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Eine unterhaltsame Lektion in Weltpolitik und Weltgeschichte Sie wehen vor der UNO, auf Parlamenten, Palästen und in amerikanischen Vorgärten – und sie werden benutzt, um Gräueltaten zu rechtfertigen. Tim Marshall erklärt die Flaggen der Welt, jene von Großmächten, staatenübergreifenden Organisationen, aber auch solche, die Hass und Terror verbreiten sollen. Als Experte für außenpolitische Fragen erläutert er die Historie und die Wirkung der Flaggen und erzählt anhand dieser Symbole Weltpolitik und Weltgeschichte. Auch Kuriositäten kommen nicht zu kurz: zum Beispiel das Zeremoniell für die Bestattung der Stars and Stripes, wenn das bunte Stück Tuch zu zerschlissen ist und der Repräsentation der USA nicht mehr würdig.
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Seitenzahl: 380
Tim Marshall
Im Namen der Flagge
Die Macht politischer Symbole
Aus dem Englischen von Birgit Brandau
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
»Ich bin nicht mehr als du glaubst, dass ich bin, und ich bin all das, was du glaubst, was ich sein kann.«
Die US-Flagge »im Dialog« mit dem amerikanischenInnenminister Franklin K. Lane am Flag Day 1914
Am 11. September 2001, nachdem sich die Flammen gelegt und der Staub weitgehend gesetzt hatten, kletterten drei New Yorker Feuerwehrleute auf die noch rauchenden Trümmer des World Trade Center und hissten die amerikanische Flagge.
Die Aktion war nicht geplant und es waren keine offiziellen Fotografen dabei: Die drei Männer folgten einfach ihrem Impuls, inmitten von Tod und Zerstörung »ein Zeichen« zu setzen. Tom Franklin, der Fotograf einer Lokalzeitung, hielt den Moment fest. Später erklärte er, sein Bild hätte ihn »etwas über die Stärke des amerikanischen Volks gelehrt«.
Wie konnte ein buntes Stück Tuch eine solche Schlagkraft haben, dass das Foto nicht nur überall in den USA, sondern in Zeitungen auf der ganzen Welt abgedruckt wurde? Die Bedeutung einer Flagge entspringt den Gefühlen, die sie weckt. »Old Glory«, wie die Amerikaner ihre Flagge nennen, spricht auf eine ganz besondere Weise zu ihnen, die man als Nichtamerikaner schlicht nicht kennt – doch wir können das verstehen, weil viele von uns ähnliche Gefühle gegenüber unseren eigenen Symbolen für Nationalität und Zugehörigkeit haben. Man kann unverhohlen positive oder auch negative Ansichten darüber haben, wofür die eigene Flagge steht, aber eines ist klar: Dieses simple Stück Tuch ist die Verkörperung der Nation. Geschichte, Geographie, Volk und Werte eines Landes sind allesamt in dem Tuch, seiner Form und den Farben, mit denen es bedruckt ist, symbolisiert. Es ist mit Bedeutung versehen, auch wenn diese Bedeutung für die verschiedenen Menschen unterschiedlich ist.
Alle Flaggen dieser Welt sind zugleich einzigartig und ähnlich. Sie alle sagen etwas aus – manchmal vielleicht auch zu viel.
Das war zum Beispiel im Oktober 2014 der Fall, als die serbische Fußballnationalmannschaft die albanische im Stadion Partizana in Belgrad empfing. Es war der erste Auftritt der Albaner in der serbischen Hauptstadt seit 1967. Die dazwischenliegenden Jahre waren vom jugoslawischen Bürgerkrieg geprägt, zu dem auch der Konflikt mit den ethnischen Albanern im Kosovo gehörte. Dieser hatte 1999, nachdem die NATO drei Monate lang serbische Militärstützpunkte, Städte und Dörfer bombardiert hatte, mit der faktischen Abspaltung von Serbien geendet. 2008 erklärte sich der Kosovo schließlich einseitig zum unabhängigen Staat. Dieser Schritt wurde von Albanien unterstützt und von vielen Ländern anerkannt – bezeichnenderweise gehörte Spanien nicht dazu. Man ging davon aus, dass der Anblick einer kosovarischen Flagge, die über der Hauptstadt eines unabhängigen Kosovo wehte, der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung Auftrieb verschaffen könnte.
Sechs Jahre später waren die Spannungen zwischen Serbien und dem Kosovo – und auch Albanien – nach wie vor groß. Da auswärtige Fans mit Sicherheit angegriffen worden wären, waren sie nicht zugelassen.
Das Spiel war wenig temporeich, die Atmosphäre jedoch aufgeheizt. Von den Rängen erschallten laute »Schlachtet die Albaner ab«-Sprechchöre. Kurz vor der Halbzeitpause entdeckten Fans und dann einige der Spieler eine ferngesteuerte Drohne, die sich aus dem Nachthimmel langsam in Richtung Mittellinie bewegte. Später stellte sich heraus, dass sie von einem 33-jährigen albanischen Nationalisten namens Ismail Morinaj gesteuert worden war, der sich in einer Kuppel der nahe gelegenen Erzengel-Gabriel-Kirche versteckt hatte, von wo aus er das Spielfeld sehen konnte.
Als sich die Drohne senkte, machte sich eine erstaunte Stille im Stadion breit, und als sie sich schwebend der Mittellinie näherte, brach das Stadion in einen kollektiven Wutausbruch aus. Die Drohne trug eine albanische Flagge.
Und es handelte sich dabei nicht bloß um die Landesflagge, die für sich genommen schon zu Problemen geführt hätte. Diese Flagge trug neben dem doppelköpfigen schwarzen albanischen Adler die Bilder zweier albanischer Freiheitskämpfer vom Anfang des 20. Jahrhunderts und eine Karte von »Großalbanien«, das auch Teile von Serbien, Mazedonien, Griechenland und Montenegro einschließt. Zudem schmückte sie das Wort »autochthon«, der Hinweis auf die »indigenen« Bevölkerungsgruppen. Die Botschaft lautete, dass die Albaner, die sich als Nachfahren der Illyrer des 4. vorchristlichen Jahrhunderts betrachten, die rechtmäßigen Bewohner der Region seien – und nicht die Slawen, die erst im 6. Jahrhundert nach Christus kamen.
