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Ein kaltblütiger Serienmörder. Eine verstümmelte Frauenleiche in einem Plastiksack. Ein erschossener US-Amerikaner im Zug. Kriminalhauptkommissar Axel Petermann ist Deutschlands bekanntester Profiler. Er beschreibt seine schwierigsten Fälle. Dabei gewährt er Einblicke in die Methoden der Profiler und erklärt, was die Spuren am Tatort über die Psyche des Täters verraten. Wahre Geschichten, die unter die Haut gehen.
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Das Buch
Eine alte Frau wird missbraucht und ermordet in ihrem Laden gefunden. Der Verdacht fällt auf ihren größten Schuldner – doch der erste DNA-Test in Deutschland entlastet ihn. Erst Jahrzehnte später geben Forschung und das Profiling dem Fall eine überraschende Wende.
Eine Frau und ihre beiden Kinder werden getötet. Der Ehemann hat scheinbar kein Motiv. Oder etwa doch?
Wenn alle herkömmlichen Ermittlungsmethoden versagen und die Kommissare neue Ideen brauchen, dann landen die Fälle auf dem Schreibtisch von Axel Petermann. Petermann war stellvertretender Leiter im Kommissariat für Gewaltverbrechen und ist jetzt Tatortanalytiker, ein sogenannter Profiler. Er wertet die Spuren vom Tatort aus, rekonstruiert aus vielen Mosaiksteinen das Tatgeschehen und erstellt daraus ein detailliertes Täterprofil. Axel Petermann berichtet Schritt für Schritt von seinen Ermittlungen, zusammen mit dem Profiler taucht der Leser ein in die bizarre Realität der Täter. Authentische Fälle – hautnah und hochspannend erzählt.
»Das Buch fesselt bis zur letzten Seite.«
Financial Times Deutschland
Der Autor
Axel Petermann ist Kriminalkommissar und Tatortanalytiker. Petermann arbeitet seit mehr als 30 Jahren bei der Bremer Kriminalpolizei und hat in über 1000 Fällen ermittelt. Er leitet die Dienststelle Operative Fallanalyse, lehrt Kriminalistik, veranstaltet eine interdisziplinäre Fachtagung für Gewaltverhalten und berät die Redaktion Tatort.
»Das Entscheidende sind die Details. Wenn man sie übersieht, ist man verloren; wenn man nicht versteht, worauf man da schaut, wird man es sowieso nicht erkennen. Es ist wie bei der Besichtigung eines altägyptischen Grabraums: Man sieht, dass die Wände voller Hieroglyphen sind. Wenn man die Sprache, die Syntax und die Grammatik kennt, vermag man die Botschaften zu lesen und mehr über die Menschen zu erfahren, die das Grab erbaut haben. Doch wer die Schrift nicht zu lesen vermag, für den sind die Reliefs einfach bloß schöne Bilder an der Wand und ohne jede Bedeutung; oder schlimmer noch, er wird sie falsch deuten und zu völlig unsinnigen Schlüssen kommen.«
Paul Britton: Das Profil der Mörder
Vorwort
Torso
Wer verstümmelt eine Leiche?
Serienmord: Muster gültig
Wie werden Phantasien tödlich?
Bei Ankunft Mord
Blutiges Geheimnis im Zugabteil
Die Früchte der Forschung
Späte Gerechtigkeit
Beziehungstod
Was heißt hier böse?
Ich weiß nicht, was das Böse ist, auch wenn sich seit 1970 in meinem Beruf nahezu alles um Mord und Totschlag, Opfer und Täter, Schuld und Sühne dreht: zunächst in verschiedenen Positionen in der Mordkommission und seit 1999 als Fallanalytiker – als sogenannter Profiler.
Der Erste, der mir beibringen wollte, was das Böse ist, war ein Pastor. Es war märchenhaft, wie gut er sich mit Paradies, Sündenfall, Hölle und Teufel auskannte. Ich habe aber schon damals nicht an Märchen geglaubt. Als wir später in der Schule Faust durchnahmen, versuchte unser Lehrer uns klarzumachen, dass Goethe an Mephisto zeigt, was das Böse ist, »das Böse schlechthin«. Aber auch das überzeugte mich nicht. Für mich bleibt Mephisto die literarische Neuauflage des Teufels aus dem Konfirmandenunterricht, ein Böser, der mit den Bösen der Wirklichkeit nicht viel zu tun hat. Viele Jahre später habe ich meinen Lehrer wiedergetroffen. Er wollte wissen, was ich beruflich mache. Ich antwortete wahrheitsgemäß: »Ich bin Kriminalkommissar in der Mordkommission.« »Ah, auf der Spur des Bösen!«, sagte er prompt.
