es ist ein mysteriöser Todesfall, als die 26-jährige Nora Feller im Sommer 2007 erhängt in der Athener Wohnung ihres Ex-Partners Potis Katsanis aufgefunden wird. Der Mann ist wenige Tage zuvor nach Kreta abgereist, wo er, wie jedes Jahr, mit seiner Band in einer Strandbar gastiert. Er hatte Nora angeblich allein in der Wohnung zurückgelassen, obwohl sie sich Monate zuvor von ihm getrennt und inzwischen auch eine eigene Wohnung bezogen hatte. Nachbarn informierten wegen starker Geruchsbelästigung einige Tage nach seiner Abreise die Polizei. Ein Schlosser öffnete die Wohnungstür, und Nora wurde tot im Wohnzimmer aufgefunden, ihr Körper im Zustand der fortgeschrittenen Verwesung. Die Ermittler gingen rasch von einem Selbstmord aus, beendeten umgehend die Ermittlungen, sicherten keine Spuren und schlossen die Akte.
Erst Tage später wurden Noras Eltern von der deutschen Polizei benachrichtigt, doch da war ihr Leichnam bereits obduziert und auf einem Athener Friedhof beigesetzt worden. Ihr Ex-Partner hatte in Windeseile die Beisetzung organisiert und den Großteil der Kosten übernommen. Die von Noras Eltern geforderte Exhumierung und der Transport ihrer sterblichen Überreste nach Deutschland wurden von den griechischen Behörden abgelehnt. Aus gesundheitspolizeilichen Gründen, wie es offiziell heißt. Für die nächsten Jahre darf das Grab auf Anweisung der Athener Staatsanwaltschaft nicht geöffnet werden. Nach Ansicht von Noras Eltern ein Vorwand, denn sie sind davon überzeugt, dass es kein Suizid, sondern ein Mordkomplott war und die Überführung des Leichnams ihrer Tochter die Feststellung wichtiger rechtsmedizinischer Befunde verhindern soll. Ein schwerer Vorwurf gegen die Behörden und Noras früheren Lebensgefährten, denn er soll sich nicht mit der von Nora geforderten Trennung abgefunden und sie auch während der Beziehung geschlagen haben.
Als mich der Anruf von Noras Mutter erreicht, sind seit dem gewaltsamen Tod ihrer Tochter mehr als zwölf Jahre vergangen. Die Frau wirkt sehr konzentriert und wählt ihre Worte mit Bedacht. Vermutlich scheut sie sich davor, zu viel von ihren Gefühlen preiszugeben, und sie weiß auch, wie vorsichtig sie sein muss, wenn sie jemanden eines Mordes bezichtigt. Ich erfahre, dass die Tatumstände weiterhin ungeklärt sind und Noras Eltern immer noch keinen Ort für ihre Trauer haben, denn, so die Mutter, die sterblichen Überreste ihrer Tochter seien inzwischen irgendwo in einer stillgelegten Mörtelgrube in Griechenland verscharrt worden.
Nach dem Telefonat überlege ich, ob ich den Eltern überhaupt helfen kann. Denn aus meiner Erfahrung als Leichensachbearbeiter weiß ich, dass Hinterbliebene bei einem Freitod oft Probleme mit der Feststellung Suizid haben und immer wieder behaupten, dass eine solche Tat der Persönlichkeit des/r Verstorbenen überhaupt nicht entsprochen habe. Auch wenn ich heute nicht mehr sagen kann, bei wie vielen Selbsttötungen ich die Motive untersucht habe, so sind mir doch immer noch die bangen Momente präsent, wenn ich bei einem solchen Todesfall die bittere Nachricht zu überbringen hatte und mir vorstellte, wie Angehörige auf diese Nachricht reagieren würden: mit stiller Trauer, Verzweiflung oder dem Versuch, die Schuld im Außen zu deponieren, also Vorwürfe gegen den Toten zu erheben, gegen behandelnde Ärzte oder Therapeuten oder sogar gegen mich. Nicht zu vergessen die Vorwürfe gegen die früheren Partner: »Wenn du dich nicht getrennt hättest, dann wäre es nie so weit gekommen. Du hättest doch wissen müssen, wie es um unsere Tochter bestellt war.« Oder würden ungezügelte Emotionen, wie Wut, Hass, Groll, die Situation bestimmen?
Manchmal stellten Angehörige aber auch die Behauptung auf, dass alles andere als ein Suizid vorläge, es vielmehr ein Unfall gewesen sein müsse oder gar ein Verbrechen, sodass ich mich wunderte, weshalb eine solche Todesart anscheinend einfacher zu akzeptieren war als der freie Wille des Verstorbenen, wenn ein solcher in derartigen Situationen überhaupt existiert. Diese unterschiedlichen Reaktionen der Angehörigen zeigten mir aber auch, dass es keine DIN-Normen für Trauer gibt und jeder Mensch seine Gefühle auf individuelle Weise äußert – ganz still oder sehr emotional. Häufig scheint der plötzliche Tod eines vertrauten Menschen auch ein Spiegel der eigenen Geschichte zu sein und eigene Unterlassungen zu reflektieren, die im Nachhinein nicht mehr korrigiert werden können.
Und noch eine Erfahrung habe ich gemacht: Der Suizid ist lediglich die Spitze des Eisbergs. Der Entschluss, freiwillig aus dem Leben zu scheiden, ist keine Kurzschlusshandlung, ihm geht im Gegenteil eine lange Vorgeschichte einer destruktiven Entwicklung der Persönlichkeit voraus. Das Zerrüttungsmoment hat sich, ungeachtet der Wahrnehmung durch das Umfeld, längst etabliert.
Ich habe während meiner Laufbahn immer wieder unnatürliche Todesfälle bearbeitet, bei denen nicht sofort zu erkennen war, ob es sich um einen Unfall, Suizid oder Mord handelte. Antworten auf diese unterschiedlichen Möglichkeiten der Todesursache zu finden fiel mir jedoch umso leichter, je mehr Informationen mir über die Persönlichkeit der Verstorbenen vorlagen und wenn zudem eine sorgfältige Spurensuche erfolgt war.
Und so hoffe ich, dass es im Fall von Nora Feller genügend Details aus ihrem Leben gibt, die mir den Weg weisen.
Gewalt- und Tötungsdelikte sind in der Regel eine Männerdomäne. In neun von zehn Fällen sind die Täter männlich. Mehrheitlich sind dann auch die Opfer Männer, in der Regel Fremde oder flüchtige Bekannte. Andererseits finden Tötungsdelikte an Frauen überwiegend im engen familiären oder partnerschaftlichen Umfeld statt. Es kling fast zynisch, doch es ist wahr: Allein der Umstand, als Frau in einer Beziehung zu leben oder gelebt zu haben, birgt für sie zugleich das größte Risiko, zu irgendeinem Zeitpunkt vom Partner oder Ex-Partner umgebracht zu werden. Für ein solches Tötungsdelikt, bei dem Opfer und Täter Intimpartner waren, gibt es einen Namen: Intimizid. Das schließt natürlich auch männliche Opfer ein. In den letzten Jahren hat sich hinsichtlich der Tötung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts der Begriff Femizid durchgesetzt.
