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Vor 1933 lebte ungefähr eine halbe Million Juden in Deutschland. Nachdem sich zwischen 1945 und 1990 zeitweise bis zu 200 000 Juden in Deutschland aufhielten, Überlebende der Vernichtungslager, die größtenteils in die USA oder nach Israel auswanderten, waren es Anfang der 90er noch etwa 45 000. Warum sind sie in Deutschland geblieben? Wie leben sie unter den Mördern ihrer Familien und deren Nachkommen? Überlebende Opfer des Nazi-Terrors berichten über ihre Alltagserfahrungen, Hoffnungen und Ängste. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)
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Seitenzahl: 439
Susann Heenen-Wolff
Im Land der Täter
Gespräche mit überlebenden Juden
FISCHER Digital
»Wie findet man die Leute?« wurde ich während meiner Recherchen für das vorliegende Buch von Freunden und Bekannten immer wieder gefragt. Die Frage ist naheliegend. Man weiß, daß die Nationalsozialisten bei ihrem Versuch, die Juden vom Planeten Erde zu tilgen, mit äußerster Gründlichkeit vorgegangen sind und in Deutschland nur noch sehr wenige Juden leben. Es war deshalb überraschend, wie leicht ich auf Anhieb Überlebende der Shoah in verschiedenen Städten Deutschlands gefunden habe.
Jeder Überlebende, mit dem man spricht, stellt paradoxerweise eine Irritation dar. Wie haben sie überleben können, wo doch eigentlich kein Entkommen, kein Überleben möglich war? Jeder Überlebende scheint die Beschreibungen des nationalsozialistischen totalen Vernichtungssystems Lügen zu strafen.
Aber die Gespräche zeigen, wie zufällig dieses Überleben war. Einmal war es die rechtzeitige Auswanderung, dann war es das Vorrücken der sowjetischen Armee und die folgende Evakuierung der Todeslager, ein anderes Mal war es – leider selten – der List und dem Mut von Verwandten und Freunden zu verdanken, daß in diesem totalitären System doch noch lebensrettende Nischen aufgetan werden konnten.
Die Gespräche, die ich geführt habe, handeln nicht in erster Linie vom Überleben in der Emigration, im Versteck, im Gefängnis, bei der Zwangsarbeit, im Konzentrationslager, im Vernichtungslager. Sie handeln vor allem von der Zeit danach.
Wie war es möglich, daß nach der Ermordung von Millionen jüdischer Menschen durch Deutsche Überlebende sich gerade wieder in Deutschland niederließen? Eine im Jahre 1945/1946 von der Flüchtlingsorganisation UNRRA (United Nations Relief and Rehabilitation Administration) durchgeführte Untersuchung unter etwa zwanzigtausend Juden in den Flüchtlingslagern ergab, daß 96,8 % von ihnen den festen Willen hatten auszuwandern[1].
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, nachdem das Ausmaß der Verbrechen der Nationalsozialisten in vollem Umfang bekannt wurde, gingen Juden in aller Welt davon aus, daß Deutschland in Zukunft ein gebanntes Land sein würde, so wie einstmals Spanien nach der Vertreibung der Juden im Jahre 1492. In den Jahren 1945 bis 1950 hielten sich jedoch zeitweise bis zu zweihunderttausend jüdische DP’s (displaced persons) in Deutschland auf, viele von ihnen in Übergangslagern, die die UNRRA vor allem im bayerischen Raum zur Verfügung stellte. Die Überlebenden der Shoah warteten dort auf Ausreisemöglichkeiten, – die einen nach Israel, das im Jahre 1948 gegründet wurde, die anderen nach Amerika, dem zweiten Gelobten Land, für das sich viele Überlebende nach der für sie günstigen Novellierung des Einwanderergesetzes entschieden. Aber einige deutsche Juden blieben, und vor allem osteuropäische Juden ließen sich in Deutschland dauerhaft nieder. Anfang der fünfziger Jahre zählte man fünfzehntausend Mitglieder der neu konsolidierten Jüdischen Gemeinden in der jungen Bundesrepublik.
Lange lebten diese Juden mit der ›Ideologie der gepackten Koffer‹, wie es scherzhaft unter Juden hieß, – mit dem festen Willen, bald doch noch auszuwandern, wenn nicht dieses Jahr, dann aber im nächsten – spätestens im übernächsten. Heute leben schätzungsweise fünfzigtausend Juden in Deutschland, dreißigtausend von ihnen sind Mitglieder der Jüdischen Gemeinden. In der DDR wurden 1961 eintausendfünfhundert Gemeindemitglieder gezählt, ihre Zahl wird jetzt auf wenige hundert geschätzt.
Eine Vielzahl von Veröffentlichungen nach 1945 hat sich mit den Folgewirkungen von Verfolgung und Lagerhaft unter dem Nationalsozialismus auseinandergesetzt[2]. Auch wurden Untersuchungen über die sogenannte ›zweite Generation‹ nach Auschwitz veröffentlicht, d.h. über die Kinder der ehemals Verfolgten[3]. In den achtziger Jahren schließlich erschienen erste Untersuchungen und Zeitzeugnisse über das Leben von Juden in Österreich, der Bundesrepublik, schließlich auch in der DDR[4].
Die Geschichte der Juden in Deutschland nach 1945 ist also erst in allerjüngster Zeit Gegenstand wissenschaftlichen Interesses geworden, und zwar hauptsächlich bei der jüdischen Minorität selbst (vgl. Monika Richarz, Juden in der BRD und in der DDR seit 1945, in: Jüdisches Leben in Deutschland seit 1945, Frankfurt 1986). Die Gruppe jener Juden, die sich nach 1945 auf deutschem Boden sammelten, setzte sich außerordentlich heterogen zusammen. Die wenigen deutschen Juden waren in der Regel völlig assimiliert, viele hatten nicht-jüdische Ehepartner, während der große Teil der aus Osteuropa stammenden Juden noch Jiddisch sprach und die ersten Erfahrungen mit (Reichs-)Deutschen bei der Selektion im Lager gemacht hatte.
Nach dem wirtschaftlichen Aufschwung der Bundesrepublik und der Verabschiedung des Entschädigungsgesetzes (»Wiedergutmachung«) kehrten in den fünfziger Jahren erstmals auch deutsche Juden in ihr einstiges Heimatland zurück. Aus Ungarn und der Tschechoslowakei wanderten Juden nach dem Aufstand von 1956 und dem Prager Frühling 1968 in die Bundesrepublik ein.
Es ist zunächst festzuhalten, daß es (außer persönlichen Lebenszeugnissen, Autobiographien) keine Dokumentationen bzw. Untersuchungen der Lebenserfahrungen von Überlebenden der Shoah nach 1945 in Deutschland gibt. Mir erklärt sich dies aus der Tendenz, die Tatsache jüdischen Lebens in Nachkriegsdeutschland zu verleugnen, und zwar in erster Linie von seiten der jüdischen Gemeinschaft selbst. Aus ihren Reihen stammen aber in erster Linie die Forscher jüdischer Lebensrealität vor dem Hintergrund der Shoah.
Der Historiker Dan Diner spricht von einer ›negativen Symbiose‹ zwischen Deutschen und Juden nach dem Nationalsozialismus (in: Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart, Frankfurt 1986). Damit kennzeichnet er die Tatsache einer – umgekehrt proportionalen – gemeinsamen historischen Erfahrung: »Für Deutsche wie für Juden ist das Ereignis der Massenvernichtung zum Ausgangspunkt ihres Selbstverständnisses geworden, eine Art von gegensätzlicher Gemeinsamkeit – ob sie es wollen oder nicht. Deutsche wie Juden sind durch dieses Ereignis neu aufeinander bezogen worden. Solch negative Symbiose, von den Nazis konstituiert, wird auf Generationen hinaus das Verhältnis beider zu sich selbst, vor allem aber zueinander, prägen.« (a.a.O.)
Nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten melden sich erste leise Zweifel an dieser Bestimmung deutscher Identität, zumindest bei einigen meiner Gesprächspartner.