Sie werden sich wundern, aber als ich 1970 als junger Eleve zur Bereitschaftspolizei ging, war mir nicht bewusst, dass sich mein weiteres berufliches Leben fast ausschließlich um Mord und Totschlag drehen würde. Mit meinem Pilzkopf passte ich so gar nicht in das Bild des typischen Polizeibeamten, und mein Anliegen bestand damals auch vornehmlich darin, keinen Wehrdienst ableisten zu müssen – denn als Polizist war ich davon befreit. Als mich jedoch später mein Kriminalistikdozent – ein früherer Leiter der Mordkommission – mit seinen differenzierten Berichten von wahren Morden aus Bremen fesselte, reifte schnell mein Entschluss: Ich wollte auch Mordermittler werden.
Heute kann ich gar nicht mehr genau sagen, was mich damals so sehr an dieser Vorstellung reizte: War es meine jugendliche Begeisterungsfähigkeit? Die Faszination und das Unerklärbare des Verbrechens? Die Suche nach der Wahrheit? Vielleicht von allem ein bisschen. Wenige Jahre später und nach weiteren Ausbildungsschritten war ich dann tatsächlich in der Mordkommission angekommen. Eine Entscheidung, die ich nie bereut habe, denn einen selbständigeren, einen verantwortungsvolleren und abwechselungsreicheren Beruf kann ich mir nicht vorstellen – auch und gerade weil er sich fast immer mit den Abgründen des menschlichen Verhaltens beschäftigt.
Meinen Lehrer habe ich nicht gefragt, wie er das mit der Spur des Bösen gemeint hat. Ich bin auch nicht sicher, ob ich eine befriedigende Antwort erhalten hätte. Eine vage Vorstellung davon hat sicher jeder, aber wer käme nicht ins Stottern, wenn er erklären sollte, was genau das Böse eigentlich ist oder wie es entsteht.
Zum Glück muss ich diese Frage auch nicht klären, ich käme gar nicht mehr dazu, meine Arbeit zu machen. Lieber halte ich mich an einen Satz, der weder besonders philosophisch ist noch pastoralen oder pädagogischen Tiefsinn enthält: »Das Gute ist, dass das, was das Böse ist, im Strafgesetzbuch steht.« Nur ein Satz aus der Sprüchesammlung der Kriminalpolizei, aber eine gute und klare Arbeitsgrundlage – vorausgesetzt, man lebt und arbeitet in einem demokratischen Rechtsstaat.
Das deutsche Strafgesetzbuch gibt sich mit einer Schwarzweißbetrachtung von Gut oder Böse nicht zufrieden. Unser StGB verbindet die spezielle Art eines Tötungsdelikts jeweils mit einem besonderen Strafmaß. Das Strafmaß für einen Mord fällt höher aus als das für einen Totschlag. Auch bei den Tatmotiven sieht das Strafgesetzbuch dann noch einmal sehr genau hin. Es bewertet den Mörder, der seine Tat aus Habgier begangen hat, anders als denjenigen, der seinen Peiniger auf die gleiche Art und Weise tötete. Schlicht gesagt: Das Gesetz unterscheidet zwischen mehr oder weniger böse. Und die Staatsanwälte, die bei Tötungsdelikten die Anklage vertreten, erwarten von mir, dass ich ihnen die Möglichkeit gebe, das Mehr und Weniger beurteilen zu können. Genau darin bestand und besteht meine Arbeit, als Mordermittler wie als Fallanalytiker: präzise Aussagen über Opfer, Täter, Tathergang, Tatumstände und Tatmotiv zu machen.
In Deutschland werden seit Jahren konstant zwischen neunzig und fünfundneunzig Prozent aller Tötungsdelikte in sehr kurzer Zeit aufgeklärt – oft bereits noch am selben Tag. Häufig sind es Beziehungsdelikte; die Täter stammen zumeist aus dem Kreis der Bekannten und Verwandten des Opfers. Dabei hinterlassen die Täter am Tatort materielle Spuren, die inzwischen sehr viel leichter gelesen werden können als früher: Blut, Speichel, Sperma. Es sind besonders die Biologie mit ihren scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten bei der DNA-Analyse und die moderne Rechtsmedizin, die helfen, Mördern und anderen Gewalttätern schneller auf die Spur zu kommen. Zum Beispiel reichen heute bereits winzige Mengen von biologischen Spuren, um einen Täter zu identifizieren.
