Im Labyrinth der Stille - Yogan Cisman - E-Book

Im Labyrinth der Stille E-Book

Yogan Cisman

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Beschreibung

Da ist dieses Etwas. Nicht laut und doch unüberhörbar, nicht klar und doch unüberfühlbar. Es regt sich tief im Inneren wie ein Keimling, der sich nach Licht sehnt. Ein Licht, das schon immer unser war, welches wir scheinbar verloren haben oder einfach nur vergessen. Doch Mut braucht es, in dieses Licht zu treten. Die eigene Größe kann furchterregend sein und lässt keinen Raum für Halbherzigkeiten. Roshan ist eine Frau, die du heute viele Male treffen wirst: Sie mag dir im Bus gegenübersitzen, vielleicht ist es eine Arbeitskollegin oder die nette Frau im Supermarkt. Es kann deine Ärztin oder Chefin sein, vielleicht dein Chef. Oder ist es die Person, die dich heute Morgen im Spiegel anschaute? Sie alle fühlen, dass zum Leben etwas anderes gehört, als sich nur wie ein Zahnrad im Getriebe der Gesellschaft zu drehen. Roshan kann dieses Etwas nicht mehr ignorieren. Zu viele Wenn und Aber sabotieren ihr Leben, vertreiben Glück und Zufriedenheit, rauben ihr den Sinn des Lebens. Dieses Buch erzählt ihre Geschichte. So alt wie die Menschheit selbst und doch könnte sie nicht aktueller sein. Eine Geschichte, in der die Heldin oder der Held nicht auffällt, sondern leise, fast unbemerkt sich dem Abenteuer stellt.

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Seitenzahl: 498

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Im Labyrinth

der Stille

Luminosen Band 1

Yogan Cisman

© 2024 Yogan Cisman

Lektorat: Anne Junker, lektorat-felidea.de

Coverdesign: Lea-Sophie Thier, Crelative.designSatz & Layout: Vanessa Bruhm, Bruhm Media GbR

ISBN 978-3-384-31616-5 (Softcover)

ISBN 978-3-384-31617-2 (Hardcover)

ISBN 978-3-384-31618-9 (E-Book)

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und realen Handlungen sind rein zufällig.

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung „Impressumservice“, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

Inhalt

Lichtung

Auf stürmischer See

Shiva

Chakren und Heilen

Thanjavur

Zum Licht

Zugwechsel

Schweres Gepäck

Von Himären

Prolog

Es gibt Zeiten, in denen wir Lieb gewonnenes loslassen müssen

und solche, in denen das Leben mit Geschenken um sich wirft.

Wenn die schweren Karma-Ketten ihre Macht verlieren,

und Zufall sein Geheimnis offenbart,

dann wisse, dass du dir nahe bist.

Wenn du nicht oben mehr von unten,

außen nicht von innen unterscheiden kannst,

das Wirkliche solider wird als Berg und Meer,

und du den Sinn des Seins und dessen Zauber spürst,

dann wisse, dass du dir nahe bist.

So nahe, wie noch nie zuvor,

in der Geschichte deines Seins.

Unendlich mag dein Wesen sein

und Zeit nur eine Illusion.

Dennoch verpasse deine Chance nicht,

verträume nicht dein Rendezvous,

damit am Ende,

hier auf dieser Erde,

auch du dir in die Augen schauen kannst,

dich und diese Schöpfung liebend,

und wissend,

wer du wirklich bist.

Lichtung

1

Wer hätte gedacht, dass Sterben so viel Freude bereitet, auch wenn es anstrengend ist.

Ganz zu schweigen, dass man nebenbei lernt, aus einem Gefängnis auszubrechen. Nicht aus irgendeinem, sondern dem sichersten der Welt. Warum sollte das Menschen wie dich interessieren? Du bist wahrscheinlich nie ernsthaft mit dem Gesetz in Konflikt gekommen, zahlst brav deine Steuern und hoffst auf einen schönen Lebensabend. Doch das Gefängnis, das gemeint ist, hast du dir selbst gebaut. Vier Wände mit einem Fernseher als Fenster und wäre das nicht genug – hast du dich selbst dort eingesperrt.

Klar machst du es dir gemütlich in deiner Zelle. Aber genauso wenig wie ein Vogel in einen Käfig gehört, gehören Menschen hinter Mauern. Darüber können bunte Fernsehprogramme, bequeme Sofas und volle Kühlschränke nicht hinwegtäuschen. Nicht einmal ein Handy.

Das Kuriose ist jedoch, dass die Zellentür nicht abgeschlossen ist. Das hatte ich anfangs auch nicht bemerkt.

»Ich kann jederzeit raus aus meiner Zelle!«, höre ich dich protestieren. Wenn du deine Arbeit meinst und den täglichen Rundgang im Hof der Routinen, widerspreche ich dir nicht. Aber wusstest du, dass hinter dem Fernseher ein Fenster verborgen ist, durch das du die Sterne sehen, den Frühling riechen und die Vögel singen hören kannst?

Warum ich immer noch hier bin? Das ist eine gute Frage. Ich sollte fairerweise erwähnen, dass ich mehrmals ausgebrochen bin. Die Welt jenseits der Mauern ist den Mutigsten vorbehalten und vielleicht jenen, die das Lieben schon gelernt haben. Aber auch dazu braucht es Mut. Vor allem, wenn es darum geht, sich selbst zu lieben.

Wenn ich damals gewusst hätte, wie schwierig ein Ausbrechen ist, hätte ich vielleicht nie hinter den Fernseher geschaut, sondern weiter mit der Fernbedienung herumgespielt. Doch auch das erzählt dir niemand und mittlerweile bin ich mir nicht einmal sicher, ob es eine Wahl gibt.

Außerdem, wenn niemand zurückkäme, würde das Geheimnis vom Fenster zum Mythos und irgendwann glaubt keiner mehr daran, dass es existiert. Dann kann es eine lange Zeit dauern, bis jemand von den Sternen, Blumen und Vögeln träumt. Und das wäre schade.

2

Bevor ich Mutti besuche, geht es meistens an den Fluss, an dem ich unzählige Stunden meiner Kindheit verbracht habe. Er hat Glück gehabt, ist vom Begradigungswahn verschont geblieben und mäandert verspielt vor sich hin. Kopfweiden säumen seine Ufer, darunter einige so bizarr, dass sie wie Wesen aus einer anderen Welt wirken. Früher weideten hier glückliche Kühe. Doch heute wird nur noch gemäht, denn die meisten Kühe haben mittlerweile Stallarrest. Als Teile der Weiden vor ein paar Jahren in ein Naturschutzgebiet umgewandelt wurden, kehrten einige wilde Tiere zurück und mit ihnen Erinnerungen aus meiner Kindheit.

Von meiner Lieblingsbank habe ich einen wunderschönen Blick auf den kleinen See hinter dem Fluss und der alten Holzbrücke. Ich genieße das viele Wasser und die Atmosphäre, die es mit sich bringt. Obwohl es eher selten ist, dass man hier jemanden trifft, spaziert ein älterer Mann am Ufer entlang. Er ist unauffällig in Braun gekleidet und trägt eine dunkelblaue Kappe. Sein Gesicht verschwindet fast vollständig hinter einem weißen Vollbart und einer dicken, schwarzen Brille.

»Guten Tag«, grüßt er, als er sichtlich außer Atem die Bank erreicht und fragt: »Darf ich mich ein wenig zu Ihnen setzen?«

»Selbstverständlich«, antworte ich und rücke etwas zur Seite.

»Schönes Wetter heute und viele Vögel«, sagt der Mann und zeigt auf eine Gruppe Wildgänse, die sich auf dem kleinen See tummeln. »Ich kann nicht mehr so wie früher, aber mit achtzig darf man außer Atem sein, nicht wahr? Entschuldigen Sie meine Neugierde − sind Sie von hier?«

»Bin hier aufgewachsen, lebe aber nicht mehr hier. Schon länger nicht. Bin ich nun von hier oder nicht?«

»Gute Frage«, antwortet der Mann schmunzelnd. »Ich komme aus der Stadt und bin hier im Ruhestand. Sieht so aus, als ob wir beide von hier sind und doch nur zu Besuch. Jemand in Ihrem Alter, alleine, sonntags, an solch einem verlassenen Ort – das klingt nach einem Besuch der Eltern oder Liebeskummer.«

»Sind Sie Sherlock Holmes im Ruhestand? In der Tat gehe ich meine Mutter besuchen.«

Ein Flattern kündigt zwei Gänse an, welche zur Landung auf dem Fluss ansetzen. Sekunden später spritzt das Wasser wild umher und bremst sie mit Getöse ab, bis sie friedlich vor uns zum Halten kommen und gemächlich mit der Strömung forttreiben.

»Meine Frau ist vor drei Jahren gestorben und meine Kinder besuchen mich nur zum Geburtstag und an Weihnachten. Ihre Mutter freut sich sicherlich über Ihren Besuch.«

Eben noch war ich eine gute Tochter, doch nun steigen Schuldgefühle auf. In mir ringt, wie so oft, Wahrhaftigkeit mit Diplomatie und die Auseinandersetzung endet meistens mit einem Unentschieden.

»Wie das so ist, wenn Kinder ihre Eltern besuchen«, weiche ich aus.