Im Jahre 1991, also in dem Zeitraum, in dem die folgenden Gespräche stattfanden, sind die Überlebenden der Shoah, die noch bewußte Erinnerungen an die Nazi-Zeit verfügen, mindestens achtundfünfzig Jahre alt (Jahrgang 1933). Angesichts der geringeren Überlebenschancen von Kindern während der Shoah ist der größere Anteil der Überlebenden mindestens sechsundsechzig Jahre alt (Jahrgang 1925), das heißt, daß die meisten sich ihrem Lebensabend nähern.
Viele meiner Gesprächspartner sprechen Deutsch mit schwerem Akzent. In der Verschriftung geht dies leider verloren. Ich habe mich gleichwohl bemüht, den Wortlaut so wenig wie möglich zu korrigieren. Der Leser wird feststellen, daß häufig Brüche im Gesprächsverlauf zu verzeichnen sind. Ich habe auch darauf verzichtet, meine Fragen im Nachhinein zu schönen, und so wird man z.B. feststellen, daß ich nach dem Geburtsnamen frage, als mir erklärt wird, daß gerade die Nachricht vom Tod der eigenen Mutter kam. Es hat etwas Ungeheueres, bei Kaffee und Kuchen über Verfolgung und Vernichtung zu sprechen.
Bei den Gesprächen wurde viel geweint.
Nicht alle der von mir kontaktierten Überlebenden waren zu einem Gespräch bereit. Vielmehr wurde ich einige Male recht barsch abgewiesen, ohne daß ich überhaupt die Zeit gehabt hätte, zu erklären, um was es geht. Andere haben immer wieder Terminschwierigkeiten vorgeschützt, bis ich verstanden habe, daß sie lieber nicht über ihre Erfahrungen sprechen möchten. Die Namen meiner Gesprächspartner sind nur auf Wunsch verändert worden (zweimal), es geht aus dem Text hervor.
Susann Heenen-Wolff
Paris, im Winter 1991
geboren in Numce/ Polen
Jahrgang 1915
Wohnort: München
Nach dem Krieg haben viele junge Männer gleich nicht-jüdische Frauen geheiratet. Mich hat das sehr gewundert. Tausende hat es gewundert, aber so war das. Warum die das gemacht haben? Ich schätze, die deutschen Mädchen waren sehr anschmiegsam, die waren sehr leicht zu bekommen, für eine Tafel Schokolade oder eine Packung Zigaretten. Jüdische Mädchen gab es viel weniger als jüdische Männer, weil die Männer robuster gewesen waren, sie haben mehr ausgehalten und sind deshalb eher am Leben geblieben.
Die jüdischen Mädchen wollten heiraten, die hatten noch die Einstellung von den osteuropäischen jüdischen Frauen, die sich nicht gehen ließen, sie sind nicht so schnell mit jemandem ins Bett gegangen. Und die deutschen Frauen haben den jüdischen, in der Liebe unerfahrenen Männern gezeigt, was Liebe ist. Das hat denen wahrscheinlich auch imponiert. Die haben ihnen eine gewisse Wärme gegeben, die ihnen so lange gefehlt hat, und so ist es passiert, daß sie dann auch geheiratet haben. Na ja, manche haben sich schwer getan, sehr schwer getan, also, ich rede für die Juden in München, denn ich bin gleich nach der Befreiung hierhergekommen.
Die Juden in München sind eine kompakt jüdische Gesellschaft. Wir waren jüdischer Gesinnung, und die meisten haben das jüdische Leben beibehalten. Deshalb haben wir auch die sogenannten Mischehen nicht richtig in der Gemeinschaft aufgenommen, obwohl bestimmt fünfundneunzig Prozent der Frauen früher oder später den jüdischen Glauben angenommen haben. Für die Kinder ist es dann leichter. Für die Kinder, die aus solchen Mischehen stammen und die sich als Juden fühlen, ist es einfacher. Sie finden leichter in die jüdische Gesellschaft als die Mütter, wenn sie das wünschen, aber es gibt auch Kinder, die sich völlig vom Judentum entfernen.
Man wundert sich über uns, daß wir dageblieben sind, das wollen Sie doch wissen! Ich war einmal auf einer Veranstaltung in der Jüdischen Gemeinde, da war ein promovierter Mann, der war sechzig oder siebzig Jahre alt, und da war auch so ein sehr schöner netter junger Mann. Und wir osteuropäischen Juden waren ihm fremd. Er hat einen Vortrag gehalten und wollte unbedingt von uns wissen: ›Wie fühlen Sie sich in Deutschland, Sie, die aus Osteuropa gekommen sind?‹
Wir waren damals vielleicht zehn Jahre in Deutschland. Der eine hat so geantwortet, der andere so, und ich habe dann gesagt: »Ich werde Ihnen eine Geschichte erzählen: Der Große Fritz belagert Danzig, das war damals polnisch, und er wollte die Stadt besetzen. Aber die Stadt hat sich gehalten. Und der Große Fritz konnte die Stadt nicht bezwingen. Und dann hat er Spione in die Stadt geschickt, aber die hat man erwischt. Dann hat er selbst spioniert und unterirdische Kanäle entdeckt, durch die Nahrungsmittel geschmuggelt wurden. Und das war der Grund, wieso die Stadt sich halten konnte. Beim Rückzug hat man ihn entdeckt, aber ein jüdischer Schmied hat ihm das Leben gerettet. Er hat ihn bei Nacht durch eine Geheimtür aus der Stadt herausgeführt. Und da hat der Große Fritz dem Juden gesagt: ›Wenn ich die Stadt eingenommen habe, kannst Du von mir haben, was Du willst.‹
Später, als es soweit war, hat er ihn rufen lassen und hat gefragt: ›Na, was willst Du haben? Du hast mir das Leben gerettet!‹
Und da hat der Jude geantwortet: ›Majestät, ich will gar nichts von Ihnen, aber sagen Sie mir, wie haben Sie sich gefühlt, als Sie bei mir zu Hause waren, und ich Sie vor ihren Verfolgern in meinem Bett versteckt habe, meine Frau sich oben drauf gelegt und geschrieen hat, als die Jäger kamen, die Sie gejagt haben?
Die haben gefragt: Warum schreit diese Frau? Und dann haben wir gesagt: Sie hat die Cholera! Und da sind sie erschrocken und sind weg.‹ Und so hat er sich retten können.
Also sagt der Jude: ›Wie hat sich Majestät gefühlt, als Sie bei mir im Bett und die Verfolger im Zimmer waren?‹
Sagt er: ›Verdammter Jude! Du wagst, mir eine solche Frage zu stellen? Aufhängen!‹ Und man hat ein Gestell gebaut …« Wie sagt man …?
Galgen.
»… einen Galgen, hat ihm den Strick um den Hals gelegt, und der Scharfrichter will schon den Hocker umstoßen, damit der Jude runterfällt, und da sagt der Fritz: ›Halt! Du hast mich gefragt, wie ich mich gefühlt habe. Wie fühlst Du Dich jetzt? So habe ich mich gefühlt bei Dir im Bett. Wenn ich Dir das erzählt hätte, hättest Du nichts verstanden.‹«
Ich habe also diese Geschichte erzählt und habe dann gesagt: »Herr Doktor, Sie fragen uns, wie wir osteuropäischen Juden uns in Deutschland fühlen, Sie als deutscher Jude. Man hat den deutschen Juden ins Gesicht gespuckt, obwohl viele von ihnen gar nicht wußten, daß sie Juden sind, weil sie völlig assimiliert waren. Trotzdem mußten sie flüchten, um ihr nacktes Leben zu retten. Sie sind zurück gekommen! Sagen Sie: Wie fühlen Sie sich hier?«
Und da hat er gesagt: »Sie haben recht. Wir sind in der gleichen Lage.«
Warum wir hiergeblieben sind und wie? Darauf kann man sehr unterschiedlich antworten. Sehen Sie, meinen Freund Max hier in München kenne ich, weil er mit seinem Bruder in derselben Nacht in Auschwitz angekommen ist wie ich, im Januar 1943. Er kam aus der Tschechoslowakei, ich aus Polen. Er ist mit seinem Bruder der einzige Überlebende der Familie. Jeder ist nach der Befreiung seinen eigenen Weg gegangen. Aber eigentlich sind wir denselben Weg gegangen.