Aber was ist mit den Fällen, bei denen trotz umfangreicher Ermittlungen und den ständig verbesserten wissenschaftlichen Methoden diese materiellen Spuren der Tat zwar ausgewertet, die Taten dennoch nicht aufgeklärt werden können? Tötungsdelikte, bei denen es keine Beziehung zwischen Opfer und Täter zu geben scheint und manchmal auch das Verhalten des Täters bizarr und unerklärbar wirkt, so dass ein Motiv auf den ersten Blick nicht zu erkennen ist.
Bevor ich Sie allerdings in diese Fälle hineinziehe, noch ein paar grundsätzliche Anmerkungen zu einem wichtigen Thema: der Beziehung zwischen den Beamten der Mordkommission und den Fallanalytikern.
Mordkommissionen arbeiten bei ungeklärten Fällen unter extremem Stress: hohe eigene Ansprüche, interner und externer Druck. Klar, es gibt einen Tatort und eine Leiche und somit auch eine Vielzahl von objektiven Spuren. Doch manchmal muss das Opfer erst mühsam identifiziert werden, und die Ermittler verbringen viel Zeit damit, durch Zeugenbefragungen und Recherchen Hinweise zur Opferpersönlichkeit zu sammeln. Zudem kann die Auswertung der Spuren Tage, manchmal auch Wochen dauern. Trotzdem arbeitet die Mordkommission von der ersten Minute an »auf der Spur«: Das heißt, jedem Hinweis muss nachgegangen werden – obwohl das Bild der Tat nur unvollständig ist und manchmal noch das Verständnis für den Fall fehlt. Zwar kursieren in der Mordkommission viele Erklärungsmodelle, doch ob das richtige dabei ist, bleibt häufig unbeantwortet. Ich jedenfalls habe es oft erlebt, dass für eine analytische Aufarbeitung des Deliktes bei der »Arbeit auf der Spur« schlichtweg keine Zeit blieb.
Für solche Konstellationen ist der Einsatz von externen Fallanalytikern gedacht. Weil sie eben nicht in das Tagesgeschäft des Morddezernats eingebunden sind, haben sie mehr Zeit, Zusammenhänge zu ergründen, Theorien zu entwickeln und Profile zu erstellen.
Das Ergebnis der Analyse mündet dann in Ermittlungsempfehlungen, die von der Mordkommission umgesetzt werden können, aber nicht müssen. Damit dieses jedoch geschieht, muss ich als Fallanalytiker durch die Analyse und durch die anschließende Präsentation derselben vor der Mordkommission zunächst für meine Überlegungen werben. Aber sind Ermittler, die lange an einem Fall gearbeitet haben, auch tatsächlich bereit, von ihren Vorstellungen abzurücken und neue Ideen zu akzeptieren?
In meiner Zeit als Mordermittler war ich froh über externe Meinungen. Über den Tellerrand zu schauen und Experten anderer Disziplinen zu befragen und deren Einschätzungen zu berücksichtigen, gehörte für mich von Anfang an zum professionellen Arbeiten dazu. Als Fallanalytiker erhoffe ich mir eine solche Einstellung natürlich auch von den Mordermittlern, die ich mit meiner Arbeit unterstützen soll. Wenn ein Kommissar Fallanalytiker jedoch für praxisferne Theoretiker hält, habe ich kaum eine Chance, mit meinen Einschätzungen zu ihm durchzudringen.
Umgekehrt hängt es aber auch von meiner Sorgfalt, von meinem Verständnis für die anders gelagerte Arbeit eines Mordermittlers und der Durchführbarkeit meiner Vorschläge ab, ob die Resultate angenommen werden und es zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit kommt. Ein Profiler, der sich wegen seiner intensiven Studien überlegen fühlt und das sein Gegenüber spüren lässt, wird zu Recht nicht ernst genommen.
Bei der Argumentation hilft mir tatsächlich nur die genaue Analyse des Täterverhaltens und die Beantwortung der Frage, warum hat der Täter so gehandelt und nicht anders – das sogenannte Profiling. Wer war das Opfer, und welche Sequenzen des Verbrechens waren für den Täter besonders wichtig?