Der serbische Verteidiger Stefan Mitrović langte nach oben und griff sich die Flagge. Später erklärte er, dass er sie »so ruhig wie möglich« zusammenlegen wollte, um sie »dem vierten Offiziellen zu übergeben«, damit das Spiel fortgesetzt werden konnte. Zwei albanische Spieler entrissen ihm die Flagge, und damit lief die Sache aus dem Ruder. Mehrere Spieler begannen sich zu prügeln, dann stürmte ein serbischer Fan von den Rängen auf das Spielfeld und schlug dem albanischen Kapitän mit einem Plastikhocker auf den Kopf. Als weitere serbische Zuschauer auf das Feld liefen, kam das serbische Team zur Besinnung und versuchte, die albanischen Spieler zu schützen, die das Spiel Spiel sein ließen und Richtung Kabine rannten. Wurfgeschosse hagelten auf sie herab, während Ordnungskräfte die Fans auf den Rängen zu bändigen suchten.
Die politischen Folgen waren dramatisch. Die serbische Polizei durchsuchte die Kabine der albanischen Spieler und bezichtigte danach den Schwager des albanischen Premiers, er habe die Drohne vom Rang aus gesteuert. Die Medien beider Länder verfielen in hyperventilierenden Nationalismus. Der serbische Außenminister Ivica Dačić erklärte, sein Land sei »provoziert« worden, und sagte, »wenn irgendein Serbe eine großserbische Flagge in Tirana oder Priština entrollt hätte, stünde das schon längst auf der Tagesordnung des UN-Sicherheitsrats«. Ein paar Tage danach wurde der geplante Besuch des albanischen Premiers in Serbien, der erste nach fast siebzig Jahren, abgesagt.
George Orwells Spruch, Fußball sei »Krieg ohne Schießerei«, erwies sich als wahr, und angesichts der instabilen Lage auf dem Balkan hätte die Mischung aus Fußball, Politik und einer Flagge erneut zu einem ernsthaften Konflikt führen können.
Die amerikanische Flagge auf den Trümmern der Zwillingstürme zu hissen, prophezeite einen Krieg. Tom Franklin sagte, als er sein Foto machte, sei ihm die Ähnlichkeit mit einem berühmten Bild aus einem früheren Konflikt bewusst gewesen – dem von –US-Marines, die im Zweiten Weltkrieg die amerikanische Flagge auf Iwojima hissten. Vielen Amerikanern dürfte die Parallele sofort aufgefallen sein, ebenso wie die Tatsache, dass beide Ereignisse mit widerstreitenden Gefühlen verbunden sind: mit Trauer, Mut und Heldentum, mit Trotz, kollektiver Ausdauer und Anstrengung.
Beide Fotos, vielleicht noch stärker das vom 11. September, rufen auch die letzten beiden Zeilen der ersten Strophe der amerikanischen Nationalhymne »The Star-Spangled Banner« ins Gedächtnis:
O say does that star-spangled banner yet wave
O’er the land of the free and the home of the brave?
(O! Sagt, ob das Banner, mit Sternen besät,
Überm Land der Freien und Tapferen noch weht?)
In einem Moment tiefgreifenden Schocks für das amerikanische Volk war der Anblick der wehenden Flagge für viele beruhigend. Dass die Sterne der fünfzig Bundesstaaten von Männern in Uniform hochgehalten wurden, ließ sicherlich die militaristische Färbung der amerikanischen Kultur anklingen, aber das Rot, das Weiß und Blau inmitten des schrecklichen Graus der Zerstörung auf Ground Zero zu sehen, das dürfte auch vielen normalen Bürgern dabei geholfen haben, mit den anderen, zutiefst verstörenden Bildern umzugehen, die sie an diesem Herbsttag aus New York erreichten.
Woher stammen diese Nationalsymbole, denen wir so verbunden sind? Flaggen sind ein verhältnismäßig neues Phänomen in der Menschheitsgeschichte. Ihre Vorläufer sind Standarten und auf Tuch gemalte Symbole, die schon von den alten Ägyptern, Assyrern und Römern benutzt wurden, aber die chinesische Erfindung der Seide ermöglichte den Flaggen, wie wir sie kennen, ihren Aufstieg und ihre Ausbreitung. Herkömmliches Tuch war zu schwer, um es in die Höhe zu halten, zu entrollen und im Wind flattern zu lassen, insbesondere, wenn es bemalt war. Seide war viel leichter, was bedeutete, dass die Banner beispielsweise Armeen auf das Schlachtfeld begleiten konnten.
Der Stoff und der Brauch verbreiteten sich entlang der Seidenstraße. Die Araber waren die Ersten, die beides übernahmen, und die Europäer folgten ihnen, nachdem sie bei den Kreuzzügen damit in Kontakt gekommen waren. Diese Feldzüge und die großen westlichen Armeen, die teilnahmen, haben den Gebrauch von heraldischen Symbolen und Wappenkennzeichen, mit denen die Beteiligten leichter identifiziert werden konnten, vorangetrieben. Diese heraldischen Bedeutungen wurden dann mit Rang und Herkunft verknüpft, insbesondere bei Herrscherdynastien, und das ist einer der Gründe, warum europäische Flaggen sich aus der Verbindung mit Schlachtfeld-Standarten und Marinezeichen zu Symbolen der Nationalstaaten entwickelt haben.
Heute wird jeder Staat der Erde durch eine Flagge repräsentiert – ein Zeugnis für den Einfluss, den Europa auf die moderne Welt hatte, als seine Imperien expandierten und seine Vorstellungen sich rund um den Globus verbreiteten. Johann Wolfgang von Goethe sagte einst zu Francisco de Miranda, dem Designer der Flagge von Venezuela, dass die Entstehung eines Landes mit einem Namen und einer Flagge beginne; dann erst verkörpere es diese Symbole, ganz so, wie ein Mann seiner Bestimmung folgt.
Was bedeutet es, wenn man ein Land mit einer Flagge verkörpern will? Es bedeutet, dass man eine Bevölkerung hinter gemeinsamen Vorstellungen von Idealen, Zielen, Geschichte und Glauben vereinen muss – eine nahezu unmögliche Aufgabe. Doch wenn Leidenschaften geweckt werden, wenn der Feind sein Banner hochhält, dann versammeln sich Menschen um ihr eigenes Symbol. Flaggen haben viel zu tun mit unseren traditionellen Stammesverbindungen und der Wahrnehmung von Identität – der Vorstellung »wir gegen die«. Viel von der Symbolik bei der Flaggengestaltung basiert auf diesem Konzept von Konflikt und Gegnerschaft – wie beispielsweise bei der verbreiteten Farbe Rot, die für das Blut des Volkes steht. Doch welche Rolle spielen Flaggen in einer modernen Welt, die bestrebt ist, Konflikte abzubauen und die Ideale Einheit, Frieden und Gleichheit zu stärken, in der Bevölkerungsbewegungen die Grenzen zwischen »uns« und »den anderen« verwischt haben?