Jeder war hier und hat sich irgendwie eingeordnet. Alle Wege führen nach Rom. Es kommt alles auf das gleiche heraus. Ich habe kürzlich mit einem Mann verhandelt von einem großen Konzern, von BMW, ein höherer Angestellter. Wir haben uns zweieinhalb Stunden unterhalten, das Geschäftliche hatten wir in fünfzehn Minuten erledigt. Er hat mich ausgefragt, und ich habe ihm erzählt.
Und da hat er mich gefragt: »Herr Gercek, seien Sie mir nicht bös, ich meine das nicht bös, aber wie haben Sie hier bleiben können? Wie haben Sie, nach allem, was Sie durchgemacht haben, hier bleiben können?«
Und da habe ich gesagt: »Ich kann Ihnen verschiedene Antworten geben: Wenn alle Juden nach dem Krieg Deutschland verlassen hätten, wäre Deutschland judenrein. Und damit wäre der Traum von Hitler und den Nazis erfüllt: Deutschland judenrein! Diese Satisfaktion wollten wir den Deutschen nicht geben.«
»Aber«, sagte ich, »das ist Demagogie. Nur wegen dem sind wir nicht geblieben.«
Ich kann auch sagen: Wir sind geblieben als Zeitzeugen. Adenauer hat 1949 oder 1950 ein Abkommen gemacht wegen Entschädigung. Wenn hier keine Juden gewesen wären, hätte man die drei Milliarden gezahlt, die damals vereinbart waren. Und dann: Keine Juden mehr da, keine Gewissensbisse mehr da, man hat bezahlt für alles! Für die Leiden und für die Toten, man hat bezahlt, und es gibt nichts mehr, was erinnern soll. Wir sind dageblieben, um die Deutschen zu erinnern, daß mit Geld nicht alles zu bezahlen ist.
Ich habe schon manchem gesagt: »Wenn Sie mich sehen oder einen anderen Juden, sollen Sie wissen: Ihr seid Mörder, wenn nicht Sie, dann Ihr Vater, Ihr Bruder, ein Verwandter. Ein Mörder aus Ihrer Familie war dort.«
Denn Hitler hat nicht mit einer kleinen Bande die Juden ausgelöscht, sondern mindestens eine Viertelmillion der deutschen Bevölkerung hat selber Hand angelegt dabei. Aber wenn ich sage, wegen dem bin ich dageblieben, ist es auch Demagogie.
Vielleicht, verstehen Sie, gibt es eine gewisse Satisfaktion. Deutschland ist trotz allem nicht judenrein! Hitler hat nicht gesiegt. Wir können Stellung nehmen. Wir können reagieren, wenn die Deutschen zu sehr ihr wahres Gesicht zeigen. Wobei ich auch sagen will: nicht alle Deutschen.
Ich bin mit meinem Bruder übriggeblieben, wir waren sieben Geschwister. Alle sind umgekommen, mit ihren Frauen, mit ihren Kindern, Vater, Mutter. Wir sind zu zweit geblieben. Mein Bruder war damals bei der Befreiung zweiundzwanzig Jahre alt, ich war dreißig. Wir wollten aus Deutschland weg, aber das war nicht so einfach möglich.
Aliyah Beth (geheime Einwanderung nach dem damals britisch besetzten Palästina, S.H.-W.) wollten wir nicht machen, weil wir dafür zu schwach waren. Aber abgesehen davon: obwohl ich ein Zionist seit meinem zwölften Lebensjahr war, ich war im Hachaluz haza’ir (national-jüdische Organisation zur Vorbereitung und beruflichen Ausbildung junger Juden für ein Arbeiterleben in Palästina, S.H.-W.), mein Bruder war sogar als junger Bursche im Betar (radikale jüdische Kampforganisation, S.H.-W.), aber wir hatten Verwandte in Kanada, und wir sollten nach Kanada gehen.
Und zu Beginn des Sommers ’48 – endlich! – haben wir Affidavits bekommen. Wir sind sofort zum kanadischen Konsulat. Wir sind dort untersucht worden, man hat uns geröntgt. Und wie bei Tausenden anderen auch hat man bei meinem Bruder kleine Flecken auf der Lunge entdeckt, bei mir Gott sei Dank nicht. Mein Bruder war zwar gesund. Aber er wurde zurückgestellt. Später hat mir ein Arzt gesagt, ganz saubere Lungen hätten nur die Hirten in der Schweiz, die das ganze Jahr auf der Alm leben. Naja, auf jeden Fall hat man meinen Bruder zurückgestellt. Und ein Monat später ist der Befreiungskrieg ausgebrochen. Israel war in einer sehr schlechten Situation. Mein Bruder hat gesagt, er schäme sich, nach Kanada gehen zu wollen.
»Ich gehe nach Israel«, hat er gesagt. Und zu mir sagt er: »Moische, es war doch Dein Traum, Israel! Jetzt können wir kämpfen. Wir haben doch davon geträumt, in Auschwitz, daß wir unser Leben geben würden, um uns ein eigenes Land zu erkämpfen. Jetzt haben wir die Möglichkeit!«
Gut. Ich habe gesagt: »Ich bleibe hier in Reserve, Gott behüte, sollte Dir etwas passieren, gehe ich an Deiner Stelle.«
Er ist also abgereist, vom Schiff sofort in ein militärisches Lager, um sich in den Beruf des Soldaten einzuarbeiten. Und dann wurde er an die Front geschickt. Unterwegs hat er ein Mädchen kennengelernt, das auch freiwillig gekommen war, und sie haben sich so verliebt, daß sie noch im Krieg geheiratet haben, Ende 1948 waren sie schon verheiratet, und Ende 1949 war schon ein Kind da. Mein Bruder wurde von der Armee freigestellt, Gott sei Dank hat er den Krieg ohne eine Schramme überstanden. Und jetzt ging es Israel also wirtschaftlich sehr schlecht, und mein Bruder war dort mit Frau und Kind.
Ich hatte mittlerweile einen kleinen Handel mit Schmuck, und da habe ich gesehen, ich habe nicht viel, mein Bruder hat gar nichts. Er muß leben, dort sind schwere Zeiten. Ich muß ihm helfen, auf eigenen Füßen stehen zu können. Ich habe gearbeitet, und ich habe ihm geholfen, sein Auskommmen zu haben. Für mich war es auch schwer. Mein Werdegang als Kaufmann war sehr schwer, ich bin kein Genie. Aber es ging dann langsam aufwärts, das Geschäft ist größer geworden, und ich habe die Teilhaber ausbezahlt. Inzwischen hatte ich geheiratet, und ich mußte mich einordnen.
In welchem Jahr haben Sie geheiratet?
Das war 1951.
Dann feiern Sie dieses Jahr vierzigsten Hochzeitstag.
Ja, in ein paar Tagen, aber wir kennen uns schon vierundvierzig Jahre. Wir haben uns kennengelernt, das war nicht einmal ein Jahr nach Kriegsende.
Und wo haben Sie sich kennengelernt?
Und da sagt er: »Komm rein, hier ist Rivtsche – das heißt Rivka –, Rivtsche.«
Sage ich: »Wer ist Rivtsche?«
Sagt er: »Kennst Du die nicht? Die ist doch aus unserer Stadt. Von Numce.«
»Nein.«
»Komm mit mir.«
Ich bin ihm also gefolgt, sie war bei einer Freundin zu Besuch, und ich habe mich gleich in sie verliebt. Das war ja so ein schönes Mädchen. Ihre Augen, die hatte Augen! Ich sage Ihnen, Frau Wolff, das war die jüdische Trauer und das jüdische Lachen, wie Scholem Alejchem sagt, mit dem einen Auge geweint, und mit dem zweiten gelacht. Es war so wie eine Sonne, die durch die Tränen scheint. Verstehen Sie, so einen Blick hatte sie. Sie war jung, gerade über zwanzig Jahre. Also, wir haben geheiratet, nachher hat sich herausgestellt, daß wir keine Kinder haben würden.
Mein Bruder hat noch ein Kind bekommen, Und 1956 hat die Familie die Amöbenruhr gekriegt, und ein Arzt hat gesagt, daß sie das Land verlassen müssen, weil einer den anderen angesteckt hat. Er ist dann nach Australien gegangen. Ich hatte damals schon etwas bessere Möglichkeiten, ihm bei seinem Start zu helfen.
