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Axel Petermann

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Beschreibung

Wie viele Mörder sind noch unter uns?

Wer hat die junge Frau vor 20 Jahren bestialisch ermordet? Ein Fremder, ein verschmähter Liebhaber, oder war es gar ein Familiendrama? War es die Russenmafia, die den Häftling in seiner Zelle gefoltert und schwer verletzt hat, oder ging es um Streitigkeiten im Drogenmilieu?

Es gibt eine erschreckend hohe Dunkelziffer an ungeklärten Todesfällen. Er geht ihnen auf den Grund: Axel Petermann war Mordkommissar und Leiter der »Operativen Fallanalyse« in Bremen. Mit den Methoden des Profiling kommt er den Mördern auf die Spur. Seine Fallgeschichten sind abgründiger und spannender als ein Krimi – sie sind beängstigend wahr.

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Seitenzahl: 356

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Der Autor

Axel Petermann hat als Leiter der Mordkommission in Bremen und stellvertretender Leiter im Kommissariat für Gewaltverbrechen mehr als 1000 Fälle bearbeitet, in denen Menschen eines unnatürlichen Todes starben. Im Jahr 2000 begann er mit dem Aufbau der Dienststelle »Operative Fallanalyse«, deren Leiter er bis zu seiner Pensionierung im Oktober 2014 war. Aktuell kümmert er sich im Auftrag von Angehörigen um ungeklärte Todesfälle. Ebenfalls seit 2000 ist er ständiger Berater des Bremer Tatort (mit Sabine Postel und Oliver Mommsen); vier seiner Fälle wurden für die ARD mit Nina Kunzendorf und Joachim Król verfilmt. Seit vielen Jahren lehrt er als Dozent für Kriminalistik an der Hochschule für Öffentliche Verwaltung. Seine beiden Bücher Auf der Spur des Bösen und Im Angesicht des Bösen wurden Bestseller.

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Die in diesem Buch geschilderten Fälle entsprechen den Tatsachen. Bis auf die Fälle von Heike Rimbach und Alexandra Wehrmann wurden die Namen der genannten Personen und Orte des Geschehens anonymisiert. Etwaige Übereinstimmungen oder Ähnlichkeiten wären rein zufällig. Darüber hinaus sind alle Dialoge und Äußerungen Dritter nicht wortgetreu zitiert, sondern ihrem Sinn und Inhalt nach wiedergegeben.

Originalausgabe 07/2015

Copyright © 2015 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Hauptmann und Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung eines Fotos von Stefan Kuntner

Redaktion: Marita Böhm

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-16167-5

www.heyne.de

Inhalt

Prolog: Wie viele Mörder sind unter uns?

Heike Rimbach – das Grauen auf dem Dachboden

Wer das Schweigen bricht – das Geheimnis von Zelle 26

Torso – die Spuren lügen nicht

Mörder ohne Gesicht – 40 Jahre Warten oder die Tote am Bahndamm

Epilog: Wer klärt die ungelösten Morde auf?

Dank

Prolog: Wie viele Mörder sind unter uns?

Ich bin Profiler. Ein Spezialist für ungeklärte Morde. Ein Grübler und Querdenker unter den Ermittlern. Bei meinen Kollegen der Mordkommission bin ich in den letzten Jahren vielleicht nicht immer sehr beliebt gewesen, obwohl ich selbst viele Jahre in der Mordkommission gearbeitet habe, lange Zeit als deren Leiter. Aber meine Ansätze sind oft ungewöhnlich, nahezu verrückt: Ich stelle nach, wie Mörder töten. Ich begebe mich in die Rolle des Opfers. Ich stehe stundenlang an einem Tatort und warte darauf, dass er zu mir spricht. Nicht jeder versteht immer genau, was ich gerade tue.

Mit unseren besonderen Methoden und außergewöhnlichen Sichtweisen hilft die sogenannte Operative Fallanalyse (OFA), Verbrechen aufzuklären, die andere als unlösbar betrachten. Manchmal bewahren wir Profiler so Verdächtige vor falschen Verurteilungen und geben den Ermittlungen oft den entscheidenden Impuls. Die Mordserie des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) in den Jahren 2000 bis 2007 mit zehn unschuldigen Opfern ist dafür ein mahnendes Beispiel. Da hatte es bereits nach den ersten Taten konkrete Hinweise von Fallanalytikern auf eine rechtsradikale Tätergruppe gegeben. Die Ermittler aber verfolgten andere Spuren: Sie suchten die Täter im Bereich der organisierten Kriminalität oder im ethnischen Umfeld der Opfer. Eine tragische Fehlentscheidung, wie wir heute wissen.

Die Statistik sagt, dass in Deutschland jedes Jahr rund 300 Morde geschehen. Die Statistik sagt auch, dass rund 90 Prozent dieser Verbrechen aufgeklärt werden. Was die Statistik nicht sagt: Wie viele dieser Ermittlungen haben tatsächlich den richtigen Täter identifiziert? Und wie viele Morde ereigneten sich, die wir nicht als Morde erkannt haben? Wie viele Unglücksfälle oder angebliche Suizide waren in Wahrheit gut getarnte Morde?