Der Mann sieht nachdenklich aus, während sein Blick in der Ferne über den See verloren geht. Schließlich bekennt er mit trauriger Stimme: »Ich habe das erst verstanden, als es zu spät war.«

»Was war zu spät?«

»Dass Kinder sich oft mühsam vom Elternhaus loslösen müssen und es zu lange dauert, bis sie ihre Eltern wieder wertschätzen. Dann bleiben nur Augenblicke am Grab und dessen Stille: keine Umarmungen, kein Lachen, kein Leben.«

»Da haben Sie wohl recht«, gebe ich leise zu und Papas Grabstein kommt mir kurz in den Sinn.

Der Mann atmet tief durch und seufzt.

»Na ja, jedenfalls vielen Dank für den Platz auf der Bank. Ich wünsche Ihnen noch einen guten Tag und eine liebevolle Zeit bei Ihrer Mutter. Vergessen Sie nicht: Jeder Besuch kann der letzte sein.«

Eine Formation Wildgänse zieht am Himmel und ruft den Winter herbei. Es ist Zeit aufzubrechen. Auch für mich.

F

Mutti lebt sehr zurückgezogen, seit Papa vor vielen Jahren an Krebs starb. Die lange und schmerzhafte Krankheit war nicht nur für ihn fatal, sondern für die ganze Familie. Es hat Jahre gebraucht, bis Mutti das Schwarz ablegte. Was jedoch nicht bedeutet, dass sie nicht mehr trauert. Man sollte meinen, irgendwann würde ein Mensch die Kraft finden, Geschehenes zu akzeptieren. Doch nicht so bei ihr.

Unsere Zimmer warten unverändert auf uns seit jenen Tagen, an denen ich und Zoe ausgezogen sind. Man hat den Eindruck, auch Papa wäre nur für ein paar Tage verreist. Ansonsten steht das große Haus fast leer. Mutti hat nie ernsthaft versucht, ein neues Leben aufzubauen. Deshalb halte ich es auch nicht lange dort aus. Zu viele alte Muster, dieselben Fragen und Antworten, dieselben Vorwürfe – familiäre Vertrautheit in der Mikrowelle aufgewärmt. Eine Tasse Kaffee, etwas leeres Gerede und zu viele Blicke auf die Uhr. Mutti wäre sehr einsam, wohnte Zoe nicht in der Nähe.

Eine Stunde später bin ich auf meinem Weg nach Hause. Trotzdem habe ich Schuldgefühle, wenn ich längere Zeit nicht vorbeischaue.

F

Auf der Bank laufen alle in makelloser Kleidung herum, mit stylischen Frisuren und freundlichen Masken. Die glänzende Oberfläche kann jedoch nicht verbergen, dass Lebendigkeit und Freude dahinter oft weitgehend verschwunden sind. Die Kollegen wirken immer häufiger wie organische Roboter, in deren Gehirne eine fragwürdige Software läuft und nach jahrelangem Widerstand merke ich, wie sich diese auch bei mir zu installieren beginnt. Vielleicht handelt es sich um einen Virus, denn die Menschen hier waren nicht immer so. Dazu kommt, dass die Arbeit stressiger geworden ist, Kollegen immer häufiger krank sind und wir das mit Überstunden kompensieren müssen. Außerdem werden unsere Oldies schon seit Jahren frühzeitig in den Ruhestand geschickt, weil sie dem Druck nicht mehr standhalten.

F

Montagmorgen stürmt Ingeborg in mein Büro.

»Hast du schon gehört? Frau Riedel hat Freitagabend einen Schlaganfall erlitten und liegt im Koma.«

»Habe ich noch nicht, wie furchtbar!«

»Sie war in letzter Zeit häufiger im Raucherraum. Hast du gesehen, wie hastig sie ihre Zigaretten rauchte«, sagt Ingeborg sichtlich betroffen. »Aber wer hätte denn an so etwas gedacht!«

Für die nächsten Tage ziehe ich vorübergehend in Frau Riedels Büro, da ich sie normalerweise in ihrer Abwesenheit vertrete.

»Guten Morgen, Frau Riedel«, begrüße ich sie auf dem Foto mit Mann und Sohn. Glücklich sehen sie aus. Das war die Zeit vor der Scheidung und seitdem hat der Stress der letzten Jahre seinen Tribut gefordert. Ihr Gesicht ist grau geworden, ein Lächeln eine Seltenheit. Meine Begrüßung klingt fürchterlich formell, aber nach ihrer Beförderung wollte sie nicht mehr geduzt werden, obwohl wir uns seit zwanzig Jahren kennen. In der obersten Schublade ihres Schreibtisches liegen eine Menge Medikamente. Sie fehlte häufiger im letzten Jahr und versuchte wohl, das mit Überstunden bis spät in den Abend zu kompensieren. Ich habe das Gefühl, sie will unbedingt in die Chefetage.

Frau Riedels Ambitionen nehmen ein abruptes Ende, als wir am darauffolgenden Montag informiert werden, dass sie Sonntagnacht verstorben ist.

Wir haben beide im selben Jahr mit der Ausbildung begonnen und ohne sie fühlt sich die Bank ungewohnt an. Wie schnell sich alles ändern kann. Dennoch leben wir vor uns hin, als hätten wir alle Ewigkeit. Die haben jedoch nicht einmal die Galaxien im Universum. Seltsam, dass erst der Mann am Fluss und nun Frau Riedel die Vergänglichkeit des Lebens mahnen.

Donnerstag ist die Beerdigung. Einige Kolleginnen und Kollegen sind anwesend, Frau Diefenbach vom Personal, Frau Riedels Sohn und ein paar andere, die ich nicht kenne. Warum ist Herr Steiner vom Management nicht gekommen?

Wie zu erwarten, geht es sehr formell zu. Dennoch ist es mir wichtig, mich von ihr zu verabschieden.

Zurück im Büro, liegt eine Einladung zu einem Gespräch in der Hauptgeschäftsstelle auf meinem Tisch. Das Leben geht weiter – wenn auch nicht für jeden.

3

Es ist Freitagabend und ich kann es kaum erwarten, meine Wohnungstüre hinter mir ins Schloss fallen zu lassen. Nach dem Duschen fühle ich mich schon besser, doch Kochen ist heute wiedermal nicht drin! Zum Glück ist das Agapito gleich um die Ecke. Das kleine Restaurant ist nach all den Jahren immer noch meine Lieblingsadresse.

Als ich eintrete, kommt mir der kleine quirlige Kellner entgegen, adrett gekleidet, mit Schnauzer und tiefen Lachfältchen an Augen und Mund.

»Guten Abend, Signora Pahlke. Wir sind heute Abend recht voll«, sagt er mit seinem lustigen italienischen Akzent.

»Guten Abend, Enrico. Ich habe keine Reservierung. Können Sie mal schauen, ob da was zu machen ist?«

»Einen Augenblick – nichts ist unmöglich für Enrico!«, sagt er und verschwindet lachend.

Das Agapito ist oft rappelvoll, aber Enrico kennt die meisten Gäste und manchmal vermittelt er, wie er es nennt. Das hat sogar schon zu einer Hochzeit geführt. Und tatsächlich schafft er es auch dieses Mal, mich unterzubringen.

»Guten Abend und vielen Dank, dass Sie den Tisch mit mir teilen«, begrüße ich eine Frau, die in dem kleinen Erker sitzt.

»Nichts zu danken. Bin auch gerade erst gekommen«, erwidert sie mit einem sanften Lächeln.

Die Frau strahlt Freude aus, welche von Zufriedenheit erzählt. Mir gefallen die warmen Herbstfarben ihres Häkelpullovers. Das schulterlange, braune Haar mit den hellen Strähnen wirkt verspielt und modern und sie kommt fast ohne Make-up aus, obwohl sie nicht mehr die Jüngste ist.

Nachdem auch ich es mir gemütlich gemacht habe, blättere ich unschlüssig in der Speisekarte.

»Ich heiße Clíona und du?«, klopft ein überraschend schnelles Du an meine Türe.

»Roshan«, antworte ich überrumpelt. »Clíona ist ein schöner Name. Habe ich noch nie gehört.«

»Habe irische Vorfahren. Roshan ist aber auch kein Name, den man jeden Tag hört.«

»Das stimmt. Habe noch keine andere Roshan getroffen. Was hatte ich für eine stressige Woche. Normalerweise habe ich wenig Motivation, alleine aus dem Haus zu gehen, aber heute hat es mich irgendwie hierhergezogen.«

Clíona schaut mich mit einem mysteriösen Blick an. Dabei funkeln ihre Augen und ein geheimnisvolles Lächeln huscht über ihr Gesicht.

»Ich gehe gerne mit mir aus«, kontert sie kess. »Dann weiß ich, dass ich in guter Gesellschaft bin.«

Mit dieser Bemerkung trifft sie mich an einer empfindlichen Stelle. Zu Hause koche ich nur, wenn ich Besuch habe. Weil es sich für eine Person nicht lohnt, sage ich mir. Traurig ist, dass ich diese eine Person bin. Deshalb stopfe ich fast alles in mich hinein, was mir nicht guttut – Hauptsache schnell und einfach.

Doch hier stehen sogar echte Blumen auf dem Tisch und eine Kerze, deren Flamme warm und vergnügt vor sich hin tanzt. Die vielen Lämpchen an den Wänden und die Kerzen auf den Tischen hüllen das Restaurant in ein warmes Licht, welches vergnügt mit den Sternchen spielt, die die weißen Gardinen zieren.

»Ich habe dich hier noch nie gesehen«, sage ich.