Ich sage Ihnen, ich habe in all den Jahren gearbeitet, damit mein Bruder leben kann. Der ist nicht sehr unternehmerisch, er tut sich schwer.
Lebt er heute noch in Australien?
Nein. In Israel. Zwanzig Jahre hat er in Australien gelebt. Ich habe ihm eine gute Situation ermöglicht. Er hatte ein eigenes Haus. Ich habe ihm geholfen, ein Geschäft aufzubauen, und er hat gut gelebt. Seine beiden Töchter sind inzwischen groß geworden. Eine hat geheiratet, da habe ich noch geholfen, daß sie heiraten können, daß sie was hat. Sie hat einen Israeli geheiratet, der wollte aber nicht dort bleiben, also sind sie nach Israel.
Wie soll ich Ihnen das sagen? All die Jahre habe ich meinem Bruder geholfen, nachher seinen Kindern, und jetzt helfe ich seinen Enkelkindern. Der Älteste will schon wieder heiraten. Und ich sage zu meinem Bruder: »Hör mal, ich sehe schon, daß ich noch für Deine Urenkel sorgen werde!«
Mein Bruder ist 1978 zurück nach Israel gekommen, der hat so viel mitgebracht, daß er sich eine schöne Wohnung kaufen konnte, hatte trotzdem noch ein bißchen Geld übrig und konnte seine jüngste Tochter ausstatten. Aber die Last, die Familie zu erhalten und daß die Familie in Israel bleiben kann, liegt auf mir. Und ich habe mir gesagt, daß, wenn ich diese nicht übernommen hätte, wäre die Familie, wären die Töchter meines Bruders in Australien geblieben. Aber so lebt die Familie in Israel, die Töchter haben beide je vier Kinder.
Ich meine, um Israel zu helfen, war es meine Aufgabe, meiner Familie eine Zukunft im Land zu ermöglichen. Die leiden Gott sei Dank keinen Hunger. Ich habe ihnen geholfen, und jetzt können sie selber weiterkommen. Jetzt habe ich einen Fonds gegründet an der Bar-Ilan-Universität, für meine Begriffe mit einem ganz schönen Betrag. Von den Zinsen erhalten drei Studenten ein Stipendium, jeder erhält so dreihundert Dollar im Monat.
Was haben Sie in Deutschland für Erfahrungen gemacht?
Wir sind empfindlich. Vielleicht bin ich empfindlicher wie mancher andere Jude, weil ich mir vorgenommen habe, nicht einzustecken, sondern zurückzugeben. Sie wissen, die Christen haben so ein Postulat, das Jesus in den Mund gelegt wurde: wenn einer dir eine Backpfeife gibt, halte ihm die zweite Backe hin. Der zionistische Führer Jabotinsky, ein Radikaler, hat gesagt, wenn dir einer eine Backpfeife gibt, dann gib zwei zurück. Ich bin nicht der Meinung, daß man zwei zurückgeben soll, aber eine gebe ich zurück – und das richtig.
In jedem Fall, wenn ich was höre, – zum Beispiel meine Angestellte, die ist schon über siebzig, die ist nicht Antisemitin, aber – blöd. Die ist Buchhalterin, eine gute Buchhalterin. Sie hat auch meine Leserbriefe geschrieben.
Und einmal hat sie gesagt: »Als Christin kann ich sowas doch gar nicht schreiben, ich bin doch Christin!«
Und da habe ich gesagt: »Aber ich bin Jude, und Sie sind meine Angestellte. Ich zahle Ihnen dafür, daß Sie schreiben.«
Oder letztens (während des Golfkrieges, als Israel vom Irak aus bombardiert wurde, S.H.-W.) hat eine ehemalige Verkäuferin angerufen, und weil meine Sekretärin mich nicht stören wollte, hat sie selbst mit ihr gesprochen. Da hat die Verkäuferin gefragt: »Die große Familie von Herrn Gercek aus Israel ist doch bestimmt schon da?«
Und da hat sie gesagt: »Nein, niemand ist gekommen.«
»Ja, wieso denn, dort ist es doch jetzt so gefährlich?«
Na, und meine Sekretärin erzählt mir von dem Anruf. Und da habe ich gesagt: »Gefährlich. Was heißt gefährlich? Sind die Deutschen im Ersten oder Zweiten Weltkrieg auch alle geflüchtet, weil es gefährlich war?«
Wissen Sie, was die geantwortet hat? »Ja, die Deutschen hatten kein Geld.«
Verstehen Sie den Gedankengang? Was bei denen im Kopf ist, das ist nicht: die Deutschen waren Patrioten und wollten das Land nicht im Stich lassen, oder daß die Leute wehrpflichtig waren. Sie denken noch nicht einmal an das einfachste, daß nämlich die Grenzen gesperrt waren. Das alles existiert nicht. Die Deutschen hatten kein Geld! So. Und die Juden natürlich haben Geld.
Und da sagt Sie: »Sie sind aber empfindlich. Das habe ich doch gar nicht gemeint.«
»Nein, Sie haben nicht gesagt, die Juden haben Geld, aber gemeint haben Sie es!«
Ihre Reaktion war typisch deutsch. Und typisch antisemitisch. Ich habe ihr gesagt: »In Ihrem Gehirn ist das überlieferte Bild des Juden so eingraviert, daß Sie sich überhaupt kein anderes Bild machen können.«
Sagt sie: »Herr Gercek, ich kann mich nicht ändern. So wie ich bin, so bin ich halt.«
Sag ich: »Wenn Sie zum Beispiel von Natur aus geizig wären, und Sie hätten Geld, aber Sie wollen niemandem helfen, weil Sie sehr geizig sind, würde ich sagen: Ihre Natur, Sie können nicht Ihre Natur ändern, oder umgekehrt: Großzügige haben immer kein Geld, weil sie immer das letzte geben, so sind sie, sie können sich nicht ändern. Aber wenn Sie einen für einen Mörder gehalten haben, und man beweist Ihnen, daß er kein Mörder ist, da brauchen Sie doch nicht Ihre Natur zu ändern. Sie brauchen doch nur die Wirklichkeit einzusehen, und wenn Sie das nicht einsehen wollen, sind Sie der Ewiggestrige. Sie können nicht, weil Sie nicht wollen!«
Wissen Sie, manche von meinen Freunden lassen das so durchgehen. Sie tun so, als hätten sie nicht verstanden oder als hätten sie nicht gehört. Ich will nicht so tun; ich höre, und ich gebe denen gleich zu verstehen, daß ich es verstanden habe und reagiere.
Sind Sie nach dem Krieg jemals in die Situation gekommen, daß sie in einem Prozeß oder auf der Straße ehemalige Bewacher wiedergetroffen haben?
Nein. Ich habe niemanden getroffen. Mein Bruder hat einen ehemaligen Kapo getroffen, einen Ober-Kapo sogar.
In Deutschland?
Hier in München auf der Straße! Der hat ihn erkannt, das war ja alles nicht lange her. Mein Bruder war ja nur die ersten drei Jahre nach der Befreiung hier. Er hat ihn gesehen: »Ah, Du bist da!«
Das ist eine Geschichte! Man hat 1944 die deutschen Kapos, Ober-Kapos und Blockältesten genommen, hat ihnen SS-Uniformen angezogen und sie an die Front geschickt. Und viele von ihnen sind gleich umgekommen. Aber der ist eben nicht umgekommen, der ist vielmehr bald zurückgekommen, als SS-Mann, und unser Obersturmbannführer, der der Leiter von dem Betrieb war, in dem wir gearbeitet haben, das war ein großer Betrieb von zwölfhundert Mann, mußte also ihm, dem ehemaligen Häftling, Gustav hieß er, ein deutscher Berufsverbrecher, die Hand geben, also jemandem, der ihm vorher auf Gedeih und Verderb ausgeliefert gewesen war. Jedenfalls hat er sich dann irgendwas zuschulden kommen lassen, und schließlich haben sie ihm die Uniform wieder ausgezogen, Häftlingskleider an, und er war wieder in Auschwitz. Wir sind zusammen im Januar 1945 evakuiert worden.