In meiner Arbeit als Profiler habe ich oft erlebt, wie schnell Ermittlungen eine falsche Richtung einschlagen. Wie hoher Zeitdruck, fehlende Mittel und zu wenig Personal zu vorschnellen Ergebnissen führen, an deren Ende die Falschen der Tat bezichtigt werden. Im Umkehrschluss stellt sich die Frage: Wie viele Mörder leben unerkannt in unserem Land, nur weil wir nicht alles Menschenmögliche in den Ermittlungen unternommen haben, um sie zu finden? Und wie viele Menschen sitzen unschuldig im Gefängnis, weil die Ermittlungen nicht zum wahren Täter führten? Die Operative Fallanalyse kann helfen, die Fehlerquote bei der Aufklärung zu senken.

Vor gut 25 Jahren wurde die fast 80 Jahre alte Wilhelmine Heuer in ihrem kleinen Tante-Emma-Laden in Bremen vergewaltigt, erschlagen und erdrosselt. Der Täter raubte mehrere Hundert Mark und flüchtete. Die Polizei ermittelte und schien schnell fündig geworden zu sein: Ein arbeitsloser Trinker aus der Nachbarschaft wurde als Verdächtiger identifiziert. Er kaufte häufig in dem kleinen Laden ein, hatte aber nur selten eigenes Geld. Alle Beweise sprachen gegen den Mann: Seine Blutgruppe stimmte mit den Spuren am Opfer überein. Auch Fasern seiner Kleidung wollte man am Tatort identifiziert haben. Zwar schien die DNA-Untersuchung seiner Körperzellen in einem Labor in England seine Unschuld zu beweisen, doch methodische Fehler verhinderten, dass das Gutachten für seine Entlastung herangezogen werden konnte. 20 Jahre lang lebten der Mann und seine Familie mit dem Makel des Mordvorwurfs. Die Erlösung kam spät. Nach einer ausführlichen Fallanalyse und dem Fund einer winzigen Spermaspur des Täters konnte der wahre Mörder schließlich gefasst werden; es war der Enkel der besten Freundin der Toten. Seine Großmutter hatte ihm ein falsches Alibi gegeben.

Mit meiner Vehemenz und Ausdauer bei den Recherchen habe ich nur eines im Blick: die restlose Aufklärung eines Verbrechens, zumindest aber die Aufhellung eines Mysteriums. Die Ergebnisse einer Fallanalyse oder des »Profilings« sollen den Ermittlern der Mordkommission helfen, ein Verbrechen nachzufühlen, das Motiv des Täters zu erkennen und seine Persönlichkeit zu verstehen, sodass er aus einer Vielzahl von möglichen Verdächtigen herausragt und identifizierbar wird. Deshalb ist es auch mein Anliegen, der Methode der Operativen Fallanalyse mehr Raum zu geben: Mut bei den Ermittlungen! Nicht vom ersten Eindruck täuschen lassen! Geht ganz neue Wege! Nur so gelingt es uns, die Wahrheit hinter dem Verbrechen zu erkennen. Nur so verringern wir die Zahl der unentdeckten Verbrechen. Das Profiling ist keine Konkurrenz der klassischen Ermittlung, sondern eine Ergänzung. Es ist ein Serviceangebot für die Vertreter der klassischen Ermittlungen.

In meinem dritten Buch werde ich über einige spektakuläre Fälle berichten, die größtenteils nur durch die unkonventionellen Methoden des Profilings gelöst werden konnten. Das Buch ist nicht nur eine Abhandlung über die kriminalistische Arbeit bei Tötungsdelikten und die Erstellung von Täterprofilen. Detailliert zeige ich, wie ich im Zusammenspiel von Fakten und Beweisen, von Theorien und Studien, von Aussagen und Expertenmeinungen eine Ermittlungsstrategie entwerfe. Ich erkläre, was man alles aus den Spuren eines Tatorts lesen kann und wie am Ende ein Täterprofil entsteht. Ich schlüpfe in die Rolle des Mörders, um das Verbrechen mit seinen Augen sehen zu können. Der Weg dieser Erkenntnis führt auch durch Leichenhallen, Sektionssäle und Schlachthäuser. Das ist der Preis, den man zahlen muss, wenn man einen ganz anderen Blick auf das Böse haben will.

Heike Rimbach – das Grauen auf dem Dachboden

August 2014. Bad Harzburg. Hauptfriedhof. Grab N 18. Die schwarze Lackfarbe auf dem verwitterten Kreuz ist an einigen Stellen abgeblättert. An der Wetterseite haben Moose und Flechten einen unwirtlichen Lebensraum gefunden und das Holz mit einer hauchdünnen grünen Patina überzogen. Auch die goldenen Buchstaben sind verblasst. Ich muss ein wenig näher an das Symbol des Todes herantreten, um die Inschrift lesen zu können:

25.12.1975 Heike 28.8.1995

Ich betrachte die Statue eines kleinen Engels, der vor dem Kreuz auf einer Stele sitzt und sich verstohlen eine imaginäre Träne aus dem Gesicht zu wischen scheint. Auch die weiße Oberfläche der Skulptur zeigt Spuren der Vergänglichkeit; die abgeplatzte Emaille, pockengleich, verleiht der Figur aus Ton den morbiden Charme der Sterblichkeit. Das in diesem Jahr zu früh von den nahe stehenden Linden herabgefallene Laub hat die immergrünen Pflanzen der Grabstätte mit einem alles verdeckenden gelb gefärbten Blätterteppich überzogen. Den Eindruck der stillen Endlichkeit können auch zwei frische Blumensträuße mit roten Rosen nicht verwischen; hier ruht ein vor vielen Jahren erloschenes Leben.