»Habe dieses Restaurant erst vor Kurzem entdeckt. Ich arbeite in der Nähe und manchmal wird es spät, so wie heute. Und du?«

»Ich wohne in der Nähe. Was machst du beruflich, dass es so spät werden kann?«

»Ich bin Krankenschwester auf einer Kinderstation. Da sind alle möglichen Arbeitszeiten angesagt.«

»Wow! Stell ich mir schön vor, sich um Kinder kümmern zu dürfen. Ich arbeite in einer Bank.«

»Jeder Beruf hat so seine Seiten. Man hört, dass man in Banken gut verdient.«

»Das mag sein, aber Geld ist eben nicht alles«, kontere ich.

Enrico unterbricht uns kurz, um die Bestellung aufzunehmen. Er ist nicht nur Kellner, sondern auch Clown und Charmeur und es ist jedes Mal eine Freude, von ihm bedient zu werden.

Nachdem er uns verlassen hat, fährt Clíona fort: »Wenn Geld nicht alles ist, was gefällt dir dann an der Arbeit in der Bank?«

»Ich arbeite gerne mit Zahlen. Vielleicht ist es die Ordnung.«

»Ich habe auch einmal in einer Bank gearbeitet«, sagt Clíona mit einem Gesicht, als wäre das etwas Unanständiges. »Dann wurde ich krank; verhungerte innerlich. Davor konnte mich auch kein Geld retten. Wenn ich nun auch weniger verdiene, wollte ich nicht zurück. Leider haben wir eine Gesellschaft geschaffen, in der viele destruktive Berufe gut bezahlt und jene, welche unsere Gesellschaft wirklich lebenswert machen, schlecht entlohnt werden.«

»Destruktiv?«, frage ich überrascht.

»Ja, für die betroffene Person, als auch für die Gesellschaft. Das Bankgeschäft ist schon eine dubiose Sache, findest du nicht? Da wird Geld einfach so aus heißer Luft und Versprechungen gemacht.«

Die leise Musik und das Stimmengewirr sowie das gelegentliche Klirren von Gläsern geben dem Abend eine angenehme Atmosphäre. Schon nach kurzer Zeit wird unser Essen serviert. Enrico schätzt seine Stammkunden!

»Eigentlich wollte ich nicht über meine Arbeit sprechen, aber meine Chefin ist am Wochenende verstorben und das beschäftigt mich sehr.«

Ich überrasche mich selbst mit diesem Satz, aber Clíona strahlt eine ungewöhnliche Wärme aus und es ist einfach, mich ihr zu öffnen. Sie hat die zuvorkommende Art, die man häufig bei Krankenschwestern antrifft.

»Das tut mir leid. Woran ist sie gestorben?«

»Gehirnschlag, dann Koma. Es ging alles so schnell.«

»Manchmal ist das leider so. Ich habe letzte Woche auch ein Kind auf der Station verloren. Obwohl wir jederzeit damit rechnen müssen, ist es immer wieder ergreifend. Aber was kann man anderes von einem Kinderhospiz erwarten?«

»Wie kannst du bei diesem Beruf so eine gelassene Ausstrahlung haben?«, platzt es aus mir heraus.

»Nun ja, wenn man in einem Hospiz arbeitet, bekommt man schnell eine dicke Haut. Geht nicht anders. Leben und Tod liegen auf demselben Zimmer. Was berührt dich so sehr am Tod deiner Chefin?«

»Wenn ich ehrlich bin – ich glaube – ich glaube, es ist die Angst, dass mir das auch passieren könnte. Wir sind gleich alt.«

Clíona isst ein Stück ihrer Pizza und ich stochere in meiner Lasagne herum.

»Ist es wirklich die Angst vor dem Tod?«, fragt Clíona und beendet damit mein Stochern.

Die Bilder der Beerdigung sind immer noch präsent in mir. Ob Frau Riedel gemerkt hatte, dass etwas schieflief? Vielleicht gab es sogar Warnungen. Aber wollte sie diese sehen?

»Entschuldige, dass ich so direkt frage«, sagt Clíona.

»Das ist in Ordnung. Es ist weniger die Angst vor dem Tod, als die Angst zu sterben, bevor ich angefangen habe zu leben. Ich bin nun schon neununddreißig.«

Ich bin erleichtert, als dieser Satz raus ist. Lange schaue ich in die Kerze. Wie bedächtig sie sich verzehrt, ohne Drama und Lärm, ohne dass es jemand bemerkt.

Meine Finger spielen mit dem weich gewordenen Wachs am Rande und ein dumpfes Gefühl steigt in mir auf. Auf einmal wird die äußere Kerze zur inneren, die beständig kürzer brennt: Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr.

»Ich kenne nicht viele Menschen, die mit neununddreißig schon angefangen haben zu leben«, sagt Clíona nach einer Weile mit beruhigender Stimme.

»Was wohl passiert, wenn die Kerze abgebrannt ist?«, frage ich mehr mich selbst als Clíona.

Diese beißt genüsslich in ein Stück Pizza, schweigt, beißt wieder in die Pizza.

Nach einem Schluck Wein antwortet sie: »Wenn du es früh genug bemerkst, kannst du eine neue anzünden.«

»Wirklich? Ich dachte immer, man habe nur eine Kerze.«

»Du hast so viele Kerzen, wie du brauchst. Sogar so viele, wie du dir wünschst.«

Plötzlich sitze ich in einer Kathedrale, in der das Echo dieser Worte verhallt.

»Ich habe so viele Kerzen, wie ich mir wünsche? Wie kann das sein? Dann brauchen wir den Tod gar nicht zu fürchten?«

»Die Kinder im Hospiz leben viel mehr im Jetzt, haben ein ganz anderes Zeitverständnis. Mittlerweile bin ich davon überzeugt, dass nur jene den Tod fürchten müssen, die das Leben fürchten.«

Mit diesem Satz schickt mich Clíona ein weiteres Mal in die Kathedrale und erst das Klingeln ihres Handys bringt mich zurück ins Restaurant.

»Clíona hier – ich komme sofort.

Roshan, entschuldige bitte. Ich muss dringend ins Hospiz«, sagt Clíona, während sie nach Enrico schaut.

»Ist was Schlimmes passiert?«

»Sieht so aus, als würde heute Nacht eine unserer Kerzen erlöschen.«

»Oh, nein!«

»Beruhige dich. Der Zweck eines Hospizes ist es, die Kinder aufs Sterben vorzubereiten. Sie gehen in Frieden, ohne Angst. Da sind sie oft viel weiter als die Erwachsenen. Ich muss mich beeilen!«

»Geh nur. Ich bezahle das Essen.«

»Wie komme ich zu dieser Ehre?«

»Ich möchte mich für das Gespräch bedanken. Es war sehr wichtig für mich.«

»Gerne, dann bedanke ich mich für die Einladung.«

Noch bevor ich Clíona nach ihrer Telefonnummer fragen kann, ist sie auf dem Weg ins Hospiz.

4

Montagmorgen klopfe ich um zehn an die Türe des Personalbüros. Frau Diefenbach ist mit Papieren beschäftigt, während Herr Steiner, unser Geschäftsführer, unruhig auf die Uhr schaut. Er ist immer auf dem Sprung, als würde er von etwas gejagt.

»Guten Morgen Frau Pahlke«, begrüßt mich Frau Diefenbach. »Bitte setzen Sie sich. In unserem Personaltreffen am Freitag haben wir die Besetzung der freigewordenen Stelle als Filialleiterin diskutiert.«

»Sie haben all die Jahre die Interessen der Bank mit großem Enthusiasmus vertreten«, übernimmt Herr Steiner, »und Ihre Leistungen und Führungsqualitäten waren stets exzellent. Sie sind mit Abstand die ideale Besetzung für diese Position.«

»Vielen Dank für Ihr Vertrauen. Dennoch möchte ich das erst einmal in aller Ruhe überdenken. Bis wann muss ich mich entscheiden?«

Die Frage löst erst Verwunderung, dann Verunsicherung aus.

»Haben wir Sie überfallen? Ich habe den Vertrag schon aufgesetzt.«, fragt Frau Diefenbach und reicht ihn mir. »Wenn Sie uns bis Ende der Woche Bescheid geben, datieren wir den Beginn auf Anfang dieses Monats. Sie arbeiten schließlich schon als Filialleiterin.«

»Haben Sie irgendwelche Zweifel?«, fragt Herr Steiner. »Wie schon erwähnt, erfüllen Sie alle Bedingungen für diese Stelle.«

»Zweifel, dass ich die Filiale leiten kann, habe ich nicht. Was mich derzeit beschäftigt, ist Frau Riedels Schicksal.«

»In welchem Zusammenhang?«, fragt Frau Diefenbach.

»Vielleicht gehört das nicht hierhin, aber …«

»Frau Riedel hatte persönliche Probleme«, unterbricht mich Herr Steiner und schaut nervös auf die Uhr. »Entschuldigen Sie. Ich habe in zehn Minuten ein wichtiges Kundengespräch.«

So kenne ich ihn: angespannt und gereizt. In dieser Hinsicht hat er vieles gemeinsam mit Frau Riedel. Vielleicht sind die beiden deshalb so gut miteinander ausgekommen. Es kursierten sogar Gerüchte, dass zwischen den beiden privat etwas lief. Umso mehr überraschte es mich, Herr Steiner nicht auf der Beerdigung gesehen zu haben.

Nachdem er das Zimmer verlassen hat, entspannt sich die Atmosphäre ein wenig.