Unbestritten ist, dass diese Symbole nach wie vor in der Lage sind, viel Macht auszuüben, rasch Vorstellungen zu vermitteln und starke Gefühle hervorzurufen. Es gibt heute mehr Nationalstaaten als je zuvor, aber auch nichtstaatliche Akteure benutzen Flaggen als eine Art visuellen Slogan, um Konzepte zu vermitteln, die von Banalitäten wie Sonderangeboten bis zu Verbrechen wegen Religion und Rasse reichen. Das konnten wir in neuerer Zeit häufig beobachten, vom Hakenkreuz der Nazis – ein Symbol, das auch heute noch starke Reaktionen auslöst – bis zum Aufstieg des Islamischen Staats (IS) und seiner Betonung religiöser oder auf den Propheten bezogener Symbole, die Aufmerksamkeit erregen und – manchmal – Anhänger mobilisieren können.
In diesem Buch könnten Hunderte weiterer Geschichten erzählt werden, beispielsweise die der Flaggen von jedem einzelnen Nationalstaat. Aber damit würde es zum Nachschlagewerk, zudem zu einem sehr, sehr dicken. Stattdessen erzählt es von einigen der bekannteren Nationalflaggen, von einigen merkwürdigen und einigen, die besonders interessante Geschichten haben. In den meisten Fällen ist die ursprüngliche Bedeutung von Mustern, Farben und Symbolen nach wie vor relevant, doch manchmal hat sich diese Bedeutung gewandelt, und dann steht die Flagge heute für etwas anderes. Die Bedeutung liegt im Auge des Betrachters.
Wir beginnen mit der Flagge, die wohl am häufigsten auf der Welt zu sehen ist: den Stars and Stripes, der visuellen Umsetzung des amerikanischen Traums. Sie wird von der Mehrheit der Bevölkerung zutiefst verehrt und ist das beste Beispiel dafür, wie eine Flagge es schaffen kann, ein Land zu symbolisieren und zu vereinen. Von einer heutigen Weltmacht gehen wir zu einem ehemaligen Weltreich: Der Einfluss des Union Jack reichte bis in die entlegensten Winkel der Erde. Die Flagge repräsentiert die geschlossene Fassade eines riesigen Reiches, aber dahinter haben auf den Britischen Inseln starke Nationalgefühle überlebt, die nicht geschwunden sind.
Die Flagge der Europäischen Union soll ebenfalls vereinen, doch auf einem Kontinent mit tief verwurzelten nationalen Identitäten zieht es viele Europäer mehr denn je zu ihren Nationalflaggen. Manche dieser Flaggen beruhen auf christlichen Vorstellungen, aber im Lauf der Zeit haben sich die religiösen Assoziationen weitgehend verflüchtigt. Das gilt nicht für die arabischen Länder: Ihre Flaggen zeigen oft mächtige islamische Symbole und vermitteln Vorstellungen, die die Bevölkerung ansprechen. Die Symbolik ist stark, die Nationalstaaten sind schwächer. Doch die Zukunft kann weitere Veränderungen der Form dieser Länder und ihrer Flaggen bringen. Möglicher Katalysator dafür sind die verschiedenen Terrorgruppen, die in dieser Region operieren. Es ist wichtig, die Aktionen und den Einfluss dieser Organisationen, die auf unseren Fernsehschirmen dauerpräsent sind, zu verstehen. Gruppen wie der IS benutzen mit großem Erfolg auch religiöse Symbolik, sie flößen Furcht ein und verschaffen sich so weltweit Gehör.
In Asien finden wir Flaggen, die den stürmischen Wandel von Vorstellungen, Völkern und Religionen im 20. Jahrhundert und noch weit früher widerspiegeln. Viele dieser modernen asiatischen Nationalstaaten haben bei der Gestaltung ihrer Flaggen auf die Wurzeln ihrer uralten Zivilisationen zurückgegriffen, häufig als Reaktion auf einen Wendepunkt ihrer Geschichte, auf eine Vermischung von Alt und Neu. Im Gegensatz dazu finden wir in Afrika die Farben einer sehr modernen Vorstellung von diesem Kontinent, der die Fesseln des Kolonialismus abgeworfen hat und dem 21. Jahrhundert mit zunehmendem Selbstbewusstsein entgegentritt. Die lateinamerikanischen Revolutionäre halten sich enger an die kulturellen Bindungen zu den Kolonisatoren, die unsere Welt geformt haben, und viele der Flaggen dieses Kontinents spiegeln die Ideale der »Staatenbauer« des 19. Jahrhunderts wider.
Flaggen sind mächtige Symbole, auch für andere Organisationen als Staaten. Sie können Bedrohung verkörpern, aber auch Frieden oder Solidarität, und ihre Botschaft wird in Zeiten von sich wandelnden Identitäten überall auf der Welt erkannt.
Wir schwenken Flaggen, verbrennen sie, hissen sie vor Parlamenten und Palästen, Wohnhäusern und Geschäften. Sie repräsentieren die Politik der Großmächte und die Macht des Mobs. Viele haben verborgene Geschichten, die bis in die Gegenwart fortwirken.
Wir erleben heute auf lokaler, regionaler, nationaler, ethnischer und religiöser Ebene das Wiedererwachen von Identitätsbestrebungen. Macht verlagert sich, alte Gewissheiten zerfallen – in solchen Zeiten greifen Menschen nach vertrauten Symbolen, um in einer turbulenten, sich verändernden Welt ideologische Anker zu haben. Die Wirklichkeit eines Landes reicht nicht unbedingt an die Ideale heran, die seine Flagge verkörpert, trotzdem kann die Flagge, um noch einmal Franklin K. Lane zu den Stars and Stripes zu zitieren, »all das, was du glaubst, was ich sein kann« sein.
Eine Flagge ist ein emotionsbeladenes Emblem. Sie hat die Macht, Gefühle zu wecken und zu verkörpern, die so stark sind, dass manchmal Menschen diesem bunten Tuch sogar in den Kugelhagel folgen, um für das zu sterben, was es symbolisiert.