Ich stehe am Grab von Heike Rimbach. Als die junge Frau starb, war sie noch nicht einmal 20 Jahre alt und voller Zukunftspläne. Sie lebte in Lüttgenrode, einem verschlafenen Örtchen im Harz, gut 15 Kilometer von ihrer letzten Ruhestätte entfernt: Auszubildende im dritten Lehrjahr in einer kleinen Landschlachterei und frisch verliebt.

Das leise Wimmern einer Frau reißt mich aus meinen Gedanken. Neben mir steht Heikes Mutter Maria – ihr Weinen wird nur durch ihr monotones Selbstgespräch und die gebetsmühlenartig vorgetragene Frage, wer ihre Tochter ermordete, unterbrochen. Ich schaue auf meine Begleiterin, die gerade das ewige Licht einer Grabkerze anzündet. Erschöpft und verbittert sieht die stämmige Frau mit ihren gut 50 Jahren aus. Verweinte, gerötete Augen, das vormals dunkle und zur Wasserwelle geschnittene Haar längst ergraut. Die Schultern hängen kraftlos herunter, der Oberkörper ist nach vorne gebeugt.

Auch wenn seit dem gewaltsamen Verlust ihrer Tochter fast auf den Tag genau etwas über 19 Jahre vergangen sind, hat sie den Tod ihres Kindes noch immer nicht verwinden können, aber auch noch nicht die Hoffnung aufgegeben, dass das Verbrechen nach dieser langen Zeit des Bangens und Hoffens aufgeklärt und der Täter bestraft werden könnte. Als Maria Rimbach nach wenigen Minuten ihre Stimmung wechselt und kraftvoll über ihre Zuversicht spricht, bin ich über ihre wieder einsetzende Leidenschaft nicht sonderlich überrascht. Ich kenne diese starken Stimmungsschwankungen auch von anderen Eltern, deren Kinder durch ein Verbrechen starben. »Ich möchte, dass Sie jede Einzelheit über Heikes Tod in Ihrem nächsten Buch schreiben. Der Mörder soll nie vergessen, was er Heike und uns angetan hat. Das bin ich meiner Tochter schuldig.« Diese energische Frau wird niemals aufgeben, den Mörder ihrer Tochter zu finden und von ihm Erklärungen für sein Tun zu verlangen.

Eine von Verzweiflung geprägte Einstellung, die ich immer wieder bei Menschen erlebe, deren Angehörige plötzlich und unvermittelt aus dem Leben gerissen wurden. Entsetzliche Momente, bei denen es keine logische Erklärung für den Tod gab und die Frage nach dem Warum wie ein Mahnmal stehen blieb. Manchmal konnte durch die Ermittlungen nicht einmal die Frage beantwortet werden, ob der Täter sein Opfer gezielt ausgesucht hatte oder ob dieses wegen einer unglücklichen Fügung zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war.

Ich merke, dass ich an diesem Ort der Stille zu sentimental reagiere, zu sehr die Nähe der Frau und ihren Kummer zulasse und mich nicht gegen ihre Gefühle abschotte. Der Wunsch nach professioneller Distanz – eine Haltung, die ich in meinem Ermittlerleben erst langsam erlernen musste. Zu viel Nähe kann den für die Aufklärung notwendigen objektiven Blick trüben. Natürlich muss ein Ermittler Hinterbliebenen kondolieren und darf auch seine Betroffenheit über das Verbrechen zeigen, dann allerdings muss er sich unvoreingenommen auf die Ermittlungen konzentrieren. Die Nachbetreuung der Angehörigen sollte nur durch speziell für diese Aufgabe ausgebildetes Personal oder Polizeipsychologen erfolgen.

Selbstverständlich kann dieser Wunsch nach Distanz als hartherzig empfunden werden. Ab und an wurde mir sogar dieser Vorwurf von Angehörigen gemacht. Doch in meinem Verständnis verpflichtet die Suche nach der Wahrheit die Ermittler zur Objektivität. Auch die Rechte eines vermeintlich Tatverdächtigen müssen geschützt sein, und nicht jeder erste Verdacht bestätigt sich im Nachhinein. Schon häufiger habe ich bei besonders aufwühlenden und sehr öffentlichkeitswirksamen Verbrechen erlebt, dass die eigene These unterstützende Informationen als wahr eingeordnet, während entlastende – und somit gegen die eigene Vorstellung sprechende Hinweise – vernachlässigt wurden. Zu groß kann in diesen Momenten der Wunsch gewesen sein, das Verbrechen aufzuklären und einen Verdächtigen zu präsentieren. Die Objektivität blieb dabei auf der Strecke.