Immer wieder habe ich Fälle gesehen, in denen ansonsten völlig unauffällige, friedliche Männer durch eine von der Partnerin angekündigte Trennung dermaßen die Kontrolle verlieren, dass sie zum – in ihren Augen – letzten Mittel greifen: Gewalt. Es gibt für Frauen wohl kaum eine Zeit in ihrem Leben, in der das Risiko, Opfer eines Gewaltverbrechens zu werden, so hoch ist wie nach einer Trennung. Und diese Zeit beginnt mit der Verbalisierung der Trennungsabsicht. Ich mag nicht ausschließen, dass diese Möglichkeit auch im Fall von Nora Feller zutreffen könnte.
In anderen Fällen war eine gewalttätige Beziehung gerade der Trennungsgrund. Dass diese Männer ihre gewalttätigen Besitz- und Dominanzansprüche auch nach einer Trennung fortsetzen, häufig sogar noch steigern, verwundert nicht.
Aber warum töten Männer die Frau, mit der sie zusammengelebt haben und ein gemeinsames Leben planten? Ist ihre Tat also ein verzweifelter Ausdruck einer romantischen Liebe, wie manche Täter mir während der Vernehmungen weismachen wollten?
Die Kriminalpsychologie und eigene Fallbearbeitungen legen eine andere Erklärung nahe. Es geht ausschließlich um die Zurückweisung des Mannes seitens der Partnerin. Sei es explizit durch die vollzogene Trennung oder durch einen empfundenen Mangel an Respekt und Fürsorge. Zum emotionalen Cocktail eines solchen Motivs gehören Kränkung, Wut, Rache, Eifersucht, Macht sowie der Anspruch auf alleinige (sexuelle) Kontrolle der (Ex-)Partnerin. »Wenn ich dich nicht besitzen kann, so soll dich auch kein anderer haben.« Äußerungen wie diese sind es, die immer wieder das wahre Motiv des Täters entlarven: Kontrolle bis zum bitteren Ende und um jeden Preis.
Ich schildere Noras Mutter in einem weiteren Gespräch meine Bedenken, dass durchaus ein Tötungsdelikt vorliegen, sich andererseits aber auch ein Suizid bestätigen könnte, und mache der Frau klar, dass auch eingehende Recherchen möglicherweise nicht alle Zweifel an den Todesumständen ihrer Tochter würden ausräumen können. Auch verstünde ich es nicht als meine Aufgabe, ähnlich wie ein Richter nach einer intensiven Gerichtsverhandlung ein eindeutiges Urteil zu fällen. Vorläufig könne ich aufgrund meiner Erfahrung keine der beiden Möglichkeiten ausschließen. »Schließlich weiß ich weder etwas über Ihre Tochter noch über deren früheren Partner«, versuche ich Frau Feller zu erklären. »Allerdings kann ich mich auf die Spurensuche begeben, kann mit Menschen sprechen, die Ihre Tochter und Katsanis kannten, um vermeintlich manifestierte Feststellungen zu überprüfen und gegebenenfalls neue Indizien zu finden.«
Noras Mutter reagiert überraschend gelassen: »Wissen Sie, seit fast dreizehn Jahren warte ich auf Beweise. Bisher gab es nur Mutmaßungen und grobe Unterlassungen vonseiten der Ermittler. Sollte sich durch Ihre Recherchen herausstellen, dass meine Tochter sich tatsächlich selbst getötet hat, so wäre ich die Letzte, die das nicht akzeptieren würde. Ich möchte nur endlich Gewissheit haben.«
Diese Worte beruhigen mich, auch wenn ich weiß, dass manche meiner Klienten durch meine Recherchen letztendlich nur ihre eigene Version über den Ablauf eines Geschehens bestätigt haben möchten und nicht immer bereit sind, ein gegenteiliges Ergebnis zu akzeptieren.
Und so bitte ich Noras Mutter, mir mehr von ihrer Tochter zu erzählen. Die Frau muss nicht lange überlegen: »Nora war sehr temperamentvoll. Eine Perfektionistin, ehrgeizig, aber oft auch egoistisch. Sie wollte ihre Freiheit leben. In gewisser Weise war sie so wie ich. Nicht immer einfach, dafür aber ehrlich, offen und hilfsbereit.«
Als ich Noras Mutter frage, weshalb sie nicht an einen Suizid ihrer Tochter glaube, antwortet sie sehr bestimmt: »Nie hätte sie sich selbst getötet, dafür liebte sie das Leben viel zu sehr. Und sie sagte stets, dass niemand das Recht habe, sich das Leben zu nehmen.«
Natürlich reichen mir diese Informationen zum Fall und über Noras Leben noch lange nicht aus, um mir ein Bild von dem Geschehen machen zu können. Wir verabreden uns zu einem persönlichen Gespräch in einem Hotel in der Nähe des Tierparks im Berliner Osten.
Tage später in Berlin. Ich warte in der Hotellobby auf Noras Eltern. Eine Frau mittleren Alters nähert sich. Sie wird von einem älteren Mann begleitet; er trägt schwer an einer Reisetasche. Die beiden mustern mich kritisch. Mir wird klar, dass es lange dauern wird, bis sie mir vertrauen werden. In ihrem Verhalten wirken sie auf mich unsicher, auch wenn die Frau versucht, Selbstbewusstsein auszustrahlen, als sie mich mit den Worten begrüßt: »Ich bin Noras Mutter.« Schnell wird deutlich, dass sie diejenige ist, die mir in den nächsten Stunden alles über Noras Leben und Tod berichten wird, während von ihrem Mann nur gelegentlich eine Anmerkung dazu kommt.
Noras Mutter erzählt, bis auf eine sehr frühe Episode sei ihre Tochter in behüteten Verhältnissen aufgewachsen. »Nora war ein Kind der früheren DDR.« Von Noras leiblichem Vater habe sie sich kurz nach der Geburt des Kindes scheiden lassen, dann aber auf der Arbeit in ihrem Vorgesetzten einen liebevollen Partner und Stiefvater für Nora und ihren älteren Bruder gefunden. Zwei Jahre nach ihrer Scheidung habe sie diesen, den Direktor eines Volkseigenen Betriebes (VEB), geheiratet. »Wir hatten überhaupt keine Sorgen. Innerhalb der Familie wurde sehr viel Wert auf Zusammenhalt und gegenseitige Achtung gelegt.«
Die Familie lebt in einer großzügigen Wohnung einer Hochhaussiedlung, scheint privilegiert zu sein, denn sie besitzt einen Trabant. Dabei nutzt sie die soziale Absicherung des Staates mit Betreuung der Kinder in der Krippe, im Kindergarten. Man ist kulturell interessiert und genießt die Natur bei Ausflügen im Botanischen Garten, in Ferienlagern, gemeinsamen Urlauben an der See und im eigenen Schrebergarten, in dem Nora, ihr Bruder und ihre jüngeren Halbgeschwister jeweils ein eigenes Beet mit Gemüsepflanzen betreuen.
Schnell wird erkannt, dass Nora ein hochbegabtes Kind ist. Sie wird mit fünf Jahren vorzeitig eingeschult, ihre Leistungen erreichen ein konstantes Einserniveau. Ihre Hobbys sind Literatur, Musik, Singen, Theaterspielen, Ballett. Anscheinend mühelos lernt sie später nach der Wiedervereinigung Spanisch, Italienisch, Französisch und Englisch. Außerdem ist sie als Schuljournalistin unterwegs.