ERSTES KAPITEL
»Sie ist nicht aus Fäden gewebt, sondern aus Verachtung, Zügellosigkeit, Schwäche und Habgier.«
Charles Evans Hughes, US-Außenminister 1921–1925
Anhänger der verbotenen Organisation Jamaat ud-Dawa verbrennen die amerikanische Flagge im Mai 2016 im pakistanischen Quetta, um gegen einen US-amerikanischen Drohnenangriff auf pakistanischem Boden zu protestieren.
O! say, can you see by the dawn’s early light« (O! Sagt könnt ihr seh’n in des Morgenrots Strahl)? In den USA ist die Antwort ein inbrünstiges Ja. Vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung ist Amerika eine Orgie in Rot, Weiß und Blau. Die Flagge weht auf Regierungsgebäuden, Supermarkthallen und Autohäusern, von den Dächern der großartigsten Anwesen bis zum Garten des bescheidensten, mit einem weißen Zaun umgebenen Eigenheims, vom Blockhaus bis zum Weißen Haus. Jeden Morgen, wenn sich »God’s Own Country« daran macht, jeden Tag aufs Neue die erfolgreichste Nation zu schaffen, die die Erde bisher gesehen hat, wird sie an Millionen Fahnenmasten gehisst.
Das Sternenbanner ist die Flagge, die wie keine andere auf der Welt bekannt ist, die geliebt, gehasst, respektiert, gefürchtet und bewundert wird.
Sie weht über mehr als 700 Militärstützpunkten in mehr als sechzig Ländern rund um den Globus, in denen über eine Viertelmillion US-Soldaten stationiert sind, die im Ausland dienen. Manche Menschen in diesen Ländern erinnert der Anblick der Stars and Stripes daran, dass ihre Sicherheit ein Stück weit von den Soldaten der Supermacht abhängt. Für Amerikakritiker ist sie hingegen ein Symbol für angemaßte Macht und Hybris. Sie repräsentiert die mittlerweile überholte Nachkriegsordnung oder gilt sogar als Flagge des Imperialismus. Der Anblick der Flagge vor einem Stützpunkt in Polen lässt sicherlich andere Emotionen aufkommen als im Irak. Eine japanische Fangflotte vor der Küste der Insel Taiwan hinterfragt das Recht, auf dessen Basis ein Flugzeugträger mit dem Sternenbanner durch die Meeresstraßen pflügt, nicht in der gleichen Weise, wie das eine chinesische Flotte tut. Die Gefühle gehen so weit auseinander, dass manche Amerikagegner, insbesondere die der äußersten Linken in Europa, sie mit Hakenkreuzen statt mit Sternen bestücken und damit ihr mangelndes Geschichtswissen demonstrieren. Dies wiederum ist völlig abwegig für unzählige Menschen, die die USA bewundern und sich in Notzeiten tatsächlich auf Uncle Sam verlassen.
Amerikaner erinnert der Anblick ihrer Flagge im Ausland lediglich daran, wie sehr sich ihr Land in der Welt einsetzt, und an die Teilnahme an verschiedenen Kriegen. Kritik an ihrer Flagge nährt die anhaltende Debatte über Isolationismus und Engagement, die in den USA geführt wird. Präsident Bush verwickelte die US-Streitkräfte in neue Kriege im Ausland, Präsident Obama versuchte, sie wieder zurückzuholen; er erlebte die Komplexitäten der Außenpolitik und musste letztendlich mehr militärische Eingriffe im Ausland vornehmen als sein Vorgänger. Auch sein Nachfolger im Weißen Haus wird vermutlich erkennen müssen, dass die Anwesenheit der mächtigen Amerikaner auf der internationalen Bühne wohl oder übel unverzichtbar ist.
Amerikaner verehren ihre Flagge auf eine Weise, wie das wenige andere Völker tun. Die Primärfarben der Flagge sind das primäre Symbol nationaler Identität, und manchmal werden die Stars and Stripes auch als Kunstform betrachtet. Der Maler Jasper Johns hat ihnen weite Strecken seiner Karriere gewidmet, um sie auf Leinwand, mit dem Stift oder in Bronze abzubilden und auf vielen anderen Oberflächen darzustellen. Für ihn sind sie keine Ikone, die man bewirbt oder verunglimpft; den Künstler fasziniert die reine Macht, für die sie stehen, und die Emotionen, die sie wecken. Auch Andy Warhol griff das Motiv des Sternenbanners auf und entwickelte es weiter, verwies in seinen visuellen Kommentaren zu Amerika und zum Amerikanischen darauf. Beispielsweise nahm er Neil Armstrongs Foto, das Buzz Aldrin neben der Flagge auf dem Mond zeigt, mischte es mit weiteren Bildern von dem epochalen Flug und färbte das Ganze, inklusive Flagge, in Pink- und Blautönen ein. Warhols Kunst war nicht unmittelbar politisch, er würdigte einen bemerkenswerten Moment der Geschichte wie auch die Zeit, in der er stattfand. Die psychedelische Anmutung seiner Siebdrucke spiegelt die technologische Brillanz dieses Ereignisses Ende der 1960er. Bruce Springsteens erfolgreichstes Album, ›Born in the USA‹, ziert ebenfalls die Flagge; es wurde heftig spekuliert, welche Absichten hinter dem Cover standen und welche politische Botschaft es vermitteln sollte. Springsteen sagte dazu in einem Interview mit der Zeitschrift ›Rolling Stone‹: »Die Flagge ist ein mächtiges Bild, und wenn man dieses Zeug in die Welt setzt, kann man nicht wissen, was daraus gemacht wird.«
An der politischen Front wurde die Flagge 1984 mit ungeheurem Effekt bei Ronald Reagans richtungsweisendem TV-Spot ›Morning in America‹ eingesetzt. Am Ende des 59 Sekunden langen Wahlkampfspots meldet sich die Stimme aus dem Off: »Wieder wird es Morgen in Amerika«, und dann schaut die Zukunft von Uncle Sam – kleine Kinder – voller Bewunderung zu, wie die Stars and Stripes in einen neuen Tag emporgleiten, einen Tag der Hoffnung. Der Sonnenaufgang, die Flagge und die Aussicht auf eine glänzende Zukunft sprachen das kollektive Bewusstsein einer Nation an, die sich noch nicht vom Vietnamkrieg erholt hatte und die nach der Carter-Präsidentschaft (1977–1981), als der Iran die USA mit der Geiselnahme in der Botschaft in Teheran gedemütigt hatte, verunsichert war.