Dazu ein mahnendes Beispiel: Vermutlich kennen viele von Ihnen das Drehbuch von Ladislao Vajda zum Film »Es geschah am helllichten Tag«. Gerd Fröbe verkörpert den Mädchenmörder Albert Schrott, Heinz Rühmann ist als Kommissär Matthäi der Ermittler. Eines Tages wird in einem fiktiven Schweizer Örtchen nahe Zürich die Leiche der kleinen Gritli Moser gefunden. Ein Serienmörder hat das Kind getötet. Als Matthäi den Eltern die Todesnachricht überbringt, verspricht er ihnen bei seiner Seligkeit, den Mörder ihrer Tochter zu finden. Matthäi ersinnt einen riskanten Plan: Er missbraucht ein kleines Mädchen ohne dessen Wissen als Lockvogel und stellt so dem Mörder eine Falle. Während es dem Kriminalisten in der Filmversion gelingt, Schrott auf frischer Tat zu überraschen, entwickelt sich der Schwur im später erschienenen Dürrenmatt-Roman »Das Versprechen« als unheilvolles Gelübde. Zwar macht sich Schrott auf den Weg, um den kleinen Lockvogel zu ermorden, doch der Zufall – und somit das Schicksal – spielt mit dem Kommissär ein grausames Spiel. Albert Schrott verstirbt auf dem Weg zu seinem nächsten Mord bei einem Autounfall, ohne dass seine Verwicklung in die Taten bekannt wird. Matthäi hingegen verliert im fatalen Bewusstsein, bei der Suche nach Gritlis Mörder versagt und sein Versprechen nicht eingehalten zu haben, jeglichen seelischen Halt und wird zum Trinker. Auch die späte Beichte von Schrotts Frau auf dem Sterbebett, ihr Mann habe ihr die Mädchenmorde gestanden, kann die abgrundtiefe Zerrissenheit des gescheiterten und inzwischen durch den Suff verblödeten Ermittlers nicht heilen.

Wenige Wochen vor dem Friedhofsbesuch hatte ein Anwalt wegen eines anderen Tötungsdelikts bei mir angerufen und während des Gespräches auch um meine Unterstützung im Fall von Heike Rimbach gebeten. Ein abscheuliches Verbrechen: Die junge Frau war im Haus ihrer Eltern mit äußerster Brutalität und Konsequenz förmlich hingerichtet worden – erschlagen, erstochen, erwürgt und erhängt. Völlig erniedrigt und abgeschlachtet wie ein Stück Vieh. Der Vater, so erzählte der Anwalt, habe die Tochter auf dem Dachboden stranguliert aufgefunden und sei später aus Gram darüber gestorben.

Ich hatte zunächst gezögert, bis ich meine Hilfe zusagte. Schließlich sollte es das erste Mal nach meiner Pensionierung sein, dass ich mich konkret mit einem mir völlig fremden und ungeklärten Verbrechen beschäftigen und nach eventuellen neuen Ansätzen zum Fallverständnis suchen sollte. Zwar hatten mich nach Lesungen oder Vorträgen Angehörige schon häufiger gefragt, ob ich sie bei der Suche nach der Wahrheit unterstützen könne, doch stets hatte ich diese Anfragen mit dem Hinweis, ich sei ja noch aktiver Ermittler, abgelehnt. Aber dann fiel mir wieder ein, wie ich mich vor Jahren gefühlt hatte, als das Kind von guten Freunden Opfer eines Verbrechens geworden war und lediglich mit viel Glück die Gräueltat überlebt hatte. Und ich spürte auf einmal wieder dieses Gefühl der Hilflosigkeit, wenn die Ermittler ihre Unterstützung aufgeben, die aufkeimenden Fragen nach dem Was und dem Warum der Tat, so als sei das Geschehen erst gestern gewesen. Und plötzlich war sie auch wieder da, die Erkenntnis, wie unvermittelt und voller Gewalt ein Leben plötzlich ausgelöscht werden kann. Und das Bewusstsein, dass für Angehörige, Partner und Freunde nach einer solchen Tragödie im Leben von der einen Sekunde zur anderen nichts mehr so ist, wie es einmal war.

Als ich das erste Mal nach dem Anwaltsgespräch mit Maria Rimbach telefoniere, sie mir erste erschreckende Details über den erbarmungslosen Tod ihrer Tochter berichtet und mich ebenfalls eindringlich bittet, ihr zu helfen, gibt es für mich keinen Zweifel mehr: Dieser leidgeprüften Frau muss ich helfen, es zumindest versuchen. Vielleicht, dass ich ihr nach der Analyse mehr zum Ablauf des Verbrechens sagen kann. Vielleicht, dass es mir gelingt, der Frau das Unverständliche der Tat verständlicher zu machen. Vielleicht, dass ich ihr erklären kann, weshalb ihre Tochter sterben musste. Allerdings knüpfe ich an meine Zusage eine Bedingung: Ich werde den Fall quasi als »Pro-bono-Ermittler« übernehmen, aber der Preis für meine kostenlose Beratung ist die völlige Unabhängigkeit bei der Bewertung der Rechercheergebnisse. Als Maria Rimbach diese Voraussetzung akzeptiert, bitte ich sie, den Anwalt von seiner Schweigepflicht zu entbinden und mir die Akten zur Verfügung zu stellen. Wenige Tage später steht tatsächlich ein großer Umzugskarton mit prall gefüllten Aktenordnern und Fotos vom Verbrechen bei mir im Arbeitszimmer.

Und so beginne ich zunächst damit, mir einen Überblick über den Fall zu verschaffen, und sondiere die im Netz veröffentlichten Informationen. Ich bin überrascht, wie viele Fakten die Ermittler bereits der Öffentlichkeit preisgegeben haben, auch Tatortfotos mit Spurentafeln, sodass ich keine Probleme habe, Details des ungeklärten Verbrechens auch hier im Buch zu thematisieren und den Tatablauf zu interpretieren. Schnell ist mir klar: Nur in ganz wenigen Fällen habe ich in den gut 35 Jahren als Mordermittler und Profiler ein derartig abscheuliches Verbrechen bearbeiten müssen.