»Frau Riedel hatte in der Tat persönliche Probleme«, verteidigt Frau Diefenbach Herr Steiner.

»Kann man persönliche von beruflichen Problemen trennen, wenn der Beruf zum einzigen Lebensinhalt wird? Kannten Sie Frau Riedel näher?«

»Flüchtig, mehr als Kollegin und Personalchefin.«

»Ein Schlaganfall oder Herzinfarkt wird wohl niemals als Arbeitsunfall anerkannt werden, oder?«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Dass die Anforderungen in den letzten Jahren stetig gestiegen sind. Filialen werden geschlossen oder zusammengelegt, kranke Mitarbeiter und Führungskräfte in den Vorruhestand geschickt und das alles, ohne dass genug neues Personal nachrückt. Dieses Jahr haben wir nur einen Auszubildenden. Woher soll die Entlastung der Belegschaft kommen?«

»Das sind Entscheidungen des Managements«, antwortet Frau Diefenbach zögernd und dieses Zögern offenbart mehr, als alle Worte könnten.

»Wo bleiben da die Interessen Ihrer Mitarbeiter? Sind Sie wirklich an einer Antwort interessiert, warum Frau Riedel krank geworden ist?«

Frau Diefenbach steht auf und schließt die Türe, welche Herr Steiner in seiner Hast offen gelassen hat.

»Was war mit Frau Riedel los?«, fragt sie mit gedämpfter Stimme.

»Offensichtlich hatte sie Ambitionen. Das hat nichts mit der Situation in der Bank zu tun. Haben Sie die Schublade in ihrem Schreibtisch gesehen? Voll gepackt mit Medikamenten.

Die Zustände in der Bank werden Jahr für Jahr schwieriger. Niemand spricht offiziell darüber. Alle stecken das ein in der Hoffnung, es werde morgen besser. Die Dividenden der Aktionäre werden immer wichtiger, während die Menschen zu Zahlen in den Bilanzen degradiert werden.«

»Ich verstehe nicht«, wirft Frau Diefenbach ein. »Was hat das mit Ihrer Beförderung zu tun?«

»Das Führen einer Bank ist mehr als Risikoanalyse und Tabellenkalkulation. Ein bedeutender Faktor ist die Führung der Mitarbeiter. Meiner Meinung nach hat das Management schon länger den Kontakt zur Belegschaft verloren. Floskeln hört man, Lippenbekenntnisse – aber keine Taten folgen. In unserer Filiale fehlen mindestens zwei Vollzeitkräfte. Das wissen Sie am besten. Und was haben Sie in den vergangenen Jahren unternommen, um diese Missstände zu beheben?«

Frau Diefenbachs Blick schweift verlegen im Büro umher. Schließlich versteckt sie sich hinter ihren Papieren, als suche sie Schutz.

»Ich habe meine Vorgaben«, sagt sie entrüstet. »Da kann man nicht viel machen.«

»Vorgaben. So kann man das auch nennen. Vielleicht muss das Wohlbefinden der Belegschaft erst in den Bilanzen erscheinen, bevor es vom Management wahrgenommen wird.

Ich schaue mir den Vertrag an und werde Ihnen meine Entscheidung bis Montag mitteilen. Einen guten Tag noch.«

5

Tags darauf beschließe ich, früher in den Feierabend zu gehen, da ich etwas Raum für mich brauche. Die letzten Tage waren sehr kräftezehrend. Frau Riedel, die sonst eher ein ordnungsliebender Mensch war, hat ein ziemliches Chaos hinterlassen. Allen Anschein nach, war die Situation schon länger außer Kontrolle geraten. Seltsam, dass Frau Riedel mich nicht um Hilfe gebeten hatte. Ist ihr die Situation so über den Kopf gewachsen, dass sie es nicht mehr wahrgenommen hat?

Noch ein letzter Blick aufs Handy, dann schalte ich ab. Nicht nur das Handy.

Die Atmosphäre im Stadtpark begeistert mich immer von Neuem. Die mächtigen Bäume tragen stolz ihr buntes Herbstkleid und scheinen keinen Augenblick traurig darüber zu sein, den Sommer hinter sich lassen zu müssen. Die Eichhörnchen laufen emsig hin und her und füllen ihre Vorräte, ein paar Nilgänse haben sich am Teich niedergelassen und gelegentlich führt jemand seinen Hund spazieren. Ich schlendere vergnügt über das Gras abseits der Wege, bis ich schließlich eine freie Bank finde.

Schon länger begleitet mich das Gefühl einer anstehenden Veränderung. Doch Beförderung passt nicht in diese Vorstellung. Schon jetzt verbringe ich zu viel Zeit auf der Bank. Selten ging Frau Riedel vor mir in den Feierabend und was hat sie nun von all den Überstunden und ihrem vorbildlichen Einsatz? Wie viel Zeit blieb für ihren Sohn? Und wie viel für sich selbst?

Ich kann mich noch gut erinnern, wie glücklich sie vor ihrer Scheidung war. Unter den Kolleginnen wird gemunkelt, dass ihr Mann sie betrogen hat. Vielleicht hat sie sich deshalb in ihre Arbeit geflüchtet. Doch es wird viel gemunkelt, wenn es eine gute Geschichte für den Pausenraum ergibt.

F

Nasskalter Wind kriecht in meine Jacke, den selbst mein warmer Kaschmir Schal nicht aufzuhalten vermag. Die Kälte abschüttelnd mache ich mich auf zum Studioso. Das Café liegt nicht weit entfernt von der Uni und viele Studenten nutzen es als Erweiterung ihrer Hörsäle. Die Einrichtung ist peppig mit langen alten Holztischen und Bänken, moderner Kunst zum Anfassen und Musik im Hintergrund. Die Bedienung, meist Studenten, sind leger gekleidet und duzen jeden Gast. Die Atmosphäre fühlt es sich erfrischend lebendig an. Hinzu kommt, dass es günstig ist und der Kuchen soll einer der besten in der Stadt sein. In der Tat ist es schwierig, unbehelligt an der Kuchentheke vorbeizukommen und so erfreue ich mich der Gesellschaft eines riesengroßen Stückes Walnusstorte und einem Cappuccino Grande. An einem der Tische arbeitet ein Student am Laptop und ich beschließe spontan, mich zu ihm zu setzen. Er schaut kurz auf und lächelt sympathisch.

»Guten Appetit.«

»Danke, sieht köstlich aus«, erwidere ich und schiebe mir genüsslich den ersten Bissen in den Mund. »Der Kuchen schmeckt so fantastisch, wie er aussieht. Da lohnt sich jede Kalorie. Hier lässt es sich sicherlich gut studieren.«

»Wenn man nicht dauernd abgelenkt wird«, erwidert der Student freundlich.

»Entschuldigung, ich wollte Sie nicht stören.«

»Hat weniger mit Ihnen zu tun, mehr mit der Kuchentheke.«

»Das kann ich gut verstehen. Was studieren Sie?«

»Indologie.«

»Indologie? Dann waren Sie sicherlich schon mal in Indien.«

»Klar und Sie?«

»In meiner letzten Inkarnation.«

»Dann haben wir uns vielleicht dort schon mal getroffen. Ich meine im letzten Leben.«

Wir lachen beide und der Student schiebt seinen Laptop zur Seite. Er macht einen fokussierten Eindruck und passt irgendwie nicht in diese Studienrichtung. Als hätte er sich verflogen.

»Was macht man mit einem indischen Master?«, frage ich.

»Keine Ahnung«, antwortet der Student gelassen. »Vielleicht bekommt man eine Stelle in irgendeinem Museum und wird eines Tages selbst zum Ausstellungsstück. Ich studiere in erster Linie, weil es mich interessiert und mich innerlich weiterbringt. Was machen Sie denn so?«

Diese Antwort habe ich fast erwartet und sie bekräftigt mein Vorurteil gegen Studiengänge, die hinterher nur Taxifahrer mit Doktortitel produzieren. Dennoch beeindruckt mich die Leichtigkeit und Selbstsicherheit, mit der er das sagt.

»Ich arbeite in einer Bank.«

»Mmh, stell ich mir trocken und langweilig vor. Macht Ihnen das Spaß?«

Ich zögere mit der Antwort und esse ein Stück Kuchen.

»Sie brauchen nicht zu antworten, wenn Sie nicht möchten. Obwohl das natürlich auch eine Antwort ist.«

Der Student lächelt, als habe er mich schachmatt gesetzt.

»Ich habe ein paar Semester Mathe studiert«, fährt er fort, »aber nach meiner ersten Indienreise ging das nicht mehr.«

»Warum nicht?«

»Man kann in Indien nicht aus dem Flugzeug steigen, ohne dass man von innen nach außen umgekrempelt wird. Das geschieht ganz ohne Zustimmung und so nebenbei – als wäre es das Normalste auf der Welt. Dort habe ich erfahren, dass das Leben anderes zu bieten hat, als das, was uns hier in Schule, Kirche und Gesellschaft eingetrichtert wird.«

»Als Mathematiker stehen Ihnen alle Türen offen. Die werden überall gebraucht. Sind das keine guten Aussichten?«

»Alle Türen? Sind Sie sicher? Dann kann ich eines Tages in Ihrer Bank arbeiten und mir den ganzen Tag den Kopf darüber zerbrechen, wie ich die Dividenden der Aktionäre optimiere.«

»Das ist eine recht einseitige Darstellung vom Bankgeschäft. Vor allem von jemanden, der noch nie in einer Bank gearbeitet hat.«

»Finden Sie? Geld hat so seine eigene Dynamik und tendiert dorthin zu fließen, wo es am wenigsten hingehört. Was mögen Sie an Ihrer Arbeit?«

»Es gibt sicherlich Missstände im Bankgeschäft. Dennoch kann ich mir unsere derzeitige Gesellschaft nicht ohne sie vorstellen«, versuche ich das Thema zu wechseln, denn um ehrlich zu sein, war meine Freude an der Arbeit in der Bank schon nach ein paar Jahren gewichen.