Bis zur Wende mit der friedlichen Revolution und dem Mauerfall im Jahr 1989 erlebt Nora mit ihrer Familie die »heile Welt des Sozialismus«, wie es ihre Mutter formuliert, doch der Zusammenschluss der beiden deutschen Staaten führt zu einschneidenden Änderungen im Familienleben. Der Volkseigene Betrieb ihrer Eltern hat mit wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen, und nach Einführung der Marktwirtschaft im Jahr 1990 wird das Unternehmen durch die Treuhandanstalt privatisiert und schließlich stillgelegt. Auch Noras Eltern werden wie so viele andere in der früheren DDR arbeitslos. »Da ist eine Riesenpanik bei uns ausgebrochen, denn uns wurde klar, dass wir ohne Verdienst keine vier Kinder durchbringen können, zumal auch die Miete für unsere Wohnung von monatlich hundertsiebzig Mark auf über eintausend Mark anstieg.«
Noras Eltern entschließen sich 1993 zur Selbstständigkeit. Da ist Nora gerade einmal 13 Jahre alt. Die Familie steckt ihr gesamtes Geld in den Aufbau einer Gaststätte. »Wir dachten, gegessen und getrunken wird immer. Aber es war so viel Arbeit, dass kaum noch Zeit für Haushalt und Kinder blieb. Ein Rieseneinschnitt in unserer heilen Familienwelt. Heute wissen wir, dass dies der größte Fehler in unserem Leben war.«
Die Familie verlässt ihre gewohnte Umgebung und zieht an die nördliche Stadtgrenze von Berlin, gut 20 Kilometer von ihrem früheren Kiez entfernt, inmitten abgeschiedener Natur und ohne eine direkte öffentliche Verkehrsanbindung zum alten Kiez. Auf dem Gelände der ehemaligen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft »Frohe Zukunft« mieten Noras Eltern frühere Unterkünfte der Genossenschaftsmitarbeiter. Sie planen eine Gaststätte und Übernachtungsmöglichkeiten für Monteure. Doch statt FroherZukunft bestimmen weiterhin Existenzängste das Leben der Familie. Noras Eltern sind gezwungen, neben der Bewirtung der Gäste zusätzliche Jobs auszuüben.
Während Noras Geschwister ohne größere Probleme in das neue Gesellschaftssystem hineinwachsen, beginnt für Nora mit dem Verlust ihrer bisherigen sozialen Kontakte und durch den Wechsel auf eine andere Schule eine kritische Lebensphase, in der eine unentgeltliche musikalische oder künstlerische Förderung nicht mehr gegeben ist. »Sie verlor ihren Halt, ihre heile Welt«, sagt ihre Mutter. »Nora war irgendwie anders. Sie hat es ihren Mitmenschen und sich selbst nicht leicht gemacht. Sie sagte, was sie dachte, war in jeder Hinsicht experimentierfreudig und ging keinem Konflikt aus dem Weg.«
Als ihre schulischen Leistungen stark nachlassen und sich auf ein Dreierniveau einpendeln, fordert Noras Mutter sie auf, sich auf den Hosenboden zu setzen, schließlich sei sie eine Einser-Schülerin.
Doch Noras Reaktion scheint aus Verweigerung und Protest zu bestehen. »Sie war bockig und lebte in den Tag hinein. Und dann habe ich ihr irgendwann recht konsequent gesagt: ›Tut mir leid, dann musst du aus der zehnten Klasse raus. Dein Abitur kannst du später nachholen.‹«
Als eine geplante Ausbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin in Heidelberg aufgrund ihres Alters – Nora ist gerade 16 Jahre alt – scheitert, entschließt sie sich zu einer Lehre als Hotelkauffrau im Schwarzwald. Hier wohnen Verwandte der Familie, die sich um das Mädchen kümmern wollen, was allerdings nicht passiert. 1999 ist die Ausbildung beendet, und Nora absolviert an einem Kolping-Kolleg ihr Abitur auf dem zweiten Bildungsweg. In die Abgeschiedenheit der früheren LPG »Frohe Zukunft« kehrt sie nie wieder zurück.
Ich frage Noras Stiefvater, wie er Nora als Kind erlebt habe. Bisher hat er nur aufmerksam den Worten seiner Frau gelauscht, still neben ihr gesessen und ab und an mit seinen Fingern auf den Tisch getrommelt. Der Mann scheint auf die Aufforderung gewartet zu haben und erzählt sichtlich gerührt, dass Nora ihn stets »Papilein« genannt habe. Auch noch, als sie längst in Süddeutschland ihre Ausbildung absolvierte. »Ich bin da eines Tages mit unserem Jüngsten hin. Wir waren beim Eisessen, und Nora holte ihre Freunde herbei und sagte: ›Das hier ist mein Papi.‹ Dabei war ich doch nur ihr Stiefvater, doch das hat sie nie gestört.«
Als fürchte er, ich könne ihm nicht glauben, kramt der Mann in seiner Reisetasche und holt einen Stapel Fotos hervor. »Schauen Sie doch mal!« Bei diesen Worten zeigt er mir ein Bild von Nora und sich. Die beiden stehen auf einem Holzsteg. Der See ist zugefroren, überall liegt Schnee, und Nora hat ihren Kopf an seine Brust gelehnt. Sie scheint sich wohlzufühlen und sieht glücklich aus.
Die nächsten Fotos stammen von Noras Geburtstagsfeier. Sie und ihre Geschwister sind wie Clowns geschminkt, blasen Luftballons auf oder hüpfen um die Wette. Nora wirkt beim Wettkampf angestrengt, ihr Gesicht spiegelt ihren Eifer wider. Noras Mutter sieht mich beim Betrachten des Bildes an: »Sie wollte immer die Beste sein.«
Die nächsten Bilder geben Einblick in das Familienleben noch zu DDR-Zeiten. Nora ist acht Jahre alt. Mit ihren Geschwistern sitzt sie auf dem Sofa im Wohnzimmer, dessen Tapeten und Gardinen mit ihrem floralen Muster dem Geschmack der damaligen Zeit entsprachen. Alle lachen.
Ein paar Jahre später steht Nora vor einem mit bunten Kugeln, elektrischen Kerzen und goldenem Lametta geschmückten Weihnachtsbaum. Sie wirkt auf mich verändert, denn sie schaut skeptisch zur Seite, als wolle sie gar nicht fotografiert werden. Sie trägt eine weiße Bluse, einen schwarz-weißen Rock und eine schwarze Strumpfhose. Auf dem nächsten Bild hat sich Noras Vater als Weihnachtsmann verkleidet und liest aus einem goldenen Buch vor. Dieses Mal scheint Nora den Moment zu genießen und lächelt anscheinend voller Vorfreude andächtig in die Kamera. »Sie hatte sich von uns ein Lexikon gewünscht und tatsächlich jeden einzelnen Eintrag gelesen.«
Wir kommen zurück auf den Umzug an die Landesgrenze von Berlin und Brandenburg. Noras Mutter sieht jetzt nachdenklich aus und erinnert sicherlich viele vergangene Momente, ehe sie das nächste Foto zeigt: Der Fontane-Krug. Eine breite Treppe führt zum Eingang im Hochparterre. Vor dem Lokal stehen Sonnenschirme und weiße Gartenstühle. Eine ländliche Idylle, die vermutlich manchem Gast gefiel. Aber nicht Nora. »Sie hat das Leben dort gehasst, dabei hatten wir so sehr gehofft, dass es ihr als Naturliebhaberin gefallen würde.«
Ein weiteres Foto scheint der Beleg für Noras Ablehnung zu sein. Sie steht allein hinter dem Tresen des Lokals neben einem Bierzapfhahn und einer Anrichte mit zahlreichen Gläsern und einigen Flaschen mit Alkoholika. Ihr Blick ist leer, und sie scheint gedanklich ganz weit weg zu sein. Es gibt keinen Kontakt zum Fotografen.