Auch der im Netz veröffentlichte Text der TV-Dokureihe »Ungeklärte Morde, dem Täter auf der Spur« aus dem Jahr 2002 lässt mich nachdenklich werden: »… Mein Name ist Reinhard Fallak, ich bin Kriminalbeamter aus Hamburg und heute Abend wieder für Sie da. Jetzt zu einem besonders mysteriösen Mordfall, der seit Jahren meine Kollegen der Kripo Halberstadt beschäftigt: Ein junges Mädchen, Heike Rimbach, wurde bestialisch ermordet aufgefunden. Und ein ganzes Dorf schweigt …«

Ich frage mich, wie so etwas angehen kann. Ein bestialischer Mord und alle Bewohner des Dorfes bleiben still? Sollte bei den Menschen nach einem solchen Verbrechen nicht die Angst umgehen, dass sich in dieser ländlichen Idylle noch einmal eine solche Tat ereignen könnte? Wie muss man sich fühlen, auf einmal Gewissheit zu haben, dass das Verbrechen Einzug in das eigene Dorf gehalten hat und es doch das Böse gibt, das sich sonst ja nur immer ganz weit entfernt zeigt und meist nur aus den Medien bekannt ist? Dass das Opfer zudem noch jemand von ihnen ist, dass der Täter vermutlich unter ihnen lebt und kein anonymer Fremder ist? Wo bleiben Mitleid und Solidarität?

Weshalb also schweigt die Bevölkerung? Welche gruppendynamischen Konstellationen wirken hier? Wären nicht unzählige Hinweise die logische Folge, so wie ich es bei spektakulären Verbrechen in meiner Stadt erlebt habe? Ich beschließe also, mich mit der Mutter von Heike Rimbach zu treffen und mit den Nachforschungen zu beginnen. Vielleicht sollte es ja auch möglich sein, die Gründe für das Schweigen der Menschen in Lüttgenrode aufzudecken. Mir wird klar, dass ich so gut wie gar nichts über das Leben der Menschen im früheren Zonengrenzgebiet der DDR und die gesellschaftlichen Veränderungen nach der Wende im Jahr 1989 weiß. Auch darüber will ich mehr erfahren und deshalb muss ich auch mit Zeitzeugen aus dieser Region sprechen.

Wenige Tage später treffe ich Maria Rimbach, die Mutter von Heike, in ihrem kleinen Reihenhaus im Harz. Sie ist nicht allein. Ein kleiner drahtiger Mann mit großer Brille, akkurat geschnittenen silbergrauen Haaren und mächtiger Armbanduhr am linken Handgelenk begrüßt mich. Ich schätze ihn auf gut 70 Jahre. Ein Bekannter von Maria Rimbach, wie ich annehme. Zu meiner Überraschung stellt er sich als Heikes Vater vor. Der Mann lebt! Ich bin ziemlich irritiert. Hatte der Anwalt nicht gesagt, dass der Mann aus Gram verstorben sei? Vorsichtig frage ich nach, wie es zu diesem schrecklichen Irrtum kommen konnte. Achselzucken ist die Antwort.

Ich stelle mich kurz vor und bitte Heikes Eltern, einfach zu erzählen. Wir sitzen in der Küche und trinken Kaffee. Es riecht nach Nikotin, die Aschenbecher auf dem Tisch sind voll. Ich bin gespannt, was ich über das Verbrechen erfahren werde. Mein erster Mord, den ich als privater Ermittler untersuchen werde.

Nach dem Tod ihrer Tochter hatten die Eltern Lüttgenrode sofort verlassen und das »Mordhaus«, wie der Vater es nennt, nie wieder betreten. Ihr neues Zuhause liegt knapp 20 Kilometer von dem ungeliebten Ort entfernt. Maria Rimbach und ihr Mann Karl-Heinz sind in den langen Jahren seit dem Tod ihrer Tochter verbittert geworden. Für die beiden Menschen ist es unverständlich, dass der Mörder immer noch nicht gefasst wurde trotz vieler Sonderkommissionen, unzähliger Vernehmungen und wissenschaftlicher Untersuchungen. Allein die Vorstellung, dass Heikes Mörder ganz in ihrer Nähe wohnen, eine Familie gegründet und Kinder haben könnte, lässt sie verzweifeln. »Wie schafft er es nur, eine ruhige Minute zu haben, unbeschwert einzuschlafen, mit seinen Kindern zu spielen und fröhlich zu sein?«, fragt mich Maria Rimbach. Dann steckt sie sich eine weitere Zigarette an. Es ist ihre dritte in der knappen halben Stunde, die ich bei ihnen bin.