Jeden Morgen in der Schule sprechen die amerikanischen Kinder den folgenden Text: »Ich schwöre Treue auf die Fahne der Vereinigten Staaten von Amerika und die Republik, für die sie steht, eine Nation unter Gott, unteilbar, mit Freiheit und Gerechtigkeit für jeden.« Dieser Treueschwur, der erstmals 1892 veröffentlicht wurde und sich nach und nach über das Land verbreitete, war hilfreich, um nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg und in einer Zeit hoher Immigrationszahlen eine nationale Identität zu formen. Die Flagge wurde eingesetzt, um Loyalität und Einheit in einem zersplitterten und disparaten Land zu fördern. Generationen von Amerikanern standen seither stramm, die Hand auf dem Herzen, um dieses Symbol der Nation jeden Morgen zu grüßen. Der Schwur wurde offizielles Ritual, als 1923 der National Flag Code (Verhaltensrichtlinien zum Umgang mit der Nationalflagge) bei der National Flag Conference angenommen wurde. Zu diesem Zeitpunkt hatten ihn bereits 28 Bundesstaaten in ihre Schulfeiern integriert. 1942 wurde er vom Kongress ins Flaggengesetz aufgenommen, 1943 fiel ein Urteil, dass es nicht verfassungsgemäß sei, den Schwur zur Pflicht zu machen. Doch seine Ableistung ist immer noch weit verbreitet. Etwas Vergleichbares gibt es in so gut wie keiner anderen modernen Demokratie.
Tag für Tag flattern diese Rechtecke aus buntem Tuch auf dem Kontinent zwischen den beiden schimmernden Weltmeeren im Wind, ihr Bild ist in jedem Laden, in jeder Schule, an jedem Arbeitsplatz und in jeder Verwaltung zu sehen. Und wenn es geboten ist, »Old Glory« am Abend herunterzunehmen, oft mit einer großen Zeremonie und genauer Richtlinienbefolgung, geschieht das langsam, um sicherzustellen, dass kein Teil davon den Boden berührt, sondern »helfende Hände« sie aufnehmen. Der Flag Code besagt: »Es ist allgemeiner Brauch, die Flagge auf Gebäuden und an feststehenden Masten nur vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang im Freien zu präsentieren. Soll ein besonderer patriotischer Effekt erzielt werden, kann die Flagge auch 24 Stunden gezeigt werden, wenn sie während der Dunkelheit ausreichend beleuchtet wird.« Es gibt acht Arten von Örtlichkeiten, an denen es erlaubt ist, die Flagge Tag und Nacht wehen zu lassen. Dazu gehören das Fort McHenry National Monument in Baltimore, das US Marine Corps Iwo Jima Memorial in Arlington, das Weiße Haus und alle Einreisehäfen der US-Zollbehörde.
Vielen Amerikanern ist ihre Flagge ein nahezu heiliges Symbol. Sie verkörpert das, was sie als »eine Nation unter Gott« bezeichnen, und amerikanische Politiker haben des Öfteren eine Formulierung aus der Bergpredigt Jesu paraphrasiert und den Anspruch geltend gemacht, Amerika sei »eine leuchtende Stadt auf einem Berg«. Ob man es glauben mag oder nicht, die Flagge ist Gegenstand von Liedern, Gedichten, Büchern und Kunstwerken. Für ihr Volk repräsentiert sie dessen Kindheit, seine Träume, seine erste Auflehnung gegen die Tyrannei und nun seine Freiheiten. Ihre Geschichte steht für die amerikanische Geschichte, und die Gefühle, die die Amerikaner ihr entgegenbringen, stellen die Geschichte einer Nation dar. Keine andere Nationalflagge erfährt auch nur annähernd die Ehrerbietung, die die US-Flagge genießt – oder löst auch nur annähernd so viele positive und negative Emotionen aus.
Es vergingen 183 Jahre mit zahlreichen Verbesserungsschritten, bis die Flagge so aussah, wie wir sie heute kennen. Die gegenwärtige Version mit ihren 50 fünfzackigen Sternen, die die 50 Bundesstaaten der Union repräsentieren, ist vielleicht nicht die letzte. Prototypen der Flagge kamen Mitte der 1760er auf, noch vor der Geburt der Nation, und noch heute hören wir das Echo jener Tage bei der modernen konservativen Tea Party anklingen. Sie hat ihren Namen von den ursprünglichen »Söhnen der Freiheit« übernommen, die 1773 im Hafen von Boston 342 britische Kisten mit Tee über Bord warfen, um gegen unfaire Steuern zu protestieren. Dieses Ereignis, das als Boston Tea Party bekannt wurde, bekräftigte den Anspruch von Massachusetts, Heimat der »Patrioten« zu sein, im Gegensatz zu einem zunehmend als fremd wahrgenommenen Großbritannien. Die Söhne der Freiheit hatten eine Flagge mit neun weißen und roten horizontalen Streifen, und es wird, auch wenn es keinen Beweis dafür gibt, angenommen, dass das Grunddesign der Stars and Stripes hiervon übernommen wurde.
Während der ersten Scharmützel zwischen den Briten und den Kolonialmilizen im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg kämpften die Soldaten der Rebellen unter einer Fahne, die als »Continental« oder auch »Grand Union« bekannt war. Sie trug dreizehn abwechselnd rote und weiße Streifen, die die dreizehn abtrünnigen Kolonien symbolisierten. Am 4. Juli 1776 erklärte der Kongress die Unabhängigkeit von Großbritannien und verabschiedete ein Jahr später das erste von drei größeren Flaggen-Gesetzen. Das Marine Committee des Zweiten Kontinentalkongresses verabschiedete die Resolution, »dass die Flagge der Vereinigten Staaten aus dreizehn Streifen, abwechselnd rot und weiß, besteht; dass die Union durch dreizehn Sterne dargestellt wird, weiß auf blauem Feld, die eine neue Konstellation repräsentieren.« Die Anzahl stand jeweils für die dreizehn nun unabhängigen Kolonien, die die nagelneuen (aber damals nicht ganz so glänzenden) Vereinigten Staaten von Amerika bildeten.