»Und ich kann mir unsere derzeitige Gesellschaft nicht mehr mit Banken vorstellen. Kapitalismus zerstört derzeit alle Menschlichkeit und schlimmer noch – ist im Begriff alles Leben auf der Erde zu zerstören in seinem unersättlichen Wahn nach mehr. Nein danke, ich habe Sinnvolleres mit meinem Leben vor. Aber wenn Sie nicht wissen, warum Sie jeden Tag zur Bank gehen, wäre es nicht besser, innezuhalten und zu horchen, was Ihnen ihr Herz rät?«

Nun rasen meine Gedanken so schnell, dass sie schließlich über ihre eigenen Füße stolpern. Woher soll ich wissen, was mir mein Herz rät?

»Was ist das für eine Frage?«, kontere ich. »Seit wann gehören Herzen in die Bank?«

»Seitdem die Werbung damit Kunden zu fangen versucht. Wie glücklich sehen die Menschen aus, nachdem sie das neue Traumauto gekauft haben oder sich für ihr Eigenheim auf dreißig Jahre Zwangsarbeit verschuldet haben.«

Der Student schaut auf seine Uhr, packt den Laptop in seine Tasche und sagt zum Abschied: »Ich muss jetzt gehen. Nichts für ungut. Es muss auch Banken geben. Zumindest noch eine Weile. Ich wünsche Ihnen jedenfalls, dass Sie Ihre Antwort finden – ehrlich!«

Abends sitze ich gemütlich auf dem Sofa, als Zoe anruft.

»Roshi, was ist mit deinem Handy los? Mutti liegt im Krankenhaus! Sie ist die Treppe heruntergestürzt. Ich habe dich mehrmals versucht anzurufen, doch du warst nicht erreichbar.«

»Oh nein, wie ist das passiert? Wann?«

»Nach dem Essen. Ich war den ganzen Nachmittag bei ihr. Kaum zu glauben, aber sie hat sich nicht einen einzigen Knochen gebrochen! Kannst du morgen früh zu ihr fahren? Ich muss mich um die Kinder kümmern.«

»Natürlich, aber ich muss erst zur Bank. Im Augenblick vertrete ich die Filialleiterin. Danach könnte ich. Tut mir leid mit dem Handy. Hatte ich ausgeschaltet und total vergessen.«

»Gut, ich werde die Sachen für Mutti packen und den Koffer in den Flur stellen.«

Mutti hätte sich keinen besseren Moment für ihren Unfall aussuchen können. Als wäre Frau Riedels Vertretung nicht schon genug!

Zum Glück verläuft der Morgen ohne Zwischenfälle und kurz nach Mittag schließe ich die Haustüre auf. Ohne Mutti fühlt sich das Haus seltsam leer an. Der Koffer erwartet mich im Flur und erinnert an die Worte des Mannes, den ich vor Kurzem am Fluss getroffen habe.

Im Krankenhaus empfängt mich der strenge Geruch von Desinfektionsmitteln. Zimmer 306.

»Hallo Mutti«, grüße ich sie verlegen, als ich neben ihr am Bett sitze. Doch sie antwortet nicht.

Erst als ich nach ihrer Hand greife, öffnet sie kurz die Augen und ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. Sie wirkt friedlich, dennoch zerbrechlich. Solche Unfälle kommen immer überraschend und doch sind sie so vorhersehbar. Ich sitze eine Weile schweigend bei Mutti. Viel Kontakt hatten wir in den letzten Jahren nicht. Immer häufiger haben wir uns nur gestritten, so wie sie sich früher mit Papa gestritten hatte. Irgendwann wurde es mir zu viel und war die lange Fahrt nicht mehr wert. Zoe hat fleißig Öl ins Feuer geschüttet. Sie war und ist bis heute die brave Tochter, hat Enkelkinder geliefert und geht sonntags mit Mutti in die Kirche. Dagegen habe ich keine Chance. Will ich auch nicht. Ich war damals froh, ausziehen zu können und mir mein eigenes Leben in der Stadt aufzubauen. Dörfer sind wunderschön, um dort die Kindheit zu verbringen, doch als Teenager sieht das anders aus.

Es klopft und eine Pflegerin betritt das Zimmer.

»Guten Tag, kann ich noch etwas für Sie oder Ihre Mutter tun?«

»Danke, nicht nötig. Alles ist gut. Ich räume die Sachen in den Schrank und später kommt meine Schwester vorbei.«

6

Am Samstag weiß das Wetter nicht so recht, ob es regnen will oder nicht. Dennoch freue ich mich auf meinen Wald. Bald schon erreiche ich den See, wo dichter Nebel die kleine Insel und das gegenüberliegende Ufer verbirgt. Sonnenstrahlen durchbrechen vereinzelt die grauen Schwaden und geben diesem Herbstmorgen eine wunderbare Stimmung. Am Ufer angekommen, setze ich mich an meinen Lieblingsplatz: ein Baumstumpf, den ich schon kannte, als er noch ein Baum war. Die Spiegelung eines über das Ufer gestreckten Astes schimmert auf der Oberfläche des Wassers und auf dem Grund leuchten abgefallene Blätter in zarten Pastellfarben. Es riecht nach Moder und Vergangenheit, nach Abschied.

Der Wald am Rande der Stadt mit seinem See bedeutet mir viel und über die Jahre ist er ein guter Freund geworden, vielleicht sogar mein liebster. Er kennt meine Tränen genauso wie mein Lachen, meine Freude und Dankbarkeit genauso wie meine Zweifel. Viele Stunden habe ich im Schatten seiner urigen Bäume verbracht, um neuen Lebensmut zu schöpfen oder einfach nur, um die Natur zu genießen. Doch trotz unserer Vertrautheit hat er all die Jahre ein Geheimnis vor mir verborgen, welches mein Leben für immer verändern sollte.

Als ich wenig später an der knorrigen, alten Eiche abbiege, sehe ich direkt neben dem massiven Findling einen mir unbekannten Pfad. Daran selbst wäre nichts Ungewöhnliches, würde ich diesen Wald nicht besser kennen als meine Handtasche. Außerdem erscheinen in meiner Welt neue Pfade nicht so einfach aus dem Nichts! Und wäre das nicht schon seltsam genug, säumen diesen Pfad mit Moos bedeckte Bäume, ganz so, als existierte er schon viele Jahre. Geheimnisvoll sieht er aus, irgendwie unwirklich und ich kann der Versuchung nicht widerstehen, ihm zu folgen. Manche der Bäume an den Rändern sind alt und gebogen, andere gebrochen und verzerrt und wieder andere stehen majestätisch hoch wie Leuchttürme mitten im Wald.

Ich erreiche schließlich eine Lichtung, auf der Wildschweine auf der Suche nach etwas Schmackhaftem das Gras aufgewühlt haben. Hohe Nadelbäume am Rand werfen lange, dunkle Schatten.

Auf der gegenüberliegenden Seite der Lichtung sitzt jemand auf einer Bank. Nebelschwaden verschleiern auch hier teilweise die Sicht. Etwas raschelt neben mir hinter einem Strauch. Ich zucke zusammen, als plötzlich ein Reh aufspringt. Geschickt entfernt es sich mit großen Sprüngen, um schließlich in der Deckung des Waldes zu verschwinden. Als ich meine Aufmerksamkeit wieder der Person auf der Bank zuwende, ist auch sie verschwunden. Unbehagen kriecht meinen Nacken herauf und endet in einem kalten Schauer. Irgendwas stimmt hier nicht!

Kaum habe ich mich umgedreht, sehe ich die Person vor mir auf dem Pfad zurück in den Wald. Obwohl er vom Regen der letzten Tage aufgeweicht ist, zeigen sich nur meine eigenen Fußstapfen. Soll ich der Gestalt wirklich folgen? Schon ist sie außer Sicht und ich kann meine Füße nicht davon überzeugen, sich schneller zu bewegen. Erleichtert erreiche ich den Findling und damit meinen vertrauten Wald. Uff, das war unheimlich!

Abends im Bett geht mir das seltsame Ereignis nicht aus dem Kopf. Was hat es mit dieser Lichtung auf sich? Wer ist die Person auf der Bank?

Müde falle ich in einen unruhigen Schlaf. Als ich aufwache, steht der Vollmond hell am Himmel. Es lässt mir keine Ruhe. Ich muss diese Lichtung nochmal aufsuchen, am besten sofort. Schnell habe ich mich angezogen und fahre mit dem Auto in den Wald. Das Zuschlagen der Autotür ist das einzige Geräusch, dass weit und breit zu hören ist. Vom Parkplatz gehe ich an der Eiche vorbei zum Findling, der hell im Mondlicht schimmert. Mein Herz klopft viel zu laut, als ich den Pfad betrete. Die schönen Bäume von heute Morgen gleichen nun unheimlichen Gestalten und eine Eule ruft in der Ferne. Verschworen windet sich der Pfad, als dulde er keine Besucher um diese Zeit. Am Rande der Lichtung angekommen, erstarre ich vor Furcht. Wie kommt es, dass die Gestalt selbst um diese Zeit auf der Bank sitzt und auf mich zu warten scheint? Wolken ziehen vor den Mond und tauchen mich vorübergehend in die Schwärze der Nacht. Als das Mondlicht wieder die Lichtung erhellt, gerate ich in Panik – die Bank ist leer!