Noras Mutter sieht mich aufmerksam an: »Schon damals war sie wissbegierig, reiselustig, aber auch aufmüpfig und wollte ihre eigenen Wege gehen. Nachdem sie ihre Ausbildung im Schwarzwald begonnen hatte, ist sie hier nie wieder gewesen. Auch unser Kontakt wurde weniger. Ich habe mir immer gesagt, dass sie ihre Freiheit nutzen und behalten wollte. Vielleicht war es auch ihre Art der Provokation, um mir zu beweisen, dass sie in der Lage ist, alles selbst zu schaffen. Auf jeden Fall war ich mir immer sicher, dass sie sich an uns wenden würde, wenn sie ihre Lebensziele erreicht hat – allein und ohne Hilfe. Und ich denke, dass ich mich da nicht geirrt habe, denn während eines unserer letzten Telefonate, kurz vor ihrem Tod, machte sie den Vorschlag, dass wir in ein paar Monaten nach Griechenland kommen sollten, um dort unsere Silberne Hochzeit zu feiern. Sie kenne auf Kreta einen besonders schönen Strand.«
Auf dem letzten Bild ist Nora etwa 23 Jahre alt. Sie hat es ihrer Familie aus Griechenland geschickt. Eine junge, gut aussehende Frau. Sie ist sommerlich gekleidet, die Bluse luftig. Nora hockt auf einer leuchtenden Blumenwiese mit lilafarbenen Malven. Sie sieht glücklich aus, scheint den Moment zu genießen und das Leben zu lieben. Ich beobachte ihre Eltern und spüre deren tiefe Trauer beim Betrachten dieses Fotos.
Langsam bekommt Noras Persönlichkeit für mich Konturen. Auf der einen Seite wird sie als sehr selbstbewusst beschrieben, wissbegierig, perfektionistisch, temperamentvoll, keinem Streit aus dem Weg gehend, ja sogar egoistisch und stets auf der Suche nach Freiheit und dem Erleben neuer Reize, andererseits aber auch als leicht verletzbar, scheu und melancholisch. Diese Widersprüchlichkeit scheint ihr Leben bis zu ihrem frühen Tod bestimmt zu haben, wie ich bei meinen weiteren Recherchen erfahre.
Als ich von Noras Mutter wissen möchte, wie ich mir das Leben ihrer Tochter in Griechenland vorzustellen habe, erwidert sie etwas zurückhaltend, dass sie davon nicht so viel wisse. Die Kontakte seien selten gewesen. 1999 habe Nora ihren Urlaub auf Kreta verbracht und dort ihren späteren Freund Potis Katsanis kennengelernt, einen 20 Jahre älteren griechischen Musiker.
»Nora war eine talentierte Sängerin und hatte bereits mehrfach an der Veranstaltung ›Musik ist Trumpf‹ teilgenommen und diesen Wettbewerb wiederholt gewonnen.« Bei diesen Worten übergibt Noras Mutter mir eine DVD mit Aufnahmen des Songcontests und einem YouTube-Mitschnitt von Potis Katsanis’ Band auf Kreta sowie eine CD mit Liedern, die Nora kurz vor ihrem Tod aufgenommen hat. »Hören Sie sich doch einfach mal ihre Stimme an.«
In den folgenden Jahren besuchte Nora Katsanis immer wieder in Griechenland und zog 2005 schließlich zu ihm nach Athen, wo er eine Eigentumswohnung besitzt. Sie erhoffte sich Unterstützung bei ihren musikalischen Plänen und betrachtete ihn als Sprungbrett für ihre Karriere. Zunächst gaben sie gemeinsame Konzerte, in Athen und auf Kreta, wo Katsanis und seine Band seit vielen Jahren in den Sommermonaten im Strandlokal eines früheren Hippiedorfs Musik machten. Das ging bis 2004. Doch dann entwickelte sich Nora weiter; zwar gab sie weiterhin Konzerte in Athen bei Kirchenveranstaltungen, in einem Frauenhaus und in einem deutschen Lokal, doch irgendwann entwickelte sie eine Leidenschaft für anspruchsvollen Jazz und Swing mit Klassikern von Cole Porter und George Gershwin.
»Nora hatte nicht nur ein feines Gehör für Musik, sondern auch für Sprachen«, sagt ihre Mutter. Schnell erlernte sie akzentfrei die griechische Sprache und immatrikulierte sich an der Athener Universität für deutsche Literatur. Wegen ihrer Sprachbegabung fiel es ihr auch leicht, Arbeit zu finden. Sie unterrichtete die Kinder deutscher Diplomaten und unterhielt enge Kontakte zu einer deutschen Buchhandlung, wo sie Literatur für den Unterricht kaufte.
»Was zunächst idyllisch begann, endete schließlich in einer Katastrophe und als Mord. Das weiß ich genau! Ihr Partner hat sie in seine Wohnung zu einer letzten Aussprache gelockt und dann umgebracht. Als Nora im April 2007 anrief, habe ich sie noch vor ihm gewarnt, doch meine Tochter meinte nur, dass sie ›ihr Bärchen‹ schon im Griff habe. ›Irgendwann wird er das einsehen, und zum Sex können wir uns ja auch weiter bei ihm treffen‹, war ihre Antwort. Es sei ihr egal, wie er darüber denke, sie verlasse ihn auf jeden Fall.«
Bei diesen Erklärungen schaue ich in das Gesicht von Noras Mutter. Sie wirkt sehr entschlossen und energisch. Ich frage mich, woher sie die Gewissheit nimmt, dass Katsanis ihre Tochter umgebracht haben muss. Schließlich hatte die rechtsmedizinische Untersuchung keinen Hinweis auf eine Fremdeinwirkung gegeben.