Ach so, und zu mir ins Geschäft ist zufällig Otto gekommen, auch ein Kapo aus Auschwitz. Da hat er große Augen gemacht, als er mich erkannt hat. Ich hatte ihm aber nichts vorzuwerfen. Aber ich habe mal einen jüdischen Kapo getroffen, und den habe ich zusammengeschlagen. Ich habe ihn blutig geschlagen. Das war ein russischer Jude, das war ein Mörder, wirklich ein Mörder.
Haben Sie ihn auch in Deutschland getroffen?
In München.
Und wie hat er reagiert, als Sie ihn zusammengeschlagen haben?
Ich habe ihn auf einem Platz zusammengeschlagen, wo viele Juden waren, na, es war eben der Schwarzmarkt, das war 1946 oder 1947. Ich weiß noch, ich hatte einen neuen Anzug an. Als ich ihn gesehen habe, habe ich rot gesehen. Ich habe angefangen zu schlagen, das war fürchterlich. Zehn Leute haben mich dann festgehalten: »Was willst Du denn noch, er blutet ja schon!«
Aber dafür hatte ich keine Zeit. Ich habe geschlagen. Und dann haben sie mich überwältigt: »Was ist geschehen? So kennen wir Dich gar nicht.«
»Das ist ein Kapo, ein Mörder!«
»Ja, warum hast Du das denn nicht vorher gesagt?«
Da habe ich gesagt: »Ich hatte keine Zeit!«
Jedenfalls ist dieser Mann dann verschwunden. Ich bin ihm später noch einmal auf dem Marienplatz begegnet, da habe ich ihn wieder geschlagen. Die Polizei ist gekommen. Die haben gesagt: »Ja, wir können Sie gut verstehen, aber Sie müssen Zeugen suchen und ihm einen Prozeß machen.«
Ich habe dann Zeugen gesucht, aber ich habe keine gefunden. Ich hätte Zeugen von unserem Kommando gebraucht, von meiner Stube, wo er Kapo war, verstehen Sie? Ich habe keine gefunden. Jedenfalls, so ungefähr hat sich das Leben für viele Juden hier in Deutschland abgespielt.
Was ist denn aus dem Kapo geworden?
Der ist gestorben. (Herr Gercek lacht)
Da haben Sie sich gefreut!
Der hat in der Umgebung von München gewohnt, aber er ist in München gestorben. Er hat mit einer Nicht-Jüdin gelebt.
Es sind so viele Sachen passiert. Zu uns ins Geschäft ist zum Beispiel ein deutscher Unternehmer gekommen. Und da hat sich herausgestellt, daß er als Unternehmer nicht weit von Auschwitz, in Kattowitz, tätig war. Und in sein Unternehmen sind Häftlinge von unserem Lager, von Auschwitz, zum Arbeiten gekommen.
»Ach so«, sagt er, »Sie waren auch in Auschwitz! Bei mir haben doch viele Juden von Auschwitz gearbeitet, bei mir hatten die es gut!«
Soll ich ihm beweisen, daß sie es nicht gut hatten bei ihm? Verstehen Sie, es ist schwierig, so zu reagieren, daß es auch ernste Folgen hat danach. Man muß alles beweisen. Deutschland ist ein Rechtsstaat, heißt es, man muß alles beweisen können. Wissen Sie, vor zehn Jahren oder noch länger hat man zum ersten Mal den Film ›Holocaust‹ gezeigt. Haben Sie ihn gesehen?
Ja, das war 1979, vor zwölf Jahren.
Das war damals für die Deutschen eine Offenbarung, eine negative. Sie haben sich das doch gar nicht vorstellen können. Es ist doch eine bekannte Tatsache: Sechs Millionen spielen keine Rolle, aber wenn man eine Familie zeigt, die Zores von einer Familie, das wirkt! Und dann gab es überall Diskussionen. Und dann habe ich in der Zeitung gelesen, daß hier in der Nähe, in einem evangelischen Zentrum, eine Diskussion über den Holocaust stattfinden sollte. Und da denke ich mir, ich möchte sehen, wie Deutsche über den Holocaust diskutieren. Ich bin da also hin.
Da war ein großer Saal, ein Podium, und ein evangelischer Pfarrer hat die Diskussion geleitet.
Und auf einer Bank saß ein älterer Mann mit zwei jungen Leuten: »Lüge, Lüge! Nestbeschmutzer! Man will uns als Mörder hinstellen! Eine Lüge! Aufhören damit!«
Ich bin nicht dahin gegangen, um das Wort zu ergreifen, ich war dort nur aus Interesse, wie Deutsche diskutieren. Aber mir ist das so auf die Nerven gegangen, daß ich aufgestanden bin und mich zu Wort gemeldet habe. Da hat der Pfarrer gesagt: »Bitte, kommen Sie herauf.«
Auf dem Podium habe ich meine Jacke ausgezogen, habe meinen Ärmel hochgekrempelt, und ich habe ihnen gesagt, den Schreiern: »Ihr seht die Nummer, das ist die Nummer von Auschwitz. Wenn einer mir sagen will, daß Auschwitz eine Lüge ist, dann ist er ein gemeiner Lügner. Ich habe das selber miterlebt, ich war über zwei Jahre dort, in der schlechtesten Zeit.«
Wieviel man auch schreibt, wieviel man auch sagt, – viel zu wenig!
Und dann habe ich weitergesprochen, und die drei haben einen Tumult angefangen: »Genug! Der hat genug gesprochen!«
Da ist der Pfarrer aufgestanden und hat gesagt: »Dem Herrn habe ich das Wort erteilt, ich lasse ihn reden, solange er will. Und wem das nicht paßt, der kann rausgehen.« Und zu mir sagt er: »Warten Sie, geben Sie den Leuten Zeit, raus zu gehen.«
Na und ich habe gemeint, die drei werden rausgehen. Wissen Sie, wieviele rausgegangen sind? Siebzig! Dreißig sind geblieben.
Bei den Deutschen ist das so eingewurzelt, die sind nicht imstande, anders über Juden zu denken, die sehen den Juden meistens so in der Art, wie er vom Stürmer gezeichnet wurde, oder wie die Kirche den Juden gezeigt hat.
Tut es Ihnen leid, daß Sie damals in Deutschland geblieben sind?
Wissen Sie, was ein Gleichnis ist? Juden reden mit Gleichnissen. Kennen Sie Anatevka, den Fiddler auf dem Dach? Da singt doch der Tevje ein Lied: Armut ist keine Schande, aber etwas, weswegen man sich rühmen soll, ist es auch nicht. »Gott im Himmel«, sagt er, »Ich war doch arm. Armut ist keine Schande, aber stolz kann man darauf auch nicht sein.«
Ich schäme mich nicht, daß ich in Deutschland geblieben bin, aber stolz darauf bin ich auch nicht. Ich bin nicht geblieben, weil ich Deutschland so liebe. Ich bin nicht geblieben, weil mich die Not all die Jahre dazu gezwungen hätte. Ich bin dageblieben, weil ich es als meine Aufgabe gegenüber meiner Familie angesehen habe. Wenn ich nach Israel gegangen wäre, hätte ich meiner Familie nicht helfen können. Ich hätte nicht spenden können für den Aufbau von Israel. Ich habe die Satisfaktion, daß ich mein Hierbleiben nicht leichtsinnig vergeudet habe. Ich habe wirklich mit aller Kraft versucht, etwas für meine Familie zu tun, für mein Land, und mein Land ist Israel.
Sie wären bestimmt nicht jemand, der sagen würde: Ich liebe Deutschland!
Nein, das würde ich nicht sagen. Aber, es bleibt nicht aus, wenn man so viele Jahre in einem Land ist – ich liebe die Natur. München hat eine wunderbare Umgebung. Sie fahren fünfzig Kilometer raus, und Sie sind schon im Gebirge, die Seen, die Auen, die Wälder, das Grün. Ich liebe die Natur. Aber Deutschland? Ich habe zuviele Menschen hier getroffen, die unbelehrbar sind. Die große Masse steht abseits von dem, was mit den Juden geschehen ist. Die nehmen überhaupt keinen inneren Anteil daran. Das geht die nichts an. Es berührt sie nicht. Auch die jüngeren wollen davon nichts wissen. Die sagen, das haben unsere Eltern gemacht, unsere Großeltern, wir können nichts dafür, fertig.