Doch bei dieser Arbeit ist Vorsicht geboten. Nicht immer sind die Spuren einfach zu deuten. Wenn der Täter bei der Tat seine individuellen Bedürfnisse, Gefühle und Phantasien auslebt, ähneln sich die Spuren der unterschiedlichen Verbrechen – obwohl jeder Täter aus seiner ihm eigenen Motivation Entscheidungen trifft. Die Interpretation dieser Spuren gleicht daher manchmal dem Gang durch ein Labyrinth, denn den wahren Grund für seine Handlung kennt nur – wenn überhaupt – der Täter allein.
Manchmal hilft mir schon allein die Feststellung, dass ein bestimmtes, für den Täter besonders bedeutendes Verhalten vorliegt, um eine Ermittlungsrichtung vorzuschlagen.
Und noch einen Aspekt muss ich bei meiner Arbeit berücksichtigen: Entscheidend ist nicht nur die Betrachtung des einzelnen Details, sondern es ist die Gesamtheit der Spuren.
Profiling wurde in den USA schon professionell praktiziert, als der Begriff in Deutschland noch nicht einmal richtig bekannt war. Das deutsche Profiling ist die Geschichte des verspäteten Imports einer kriminalistischen Methode aus den USA. Bereits Mitte der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts begannen Mitarbeiter des FBI im Nationalen Analysezentrum für Verhaltensforschung (National Center for the Analysis of Violent Crime), Morde zu untersuchen, bei denen die Täter außergewöhnliches und für die Kriminalisten nicht erklärbares Verhalten gezeigt hatten wie Verstümmelungen, degradierendes Ablegen der Leichen, exzessive Gewalt.
Erste Antworten gaben Interviews von sechsunddreißig verurteilten Serienmördern, die erklärten, weshalb sie nach bestimmten Mustern getötet und welche Tatmotive sie dabei angetrieben hatten. 1999 begann auch ich mich – mittlerweile war ich stellvertretender Leiter des Kommissariates für Gewaltdelikte – für diese Methode zu interessieren: Hieß bis dahin mein kriminalistischer Ansatz: »Wer hat das getan?«, fragte ich mich jetzt: »Welche Bedeutung hat bestimmtes Täterverhalten?«
Mich faszinierte auch die Vorstellung, dass es durch die Bewertung dieses Verhaltens auf einmal möglich sein sollte, nicht nur das Tatgeschehen zu rekonstruieren, sondern auch das Motiv des Täters zu bestimmen und sein psychologisches Profil zu erstellen, das – fingerabdruckgleich – seine Persönlichkeit beschreiben könnte. Heute weiß ich, dass dieser Ansatz, auch wenn er nicht alle meine Erwartungen erfüllen konnte, prinzipiell richtig ist.
Als Fallanalytiker gehe ich davon aus, dass es an jedem Tatort Spuren gibt, aus denen sich ein Bild vom Täter erstellen lässt, ein Profil. Ein kriminalistischer Ansatz, der im Laufe der Jahre für mich immer größere Bedeutung bekam: die Auseinandersetzung mit der Frage, was genau ist bei einem Verbrechen passiert und warum gerade in dieser Form?
Dass in Deutschland rund neunzig Prozent aller Tötungsdelikte eher schnell aufgeklärt werden, bedeutet nicht, dass es bei den übrigen Fällen dann eben nur ein bisschen länger dauert. Sondern es bedeutet vor allem, dass nicht alle Fälle gelöst sind, zumindest noch nicht. Etwas zugespitzt kann ich sagen, dass es zu den wichtigsten Aufgaben von Profilern gehört, unlösbare Fälle zu lösen.
Wie versuchen wir das? Wir bearbeiten einen Fall auch dann noch, wenn wir ein Opfer, aber keine unmittelbar Verdächtigen haben – und nur einen einzigen Zeugen, der zudem stumm ist: den Tatort. Den analysieren wir sehr viel differenzierter und operativer, als dies vorher in der Geschichte der deutschen Kriminalistik üblich war. Aber daran arbeiten wir Fallanalytiker nicht allein: Rechtsmediziner, Psychologen, Psychiater und Experten auf unterschiedlichsten Gebieten und für unterschiedlichste Milieus unterstützen uns bei dieser Aufgabe, so dass sich nach und nach ein vielschichtiges, ein interdisziplinäres Bild des Tatgeschehens ergibt und das Profil des Täters aus mehreren Perspektiven bewertet wird. Das gehört für mich zum professionellen Arbeiten. Die Tätersuche ist definitiv keine One-Man-Show.