»Guten Abend«, höre ich eine Stimme hinter mir und drehe mich um. Das Antlitz der Gestalt lässt das Blut in meinen Adern gefrieren. Entsetzen packt mich und ich schnelle schweißgebadet in meinem Bett auf. Meine Brust hebt und senkt sich hastig und ich zittere am ganzen Körper. Verzweifelt suche ich nach dem Lichtschalter und es dauert eine Weile, bis ich endlich dem Grauen entkomme.

7

Es ist Sonntag und auf meinem Weg zum Krankenhaus tanzen die Scheibenwischer hektisch im Regen. Die Straße ist kaum auszumachen. So viel Wasser habe ich lange nicht mehr erlebt.

Als ich in Muttis Zimmer eintrete, sitzt sie aufrecht im Bett und liest in der Zeitung.

»Guten Morgen Mutti.«

»Hallo Roshi, schön dass du da bist.«

»Wie geht es dir? Ist alles in Ordnung? Wie ist das mit dem Sturz passiert?«

»Wie so etwas eben passiert. Ich weiß nicht, wie viele tausend Male ich in meinem Leben diese Treppe hoch und runter bin. Auf einmal lag ich unten. Zum Glück war Zoe gerade bei mir, sonst könntet ihr euch jetzt streiten, welche Musik auf meiner Beerdigung gespielt wird.«

Ich weiß nicht, was noch passieren muss, bis Mutti mit ihren Sticheleien aufhört. Auch wenn es mich nicht mehr ärgert, macht es mich manchmal traurig.

»Hast du Schmerzen?«

»Ich habe Schmerzmittel bekommen. Es ist nun besser. Aber überall blaue Flecken.«

»Dich haben alle Engel geschützt, die in der Nähe waren! Gut, dass dir nichts Schlimmeres zugestoßen ist. War eben noch bei Löres und habe dir deinen Lieblingskuchen mitgebracht.«

»Das ist lieb von dir. Ich sollte öfters die Treppe herunterfallen.«

Das ist Muttis Art ›Danke, ich liebe dich‹ zu sagen. Papas Sarg wurde genau mit solch versteckten Vorwürfen zugenagelt. Wer weiß, warum er Krebs bekam. Nie hatten die beiden sich ehrlich ausgesprochen. Stattdessen suhlte sich jeder in seinem Elend und unternahm alles, damit der andere nicht glücklich wurde. Nicht, dass dies einer von ihnen wirklich wollte.

Nach dem Besuch fahre ich zu Omid. Er ist Mitte fünfzig, groß gewachsen und ein Multitalent. Seine Ehrlichkeit und goldener Humor haben es mir angetan und über die Jahre sind wir dicke Freunde geworden. Allerdings ist sein chronischer Geldmangel nicht jedermanns Sache. Seit seine Freundin ihn verlassen hat, wohnt er allein mit Dayo, seinem Golden Retriever, und den beiden Katzen, Puma und Luna.

Sein Hof liegt inmitten eines großen Gartens am Rande der Welt. So abgelegen, dass es weder Telefon, Internet noch Handyempfang gibt. Man kann ihm zwar Nachrichten online hinterlassen, doch gelesen werden sie erst, wenn er irgendwo unterwegs ist. Von der Terrasse aus kann man den weitläufigen Garten überschauen. Omid nennt ihn naturnah, irgendwas mit Permakultur. Auf jeden Fall wächst überall Unkraut, viele Stellen sind unordentlich und Dayo hat einige Löcher gegraben. Wenn es das Wetter erlaubt, trifft man Omid meistens im Garten an. Er kennt die medizinische und kulinarische Verwendung der meisten Pflanzen und jeden Regenwurm mit Vornamen. Omid philosophierte einmal, dass hier alles so sein darf, wie es will, und diese Lebenseinstellung erstreckt sich vom Garten bis zum Haus.

Früher war Omid bei der Marine und ist viel herumgekommen, aber das ist schon eine lange Zeit her. Einmal zeigte er mir Bilder von sich in Uniform. Mit seiner stattlichen Figur sah er zum Verlieben gut aus. Dann noch Fotos von Kriegsschiffen und Flottenverbänden. Und nicht zu vergessen die Fotos, die ihn schwer bewaffnet im Kampfanzug zeigen. Sein Leben ist so gegensätzlich zu meinem, wie es eben nur geht. Vielleicht fahre ich deshalb gern zu ihm. Seine Freundin war früher eifersüchtig auf mich, doch dazu gab es nie einen Grund – zumindest nicht von meiner Seite.

Es ist spät am Nachmittag, als ich aus dem Auto steige. Dayo läuft bellend auf mich zu und versucht wie immer an mir hochzuspringen, um mein Gesicht zu lecken. Er weiß, dass er das nicht darf, aber in diesem Haus gibt es eben keine Regeln und sollte es doch eine geben, dann ist sie eher eine unverbindliche Empfehlung.

Wir sitzen eine Weile bei einem Kräutertee in der Küche und Omid hört aufmerksam zu, als ich von Muttis Unfall erzähle. Schon bald wird es dunkel und mein Magen knurrt.

»Gibt es hier was zu essen?«, frage ich unschuldig und ahne schon die Antwort.

»Na klar gibt es was zu essen«, frotzelt Omid mit einem breiten Grinsen. »Wird aber einfach.«

Das ist seine Art mir mitzuteilen, dass der Kühlschrank leer ist, was bei jedem zweiten Besuch der Fall ist.

»Wir fahren aber mit meinem Auto?!«, versichere ich mich, als wir uns aufmachen, um in die Stadt zum Griechen zu fahren. Omids Auto ist so alt, dass der Begriff Oldtimer zu modern klingt. Er liebt seine Klapperkiste über alles. Damit muss sich jede zukünftige Partnerin abfinden, wenn es denn jemals wieder eine geben wird.

»Wenn du mich schon einlädst, können wir wenigstens mit meinem Auto fahren«, sagt Omid.

»Wann habe ich dich eingeladen?«, frage ich erstaunt, doch Omids Grinsen beendet auch diese Diskussion.

Die alte Karre ruckelt schon eine Weile vor sich hin, als die Hügel von Feldern abgelöst werden und das Radio endlich die erste Note spielt. Es ist jedes Mal das gleiche Spiel. Obwohl ich Omid gerne einlade, habe ich es bis heute nicht verstanden, warum er sich so wenig um sein Geld kümmert.

Wenig später genießen wir den weiten Blick aufs Meer, hinweg über die Kirche mit dem blauen Dom von Santorini. Unter dem Poster fristen vernachlässigte Pflanzen ihr Dasein und könnten keinen krasseren Gegensatz zu dieser Urlaubsidylle bilden. Das Restaurant muffelt nach Hinterhof und Fett mit zu viel Knoblauch, aber Omid mag die riesigen Portionen hier. Kann ich gut verstehen, wenn man schon eine gegrillte Ziege als Vorspeise bestellt. Nachdem die Getränke serviert sind, machen wir es uns gemütlich.

»Mir ist die Beförderung zur Filialleiterin angeboten worden«, eröffne ich feierlich den Abend.

Omid schaut mich traurig an, als wäre mir etwas Entsetzliches zugestoßen. Ich ahne schon, was in seinem Kopf los ist. Wahrscheinlich frisst mich gerade ein furchterregendes Bankenmonster bei lebendigem Leib auf, nachdem es mich mit der Beförderung aus der Deckung gelockt hat.

»Es tut mir leid, dass es so weit kommen musste«, spöttelt Omid.

»Unsere Filialleiterin ist nach einem Schlaganfall gestorben.«

»War sie nicht in deinem Alter?«

»Ja, das ist das Traurige und ich weiß nicht, ob ich die Beförderung annehme. Muss mich bis Montag entscheiden.«

Das Essen wird serviert und wie erwartet, reicht es für vier Personen oder eben Omid und mich.

»Was gibt es da zu überlegen?«, fragt Omid mit hochgezogener Stirn. »So eine Chance kommt nicht wieder.«

Er nimmt die Schüssel mit dem gegrillten Fleisch und schaufelt mir einen Berg auf meinen Teller.

»Hey, spinnst du?! Ich will nicht so viel Fleisch! Stopp!«

Ich versuche vergeblich, Omid daran zu hindern, aber er hört nicht auf zu schaufeln und lacht sogar noch dabei.

»Das ist genug! Hör auf!«

»Was bringt dir diese Beförderung?«, fragt Omid und denkt nicht daran aufzuhören.

Ich reiße schnell den Teller an mich.

»Kannst du die Frage beantworten?«, sagt Omid nun in einem ernsten Ton.

»Welche Frage?«

Ich halte den Teller so weit von Omid entfernt wie möglich und wäre fast mit dem Stuhl umgefallen.

»Was bringt dir die Beförderung?«, wiederholt Omid.