Wie war das für Sie, als die Mauer zwischen der Bundesrepublik und der DDR aufgemacht wurde und es sich abzeichnete, daß es zu einer Vereinigung Deutschlands kommen würde?
Ich war zu der Zeit gerade in Israel, in Herzliah. Und abends saß ich auf meinem Zimmer. Ich mache das Fernsehen an und sehe die Geschichte. Das war für mich wie Tischa be’Aw (Trauertag wegen der Zerstörung Jerusalems 586 v. und 7 nach d.Z., S.H.-W.). Für mich war das ein Tischa be’Aw. Ich habe geglaubt, ich werde verrückt. Und wissen Sie, warum?
Ich habe gesagt, Gott, – wenn einer da ist – dann ist er mit den Schlechten. Am 9. November, in der Nacht, wo auch die Kristallnacht war, ist die Mauer aufgebrochen worden, die die beiden Deutschlands getrennt hatte, und das Volk hat sich wieder vereint! Das war wie ein Hohn! Ein Lohn für die Kristallnacht!
Als Mensch kann ich verstehen, daß das deutsche Volk danach gelechzt hat, daß sie davon geträumt haben. Aber daß das denen so leicht in den Schoß fiel, als Geschenk, das kann ich nicht verdauen.
Glauben Sie an Gott?
Bedingt. Ich bin, sagen wir, traditioneller Jude. Die, welche mich oberflächlich kennen, hielten mich sogar für fromm. Das bin ich nicht. Wissen Sie, ich habe über manche Momente in Auschwitz geschrieben, über Geschehnisse, die mich so berührt haben, die mir nachgegangen sind. Als wir in Auschwitz ankamen, mußten wir im Frost stehen, es war noch Nacht, das war vielleicht dreißig Grad minus. Wir mußten da stehen, und wir haben Gott gebeten, daß wir tot umfallen, weil wir das nicht mehr ertragen können. Und dann haben wir einen Kamin gesehen, einen riesigen Kamin, Rauch und Feuer, und die Leute haben so angefangen, die Nase zu rümpfen. »Es stinkt hier irgendwie wie verbranntes Fleisch!«
Und da war ein Russe, der hat gesagt: »Was? Ihr wißt nicht, was das ist? Dort verbrennt man Eure Mütter und Väter, Brüder und Schwestern! Dort werden die Vergasten verbrannt.«
Wissen Sie, ich war früher wirklich fromm, gläubig! Aber in dem Moment ist mir der Glaube so verschwunden, als wenn ich niemals einen Glauben gehabt hätte, als wenn ich niemals einen Gott gekannt hätte. Bei einer Selektion habe ich Kameraden gehört, die die Gefahr gefühlt haben, und sie haben den Sch’ma Israel (›Höre, Israel!‹, Stammgebet der Juden, S.H.-W.) gesagt. Aber mir ist der Sch’ma Israel all die Jahre nicht mehr über die Lippen gekommen.
Ich habe nicht vergessen, den Sch’ma Israel zu sagen. Ich wollte das nicht sagen!
Ich war überzeugt, das ist eine Stimme, die ruft in der Wüste, aber niemand hört sie. Und heute bin ich zurückgekehrt zum jüdischen Leben, nicht weil ich unbedingt an Gott glaube. Aber ohne Glauben bin ich mir vorgekommen wie ein Vieh, das ißt und trinkt, die Arbeit tut, die man ihm zuteilt.
Ich habe mein Geschäft, ich esse, ich trinke, aber innen ist es leer. Ich war doch von so einem ganz frommen jüdischen Zuhause. Und ich bin dann ganz langsam, ganz langsam wieder zurückgekehrt zum jüdischen Leben. Ich führe ein religiöses jüdisches Leben. Meine Küche ist eingerichtet, wie nur wenige fromme Juden sich eine Küche einrichten. Geteilt, auf der einen Seite fleischig, auf der anderen Seite milchig. Ich gehe jeden Samstag in die Synagoge, und ich bete auch, ich bete!, weil ich es so gewöhnt bin. Und mit einem Mal höre ich meine Stimme. Und ich denke mir, Moische, zu wem? Wer hört Dich?
Und wenn man mir sagt, es gibt einen Himmel, du wirst dort nachher Rechenschaft ablegen müssen, antworte ich: »Ich habe eine Verrechnung mit dem lieben Gott. Sollte er mich vor Gericht stellen, werde ich Gott herausfordern, und ich werde ihn fragen, wer hat eine größere Schuld auf sich geladen? Ich? Daß ich nicht an ihn glaube? Oder er, welcher allmächtig ist und das zugelassen hat?«
Sie haben gesagt, der 9. November war für Sie wie Tischa be’Aw. War die Mauer in Berlin wie ein umgekehrter Tempel?
Die Mauer in Berlin war für mich irgendwie wie ein Zeichen des Schicksals, eine Ausgleichsgerechtigkeit. Das, was die mit uns getan haben, ist doch einmalig in der menschlichen Geschichte. Daß die wenigstens etwas davon spüren! Da fragt man sich: Wo ist die Gerechtigkeit?
Wissen Sie, ich kann mit den Deutschen gut reden. Ich kann mich mit den Leuten gut verstehen. Und ich muß sagen, irgendwie mögen die mich. Mich, den kleinen ostpolnischen Juden mit meinem harten Akzent im Deutschen. Aber was passiert? Da sagt einer: »Kann man die Nummer im Arm nicht wegmachen lassen, das sieht doch nicht schön aus!«
Oder einer kommt in mein Geschäft: »Verzeihen Sie, bei Ihrer Aussprache sind Sie doch kein geborener Deutscher? Von wo sind Sie?«
»Aus Polen.«
»Also sind Sie Pole?«
»Nein.«
»Wieso nicht, wenn Sie doch aus Polen sind?«
Sage ich: »Wenn Sie es unbedingt wissen wollen, ich bin polnischer Jude.«
»Ach so«, sagt er zu mir, »ich kenne viele Ihrer Freunde!«
Habe ich gesagt: »Hören Sie mal, Sie sehen mich das erste Mal, und Sie kennen schon meine Freunde?«
Sagt er: »Ich meine, ich kenne Ihre Genossen.«
Sage ich: »Ich bin in keiner Partei. Ich habe keine Genossen.«
»Ja«, sagt er, «Ich kenne Ihre Glaubensgenossen.«
»Ah so«, sage ich, »Sie wollten sagen, Sie kennen auch andere Juden?«
»Ja, aber ich wollte Sie nicht beleidigen.«
»Na Donnerwetter, Sie sind gut. Wenn ich Sie frage, ob Sie Deutscher sind, fühlen Sie sich dann beleidigt?«
Sagt er: »Wieso ich? Warum?«
Sag ich: »Ja wieso ich? Ich als Jude habe mehr Gründe, stolz zu sein auf mein Judentum wie Sie auf Ihr Deutschtum. Und Sie fühlen sich so stolz, daß Sie mich beleidigen würden, wenn Sie mich direkt fragten, ob ich Jude bin? Wo denken Sie hin?«
Also, wenn man jemanden fragt: Sind Sie Jude?, das wäre wie eine Beleidigung?