»Er hat sie geschlagen und war sehr eifersüchtig. Zudem hat er ihr mit den Worten gedroht, dass ein Grieche niemals von einer Frau verlassen werde, schon gar nicht von einer deutschen Frau. Bestimmt wollte er vor seiner Abreise nach Kreta noch ein letztes klärendes Gespräch!«
Aber es sind nicht allein diese Umstände, die Noras Mutter an Mord glauben lassen, denn wenige Monate vor ihrem Tod schaffte Nora endlich den Absprung aus der vermeintlich destruktiven Verbindung. Sie zog übergangsweise zu ihrer Bekannten Johanna, die bei einer deutschen Zeitung in Athen als Volontärin arbeitete. Zum Juli nahm sich Nora eine Wohnung in Kypseli, dem Athener Stadtteil, in dem sie bis dahin mit Potis Katsanis gelebt hatte. Wo sich diese Wohnung befand, verriet sie allerdings niemandem. Sie wollte wohl nicht, dass Katsanis erfuhr, wohin sie ziehen würde. Für zwei, drei Monate sollte ihre Kommilitonin Maria bei ihr wohnen, doch dann wollte Noras Bruder zu ihr nach Athen ziehen. »Und da soll sie sich fünf Tage vor dem Umzug tatsächlich umbringen?« Bei diesen Worten übergibt mir Noras Mutter die Kopie einer Annonce im Nachrichtenblatt des Deutschen Kontakt- und Informationszentrums in Athen:
Mitbewohnerin gesucht für große Zweiraumwohnung in Athen/Kypseli, ruhig gelegen, Nähe PlatiaKypseli, Altbau, hohe Räume, kleiner Hof, Nora Feller, T. 697 279 …, 210 2527 …
Noch weiß ich keine Antwort auf diese Fragen.
»Schauen Sie doch einmal, was wir seit 2007 bereits alles unternommen haben, um Gerechtigkeit zu erfahren. Nichts davon ist uns zugesprochen worden. Es fand weder eine Exhumierung, eine erneute rechtsmedizinische Untersuchung noch die Überführung der sterblichen Überreste unserer Tochter statt. Stattdessen liegt sie irgendwo verscharrt in dieser stillgelegten Mörtelgrube. Unsere Anträge auf Ermittlungen, Unterstützung, Dienstaufsichtsbeschwerden sind von den zuständigen Behörden in Griechenland und Deutschland mit den fadenscheinigsten Begründungen abgeschmettert worden. Mal waren es angebliche Formfehler, dann wieder gegen ein Tötungsverbrechen sprechende Beweise.«
Noras Mutter wird langsam immer wütender und überreicht mir eine Aufstellung über ihre Aktivitäten und die Adressaten. Ich lese den Verteiler:
Oberster Staatsanwalt in GriechenlandGriechischer PremierministerGeneralstaatsanwaltschaft KarlsruheStaatsanwaltschaft FreiburgDeutsche Botschaft AthenBundesministerium für JustizBundespräsidialamtDeutscher AußenministerAuswärtiges AmtOffice of the United Nations, Commissioner for Human RightsEuropäischer GerichtshofDiverse OpferhilfenDie Liste des Scheiterns ist lang und ließe sich problemlos fortsetzen. Ich bin beeindruckt von der Beharrlichkeit dieser Frau, die seit 13 Jahren unermüdlich versucht, die Hintergründe des Todes ihrer Tochter zu erfahren. Allerdings birgt ein solch verzweifeltes Vorgehen auch Gefahren. Es kann als Querulantentum gebrandmarkt werden und dazu führen, dass berechtigte Interessen als überzogen eingestuft und ignoriert werden.
Sosehr ich die Frau in ihrem Schmerz verstehen kann, ihre bisherigen Anschuldigungen sind dennoch kein Beweis für einen Mord durch Noras früheren Partner. Allerdings passen sie in das Bild eines Intimizids.
Ob es noch weitere Hinweise für ihren Verdacht gebe, möchte ich wissen. »Ja!«, antwortet Noras Mutter knapp, aber eindeutig. Doch dann ist sie nicht mehr zu stoppen und erklärt wortreich: »Noras Leiche wurde nur oberflächlich untersucht und in Windeseile beigesetzt. Warum durfte ihr Leichnam nicht nach Deutschland zu einer zweiten Obduktion überführt werden? Warum sind ihre sterblichen Überreste vor Jahren anonym irgendwo in einer Mörtelgrube am Rande von Athen verscharrt worden, obwohl wir in Deutschland bereits eine Nachobduktion organisiert hatten? Und weshalb unterstützen uns weder die Staatsanwaltschaft, die Deutsche Botschaft noch eine große Hilfsorganisation für Opfer? Wir sind völlig auf uns selbst gestellt. Und hätten wir nicht einen Athener Anwalt, der ohne Honorar für uns arbeitet, so würden uns wesentliche Informationen zu Noras Tod fehlen. Zudem sind Noras Tagebücher, ihr Handy, ihr PC und ihr Geld verschwunden. All das wird Potis Katsanis an sich genommen haben.«
Ich erfahre weiter, dass Noras früherer Partner zwar behaupte, am Abend des 25. Juni 2007 gegen 20 Uhr im Hafen von Piräus die Fähre nach Heraklion auf Kreta erreicht zu haben, er das Fährticket allerdings erst Jahre später der Polizei zur Verfügung gestellt habe. Auch habe er seine Aussagen immer wieder korrigiert und den jeweiligen Ermittlungsergebnissen angepasst.
Erneut frage ich mich, ob ich Noras Mutter bei der Überprüfung ihres bösen Verdachts überhaupt unterstützen und notwendige Beweise finden kann. Würde eine Überprüfung der Akte nicht bloß längst bekannte Missstände bestätigen, ohne zur Lösung des Falls beizutragen?
Und könnte eine Untersuchung der sterblichen Überreste von Nora Feller, sofern diese denn noch zu finden wären, nach der zweimaligen Exhumierung der Leiche und der Umbettung in das Gräberfeld eine genaue Bestimmung der Todesursache überhaupt ermöglichen? Und was ist mit den Zeugen und mit Potis Katsanis? Würden sie mit mir sprechen wollen, und wo kann ich sie erreichen? Fragen über Fragen.
Noras Mutter scheint meine Bedenken zu erraten, denn sie unterbricht mich in meinen Gedanken und sagt, dass sie nach all den Jahren zwar keine Aufklärung mehr erwarte, doch sie immer noch darauf hoffe, dass ihre Zweifel endlich ernst genommen würden. »Irgendwo fern der Heimat anonym verscharrt zu werden, das hat sie nicht verdient! Und wir haben nicht einmal einen Ort für unsere Trauer!«
Diese Anklage kann ich gut verstehen. Und mir ist auf einmal klar: Dieser leidgeprüften Mutter möchte ich helfen – oder es zumindest versuchen. Ich bitte sie deshalb um die Akten und vor allem um Geduld, denn konkrete Ergebnisse werde ich, wenn überhaupt, nur bei eigenen Recherchen in Athen und auf Kreta erzielen können. Möglicherweise kann ich ihr nach der Analyse mehr zu dem tödlichen Geschehen sagen. Und vielleicht gelingt es mir dadurch auch, Noras Mutter das bisher für sie Unverständliche verständlicher zu machen.
Allerdings möchte ich meine Zusage von einer Bedingung abhängig machen. Da ich den Fall pro bono übernehmen werde, verlange ich für meine kostenlose kriminalistische Beratung völlige Unabhängigkeit bei den Recherchen und bei der Bewertung meines Ergebnisses; die Einordnung des Scheiterns von Eingaben und Beschwerden möge sie weiterhin den Anwälten überlassen. Zudem bitte ich um ihre Einwilligung, in einem meiner Bücher über den Fall schreiben zu dürfen, unabhängig davon, wie das Ergebnis aussehen wird. Und da ich nicht weiß, wie am Ende von offizieller Seite mit meinen Rechercheergebnissen umgegangen wird, möchte ich Ihnen als LeserIn dieses Buchs die Fakten von Nora Fellers tragischem Todesfall so detailliert und unkommentiert wie möglich zur eigenen Bewertung überlassen.