Auf diese Frage kann ich Maria Rimbach leider keine abschließende Antwort geben. Doch aus Erzählungen von Tätern, die getötet haben, weiß ich, dass kaum einer von ihnen so weiterleben konnte wie vor der Tat. Ständig grübeln sie, wann die Polizei bei ihnen an der Tür klingeln wird. Denn sie wissen natürlich, dass die meisten Mörder gefasst werden. Zudem sind Tötungsdelikte häufig nicht geplant, ergeben sich manchmal aus dem Nichts, aus der Situation heraus, und bilden dann den traurigen Höhepunkt in der Biografie eines Menschen. Das geht an niemandem spurlos vorüber. Ich spüre, dass Sachlichkeit gegen Emotionalität keine Chance hat und mein Versuch einer Antwort die Eltern nicht überzeugt. Ein Themenwechsel muss her, um die Stimmung zu entspannen.

Und so erkundige ich mich, wann und weshalb sich die Familie in dem kleinen und abgelegenen Ort Lüttgenrode angesiedelt hatte. Maria Rimbach ergreift wieder das Wort. Es sei im Dezember 1993 gewesen: eine günstige Gelegenheit, wenn auch eine sehr spartanische. Eine frühere Schäferei mit einer Einliegerwohnung und der Toilette über dem Hof war ihnen angeboten worden. Mit den Worten ihres Mannes hört es sich allerdings drastischer an: »Ein Saustall, wie ich ihn noch nie gesehen habe.« Da sie in der Nähe ihres neuen Domizils allerdings eine größere Halle für ihr Abbruchunternehmen hatten anmieten können, sei das Provisorium erst einmal akzeptabel gewesen.

Doch die geschäftlichen Erwartungen erfüllten sich nur zum Teil: keine Aufträge aus den Gemeinden der neuen Bundesländer, wiederholte Einbrüche und Sachbeschädigungen in der Firma. Dazu drei Wochen vor dem Mord an Heike bereits ein erster ungewöhnlicher Todesfall: Sie hatten ihren Gelegenheitsarbeiter Alfred morgens in der stockdunklen Firmenhalle unter mysteriösen Umständen erhängt aufgefunden. Die Leiche sei bis auf die Unterhose nackt gewesen, der Körper frei schwebend, die Füße nur wenige Zentimeter über dem Boden, das Seil mit einem Seemannsknoten an seinem Hals befestigt und über eine Strebe neben der Drehbank geworfen. Und noch weitere Merkwürdigkeiten habe es am Tatort gegeben. Das Tor zum Gelände sei sperrangelweit geöffnet gewesen, Alfreds Bungalow taghell erleuchtet, die Musik voll aufgedreht und auf dem ganzen Hof zu hören gewesen. Es habe keinen Abschiedsbrief gegeben. Für die Kripo sei es trotzdem eindeutig Suizid gewesen. Karl-Heinz Rimbach aber glaubt noch heute, dass es ein Verbrechen gewesen war. Als ich vorsichtig noch andere Möglichkeiten, zum Beispiel die eines autoerotischen Unfalls, andeute, merke ich, dass ich auch bei diesem Thema wenig Überzeugungskraft besitze. Für Familie Rimbach ist Alfreds Tod der erste Mord einer unheilvollen Serie. Mit dieser Entwicklung habe ich überhaupt nicht gerechnet; statt eines Mordes sollen nun zwei Fälle analysiert werden. Ich erkläre den beiden, dass ich mich zunächst nur um den Tod ihrer Tochter kümmern könne, denn nur zu diesem Fall besäße ich die Akten.

Es ist der Vater, der plötzlich aufgeregt und laut über die unfähigen Ermittler von damals zu schimpfen beginnt. Er zitiert einen Beamten nach dem Auffinden von Heike auf dem Dachboden: »Ich bin seit über 30 Jahren bei der Kripo. Sie machen mir nichts vor. Ich weiß genau, dass es einer von Ihnen war.« Und so einseitig seien dann auch die Ermittlungen gelaufen, andere Verdächtige als seine Kinder und ihn habe es erst viel später gegeben, sagt Karl-Heinz Rimbach und prangert weitere Unzulänglichkeiten bei den Ermittlungen an: verschwundene Beweismittel, nicht gesicherte Spuren. Wir sind auf dem besten Wege, völlig den roten Faden zu verlieren.

Ich unterbreche den Redefluss des erregten Mannes und versuche trotzdem zu erklären, dass innerfamiliäre Gewalt sehr verbreitet ist und es immer wieder – wenn auch selten – zu Tötungsdelikten kommt. Die Familie sei für mich eine der zerstörerischsten Institutionen, die ich kenne. Sie garantiere zum einen Nähe und Privatsein, zum anderen ermögliche sie aber auch den Tätern, von der Gesellschaft geächtete Bedürfnisse und Fantasien unbeobachtet auszuleben, da das Schamgefühl der Betroffenen auch einen Schutzraum für die Täter schaffe – was diese auch wüssten.

Doch meine Einwände zeigen keine Wirkung und könnten eher dazu führen, auch mich als befangen abzulehnen. Und so wechsele ich erneut das Thema und möchte wissen, wie ich mir ihre Tochter als Mensch, als junge Frau vorzustellen habe. Ich frage auch nach Fotos. Kurze Zeit später kommt Maria Rimbach mit Bildern zurück. Ich sehe eine schlanke, zierliche Frau. Das Kinn aufgerichtet. Mit ihren blauen Augen schaut sie selbstbewusst und stolz in die Kamera. Die langen, blonden, lockigen Haare umrahmen ihr Gesicht wie eine Löwenmähne. Ein zweites Foto: dieses Mal aus fernen Kindertagen. Der Mund eine Schnute und wieder der kesse Blick, der mir schon auf dem anderen Foto aufgefallen ist. Aber es sind wieder die Haare, die ihre Ausstrahlung bestimmen, dieses Mal erinnern sie mich jedoch an die des kleinen weißen Engels auf ihrem Grab.