Ja. Man muß einen Bogen machen, das umkreisen. Nichts wird direkt angesprochen. Wir haben auch Verbrecher. Wenn Herr Müller ein Verbrecher ist, heißt es, Herr Müller ist ein Verbrecher. Aber wenn Moses Gercek ein Verbrecher ist, sagt man: »Die Juden sind Verbrecher.« Da war ein Bankdirektor, und vor vielen Jahren war hier ein jüdischer Kaufmann, der hat sich verkalkuliert. Das war kein schlechter Mensch, nicht so einer, der Konkurs machen wollte, um mit dem Geld abzuhauen. Der hat bei dem Versuch, seinen Laden zu retten, immer größere Schulden gemacht. Und als er keinen Ausweg mehr gesehen hat, ist er aus Schande geflüchtet, nach Südamerika. Und der hat Schulden zurückgelassen. Ich hatte davon gehört, in München gibt es schließlich nicht hunderttausend Juden. Und der Kaufmann war bekannt als sehr anständiger und spendabler Mensch. Der hatte immer ein offenes Ohr und eine offene Hand für arme Leute gehabt. Und dann, eines Tages, komme ich in die Bank, um mit dem Direktor etwas zu besprechen, und da sagt er: »Herr Gercek, haben Sie von der Geschichte gehört?«
Sage ich: »Ja.«Sagt er: »Wissen Sie, was der gemacht hat?«
»Ja«, sage ich, »der ist geflüchtet wegen seiner Schulden. Hat der bei Euch viel Schulden gelassen?«
Sagt er: »Hunderttausend oder zweihunderttausend Mark.«
Sage ich: »Na hören Sie mal, die Hypo-Bank wird doch nicht wegen dem untergehen!«
»Aber«, sagt er, »das ist nicht gut für Euch!«
Sag ich: »Was heißt für Euch?«
Waren die Deutschen nach dem Krieg fleißig genug, die alten Verbrecher aufzuspüren?
Aber wo! Die haben die gedeckt, wo sie nur konnten. Die haben die gedeckt mit aller Kraft.
Man hat mich und meine Frau gezwungen, in einem Kriegsverbrecherprozeß auszusagen. Wir haben uns gesträubt mit Händen und Füßen, denn auf der Anklagebank hat der Gestapochef von Bialystok gesessen, das war eine große Stadt in Polen, in der man ein Ghetto eingerichtet hat. Und da habe ich gesagt: »Ich war nicht im Ghetto Bialystok, ich habe ihn nie gesehen«.
Da hat der Staatsanwalt gesagt, er wäre auch in dem Gebiet, wo ich war, zuständig gewesen. Da habe ich gesagt: »Wenn die Gestapo kam, haben wir uns versteckt, ich habe ihn nie gesehen!«
Wir mußten trotzdem zu dem Prozeß. Die haben uns Stunden um Stunden ausgefragt. Und der Rechtsanwalt, der Verteidiger, wollte mich unbedingt in die Enge treiben.
Und da habe ich ihm gesagt: »Sie sind mir etwas zu jung, daß Sie mich ins Kreuzverhör nehmen können und ich Ihnen das sagen soll, was Sie hören wollen. Ich kann nur das sagen, was ich gesehen habe, was ich erlebt habe.«
Und in der Pause bin ich auf den zu und habe ihn gefragt: »Hören Sie, Sie wissen doch, daß das Verbrecher sind, Mörder, Massenmörder. Wie können Sie solche Männer verteidigen? Und wie können Sie mich, das Opfer dieser Mörder, in die Enge treiben wollen. Ich soll Ihnen Material liefern zur Verteidigung dieser Mörder. Haben Sie überhaupt ein Gewissen?«
Und da hat er gesagt: »Das ist unsere Pflicht.«
Man hat die Mörder gedeckt, man hat alle Richter in ihrem Amt gelassen, und wenn wieder einmal einer als ehemaliger Nazirichter entdeckt wurde, der Menschen zu Tode verurteilt hat, hat man ihn im schlimmsten Fall in den vorzeitigen Ruhestand versetzt. Und der lebt jetzt mit einer guten Pension. Da war doch der Filbinger!, Ministerpräsident von Baden-Württemberg, der hat doch noch drei Tage vor Kriegsende ein Todesurteil ausgesprochen! Da hatten schon große Teile der deutschen Armee aufgegeben. Da war doch der Zusammenbruch schon absehbar. Und er hat noch einen Soldaten zum Tode verurteilt, weil er desertiert war, – hat es geheißen.
Was hat man gemacht? Man hat ihn beseitigt aus seinem Amt als Ministerpräsident. Wenn er noch nicht gestorben ist, lebt er noch heute und bezieht eine große Pension. Die Entnazifizierung hier war viel zu lasch. Man hat alles durchgehen lassen. Der Stasi in der DDR z.B., also der Staatssicherheitsdienst, hat sich viel weniger zuschulden kommen lassen, die haben nicht das deutsche Volk ermordet, die haben auch nicht andere Völkerschaften ermordet, aber man spürt ihnen mit viel mehr Fleiß nach als damals den Massenmördern.
Sind Sie eigentlich jemals wieder nach Polen gefahren?
Ich? Nein.
Warum nicht?
Für mich ist Polen ein großer Friedhof. Von meiner Familie ist niemand am Leben geblieben. Aus meiner Stadt, das war eine kleine Stadt von zwanzigtausend Einwohnern, da hat man uns einfach rausgetrieben. Wir mußten laufen, unter Schlägen, und die Polen haben dagestanden und die Deutschen noch angefeuert. Das waren unsere Mitbürger!
Sind in Ihrem Gefühl die Polen schlimmer als die Deutschen gewesen?
Das würde ich nicht sagen. Der Haß, den man während Jahrhunderten gegen die Juden gesät hat, der ist vielleicht bei den Polen noch tiefer gegangen, weil die primitiver wie die Deutschen waren. Aber das sind nicht solche kalten Mörder, wie die Deutschen sein können. Und sie sind nicht solche gehorsamen Untertanen wie die Deutschen. Verstehen Sie? In Polen haben sich mehrere Tausend Juden gerettet, weil Polen sie versteckt haben. Und es ist nicht wichtig, ob sie das wegen Geld gemacht haben oder aus Menschenliebe.
In Deutschland haben vielleicht dreitausend Juden überlebt, obwohl die so assimiliert waren, so viel untereinander geheiratet wurde. In Polen waren wir dagegen ein Staat im Staate. Und trotzdem haben sich viel mehr Juden in Polen gerettet!
Wir sprechen über verschiedene Länder, und ich wüßte gerne, ob Sie sich schon einmal überlegt haben, in welchem Land Sie gerne begraben wären?
Ach so, ich habe gerade vor ein paar Wochen eine Grabstätte gekauft.
Wo?
Wo soll ich kaufen? In Herzliah, Pituach. Kirjat Sha’ul, das ist der große Friedhof von Tel Aviv.
Und warum wollen Sie in Israel begraben sein und nicht in Deutschland?
Weil in Israel doch ab und zu eines meiner Kinder an unser Grab kommen wird oder ein Enkelkind. Wer würde hier an mein Grab kommen? Ich habe Ihnen gesagt, ich bin nicht aus Liebe geblieben, sondern weil ich mir überlegt hatte, daß ich meiner Familie so besser helfen kann als wenn ich auch in Israel bin. Natürlich spielt auch eine Rolle, daß man sich mit der Zeit daran gewöhnt hat, man hat sich eingeordnet, man hat Freunde, jüdische und andere, aber ich habe hier keinen einzigen Verwandten. Meine Frau auch nicht.
Wenn ich sterbe, kommen zwar Leute zu meiner Beerdigung, aber danach wird kein Hahn mehr nach mir krähen, nach mir. In Israel liege ich in jüdischer Erde, und dort ist meine Familie, dort sind Nachkommen. Und das Gefühl, daß ich mich mit israelischer Erde vermischen werde, ist beruhigend.
Sie wollten mir noch etwas zeigen, haben Sie gesagt?
(Herr Gercek zeigt die wenigen Photos seiner ermordeten Familie.)
So wie das Leben halt ist, man muß damit leben. Zuletzt wurde mir das schwer. Jetzt wurde mir das schwer, die letzte Zeit gerade. Man wird alt, man wird einsamer, ein Freund nach dem anderen stirbt. Und mit jedem, der stirbt, stirbt ein Stück von unserem Leben. Die Generation geht weg, es kommt die nächste Generation.
Frau Wolff, Sie müssen das verstehen, es ist keine Kontinuität der gleichen Kultur, der gleichen Sprache. Unser Leben, das wir in Polen hatten – ob reich oder arm, wir hatten unser reiches geistiges Leben.
Sie haben keine Ahnung, was das osteuropäische Judentum die letzten siebzig, achtzig Jahre vor dem Krieg an Kultur, an Literatur, an Dichtung geschaffen hat. Sogar in der Malerei, in jeder Richtung. Das war gigantisch. Es sind dabei Genies herausgekommen, Scholem Alejchem, das ist der Vater der jiddischen Literatur, Mendele Moicher Sforim, Jizchak Perez, – Giganten waren das! Schalom Asch, das war ein wunderbarer Erzähler.