Eine menschliche Tragödie ist dieses Geschehen allemal. Es gibt wie bei jedem Verbrechen auch hier mehrere Opfer: Nora Feller, ihre Familie und vielleicht auch den Musiker Potis Katsanis, der um den Tod seiner Ex-Partnerin trauert und dem möglicherweise zu Unrecht der Vorwurf gemacht wird, er habe seine frühere Geliebte ermordet. Ob wir auch von einem Justizskandal sprechen müssen, werden die Recherchen der nächsten Wochen zeigen.
Ich bin auf die Reaktion von Noras Mutter gespannt, doch schnell stimmt sie meinem Vorschlag zu; sie muss tatsächlich von einem Tötungsverbrechen, wie sie es nennt, sehr überzeugt sein, auch wenn die bisherigen Ergebnisse offizieller Ermittler etwas anderes belegen.
Ich möchte von Noras Stiefvater wissen, wie er über die Anschuldigungen seiner Frau denkt. Der Mann wirkt plötzlich noch nachdenklicher. Wieder trommeln seine Finger auf der Tischplatte, obwohl er ansonsten um Gelassenheit bemüht ist und im breiten Berliner Dialekt versichert: »Es gab unterschiedliche Versionen von der Fundsituation. Erst hieß es, eine Zivilstreife sei am Haus vorbeigefahren und habe Nora hängend in der Wohnung ihres früheren Freundes gesehen. Dann wurde gesagt, Leute aus dem Haus hätten sich wegen Geruchsbelästigung beschwert. Als wir dann selbst in Athen waren, erfuhren wir in einer Fernsehsendung, dass Beweise nicht untersucht wurden, zum Beispiel ein blutiges Messer, das in der Küche lag.«
Nach Auffassung des Mannes soll es noch weitere Indizien für seinen Verdacht geben. Vermutlich seien die Hausverwalterin und Katsanis verwandt, denn an einem Briefkasten stünden ihrer beider Namen. Und auch die Beisetzung von Nora auf dem Athener Friedhof werfe Fragen auf. Als Selbstmörderin würde ihr nach griechisch-orthodoxem Glauben kein Platz auf dem Friedhof zustehen, sodass dies nur mit Bestechung möglich gewesen sein dürfte. Und dann sagt er noch: »Sie musste offenbar unter die Erde, damit wir nach der geplanten Überführung von Noras Leichnam keine zweite Obduktion durchführen lassen konnten.«
Natürlich handelt es sich bei den Überlegungen von Noras Vater um subjektive Gedankenspielereien, die immer dann entstehen, wenn es ungenügende oder falsche Informationen gibt; möglicherweise ein Nährboden für Vertuschungsvorwürfe und Verschwörungstheorien. Vielleicht ist es aber auch nur die berechtigte Forderung an die griechischen Behörden, endlich allen Spuren unvoreingenommen nachzugehen.
Einen Tag nach diesem Gespräch bin ich auf dem Weg zu der früheren Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG). Ich habe Noras Mutter gefragt, ob sie mich auf der Reise in ihre Vergangenheit begleiten möchte, doch sie hat abgelehnt: »Ich kann diesen Ort mit seinen Erinnerungen nicht mehr ertragen«, ist ihre bestimmte Antwort.
Von dem Ostteil Berlins mit den sich in die Höhe erstreckenden Plattenbausiedlungen – hier hatte Nora vor dem Umzug mit ihrer Familie gewohnt – führt mich der Weg über kleine verschlafene Ortschaften durch Wiesen und Felder in das dörfliche Randgebiet der Metropole. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie viel abgeschiedener dieser Flecken Erde nach der Wende ausgesehen haben muss.
Ein Wegweiser lenkt meine Aufmerksamkeit auf die etwa 40 Kilometer entfernte Waldstadt Eberswalde, die Anfang der 1970er-Jahre in der DDR schaurige Berühmtheit erlangte, als dort der sadistische und pädophil veranlagte Kindermörder Erwin Hagedorn drei Jungen tötete. Die Tat wies identische Verhaltensmuster des Täters mit der Mordserie von Jürgen Bartsch auf, einem Serienmörder aus Westdeutschland, der wenige Jahre zuvor vier etwa gleichaltrige Jungen sexuell missbrauchte, tötete und verstümmelte. Neben den Parallelen der Verbrechen in zwei unterschiedlichen Staatssystemen, den nahezu identischen Biografien und Vorgehensweisen der Opferauswahl und der Tatausführung hatten die Morde von Eberswalde für mich noch eine andere Bedeutung: Zum ersten Mal in der deutschen Kriminalgeschichte ließ die Polizei durch den Berliner Gerichtspsychiater Hans Szewczyk ein psychiatrisch-psychologisches-kriminologischesTäterprofil erstellen; für mich eine hochinteressante Fallstudie, rund 30 Jahre, bevor ich selbst mein erste Fallanalyse über einen sadistischen Frauenmörder erstellte.
Nach einer dreiviertel Stunde Autofahrt habe ich mein Ziel erreicht. Am Rande einer kleinen Wohnsiedlung mit unscheinbaren Einfamilienhäusern liegt das Areal des vormals für die Tierzucht genutzten Betriebes. Ich habe mich extra früh dorthin auf den Weg gemacht, um den Ort ohne Störungen erleben zu können. Die aufgehende Sonne leuchtet durch schwere, weiße Haufenwolken und färbt die Blätter der Lindenallee, der ich folge, goldgelb. Eine große Werbetafel offeriert Hallen zu günstigen Konditionen zum Anmieten.
Ich lasse die Eindrücke dieser abgeschiedenen Örtlichkeit langsam auf mich wirken und fühle mich beim Blick auf die hochgelegten Versorgungsleitungen auf schmutziggrauen Betonsäulen an heruntergekommene Skelettbauten erinnert. Auch sonst hat der Zahn der Zeit an den Gebäuden und Stallungen genagt und deutliche Spuren des Verfalls hinterlassen. Eine verblichene Aufschrift an der Hauswand eines Beerdigungsunternehmens verspricht Bestattungen, Friedhofsdienste und Überführungen aus dem In- und Ausland. Ein makabres Angebot in dieser Situation, denn sicherlich hätten Noras Eltern diese Dienstleistung nach dem Tode ihrer Tochter gern in Anspruch genommen.
Auch sonst wirkt der Gewerbehof auf mich leblos und unnatürlich still. Ich sehe keine Menschen. Nur einige Fahrzeuge parken verstreut auf dem Gelände. In einiger Entfernung entdecke ich eine Pferdekoppel, auf der ein Brauner mit einer weißen Blässe einsam grast – ein Bild, das eine friedvolle Harmonie ausstrahlt.