Mit diesen Bildern vor Augen kann ich verstehen, dass Heikes Eltern ihre Tochter als sehr ruhig und zurückhaltend, gleichzeitig aber auch als selbstbewusst und zielstrebig beschreiben. »Eine, die nicht gleich jedem um den Hals gefallen und …«, wie Maria Rimbach beflissen ergänzt, »auch nicht mit jedem gleich ins Bett gegangen ist.« Zudem sei sie sehr fleißig und pünktlich gewesen, ihr Chef in der Schlachterei habe sie sehr gelobt und wollte sie nach der Lehre übernehmen. »Doch wenn ihr etwas partout nicht passte, dann konnte sie auch mal zickig sein.« Ich möchte ein konkretes Beispiel für ihre »Zickigkeit« genannt bekommen, doch es scheint nicht viele Anlässe dafür gegeben zu haben – zumindest nicht in der Erinnerung 20 Jahre nach ihrem tragischen Tod. Und so erfahre ich, dass Heike manchmal keine Lust zum Helfen im Haushalt gehabt habe.

Heikes früherer Chef bestätigt diese Wesensmerkmale in einem Telefonat, das ich später mit ihm führe. Heike Rimbach sei ein »wundervolles Mädchen« gewesen. Alle in der Schlachterei hätten sie wegen ihrer freundlichen Art respektiert, sie sei absolut vertrauenswürdig, zuverlässig und pünktlich gewesen. »Man hat sie nie bemerkt, doch sie war immer da.«

Über eventuelle Liebschaften von Heike weiß der Exchef nichts zu berichten. Die ersten Ermittlungen nach dem Mord hätten ihn allerdings nicht sehr beeindruckt. »Es wirkte schon recht lässig.« Die Ermittler seien zwar sehr zuversichtlich gewesen, es habe angeblich eine heiße Spur gegeben. Doch welche das gewesen sei, habe er nie erfahren.

Ich finde Heikes Verhalten in der Familie nicht ungewöhnlich, ich kenne es auch von anderen jungen Menschen. Allerdings hat mich eine andere Information überrascht: Heike hat sich zum Schlafen immer in ihrem Zimmer eingeschlossen. Als ich Maria Rimbach nach dem Grund frage, bekomme ich keine Antwort; ihr Verhalten sei in der Familie nicht weiter thematisiert worden. Mir gefällt die Antwort nicht. Es sieht nach Vorsichtsmaßnahmen aus. Doch gegen wen sind diese gerichtet? Welche junge Frau verrammelt sich in einer intakten familiären Beziehung in ihrem Zimmer? Gab es persönliche Gründe? Könnte dies ein Hinweis auf eventuelle schlechte Erfahrungen mit den männlichen Familienmitgliedern sein? Ein Hinweis auf körperliche oder sexuelle Übergriffe? Oder ist es doch nur der Wunsch nach Ruhe und Abgeschiedenheit?

Nun möchte ich wissen, wie sich Heike bei Streitigkeiten verhalten hat. Auf einmal wird Maria Rimbach ernst: »Es war ungefähr ein Jahr vor ihrem Tod. Heike und ihr damaliger Freund waren oben in ihrem Zimmer. Die beiden kannten sich gut vier Jahre; er war Heikes erster Freund und ein Jahr älter als sie. Plötzlich hörte ich, wie sie sich stritten. Der Freund brüllte, und auch Heike kreischte herum. Ich bin dann hoch, um zu schlichten, doch da tickte Heike völlig aus. Ich konnte sie überhaupt nicht beruhigen, so abgedreht war sie. Irgendwann kam dann Karl-Heinz, und ihm ist die Hand ausgerutscht. Dann war Ruhe, aber es schmerzt ihn heute immer noch, dass er sie geschlagen hat.«

Als Grund für diesen heftigen Gefühlsausbruch soll Heike später das kontrollierende Verhalten ihres Freundes angeführt haben: zu klammernd, zu eifersüchtig, zu aufdringlich. »Ich hatte überhaupt keine Freiräume mehr.« Und als er Heike zudem androhte, er werde sich im Falle einer Trennung umbringen, da sei ihr alles zu viel geworden. Allerdings schien in den folgenden Monaten die Beziehung zwischen Heike und dem Freund zu funktionieren, denn beide sprachen von Zusammenziehen. Und so waren die Eltern einigermaßen überrascht, als sich Heike im Mai 1995 – wenige Wochen vor ihrem Tod – doch von ihm trennte. Bei einer Catering-Schulung hatte sie sich in einen etwas jüngeren Mann verliebt.