Das Gesetz legte allerdings nicht fest, wie die Sterne angeordnet sein sollen und ob die Streifen vertikal oder horizontal verlaufen müssen. Deshalb gilt es als zulässig, wenn die Flagge heute so gehängt wird, dass die Streifen vertikal erscheinen. Und warum Sterne? Das wurde damals nicht erklärt, aber eine Veröffentlichung des Repräsentantenhauses aus dem Jahre 1977 hält fest: »Der Stern ist das Symbol des Himmels und steht für das göttliche Ziel, das der Mensch seit undenklichen Zeiten anstrebt.«
Ebenso wenig wurde der Symbolgehalt der Farben erklärt. Jedenfalls entsprechen sie denen des Großen Siegels der Vereinigten Staaten, dessen Gestaltung der Kongress 1776 in Auftrag gab. Dem Komitee, das mit dieser Aufgabe betraut war, hatte man mitgegeben, es solle etwas entwickeln, das die Werte der »Gründerväter« widerspiegle. Es wählte Rot, Weiß und Blau, und das Große Siegel wurde 1782 angenommen. Als das Siegel dem sogenannten Kontinentalkongress, an dem damals dreizehn nordamerikanische Kolonien teilnahmen, vorgestellt wurde, erklärte der Schriftführer Charles Thomson: »Die Farben sind jene, die in der Flagge der Vereinigten Staaten von Amerika verwendet werden. Weiß steht für Reinheit und Unschuld. Rot für Ausdauer und Mut, und Blau … bedeutet Wachsamkeit, Beharrlichkeit und Gerechtigkeit.« Das Siegel wird immer noch benutzt, um bestimmte Bundesdokumente zu beglaubigen, und erscheint auf US-amerikanischen Pässen.
Dabei könnte man es belassen. Aber die Flagge gehört eben allen Amerikanern, und so steht es auch jedem frei, die Farben auf seine Weise zu interpretieren. Manche sagen, das Rot stünde für das Blut der Patrioten, die im Unabhängigkeitskrieg starben, andere wiederum, es stehe für alle, die im Kampf für ihr Land gestorben sind. Natürlich ist es auch möglich, dass Rot, Weiß und Blau 1776 ins Spiel kamen, weil dies die Farben der britischen Flagge sind. Aber diese Interpretation ist im Land der jetzt Freien vielleicht nicht ganz so beliebt.
Wer die erste Flagge gestaltet hat, ist unklar. Die Legende besagt, eine Näherin namens Betsy Ross, die Fahnen für die Marine von Pennsylvania herstellte, sei für die erste Version verantwortlich. Zumindest erzählte das ihr Enkel 1870 bei einem Treffen der Historischen Gesellschaft in Philadelphia. Allerdings existiert auch eine Rechnung an den Kongress von einem gewissen Francis Hopkinson, der darauf bestand, dass ihm der Kongress für die Gestaltung der Flagge »zwei Kisten Bier« schulde. Die Jury berät noch.
Einige Jahre später tauchte ein Problem auf. Vermont trat 1791 der Union bei und im Jahr darauf Kentucky. Das führte zum Gesetz von 1794, welches bestimmte, dass für jeden neuen Bundesstaat der Flagge ein weiterer Stern und Streifen hinzugefügt werden sollten. Es war diese Flagge, die schließlich als Star-Spangled Banner bekannt wurde, nach dem Gedicht, das zur amerikanischen Nationalhymne wurde. Mehr dazu später.
Im Jahre 1818 lief die Flagge Gefahr, mehr Streifen als ein Zebra zu bekommen: Jetzt waren es achtzehn Staaten, und Maine und Missouri näherten sich schon den Startlöchern für die Union. Also verabschiedete man das dritte Gesetz zur Flaggengestaltung, bei dem die Idee, für jeden neuen Staat einen Stern hinzuzufügen, beibehalten wurde, bei dem man aber zu den ursprünglichen dreizehn Streifen für die dreizehn Gründungsstaaten zurückkehrte. Welches Muster die Sterne bilden sollten, hatte der Kongress jedoch immer noch nicht festgelegt. Überall im Land finden sich in Museen daher unterschiedliche Flaggen-Versionen aus dem 19. Jahrhundert. Präsident Taft unterzeichnete schließlich 1912 eine Verordnung, wie die (mittlerweile) 48 Sterne umfassende Flagge genau zu gestalten war. Und das ist die, die wir – abgesehen von zwei weiteren Sternen – heute sehen.
Vernachlässigt man den einen oder anderen Stern, entsprach die Flagge nach 1792 ziemlich genau der, über die der amerikanische Rechtsanwalt und Dichter Francis Scott Key 1814 eine bewegende Ode schrieb, die zur Nationalhymne wurde – Letzteres allerdings erst 1931. Das Gedicht ist der Schlüssel zum Verständnis, wie und warum die Flagge die Vorstellungskraft der breiten Öffentlichkeit so sehr beflügeln konnte, wieso ein so simples – sogar willkürliches – Design, das im Gärprozess einer Revolution geschaffen wurde, im Lauf der Zeit zur Verkörperung der höchsten Werte der mächtigsten Nation der Welt aufsteigen konnte.
Die Nationalhymne stammt aus einem Konflikt, der nicht von den Briten begonnen worden war. England kämpfte in den Napoleonischen Kriegen gegen die Franzosen, und diese Kämpfe schwappten in die Neue Welt über, weil die Briten mehrfach amerikanische Schiffe plünderten. Präsident Madison ergriff die Gelegenheit und erklärte den Briten 1812 den Krieg. Pech für Madison, dass Napoleon die Sache schrecklich vermasselte und den Krieg verlor, den er gegen den Großteil von Europa führte. Der Franzose wurde 1814 ins Exil geschickt, und das verschaffte der damaligen Supermacht die Kapazitäten, ein Wörtchen mit dem Land zu reden, das dereinst an ihre Stelle treten sollte.
Die britischen Truppen hatten 1814 das Weiße Haus bis auf die Grundmauern niedergebrannt, die britische Flotte lag vor der Küste von Baltimore und schickte sich an, das für die Verteidigung der Stadt lebenswichtige Fort McHenry zu bombardieren. Und das tat sie dann auch in erheblichem Maße. Just als man zum Angriff schreiten wollte, tauchte Francis Scott Key mit einem Boot auf, das sich auf den Wellen tanzend längsseits von einem britischen Kampfschiff legte. Key wollte die Freilassung von einigen Gefangenen erreichen. Das gelang ihm schließlich, aber weil er die britischen Angriffsvorbereitungen gesehen haben könnte, hielten es die Briten für klüger, ihn einige Tage an Bord zu behalten, bis sie das Fort zerstört hätten.
Während Key an Deck eines der britischen Kriegsschiffe stand, begannen die Briten am 13. September 1814 um 6.30 Uhr das Bombardement, bei dem sie 1500 Bomben und 800 Raketen auf die Festung schossen. Während des Großteils der folgenden 25 Stunden versuchte Key, durch den Rauch und im Licht der Explosionen zu erkennen, ob die riesige amerikanische Flagge noch über dem Fort wehte oder ob der Beschuss es den bereitstehenden britischen Bodentruppen ermöglicht hatte, das Fort zu stürmen und die eigene Flagge zu hissen.