Die Einzäunung endet an einem lang gestreckten, einstöckigen Gebäude. Dessen beige Farbe ist verwittert, das Dach reparaturbedürftig. Das muss das Haus sein, in dem Nora und ihre Familie nach der Wende lebten und sich eine neue Existenz aufbauen wollten. Leider ein tragischer Trugschluss, wie wir heute wissen. Das Haus steht leer, die Türen und Fenster an der Rückseite sind mit rostigen Eisengittern gesichert, die Scheiben mit Folie zugeklebt. Durch schmale Ritzen erkenne ich in den kleinen Zimmern einfache Bettgestelle und Schränke. Sicherlich hat hier seit einigen Jahren niemand mehr gewohnt.
Die Frontseite des Gebäudes wirkt freundlicher. Eine mit Gehwegplatten belegte rote Stahltreppe führt zu einer kleinen überdachten Terrasse mit dunkel gestrichenen Balken im Landhausstil. Ein verschlissenes Sofa lädt zum Platznehmen ein. Die massive Eingangstür daneben ist verschlossen. Der Blick durch ein Fenster zeigt einen weiß gekachelten Raum mit den Überbleibseln einer früheren Kantinenküche. Hier muss der Eingang zur Gaststätte gewesen sein, wie auch ein Klebebild mit dem stilisierten Hirschkopf eines bekannten Kräuterschnapsherstellers vermuten lässt.
Ich versuche mir vorzustellen, wie sich die bereits als Kind weltoffene und wissbegierige Nora Feller in dieser tristen Umgebung gefühlt haben muss, während sich ihre Eltern auf den Gaststättenbetrieb konzentrieren mussten, um wirtschaftlich zu überleben. Vermutlich träumte sie davon, diesem Ort zu entkommen. Hatte ihre Mutter nicht von der großen Liebe ihrer Tochter zur Freiheit gesprochen?
Auf der Fahrt zurück nach Bremen höre ich Nora Fellers Lieder. Sie singt auf Griechisch, Englisch und Deutsch. Die CD beginnt mit ihrer Interpretation des 1961 mit einem Oscar ausgezeichneten Songs EinSchiffwirdkommen aus dem Film Sonntags … nie!.
Nora singt den Titel in Griechisch und in Deutsch. Sie beschreibt dabei sehr eindrücklich die Sehnsucht von Ilya, der Protagonistin des Films, die als Prostituierte ihr Geld verdient, dabei aber ihr Leben genießt und insgeheim auf eine bessere Zukunft mit einem Mann hofft, der ihre Lebenslust teilt. Ich überlege, ob wohl auch Nora diese Hoffnung hegte, als sie Potis Katsanis nach Athen und Kreta folgte.
IchbineinMädchenausPiräus
UndliebedenHafen,dieSchiffeunddasMeer …
Noras Stimme hat viel Charme und einen ungewöhnlichen Klang, so dunkel und rau, als gehöre sie einer echten Griechin und reifen Frau. Dabei war Nora Feller erst 26 Jahre alt, als sie diese Songs aufnahm. Ich möchte mich auf die Stimme konzentrieren, doch das sie begleitende Klavier irritiert mich. Zwar ist es gut und routiniert gespielt, doch in der Balance zu schrill und zu dominant. Es drängt sich mit lauten, klirrenden Anschlägen in den Vordergrund und räumt Nora Feller keine Freiheiten ein.
Später spiele ich die CD einer weltweit gefragten Solistin eines Berliner Symphonieorchesters vor und frage nach ihrem Eindruck. »Das Klavier trägt sie nicht auf Händen«, bestätigt mir die Musikerin meinen Eindruck, und: »Es unterdrückt ihr zartes und zerbrechliches Naturell. Ihre Stimme ist schön, doch manchmal singt sie die Töne von unten an. Vielleicht, weil sie es nicht anders kann oder es nicht selbst hört. Eine andere Erklärung: Sie ist beim Singen einfach sehr entspannt, so als würde sie verträumt in eine ganz andere Welt eintauchen. Für die Entspanntheit spricht vielleicht ihr Timing. Sie singt relativ laid back, also eher am hinteren Ende der Begleitung als eifrig vorneweg.«
Ich werde mich erkundigen müssen, ob es Potis Katsanis war, der sie auf dem Klavier begleitet hat. Sein dominantes Spiel könnte auch das Verhältnis der beiden Menschen in anderen Situationen widerspiegeln. Als ich später Noras Mutter darauf anspreche, weiß sie darauf keine Antwort.
Noras Athener Gesangslehrerin, die ich bei späteren Recherchen kennenlerne, kann mir mehr dazu verraten: »Zwei Monate nach Noras Tod hat mir Potis eine CD vorbeigebracht mit Mitschnitten von Konzerten, die sie mit verschiedenen Musikern aufgenommen hat. Dabei ist auch eine Collage mit Fotos von Nora und anderen Musikern sowie einem Zitat von mir selbst: ›Die Nora, die ich kannte, war stark im Leben, stark in ihren Gefühlen und stark in ihrer Musik. Wo sie jetzt auch ist, ich vermisse sie.‹«
Als ich mich nach Katsanis’ möglicher Klavierbegleitung erkundige, schließt sie dies eher aus. Er habe doch Bouzouki gespielt, die griechische Variante der Mandoline.
Nora wählt auch bei den anderen Aufnahmen eher melancholische, sehnsuchtsvolle Lieder, wie sie in einem Konzertsaal oder auch als Hintergrundmusik in einer Hotelbar gespielt werden könnten. Keiner ihrer Songs ist so richtig fetzig.
Ich möchte von meiner Expertin wissen, ob Nora das Potenzial für eine große Zukunft hatte. Die Antwort bleibt spekulativ: »Vielleicht hätte sie es tatsächlich geschafft, denn sie besitzt eine außergewöhnliche Stimme, und es kommt in diesem Geschäft nicht unbedingt auf Perfektion und Qualität an«. Doch wir werden es nie erfahren, denn wenige Monate nach der Aufnahme lebt die junge Frau nicht mehr.
In den nächsten Tagen beginne ich, mir beim Aktenstudium und dem Sondieren der im Internet vorhandenen Informationen einen Überblick über den Fall zu verschaffen.
In einem mit Arbeitsübersetzung überschriebenen Bericht vom 04.07.2007 zum Geschäftszeichen RK 513/ST, Benachrichtigungsschreiben der Polizei, lese ich, dass am 30.06.2007 um 18:30 Uhr die Polizeidienststelle Kypseli von einer Streifenwagenbesatzung benachrichtigt wurde, dass man im Erdgeschoss eines Mehrparteienhauses die Leiche einer Frau gefunden habe, bei der es sich um die 1980 in Deutschland geborene Nora Feller handele. Der Wohnungsbesitzer Potis Katsanis sei zu diesem Zeitpunkt beruflich auf Kreta unterwegs gewesen. Die Leiche habe sich in einem fortgeschrittenen Verwesungszustand befunden und einen Wollschal-Strick um den Hals getragen.
Da die Leiche keine Verletzungen aufwies und auch keine Einbruchsspuren festgestellt wurden, schlossen die Polizisten Fremdverschulden aus, ordneten jedoch eine Voruntersuchung und eine Obduktion an.
Ich bin überrascht, wie viele Details über Noras Tod im Netz zu finden sind und wie viele Medien sich des tragischen Falls in all den Jahren angenommen haben.