In diesem Buch berichte ich in fünf Kapiteln über meine kriminalistische Arbeit – teils als Mordermittler, teils als Fallanalytiker – an zwölf Verbrechen aus meiner beruflichen Praxis, alte Fälle aus den Anfängen meiner Arbeit und neuere. Selbstverständlich sind Namen, Zeiten und Orte geändert, um die Anonymität der Betroffenen zu wahren. Aber ich habe der Versuchung widerstanden, den Unterhaltungswert der geschilderten Fälle zu steigern, indem ich sie ausschmücke oder etwas hinzuerfinde. Ebenso wenig verschweige ich Irrwege, falsche Ermittlungsresultate oder persönliche Unsicherheiten. Denn all das gehört zu meiner Arbeit. Ich will mich hier schließlich nicht zum unfehlbaren »Star-Profiler« stilisieren, sondern Ihnen einen ungeschönten Blick hinter die Kulissen der Ermittler- und Profiling-Realität ermöglichen. Überhaupt will ich so wenig wie möglich zwischen den Fällen und Ihnen stehen. Möchte Sie stattdessen durch eine detailreiche und lebendige Beschreibung der Tatumstände sowie der handelnden Personen in meine Gedanken und Rückschlüsse bei den Ermittlungen und bei der Skizzierung von Täterprofilen einbeziehen. Immerhin geht es um ein ebenso wichtiges wie komplexes Thema: das menschliche Verhalten.
Dass Sie nach der Lektüre des Buches allerdings wissen, was das Böse ist, halte ich für unwahrscheinlich. Ich fürchte, es wird eher komplizierter …
Axel Petermann im März 2010
Das neue Jahr hat gerade begonnen, als mehrere Schuljungen in der Mittagszeit auf dem Hof ihrer Schule im Bremer Westen Fußball spielen. Einer von ihnen schießt neben das Tor. Der Ball rollt in die Nähe zweier großer Mülltüten. Doch die sehen gar nicht aus wie normale volle Müllsäcke. Stattdessen erinnern ihre Konturen an die eines menschähnlichen Körpers. Vielleicht eine Schaufensterpuppe? Die Jungen sind neugierig, wollen es genauer wissen. Was sie beim Nähertreten erblicken, lässt sie erstarren. Es ist keine Puppe, sondern der nackte und verstümmelte Körper einer Frau. Die Leiche hat weder einen Kopf noch Hände und Füße.
Ich weiß nicht, wie lange die Jungen so dastanden und voller Entsetzen ihren grausigen Fund anstarrten. Doch einer von ihnen schaffte es irgendwann, zum Hausmeister der Schule zu rennen. Der ließ sich den Fund zeigen und wählte sofort die Nummer der Polizei. Die Notrufzentrale schickte einen Streifenwagen, wenig später sperrten zwei Beamte den Fundort ab, notierten die Personalien der Kinder und des Hausmeisters und informierten die Kriminalbereitschaft, die auch Kriminaldauerdienst (KDD) heißt. Die wiederum benachrichtigte Rechtsmedizin, Staatsanwaltschaft und Erkennungsdienst (ED). Und natürlich die Mordkommission (MK). So landete der Fall vor über fünfundzwanzig Jahren bei mir.
Ich arbeitete damals erst seit etwa drei Jahren in der Mordkommission. Es war mein erster großer Fall, den ich als sogenannter Hauptsachbearbeiter übertragen bekam. Allerdings hatte ich schon einige Erfahrungen bei der Bearbeitung von Tötungsdelikten sammeln können, denn damals hatten wir in Bremen zwischen fünfzehn und zwanzig Fälle im Jahr. Häufig traten sie nach Streitigkeiten innerhalb einer Familie oder Partnerschaft oder nach Alkohol-Exzessen auf.
An jenem besagten Tag wollte ich eigentlich freimachen, doch daraus wurde nichts: Ich musste zum Leichenfundort, um mir aus nächster Nähe ein Bild zu machen und erste Ansätze für die Ermittlung zu finden. Mit meinem Wagen fuhr ich zum inzwischen weiträumig abgesperrten Tatort. Der Fund des Torsos hatte sich bereits wie ein Lauffeuer herumgesprochen. Zahlreiche Schaulustige und Pressevertreter hofften hinter der Absperrung auf Sensationen und neue Informationen. Der Gerichtsmediziner war schon vor Ort und wartete darauf, die Leiche untersuchen zu können. Die Spurensucher fotografierten die verstümmelte Tote, den Fundort und die nähere Umgebung. Meine Kollegen der MK hatten damit begonnen, Bewohner der angrenzenden Häuser nach auffälligen oder verdächtigen Beobachtungen der letzten Zeit zu befragen.