Der Angriff war ein völliger Fehlschlag: Das Fort hielt stand, und auf amerikanischer Seite waren nur vier Gefallene zu beklagen. Key blickte hinüber, die Stars and Stripes wehten nach wie vor in der Morgenbrise. Auf der Stelle, an Deck des britischen Kriegsschiffs, schrieb er seine Hymne: »Und der Raketen grelles rotes Licht, die in der Luft explodierenden Bomben, bewiesen die Nacht hindurch, dass unsere Flagge noch da war.« Die erste Strophe endete mit einer Frage, als sei er sich immer noch nicht sicher, ob die USA die Oberhand behalten würden: »O! Sagt, ob das Banner, mit Sternen besät,/Überm Land der Freien und Tapferen noch weht?« Wenige Wochen später wurden die Verse gedruckt und verbreiteten sich von Baltimore aus über die gesamten Vereinigten Staaten. Im Lauf der Zeit, angesichts eines zunehmend amerikanischen Jahrhunderts, scheint das Fragezeichen obsolet geworden zu sein.
Die Originalflagge, die die Bombardierung von Fort McHenry überlebte, befindet sich seit 1907 im Smithsonian Institution’s National Museum of American History. Heute hängt sie in einer Klimakammer, in der ein niedriger Sauerstoffgehalt und gedämpftes Licht für ihre Erhaltung sorgen. Sie hat das Aussehen jener Flaggen, unter denen die Amerikaner »Von den Palästen Montezumas bis zu den Stränden von Tripolis« kämpften, wie es in der Hymne der Marines heißt.
Doch erst einmal kämpften sie gegeneinander.
Im Amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1865) kämpfte der Norden unter Flaggen, die Sterne und Streifen zeigten, und auf eine dieser Flaggen geht der Spitzname »Old Glory« zurück. So hatte nämlich der nordamerikanische Kapitän zur See i.R. William Driver die Stars and Stripes auf seinem Schiff schon lange genannt. Als der Krieg begann, lebte er in Nashville, Tennessee, wo bewaffnete örtliche Konföderierte von ihm verlangten, die Flagge auszuhändigen. Er entgegnete: »Meine Flagge bekommen Sie nur über meine Leiche.« Daraufhin versteckte er die Flagge, und nachdem Unionstruppen vom 6th Ohio Regiment die Stadt eingenommen hatten, übergab Mr Driver sie diesen. Das Regiment übernahm später das Motto »Old Glory«, und die Geschichte verbreitete sich im Land. Kapitän Driver wurde in Nashville begraben, und sein Grab ist eine der wenigen Stellen, wo die amerikanische Flagge offiziell 24 Stunden am Tag gehisst sein darf.
Der Norden hatte sein Banner, und die Südstaatenarmee hatte ihres – genau genommen mehrere Versionen. Diejenige, die zum verbreiteten Symbol des Südens wurde, war zunächst eine Kriegsflagge und nicht die offizielle Flagge der Konföderierten. Sie wurde unter der Bezeichnung Konföderiertenflagge (oder auch Dixie-Flagge und Southern Cross) bekannt und zeigte ein blaues diagonales Kreuz mit weißen Sternen auf rotem Hintergrund. Die Nordstaaten gewannen den Krieg, doch viele Südstaatler hissten bei Bürgerkriegstreffen, Feiern und Beerdigungen weiterhin die Konföderiertenflagge. Sie erinnerte an die Gefallenen des Bürgerkriegs und stand für eine eigene Südstaatenkultur. Aber sie wurde auch mit jenen Südstaatlern in Verbindung gebracht, die für die Beibehaltung der Sklaverei gekämpft hatten und nach dem Krieg dafür sorgten, dass die schwarze Bevölkerung zahllosen rassistischen Gesetzen unterworfen war, die sicherstellen sollten, dass sie sich nicht von der Knechtschaft lösen konnte. Darunter waren die berüchtigten Jim-Crow-Gesetze, die faktisch viele Schwarze daran hinderten zu wählen. Landesweit und dann international rückte die Dixie-Flagge als offenkundiges Symbol dafür aber erst Ende der 1940er in den Blickpunkt. In dem epischen Stummfilm und Blockbuster ›Die Geburt einer Nation‹ von D.W. Griffith aus dem Jahr 1915 sieht man neben rassistischen Stereotypen über schwarze Amerikaner zahllose Szenen mit Mitgliedern des Ku-Klux-Klans, der nach dem Bürgerkrieg gegründet wurde. Nirgendwo ist jedoch eine Konföderiertenflagge zu sehen, auch nicht in den Szenen mit Bürgerkriegsschlachten vorher.
Nach dem Ersten Weltkrieg erlebten weiße Rassisten einen starken Zulauf, vor allem in den Südstaaten, und allmählich übernahm der Ku-Klux-Klan das Emblem. 1948 wurde die Konföderiertenflagge zum Markenzeichen der States’ Rights Democratic Party, die die Segregation gegen die flügge werdende Bürgerrechtsbewegung unterstützen wollte. Artikel 4 der Satzung der sogenannten »Dixiekraten« hielt fest: »Wir stehen für die Trennung der Rassen.«
Trotz dieser negativen Assoziationen erschien die Flagge in den 1950ern auch immer häufiger als kulturelles Zeichen. Für manche war sie schlicht eine Form, sich zu kulturellem Erbe und Regionalstolz sowie zur Tatsache, dass es einen Bürgerkrieg gegeben hatte, zu bekennen. In Werbung und Popkultur wurde sie auf breiter Basis eingesetzt. Beispielsweise ging es in der Fernsehserie ›Ein Duke kommt selten allein‹, die über mehrere Jahre lief, um zwei Cousins, die in einem frisierten Dodge Charger durch Georgia fuhren, der – nach dem berühmten Bürgerkriegshelden – den Spitznamen »General Lee« trug. Auf dem Dach befand sich die Konföderiertenflagge. Damit sollte nicht angedeutet werden, dass die Mitglieder der Familie Duke für Rassentrennung plädierten, sondern, dass sie gute alte Südstaatler waren.