Maria Rimbach war zunächst verwundert, dass Heikes früherer Freund die Trennung zu akzeptieren schien. »Er kam zu mir ins Büro. Ich merkte gleich, dass ihn etwas bedrückt. Hab ihn darauf angesprochen, doch dann behauptete er, sie hätten sich in aller Freundschaft getrennt. Ich war erstaunt, denn er wollte doch mit ihr die Zukunft gestalten.« Trotzdem sei er nach der Trennung noch sehr häufig bei ihr in der Firma oder bei ihnen zu Hause gewesen. Doch wegen des heftigen Streits im Jahr zuvor traute sich Maria Rimbach nicht, ihre Tochter zu fragen, wie der Exfreund die Trennung aufgenommen habe. Die Mutter trauerte der früheren Beziehung allerdings ein wenig nach, da sie und ihr Mann Heikes neuen Freund nicht mochten. »Er war doch wie ein dritter Sohn«, und so beruhigte sie sich mit dem Gedanken, dass der langjährige Partner ihrer Tochter immer noch Kontakt hielt.

Erst viele Monate später wird der Frau bewusst, wie konsequent die Entscheidung ihrer Tochter, sich von ihrer ersten Liebe zu trennen, gewesen sein dürfte. In einem von den Ermittlern in Heikes Zimmer übersehenen Heft findet sie zwei von ihr wohl für den neuen Freund geschriebene Gedichte: »Tränen der Liebe« und »Warum ich weine«. Als Maria Rimbach mir Kopien übergibt, werde ich gewahr, dass Heike einen dieser Verse erst wenige Stunden vor ihrem Tod geschrieben hat:

Warum ich weine

Oft weine ich,

weil ich Streit zu Hause habe.

Oft weine ich auch,

weil ich Angst habe,

dich zu verlieren.

Oft weine ich auch,

weil ich so glücklich bin

wie noch nie zuvor.

Und du akzeptierst es,

weil ich weine.

Du lachst nicht,

nimmst mich auch dann noch ernst.

Dafür danke ich dir sehr.

Ich danke dir auch für all das,

was du heute zu mir gesagt hast.

Du kannst mich immer wieder aufbauen —

Das kannst nur du!

Ich liebe dich und brauche dich.

Von H. R. an…

geschrieben am 27. August 95 um 22.00 Uhr

Beide Gedichte sind in ihrer Art gleich melancholisch, traurig, und drücken für mich eine große Einsamkeit aus. Auch scheint es häufiger Streit in der Familie gegeben zu haben, was Heike wohl sehr belastet hatte – anders, als dies von ihren Eltern in der Gegenwart gesehen wird. Eine glückliche, fröhliche, junge Frau hat hier ihre Gefühle nicht beschrieben. Sie liebt den Freund, weil sie ihn braucht, um ihrer momentanen Situation zu entrinnen. Ich nehme mir vor, Heikes beste Freundin danach zu befragen.

In mehreren Telefonaten erfahre ich von ihr, dass sie Heike von der Berufsschule kannte. Zweimal in der Woche sahen sich die beiden Mädchen, doch in ihrer Freizeit trafen sie sich nicht. Zu weit wohnten sie auseinander. Es war eine Zeit, wie sie für uns heute so gar nicht mehr vorstellbar ist: Kaum jemand hatte damals einen Führerschein oder gar ein Auto. Handys, erst seit Anfang der 90er-Jahre überhaupt im Handel, waren selten. Die Frau schildert Heike als »liebes, zartes Wesen«, das in der Berufsschule sehr beliebt gewesen sei. Die Beziehung zur Mutter und den beiden Brüdern schätzt sie als stabil und gut ein. Über den Vater und die Gedichte ihrer Freundin weiß sie nichts zu berichten. Als ich sie nach einem möglichen Grund für das nächtliche Einschließen frage, scheint sie überrascht. Davon habe sie noch nie etwas gehört. Das fände sie »echt komisch«. »Das würde ich doch nie machen.« Heikes Exfreund hat meine Gesprächspartnerin nur einmal erlebt, und zwar auf der Fahrt zur Catering-Schulung. Der Mann sei ihr wegen seiner Eifersucht nicht sonderlich sympathisch gewesen. »Nicht einmal allein ausgehen sollte sie.« Außerdem habe er bei der Verabschiedung gemeint, dass Heike sich benehmen und auf dem Kurs nicht ihre neuen »Anziehsachen« trage solle, die sie sich dafür extra gekauft habe. »Ganz normale Sachen, wenn auch schon etwas kürzer.« Sie als Freundin machte Heike dagegen Mut, die Röcke doch zu tragen, denn »wir sind anständige Mädchen«.

Die Schulung dauert fünf Tage. In dieser Zeit lernt Heike einen Lehrgangskollegen kennen. »Ein netter, lustiger Typ, der gut zu ihr passte«, wie die Freundin erzählt, die es deswegen auch in Ordnung fand, dass beide sich anfreundeten und sich küssten. Bald darauf muss sich Heike von ihrem Exfreund getrennt haben. Bei einem nächsten Treffen berichtete Heike: »Der hat ganz schön getobt und wollte mich zurückhaben.« In dieser Zeit bemerkte die Freundin ein größeres Hämatom an Heikes Schulter. Als sie wissen wollte, woher die Verletzung stamme, schwieg Heike sich aus. Und noch eine Erinnerung lässt meiner Gesprächspartnerin keine Ruhe. Kurz vor ihrem Tod soll ihr Heike »etwas erzählt« haben, das sie sehr beunruhigte. Doch was sie damals so sehr beängstigte, erinnert die Frau nicht. Als ich ihr vorschlage, sie professionell unter Hypnose zu befragen, um die Erinnerung wieder wachzurufen, zögert sie für einen Moment. Dann aber lehnt sie ab.

ENDE DER LESEPROBE