»Hör auf! Ich will nicht mehr Fleisch! Was soll so eine Beförderung schon bringen? Mehr Geld und Verantwortung, ein größeres Büro vielleicht. Jetzt hör endlich mit dem Blödsinn auf! Warum fragst du?«

»Als hättest du nicht schon genug auf deinem Teller! Schau mal! So sieht dein Leben nach der Beförderung aus. Und wehe dir, wenn du nicht alles aufisst.«

Ich starre mit Entsetzen auf meinen Teller. Da ist so viel drauf, dass ich den Rand kaum sehen kann, und das aufzuessen liegt jenseits meiner Möglichkeiten.

»Selbst wenn ich es schaffen würde, das zu essen, ich will es nicht!«

Omid amüsiert sich köstlich und lacht so laut, dass sich einige Gäste nach uns umdrehen.

Das wird mir nun zu bunt und ich setze zur Offensive an: »Wenn du glaubst, du bekommst etwas von dem Fleisch zurück, hast du dich getäuscht. Und wenn ich es mir für Dayo einpacken lasse!«

Das hat gesessen. Mit einem Schlag hört Omid auf zu lachen.

»Ich sagte doch, dass ich es nicht weiß, ob ich die Beförderung annehmen soll. Das will überlegt sein. Ein Zurück ist schwierig und ich kenne die Anforderungen. Ich habe Frau Riedel oft genug vertreten. Aber deswegen wollte ich dich nicht sehen.«

»Warum dann plötzlich diese Sehnsucht nach mir?«

»Warst du schon mal in Indien?«

»Hä? In Indien? Klar war ich da. Wirst du nach Bombay versetzt, wenn du die Beförderung annimmst?«

Ich nicke und stelle den Teller wieder auf den Tisch.

»Wie war Bombay?«

Omid schaut mich skeptisch an.

»Willst du da wirklich hin? Wir hatten einige Male Landgang und einmal war ich länger dort. Du magst es glauben oder nicht, aber in Indien geht es organischer zu, als bei mir zu Hause.«

Hier sei erwähnt, dass wir verschiedene Wörter benutzen für ein und denselben Zustand des Universums. Was Omid als organisch bezeichnet, nenne ich chaotisch.

»Wie organisch?«, frage ich misstrauisch.

»Das Leben kann dort fließen und sich natürlicher entfalten. Es gibt Regeln, aber viele kümmert das nicht und deshalb gibt es mehr Raum für Menschsein. Willst du da echt hin? Eine Reise?«

»Ich weiß noch nicht. Würde mich aber schon interessieren.«

Den Rest des Abends erzählt Omid über seinen Landgang und ein paar interessante Anekdoten aus seinem Leben. Die meisten davon habe ich noch nie gehört. Die meisten sind wahrscheinlich aus Seemannsgarn gesponnen. Wenn Omid die alle erlebt haben will, müsste er mindestens dreimal so alt sein, wie er ist!

Als wir zurückfahren, sind wir bei guter Laune. Omid singt sogar und das kommt nicht allzu oft vor. Plötzlich wird sein Lied von einem lauten Knall unterbrochen und dann steuert er hastig, um wieder die Kontrolle über das Auto zu gelangen. Schließlich kommen wir knapp am Straßenrand zum Stehen und Omid schaut mich fragend an.

»Hoffentlich kein Platten«, murmelt er und steigt aus.

Ich folge ihm und schalte die Taschenlampe an meinem Handy ein.

»Siehst du. Wenn du dabei bist, passiert immer etwas«, versucht Omid sich zu entschuldigen. »Der Reifen ist geplatzt. Hatten wir nicht schon einmal einen Platten, als du dabei warst?«

»Kann sein. Und jetzt?«

»Nein, es gibt keinen«, beantwortet Omid meine Frage. »Wir sind etwa fünf Kilometer vom Haus entfernt. Das ist eine gute Stunde zu Fuß – mit Sternenhimmel gratis.«

Es ist ein milder Abend und nach all dem Regen ist keine einzige Wolke am Himmel. Ich nehme meine Tasche und wir gehen schweigend durch die Nacht. Die Sterne leuchten so klar, wie ich sie schon lange nicht mehr gesehen habe, und auf einmal bin ich sogar dankbar für den Platten.

Am nächsten Morgen sitzen wir gemeinsam beim Frühstück in der Küche. Omids Haus ist geräumig. Es hat ein Gästezimmer, zwei Badezimmer, einen Wintergarten und ein großes Wohnzimmer mit Kamin.

»Willst du echt nach Indien?«

»Das lässt dir nun keine Ruhe! Ich habe noch drei Wochen Urlaub und möchte einmal etwas ganz anderes erleben.«

»Könnte es sein«, fragt Omid in einem sarkastischen Ton, »dass das ganz andere dir vielleicht zu anders sein könnte?«

»Wie kommst du darauf?«

»Nun ja, erinnerst du dich an die eingebackene Fliege in der Pizza? Mann, hast du dich aufgeregt! Dabei unterscheidet sie sich nicht von der Salami. Und dann deine Bemerkungen über den Hygienestandard meines Gästezimmers.«

»Ist Indien wirklich so schlimm?«

»Die Welt funktioniert in vielen Ländern anders als deine Bank. Dort ist das Leben unberechenbarer und selten fair. Nicht so komfortabel und sicher, wie du es gewohnt bist. In Indien kannst du das hautnah an jeder Straßenecke erfahren. Ich wundere mich, wie weit du über deinen Schatten springen kannst?«

Omid macht eine Pause und gießt uns Kaffee nach.

»Du regst dich schon auf, wenn das warme Wasser in der Dusche nicht funktioniert.«

»Aber hallo! Das funktioniert schon seit Jahren nicht, sogar im Winter!«

»Das ist es, was ich meine. Indien kann zur Hölle werden, wenn du Dinge nicht so akzeptieren kannst, wie sie sind.«

Ich schaue mich schweigend um und in der Tat gibt es hier vieles, das …

»Vielleicht hast du recht«, gebe ich nach. »War ja auch nur so eine Idee.«

8

Die kaltkurzen Tage überzeugen auch den letzten Zweifler, dass der Herbst zu Ende ist. Die Alleen haben ihr Zauberkleid abgeworfen und die Stadt schmückt sich in ihrem Novembergrau.

»Hallo Roshan!«, ruft mir jemand im Park nach und als ich mich umdrehe, kommt Clíona auf mich zu.

Nicht dass es ungewöhnlich wäre, jemanden im Park zu treffen, aber Clíona habe ich am wenigsten erwartet.

Hier kommt meine Gelegenheit, sie nach ihrer Telefonnummer zu fragen: »Schön dich wiederzusehen! Wie geht es dir?«

»Ich habe heute frei. Da kann es mir nur prächtig gehen«, antwortet Clíona begeistert. »Und du?«

»Nun ja … Hast du Lust, ein wenig spazieren zu gehen? Ich gönne mir eine verlängerte Mittagspause. Nach Feierabend ist es oft schon dunkel und sonst sehe ich die ganze Woche nur mein Büro.«

Am Teich tummeln sich eine Menge Vögel. Ein Kind füttert ein paar Enten und nicht weit von uns schwimmen Schwäne majestätisch vorbei. Auf einer der Bänke sitzen ein paar Jugendliche, kleben an ihren Handys und rauchen.

»Mir ist auf der Bank die Beförderung zur Filialleiterin angeboten worden, doch ich habe kein gutes Gefühl dabei. Eigentlich sollte ich vor Freude tanzen, denn solch ein Angebot landet nicht jeden Tag auf meinem Schreibtisch.«

»Sicherlich nicht. Was macht dir Sorgen?«

»Das Führen einer Filiale ist schon eine interessante Herausforderung, aber ich will eigentlich nicht …«, komme ich ins Stocken.

»Geht es wirklich um die Beförderung? Ist es nicht eher die Frage, ob du überhaupt in der Bank bleiben möchtest?«

Ich schaue verlegen über den Teich, während Clíona geduldig auf meine Antwort wartet. Nach einer Ewigkeit lächelt sie verständnisvoll und spricht mit beruhigender Stimme: »Roshan, es wird eine Zeit kommen, in der du erkennst, dass du beim nächsten Halt aussteigen musst, auch wenn der Zug weiterfahren wird – ohne dich.«

Sie macht eine lange Pause, als wolle sie mir Raum geben, das Gesagte zu verinnerlichen.

Dann fährt sie fort: »Solange du in der Bank bist, ist dieser Zug der richtige für dich, egal ob du ihn magst oder nicht, mit Beförderung oder ohne. Möchtest du beim nächsten Halt aussteigen, tue es einfach. Die ganze Grübelei bringt nicht viel. Und solltest du nicht den Mut aufbringen, dann steigst du eben am übernächsten Halt aus.«

»Es ist unfair der Bank gegenüber, eine Beförderung anzunehmen und dann in ein paar Monaten oder einem Jahr zu kündigen. Findest du nicht?«

»Vielleicht kündigst du erst in fünf Jahren? Und seit wann ist die Bank fair? Wie fair war sie deiner Chefin gegenüber?«

Wir spazieren schweigend durch den Rosenpavillon. Wie oft schon stand ich, als der Zug im Bahnhof hielt, vor der geöffneten Türe und fand nicht den Mut auszusteigen? Beneidete stattdessen jene, die ausstiegen, und trottete geschlagen zurück auf meinen Sitz.