Kaum dass ich aus dem Wagen gestiegen war, informierte mich ein Kollege über den Sachstand. Anschließend nahm ich den Torso selbst in Augenschein. Womöglich ließen meine Beobachtungen bereits Rückschlüsse auf den Täter zu.
Ein Täter trifft ständig Entscheidungen. Das beginnt bei der Tatplanung, der Auswahl des Opfers, des Tatortes, der Tatzeit, der Tatwaffe, der Form der Tötung und endet mit der Ablage der Leiche. Ich wusste aus eigener Erfahrung, dass sich die meisten Täter nach der Tötung nicht mehr um die Leiche kümmern: Sie lassen sie am Tatort zurück und denken häufig nur an Flucht. Andere Täter, die mir bei meinen Ermittlungen begegnet waren, hatten sich hingegen auf unterschiedliche Art und Weise mit der Leiche beschäftigt: sie zum Beispiel abgedeckt, sich an ihr sexuell vergangen, Gegenstände in Körperöffnungen eingeführt oder sie auch manchmal vom Tatort abtransportiert und an einem anderen Ort abgelegt oder versteckt. Schon ein erster Blick auf die Szenerie verriet mir Folgendes:
Unser Täter hatte sich mit dem Verstecken seines Opfers keine große Mühe gegeben und den Torso keine 20 Meter von einer Straße entfernt auf der Zufahrt zur Schule abgelegt. Hatte offensichtlich nicht einmal den Versuch unternommen, die Leiche auch nur ansatzweise zu verbergen. Lange konnte der Torso dort nicht gelegen haben, denn die Schule befand sich mitten in einem Wohngebiet, und auf dem Hof lagen abgebrannte Feuerwerkskörper der Silvesternacht. Diese Vorgehensweise des Täters deutete darauf hin, dass er in großer Eile gehandelt hatte. Wie und wo er die Leiche ablegte, war ihm nicht wichtig gewesen. Wichtig war für ihn nur, dass die Tote nicht dort bleiben konnte, wo er sie getötet hatte.
Der Torso der Frau steckte in zwei großen blauen Plastiksäcken, die jeweils einzeln über die Schultern bzw. die Beinstümpfe der Toten gezogen waren. Die Plastiksäcke waren herkömmliche Massenware, wie sie in jedem Supermarkt oder Baumarkt verkauft werden, weshalb sie uns keine speziellen Ermittlungsansätze boten.
Heftiger Wind hatte die Beutel aufgeweht, so dass der verstümmelte Körper zu sehen war. Auch mussten die Säcke längere Zeit im Regen gelegen haben, da sich auf ihnen fast ein Liter Wasser angesammelt hatte. Diese Feststellung war ein erster Ansatz, um den Zeitpunkt der Leichenablage zu bestimmen. Ich rief später vom Büro beim Wetteramt an und erfuhr, dass es am Vortag ab 18.10 Uhr bis in die Nacht um 2.20 Uhr stark geregnet hatte. Danach war es trocken geblieben.
Den Anblick von Toten war ich gewohnt, doch einen solchen verstümmelten und geschändeten Frauenkörper hatte ich noch nie gesehen. Obwohl ich gespannt auf den Anblick der Toten war und alle Details sehen wollte, musste ich an das Leid des Opfers denken und mich überwinden, genauer hinzusehen. Es drängten sich mir sofort die Fragen auf: »Wer tut so was?« und »Warum muss der Täter die Ermordete auch noch so zurichten?«. Heute würde ich eine solche Nähe nicht mehr zulassen, nach über dreißig Jahren als Ermittler, Mordkommissionsleiter und Fallanalytiker kann ich inzwischen vieles ausblenden und mich einfach auf die Fakten konzentrieren.
Ich beugte mich über die Leiche und sah ein Bild der Zerstörung. Der Kopf der Toten fehlte; Brüste und Schambereich waren herausgeschnitten. Von Hals, Armen und Beinen waren nur noch Stümpfe vorhanden. An dem, was von ihrem Hals übrig war, zeichneten sich deutlich Kratzer und Hämatome ab. Vermutlich war die Frau erwürgt worden.