Man hat vieles geschaffen, das war so reich! Wir haben unser Leben gehabt, das Schtetl, das jüdische Schtetl mit seinen Eigenschaften, seinen Eigentümlichkeiten, mit seinem Klang, seinem Gesang, mit seinem Rhythmus, mit den Familien!
Der Schabbes!
Wissen Sie, was ein Schabbestisch ist?
Die Mutter hat eine Tischdecke aufgelegt, die war blauweiß irgendwie, und die war gebügelt mit so richtig scharfen Kanten, und meine Mutter hat sechs Kerzen hingestellt, Leuchter, und die Kinder haben um den Tisch gesessen, jeder mit großer Achtung für die Eltern.
Es ist eine Heiligkeit, die untergegangen ist!
Schabbat sind wir spazieren gegangen, und alle trafen sich. Der war hier engagiert, der war dort engagiert, das Kulturelle!, wir haben Referate gehalten.
Das Streben, die Ideale, wofür man gekämpft hat! Das war ein so volles Leben. Voll, trotz der Armut. Das wurde vernichtet! Auf Nimmerwiedersehen. Die heutige Generation kennt das nicht. Die wissen gar nicht, was wir alles verloren haben.
Ich habe mir ein kleines Grundstück gekauft in Herzliah Pituach. Wenn mir noch die Zeit bleibt und die Möglichkeit, werde ich vielleicht noch ein paar Jahre in Israel leben können. Ich würde sagen, das Meinige habe ich getan. Ja.
geboren in Olmütz, Tschechoslowakei,
Jahrgang 1921
Wohnort: Frankfurt am Main
Wann bist Du nach Deutschland gekommen?
1950. Ich war vorher in der Schweiz.
Und vorher?
In der Tschechoslowakei. Und vorher im Lager. Ich bin in Mähren, in Olmütz, geboren und habe eigentlich bis zu meiner Deportation dort gelebt, von ein paar Abschnitten Hachschara (landwirtschaftliche oder handwerkliche Ausbildung des zukünftigen Palästina-Pioniers, S.H.-W) in anderen Gegenden abgesehen. Nach der Befreiung habe ich auch dort gelebt, bis März 1946. Dazu ist wichtig zu sagen, daß ich Berthel (Berthold Simonsohn, später Pädagoge an der Universität Frankfurt, S.H.-W.) in Theresienstadt kennengelernt habe und er deutscher Jude war, der aus Deutschland deportiert worden war. Und es war nicht sehr einfach für ihn in der Tschechoslowakei, ohne ein Wort Tschechisch zu leben. Es war aber trotzdem eine sehr schöne Zeit.
Wann warst Du auf Hachschara?
Nach dem Einmarsch der Deutschen, nach dem 15. März. Ich habe Landwirtschaft gelernt. Und dann ist im September meine Hachschara-Gruppe illegal – also illegal bezogen auf die Einreise – nach Palästina gegangen. Ich konnte wegen bürokratischer Sachen, die nicht abgewickelt waren, nicht mit und habe dann Jugendarbeit in Olmütz gemacht. Und zwischendurch bin ich immer wieder auf ein Gut, auf Hachschara, solange es noch möglich war. Und dann bin ich eben verhaftet worden.
Bist Du in Olmütz verhaftet worden?
Nein, ich bin auf Hachschara verhaftet worden, im tiefsten Böhmen und wurde durch fünf verschiedene Gefängnisse gebracht, bis ich wieder in Olmütz landete. Inzwischen war meine Mutter nach Theresienstadt deportiert worden. Mein Vater war bereits am 1. September bei Kriegsausbruch nach Buchenwald als Geisel genommen worden. Ich bin dann auch nach Theresienstadt deportiert worden, und für mich war das eine Erlösung, denn ich war als politischer Häftling, wegen Hochverrat, verhaftet worden. Den Hochverrat konnte man mir zwar nicht nachweisen, aber das war in der Zeit natürlich völlig gleichgültig. Ich sollte nach Ravensbrück als politischer Häftling kommen. Und dank einer Fürsprache des Judenältesten und des deutschen Polizeipräsidenten von Olmütz – muß man dazusagen – kam ich dann von der Abteilung 2a, politische Häftlinge, in die Abteilung 2b, rassisch Verfolgte, und dadurch bin ich nach Theresienstadt gekommen.
Warum war das eine Erlösung?
Weil die Haft furchtbar war. Ich war am Schluß in Einzelhaft, und ich habe gedacht, ich kann alles ertragen, wenn ich mit Menschen bin, die zu mir gehören. Theresienstadt war der Vorhof zur Hölle, aber es war kein Vernichtungslager. Ich habe meine Mutter wiedergesehen, ich habe einige Chawerim (Genossen, S.H.-W.) wiedergesehen, die hatten sich großartig benommen. Sie haben alles getan, daß meine Mutter nicht in den Osten kam, solange ich nicht aus dem Gefängnis raus bin. Und da habe ich eben auch Berthel kennengelernt. Er war einer der wenigen deutschen Juden, der aus Hamburg deportiert worden war. Und wir haben in Theresienstadt geheiratet und sind 1944 gemeinsam nach Auschwitz.
In Theresienstadt konnte man heiraten?
Ja, rituell, beim Rabbiner.
Mit dem Wissen der deutschen Bewacher?
Das war denen völlig gleichgültig. Wir hatten eine Selbstverwaltung. Sie haben ja gewußt, was sie am Schluß mit uns machen würden. Im September ’44 sind wir nach Auschwitz deportiert worden.
Berthel und Du zusammen?
Ja. Also, ich habe mich freiwillig zu ihm gemeldet, aber ich wäre beim nächsten Transport bestimmt dran gewesen.
Aber in Auschwitz seid Ihr doch wahrscheinlich sofort getrennt worden?
Sofort, sofort, ja. Wir haben gesagt, falls wir überleben, gibt es einen einzigen Ort, wo wir uns wiedertreffen können, und das ist Theresienstadt, denn ich war Tschechin, er war Deutscher, wo hätten wir uns treffen können?
Wir haben überlebt, durch hundert Wunder, und haben uns tatsächlich in Theresienstadt wiedergetroffen und haben das Ghetto aufgelöst mit allem, was dazugehört, ich bereits als Beamtin des Sozialministeriums, der Repatriierungsabteilung, Berthel als Angestellter. Da mußte man ja nicht Tschechisch können.
Ich bin nach Prag und habe weiter für das Ministerium gearbeitet, und Berthel, ohne ein Wort Tschechisch, aber er war der einzige, der rekonstruieren konnte, wo deutsche alte Menschen hingekommen sind.
Nach dem Krieg kamen die Soldaten aus den alliierten Armeen, weil Gott sei Dank ein großer Teil der Kinder der deutschen Juden rechtzeitig emigriert war, und wollten wissen, was mit ihren Eltern passiert war. Und da gab es eine völlig groteske Geschichte: Der Mann, der in der Evidenz in Theresienstadt gearbeitet und dem man befohlen hatte, alle Listen zu vernichten, hat die deutschen Deportationslisten vernichtet, die tschechischen aber nicht. So daß der Berthel nur rekonstruieren konnte durch die Memo-Bücher, wo also der Tod eingetragen war und durch die Deportationslisten nach Auschwitz, die aber nicht nach Nationalitäten geordnet waren, sondern nach Transporten. Und die ganzen Anfragen aus dem Ausland, von den englischen und französischen Organisationen, die hat also Berthel bearbeitet.
Was habt Ihr erfahren, was Eure eigenen Angehörigen anbetraf?
Das ist genau der Grund, warum wir überhaupt in die Schweiz kamen. Ich wußte, daß meine beiden Eltern umgekommen waren, meine Mutter in Auschwitz. Berthels Vater war bereits vor dem Krieg tot und seine Mutter ist in Theresienstadt gestorben. Seine Schwester ist mit diesem Transport, – das wissen so wenige Leute: der Himmler wollte sich noch schnell einen guten Punkt ’45 machen und hat mit dem Grafen Bernadotte und von jüdischer Seite mit Masur aus Stockholm einen Transport von tausend Juden im Februar 1945