Zum ersten Mal erlebe ich in einem YouTube-Beitrag auch Noras Ex-Partner Potis Katsanis. Er spielt in der Strandkneipe, in der er Nora Jahre zuvor kennengelernt haben soll. Ein ergrauter Hippie als Mandolinenspieler, ein Gitarrist mit einem auffälligen Schlapphut und ein stämmiger dunkelhäutiger Sänger begleiten ihn bei HittheRoadJack, ein Song, der Ray Charles in den frühen 1960er-Jahren zu einem Welterfolg verhalf. Der Titel scheint passend, denn im Song, der mit »Hau ab, Jack« übersetzt werden kann, geht es um einen Disput zwischen einem Sänger und seiner Frau, die ihn loswerden möchte und vor die Tür setzt. Nach heftigem Protest gibt er schließlich seinen Widerstand auf und verschwindet tatsächlich. Eine Parallele, die auch auf Nora Feller und Katsanis zutreffen könnte. Allerdings endete sie, statt in einer Trennung, in einer Katstrophe.
Das Video stammt aus dem Jahr 2007 und soll, so Noras Mutter, wenige Tage nach dem Tod ihrer Tochter aufgenommen worden sein. »Sieht so ein Mensch aus, dessen Partnerin gerade gestorben ist?«, fragt sie und sieht mich dabei herausfordernd an. »Kein Anzeichen von Trauer bei ihm.«
Katsanis spielt Gitarre und singt mit dem schwarzen Sänger im Duett, der eine ungewöhnliche, soulige Stimme hat. Noras Ex-Partner scheint tatsächlich gut gelaunt zu sein. Er wirkt auf mich dynamisch, scheint die Begleitung des Sängers zu genießen. Sein linker Fuß wippt im Takt, immer wieder schaut er ins Publikum. Katsanis trägt eine Sonnenbrille, obwohl es nicht besonders sonnig zu sein scheint. Vielleicht findet er das cool. Dazu ein weißes T-Shirt, weiße Shorts, schwarze Socken und weiße Turnschuhe. Vor ihm auf dem Tisch steht ein großes Glas Bier. Alles sieht nach Party aus, nach Strandleben und unbeschwerten Urlaubstagen, aber eine solche Stimmung zu verbreiten gehört sicher auch zur Aufgabe der Musiker.
Doch bei allen positiven Attributen wirkt Noras Ex-Partner auf mich ein wenig machohaft. Zumindest in diesem Moment ist von Trauer oder Anspannung nichts zu erahnen, aber möglicherweise ist das Singen auch einfach seine Art, mit dem Verlust umzugehen. Jeder Mensch trauert auf seine Weise, das muss nicht immer den Erwartungen anderer entsprechen.
Ich spiele auch dieses Video der Solistin vor und frage, was sie von den musikalischen Fertigkeiten Katsanis’ und der Band hält. Ihre Antwort ist ernüchternd: »Er spielt so mittelmäßig, lässt den Mandolinenspieler und den anderen Gitarristen die anspruchsvollen Soli spielen, während er nur die einfachen Akkorde schrubbt. Seine beiden Mitspieler wirken schüchtern, während er selbstbewusst auftritt. Dabei verhält er sich wie ein Bandleader, gibt immer wieder Kommandos. Dieses Verhalten kenne ich auch von anderen Bandleadern: Vom Können her sind sie häufig eher die Schwachen, drängen sich aber immer wieder in den Vordergrund, um eventuell mehr an Gage zu bekommen, ohne dafür die musikalische Klasse zu haben. Ohne Zweifel ist der schwarze Sänger der Star. Er hat durch seinen Gesang, seine Ausstrahlung alles in der Hand und begeistert nicht nur das Publikum, sondern auch mich.«
Nach der Expertise der Musikerin erhält das musikalische Zusammenwirken von Nora Feller und Katsanis für mich einen anderen Stellenwert: Brauchte Nora bei ihrem Talent und ihrem Fleiß tatsächlich Katsanis’ künstlerische Förderung und seine Kontakte als Sprungbrett für ihre Gesangskarriere, zumal sie sich musikalisch von Folklore und Unterhaltungsmusik verabschiedet und für anspruchsvolleren Jazz und Swing entschieden hatte? Ich mag das nicht glauben.
Derweil recherchiere ich nach den anderen Musikern. Nora Fellers Mutter hatte den vorsichtigen Verdacht geäußert, sie könnten ebenfalls in Katsanis’ Wohnung gewesen sein, als ihre Tochter starb. Zwei von ihnen kann ich schnell mittels meiner Internetrecherche und einiger Telefonate identifizieren.
Der Gitarrist mit dem Schlapphut hat den Mitschnitt ins Netz gestellt und lebt in Deutschland. Er versichert mir am Telefon, dass er jedes Jahr gemeinsam mit seiner Frau im Frühjahr und im Spätsommer das frühere Hippiedorf auf Kreta besucht. Allerdings nie vor dem 20. August, denn sonst sei es dort noch zu heiß. 2007 sei es genauso gewesen. Potis und Kyros, der Mandolinespieler, hätten da bereits mehrere Wochen gastiert, da sie jedes Jahr so um den 1. Juli herum mit den Konzerten beginnen würden. Wie in den Jahren zuvor habe er mit ihnen gemeinsam Musik gemacht, denn neben griechischer Folklore spielten sie auch ihm bekannte Oldies. Mitgemacht habe auch noch der englische Sänger Robert, der ebenfalls immer wieder mit seiner Frau Dodo nach Kreta komme. Es sei eine lose Musiker-Freundschaft, und deshalb könne er über Potis und dessen Freund Kyros auch nur wenig sagen, außer, dass die beiden von der Musik lebten und 365 Tage im Jahr in Griechenland, Amsterdam und anderswo unterwegs seien. »Mit Musik verdienst du nicht viel, aber immer noch besser, als zu verhungern.«
Potis habe wohl auch mal eine längere Zeit in München gelebt, dort gespielt und beherrsche etwas Deutsch. Er selbst wisse nicht einmal, wo die beiden während ihrer Gastspielreise auf Kreta wohnen würden.
Allerdings habe er von Kyros erfahren, dass sich Potis’ Freundin zu Beginn der Konzertreise erhängt habe und tot in dessen Wohnung aufgefunden worden sei. »Das muss kurz nach seiner Ankunft auf Kreta gewesen sein.« Potis sei deshalb zurück nach Athen gefahren, um die Beerdigung zu organisieren. Danach, so habe es ihm Kyros gesagt, sei er immer noch richtig fertig gewesen.
Ich frage nach weiteren Details, doch mehr kann mir der Musiker nicht sagen. Er kenne Nora nicht, habe jedoch einmal einen Song von ihr auf einer CD gehört. »Sie hatte eine richtig schöne Stimme.«
Ich recherchiere weiter und finde heraus, dass der Sänger aus dem Südwesten Englands kommt und dort professionell als Entertainer und unter dem Namen The Soulman auftritt, wobei Kompositionen von Nat King Cole und Lionel Richie sein Repertoire bestimmen.
Als ich ihn anrufe, kann er sich sofort an Auftritte mit Potis und dessen Freund erinnern. 2007 habe er seine Frau Dodo geheiratet und sie seien auf Kreta in ihrem Honeymoon