Das Ergebnis der Spurensuche war enttäuschend: Die Beamten des Erkennungsdienstes konnten keine weiteren Spuren sichern, die vom Täter stammten: keine Zigarettenkippen, keine weggeworfenen Gegenstände, keine Reifen- oder Schuhspuren im feuchten Boden. Sofern es Letztere gegeben hatte, waren sie durch den heftigen nächtlichen Regen vernichtet worden. Auch die Durchsuchung des Schulgeländes verlief erfolglos. Weder die fehlenden Körperteile der Toten noch Kleidungsstücke oder persönliche Gegenstände wurden gefunden.
Damit befand sich unsere Mordkommission gleich in dreifacher Hinsicht in einer schlechten Ausgangslage für die Aufklärung des Verbrechens:
Wir hatten nur einen Leichenfundort, kannten also den Tatort nicht.
Die Leiche war verstümmelt, was die Identifizierung erheblich erschwerte.
Es gab keine Gegenstände, die uns bei der Identifizierung des Opfers und der Suche nach dem Täter hätten weiterhelfen können.
Was wir hatten, war eine Leiche ohne Kopf, Hände und Füße, die zudem in Brust- und Schambereich verstümmelt war.
Solche extremen Verstümmelungen von Leichen geschehen sehr selten, nicht nur in Bremen, sondern überall auf der Welt. Ich selbst habe in drei Jahrzehnten nur fünf Fälle bearbeitet.
Wenn Täter einen Menschen oder eine Leiche verstümmeln, tun sie das nie zufällig. In allen Fällen ist es ein spezielles Bedürfnis oder ein innerer Drang, der sie dazu treibt. Das hat auch Auswirkungen auf die Ermittlungen. So muss außer dem Tatmotiv auch das Motiv zur Verstümmelung geklärt werden.
Der hier beschriebene Fall soll Ihnen ein detailreiches Bild vermitteln, wie in einem solchen Fall die Tätersuche verläuft. Dabei werden Sie auch Zeuge einer ausführlichen Vernehmung werden und quasi mit im Gerichtssaal sitzen. Denn auch die Bewertungen durch Gutachter und Richter gehören zum Gesamtbild. Erst alles zusammen zeigt, wie komplex die Bearbeitung jedes einzelnen Verbrechens ist. Und was vereinfacht gern als »das Böse« bezeichnet und verurteilt wird.
Ein Fundort ohne sichtbare Täterspuren und ein Opfer ohne Kopf und damit auch ohne ein Gesicht, von dem wir Fotos hätten machen und herumzeigen können – das hieß: Für erste Hinweise auf die Identität des Opfers und die Motivation des Täters mussten wir die rechtsmedizinische Untersuchung abwarten. Die Obduktion sollte unter anderem klären, welche Verletzungen und Verstümmelungen der Täter seinem Opfer konkret zugefügt hatte und wann sie entstanden waren: bereits zu Lebzeiten, also vital, oder erst nach dem Tode, also postmortal. Ich hoffte, die Antworten auf diese Fragen würden dazu beitragen, die Gründe für die Verstümmelung zu erkennen.
Aber zunächst richtete ich mein Augenmerk auf die Klärung der Todesursache und die Identifizierung der ermordeten und verstümmelten Frau. Also ließ ich den Torso vom Fundort durch ein Beerdigungsinstitut in die Pathologie transportieren. Hier begann ein Rechtsmediziner in meinem Beisein die Tote zu obduzieren:
Die Frau hatte tatsächlich Würgemale am Hals, Einblutungen im Bereich der Schilddrüse sowie überblähte Lungenflügel. Diese Befunde sprachen für einen Tod durch Erwürgen.
Die Wundränder an den Stümpfen sahen aus, als wären Kopf und Gliedmaßen laienhaft mit einer Feinsäge amputiert worden. Bei einer späteren mikroskopischen Untersuchung konnten wir erkennen, dass der Täter bis zu vierzigmal pro Knochen das Werkzeug ansetzen musste, bis es ihm endlich gelang, ihn durchzusägen.
Und noch eine Besonderheit wurde sichtbar: Das Abschneiden des Kopfes schien dem Täter nicht leichtgefallen zu sein. Zahlreiche oberflächliche und parallel verlaufende Schnitte am Hals des Opfers zeigten, dass der Täter gezögert haben musste, bevor er den Kopf abtrennte. Solche vorsichtigen Versuche werden als Probierschnitte bezeichnet. Damit dokumentierte der Täter nach meiner Einschätzung seine Unsicherheit. So kenne ich es auch von Selbstmördern, die sich zunächst eher zaghaft und oberflächlich an den Hals- oder Handgelenksgefäßen verletzen, bevor sie sich die finalen und tödlichen Schnitte oder Stiche zufügen.