»Hast du damals sofort die Ausbildung zur Krankenschwester begonnen?«

»Das war sicherlich keine Option! Ich musste erst ein wenig im Bahnhof durchatmen. Nicht gerade der schönste Ort dafür.«

»Wie lange warst du im Bahnhof?«

»Ein paar Monate, vielleicht ein halbes Jahr, weiß nicht mehr genau. Die Zeit verflog schnell und doch war es eine Ewigkeit.«

»Aber du musstest alles weiterhin bezahlen: Miete, Essen, Versicherungen …«

»Habe das irgendwie hingekriegt. Im Nachhinein waren diese Monate mit das Beste, was ich mir jemals gegönnt habe, und sie haben auch nicht mehr gekostet als irgendein Urlaub.«

»Was hast du denn während dieser Zeit gemacht?«

»Erst mal nichts. Es hat eine ganze Weile gebraucht, herunterzufahren. Das Hamsterrad in der Bank hatte mich mehr unter Kontrolle, als ich es wahrgenommen hatte.«

»Und dann? Was hast du gemacht, als du aus dem Hamsterrad heraus warst?«

»Um ehrlich zu sein, war ich nie richtig draußen – bin nur langsamer gelaufen. Das ist bis heute so. Anhalten und herausspringen ist den Mutigsten vorbehalten.

Ich brauchte damals einfach nur Zeit, um herauszufinden, was ich mit meinem Leben anfangen wollte. Immerhin war ich schon dreißig und Bran, mein Sohn, war damals gerade mal zehn. Welches Beispiel sollte ich ihm vorleben?«

»Du hast das gemacht, obwohl du die Verantwortung für ein Kind hattest?«

»Nicht obwohl, sondern gerade deswegen. Und wäre das nicht genug gewesen, hatte ich mich ein paar Monate zuvor von meinem Mann getrennt.«

»Das ist ja kaum zu glauben! Das muss eine schwere Zeit für dich gewesen sein.«

»Wenn ich heute darüber nachdenke, weiß ich auch nicht, wie ich das geschafft habe. Was mir damals viel geholfen hat, war im Augenblick zu bleiben und mich nicht verrückt zu machen mit Ängsten über die Zukunft. Immer im Hier und Jetzt!«

»Apropos Jetzt! Ich würde gerne länger mit dir sprechen, aber ich muss zurück in die Bank. Kann ich deine Telefonnummer bekommen?«

»Lieber nicht. Ich habe im Augenblick viel um die Ohren, sodass ich nicht noch mehr Verpflichtungen eingehen möchte. Alles Wichtige ist doch gesagt, oder? Wie du siehst, funktioniert es auch ohne Telefonnummer.«

»Dass wir uns getroffen haben, war Zufall«, protestiere ich.

»Es mag vielleicht seltsam für deine Ohren klingen, aber für mich gibt es keine Zufälle.«

»Haben wir uns eben nicht zufällig getroffen?«

»Jeder muss selbst entscheiden, ob es Zufälle gibt oder ob man bereit ist, Verantwortung für das zu übernehmen, was einem im Leben begegnet. Das Leben wird uns zusammenbringen, wenn es gewollt ist. Verlass dich drauf.«

F

»Guten Tag, Frau Pahlke«, werde ich von Frau Diefenbach in meinem Büro überrascht.

»Guten Tag. Was bringt Sie zu mir?«

»Die Beförderung. Haben Sie es sich überlegt?«

Ich öffne zögernd die Schublade, greife nach dem Vertrag und versuche, Zeit zu gewinnen. Sekunden, die über meine Zukunft entscheiden. Sekunden, in denen der Ball wie in Zeitlupe über das Roulette seiner Bestimmung entgegenrollt.

»Sie haben nicht unterschrieben. Ich nehme an, Sie haben sich das gut überlegt«, stellt Frau Diefenbach fest.

»Habe ich«, sage ich erleichtert. »Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen, aber es passt nicht.«

»Nun gut. Wir haben eine andere Kandidatin, dennoch gehören Sie auf diese Position. Auf Wiedersehen.«

Als Frau Diefenbach das Büro verlassen hat, weiß ich nicht, ob ich feiern soll oder ob ich gerade die größte Dummheit meines Lebens begangen habe. Bis die Stelle der Filialleitung neu besetzt ist, werden Monate vergehen – Monate ohne Urlaub. Das sind trübe Aussichten.

Wenig später klingelt das Handy.

»Hallo Roshi, Mutti kommt morgen aus dem Krankenhaus.«

»Hi Zoe, das sind ja gute Nachrichten. Dann schaue ich am Samstag vorbei.«

»Kannst du sie morgen nach Hause fahren?«

»Wie bitte? Ich vertrete immer noch die Filialleiterin und es ist eine Stunde Fahrt bis zu euch!«

»Ich muss morgen mit den Kindern zum Zahnarzt. Nach all dem, was ich bisher für Mutti getan habe, könntest du sie wenigsten ein einziges Mal nach Hause fahren. Aber sie wird sicherlich den Bus nehmen, wenn es dir und deiner Bank nicht passt.«

»So war das nicht gemeint. Wann wird sie entlassen?«

»Du kannst ihr ab zehn Uhr beim Packen helfen. Tschüss.«

Zoe ist oft genervt und es ist über die Jahre schlimmer geworden. Wenn es ihr zu viel wird, versucht sie, mir ein schlechtes Gewissen zu machen, ganz wie Mutti. Dennoch bin ich ihr sehr dankbar dafür, dass sie sich all die Jahre stets um Mutti gekümmert hat.

Am nächsten Tag erreiche ich das Krankenhaus um halb elf. Mutti ist fertig mit dem Packen und bereit zu gehen.

»Ich bin so froh, wieder nach Hause fahren zu können, und die Treppe falle ich bestimmt nie wieder herunter«, sagt sie im Aufzug.

»War das Krankenhaus in Ordnung?«

»Die Krankenschwestern waren sehr nett, das Essen akzeptabel, nur die Ärzte haben mich nicht in Ruhe gelassen. Die brauchen heutzutage so viele Untersuchungen und Tests, bevor sie irgendwas entscheiden können. Als würden sie im Studium nichts mehr lernen.«

Zu Hause angekommen, gibt es erst einmal einen Kaffee in gewohnter Umgebung.

»Meinst du, dass du zurechtkommst?«, frage ich besorgt.

»Was soll die Frage? Solange Zoe in der Nähe ist, ist das kein Thema.«

Als Mutti jedoch den Kaffee nachgießt, zittert ihre Hand deutlich stärker als sonst. In dieser einen Woche ist sie mehr gealtert, als in den letzten zehn Jahren.

»Auch wenn ich nun schon über siebzig bin, werde ich dieses Haus keinen Tag eher verlassen, als ich muss. Was macht deine Arbeit?«

»Das Übliche«, weiche ich aus.

»Und wie sieht es mit der Liebe aus?«

»Mutti! Hier und da treffe ich mal jemanden, aber nichts Ernstes.«

Wenn wir dieses Frage-und-Antwort-Spiel beginnen, ist es höchste Zeit zu gehen. Doch auf einmal ändert Mutti das Thema.

»Ich muss dir was Wichtiges sagen«, flüstert sie vorsichtig und macht eine lange Pause, als ringe sie innerlich mit etwas.

»Ich höre.«

»Halte mich bitte nicht für verrückt oder senil, aber Papa hat mich besucht.«

»Was? Papa?«

»Nach dem Unfall. Als ich benommen unten an der Treppe lag.«

»Hast du Zoe davon erzählt?«

»Nein, die würde mich garantiert für verrückt halten.«

»Hat Papa etwas gesagt?«

»Gesagt nichts, aber – er hat mir seine Hand entgegengestreckt, um mir aufzuhelfen.«

»Und dann?«

»Bevor ich sie greifen konnte, hörte ich Zoes Stimme und er verschwand. Es war so schön, ihn wiederzusehen. Er sah gut aus. So wie vor dem Krebs.«

«Wollte Papa dir helfen oder dich zu sich holen?«

»Ich weiß es nicht. Aber ich wäre gerne mit ihm gegangen. Er schaute mich so liebevoll an. Du weißt, dass ich mich hier oft allein fühle.«

»Allein? Du hast Zoe und die Kinder. Außerdem kennst du das halbe Dorf.«

»Schon, aber mittlerweile besuche ich immer mehr Freunde auf dem Friedhof und die verbleibenden reden unentwegt von Krankheiten und Sterben. Das brauche ich nicht.«

Geräusche an der Tür und ein Schlüssel im Schloss kündigen Zoe an.

»Hallo Mutti, alles gut?«, ruft sie durch den Flur.

Wenn Zoe sauer auf mich ist, ignoriert sie mich einfach. Das war schon immer so. Einmal hat sie es über einen Monat ausgehalten und das nur, weil ich ihren Lippenstift benutzt hatte. Aber das ist schon lange her. Damals waren wir noch Teens.

»Ich muss jetzt gehen«, verabschiede ich mich von Mutti und drücke sie lange und innig. »Die Bank wartet.«

Als ich im Auto mein Handy auf neue Nachrichten checke, fällt mein Blick auf die Wetterapp. Das gute Wetter am Wochenende ist vielversprechend. Ich muss unbedingt raus in die Natur.

9

Am nächsten Tag, als ich mir einen Kaffee hole, treffe ich Herr Hüber, unseren Azubi, im Pausenraum. Unsicher wirkt er, als hätte er sich in der Bank verlaufen. Er erinnert mich an meine eigene Ausbildungszeit. Meine Eltern waren damals stolz auf mich, auch wenn Papa das Ende der Ausbildung nicht mehr erleben durfte.

»Guten Morgen Herr Hüber, wie geht es Ihnen?«

»Guten Morgen Frau Pahlke. Danke gut, und selbst?«, grüßt er etwas verlegen zurück.