Auch die Brüste und die äußeren Geschlechtsorgane seines Opfers hatte der Täter nicht verschont. Diese hatte er mit einem scharfen Messer sehr sauber und vollständig herausgeschnitten.
Neben den beschriebenen Verstümmelungen hatte der Täter die Frau noch weiter verletzt:
Dort, wo sich ursprünglich die rechte Brust befand, hatte er einmal mit dem Messer zugestochen. Auch Unterbauch und linker Oberschenkel wiesen jeweils eine Stichverletzung auf. Während bei den Stichverletzungen im Oberkörper nicht geklärt werden konnte, ob sie dem Opfer vor oder nach dem Tod zugefügt worden waren, ließen sich alle anderen Verletzungen als postmortal bestimmen.
Außerdem hatte sich der Täter sexuell an seinem Opfer vergangen: Verletzungen am After deuteten auf eine Penetration mit einem stumpfen Gegenstand hin, in der Vagina der Toten fand der Obduzent Spermien. Ob der Geschlechtsverkehr vor oder nach der Tat stattgefunden hatte, konnten Obduktion und Laboruntersuchung der Spermien nicht klären.
Nachdem die Todesursache ermittelt war, ging es jetzt bei der Obduktion darum, körperliche Merkmale zur Identifizierung der Frau zu finden. Denn wie bei allen Tötungsdelikten galt: Sobald ich wusste, wer die verstümmelte Frau war, konnten weitere Ermittlungen die wichtigen Fragen beantworten: Wo hat sie gelebt? Wie waren ihre persönlichen und familiären Verhältnisse? Wann und wo war sie zuletzt gesehen worden? Wie hatte sie ihre Freizeit verbracht?
Antworten auf diese Fragen liefern bei Mordermittlungen zum einen Verwandte, aktuelle oder ehemalige Sexualpartner und Freunde, Bekannte, Kollegen oder Geschäftspartner. Sehr häufig ist der Täter oder die Täterin unter diesen zu finden. Zum anderen kann uns das Wissen über die Aufenthaltsorte des Opfers aber auch weiterhelfen, falls das Verbrechen von einem vollkommen Fremden begangen wurde. Denn der Ort, an dem ein Verbrechen begann, gibt uns natürlich auch Aufschluss über den Täter.
Zu diesem Zeitpunkt der Ermittlung hoffte ich darauf, dass es gelingen würde, eine Täter-Opfer-Beziehung herzustellen. Ansonsten mussten wir mit vielen Hinweisen auf potenzielle Täter rechnen. Da läge dann der Vergleich mit der berühmten Nadel im Heuhaufen nahe.
Nach der Obduktion stand fest: Die Frau war etwa fünfzig Jahre alt geworden, hatte nie ein Kind entbunden und war auffällig klein: nur etwa 145 cm groß, buckelig und dabei relativ dick. Die geringe Körpergröße erklärte sich durch eine Verkrümmung ihrer Wirbelsäule. Und noch ein weiteres auffälliges Merkmal stellte der Rechtsmediziner am Torso fest. Ihre stark vergrößerte Schilddrüse hatte einen auffälligen Kropf gebildet.
Das Ergebnis der Obduktion ließ uns auf eine schnelle Identifizierung des Opfers hoffen. Eine solche eher ungewöhnliche Erscheinung musste doch jemandem aufgefallen sein. Und so war es auch. Bereits die ersten Nachfragen meiner Kollegen in Gaststätten in der Nähe des Torso-Fundortes waren erfolgreich. Mehrere Inhaber und Gäste von Lokalen meinten nach der Beschreibung die 50-jährige Sozialhilfeempfängerin Agnes Brendel zu erkennen.
Agnes Brendel galt in der Kneipenszene als lebenslustige, gesellige Frau, die gerne trank, aber nur selten eigenes Geld hatte. Wegen ihrer kauzigen Art und ihres ungewöhnlichen Aussehens galt sie in ihrem Stadtteil und den Gaststätten als Original. Zwar war sie in den letzten Tagen nicht mehr gesehen worden, hatte zuvor aber regelmäßig verschiedene Lokale besucht. Das passte zu dem mir inzwischen vorliegenden toxikologischen Untersuchungsergebnis, waren bei der Toten doch 2,7 Promille Blutalkohol nachgewiesen worden. Als sie starb, musste sie im Vollrausch gewesen sein.