Doch wegen der politischen Untertöne und der Verbindungen zum Ku-Klux-Klan gilt die Flagge in bestimmten Zusammenhängen mittlerweile als ungeeignet für öffentliche Einrichtungen. Nachdem der Weiße Dylann Roof neun schwarze Kirchenbesucher ermordet hatte, wurde sie in South Carolina 2015 mit einer Zeremonie eingeholt und vom Gelände des Kapitols verbannt. Auf Roofs Internetseite war zu sehen, wie er auf die Stars and Stripes spuckte und die Konföderiertenflagge schwenkte. Nach der Zeremonie twitterte Präsident Obama: »South Carolina nimmt die Konföderiertenflagge ab – ein Zeichen guten Willens und der Versöhnung sowie ein bedeutsamer Schritt in Richtung einer besseren Zukunft.«
Zwischen 1865 und ungefähr den 1950ern war die Konföderiertenflagge hinsichtlich ihrer Popularität nie eine ernsthafte Konkurrenz für die Stars and Stripes gewesen, doch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde sie zunehmend zu einem Memento, dass nicht alle Streitpunkte des Bürgerkriegs der Vergangenheit angehörten. Aber zu diesem Zeitpunkt waren ihre Farben im amerikanischen Bewusstsein bereits fest verbunden mit der Form der Stars and Stripes.
Diese Flagge führte die Amerikaner durch zwei Weltkriege, Korea, Vietnam, Irak, Afghanistan und 9/11. Sie wehte auch in den Sandstürmen der Wirtschaftskrise und während der Bürgerrechtsbewegung. Sie wurde bei Hunderten von Siegerehrungen bei Olympischen Spielen aufgezogen, wenn das Land seine immerwährende Jugend und Kraft feiert. Sie flatterte auf dem Gipfel des Mount Everest und war sogar auf dem Mond zu sehen. Im Lauf all dieser Kämpfe und Siege hat sie so viele Werte in sich aufgenommen, die Amerika teuer sind, vor allem Freiheit und Erfolg. Kein Wunder, dass die Amerikaner die Flagge mit so viel Respekt behandeln – manche in einem Ausmaß, das Außenstehende merkwürdig finden mögen.
Anzahl, Symbolik und Komplexität der Verhaltensregeln und Gesetze zur Behandlung der amerikanischen Flagge sind verblüffend. Darin erblicken wir die Gefühlstiefe gegenüber einem Objekt, das zeitweilig als nahezu heilig erscheint, und wir hören wieder und wieder Schlüsselwörter wie »Treue«, »Ehre«, »Respekt«, die die emotionalen Knöpfe bei vielen Amerikanern drücken. Die Regeln für die Flagge füllen ein ganzes Buch, doch schon ein paar Beispiele, von denen einige im Rahmen des Flaggengesetzes Bundesrecht sind, zeigen uns, was patriotische Amerikaner empfinden, wenn sie ihre Flagge sehen, sie berühren oder auch nur an sie denken.
Wenn die Nationalhymne gespielt und die Flagge präsentiert wird, sollen Amerikaner in Zivil strammstehen, die rechte Hand aufs Herz legen und zur Flagge sehen. Uniformierte sollen salutieren, sobald der erste Ton der Hymne ertönt, und in dieser Stellung verharren, bis der letzte Ton verklingt. Dass sie eine Melodie hat, die sich besser für einen feuchtfröhlichen Karaoke-Abend im Vergnügungsviertel von Tokio oder das Ende einer Verdi-Oper eignet, wenn die dicke Diva an Auszehrung stirbt, ist nicht der Punkt. Und es ist auch nicht der großen amerikanischen Öffentlichkeit anzulasten, dass sie volle eineinhalb Oktaven umfasst. Bei Baseball-, Basketball- und Footballspielen wird sie regelmäßig von jemanden in die Mangel genommen, der im Vorjahr einen Jugendligatitel gewonnen hat und sie verhunzt, indem er die Tonlage zu hoch oder zu niedrig wählt. Sie enthält einen so schwierigen Mix von Tonwechseln, dass man unweigerlich falsch endet, wenn man falsch begonnen hat.
Doch zurück zu den Gesetzen zum Umgang mit dem Landessymbol. Da wird es ernst: »Die Flagge der Vereinigten Staaten von Amerika darf nicht respektlos behandelt werden; sie darf nicht vor einem Menschen oder einem Gegenstand gesenkt werden.« »Wird die Flagge mittig über einer Straße gehisst, ist sie vertikal zu hängen und das Sternenfeld soll nach Norden oder Osten zeigen. Sie darf weder die Gebäude noch den Boden, Bäume oder Büsche berühren.« Und so weiter, seitenweise. Unter anderem heißt es: »Wenn die Flagge einen Sarg bedeckt, soll das Sternenfeld über dem Kopf und der rechten Schulter liegen. Die Flagge sollte nicht mit ins Grab gelassen werden und darf auch nicht den Boden berühren.« »Die Flagge sollte niemals für Reklamezwecke eingesetzt werden.« »Die Flagge steht für ein lebendiges Land und gilt selbst als lebendiger Gegenstand. Deshalb sollte die Flaggenanstecknadel, die ihre Replik ist, am linken Revers in der Nähe des Herzens getragen werden.«
Auch wenn nicht alle diese Regeln eingehalten werden, insbesondere jene über Reklame nicht, bleibt die Flagge ein verehrtes Symbol. Diese Reverenz erstreckt sich auch auf das Zusammenfalten. Ich habe dies mehrfach bei Begräbnissen amerikanischer Soldaten und Soldatinnen gesehen. Auf dem Papier klingt das merkwürdig. Wenn die Flagge bloß in einer Schublade verstaut werden soll, mag das Ritual etwas übertrieben erscheinen, aber während einer Beerdigungsfeier kann das langsame, sorgfältige Abnehmen und Zusammenlegen der Flagge, das bei völliger Stille geschieht, ziemlich bewegend sein. Die Überzeugung, seinem Land dienen zu müssen, ist zweifellos in den Vereinigten Staaten stärker ausgeprägt als in vielen anderen Ländern, und die Vorstellung, sich für eine Sache zu opfern, ist in der kollektiven Seele des amerikanischen Militärs, insbesondere der Marines, verwurzelt. Wenn man die Beerdigungsfeier oder den Gedenkgottesdienst für einen US-Marine besucht, der im Kampf gefallen ist, hat man das Gefühl, dies sei eine Familienangelegenheit.
Darum erscheint die Detailliertheit des Flaggenfaltens in der Beschreibung übertrieben, während sie in der Praxis angemessen wirkt. »Breiten Sie die Fahne komplett aus und falten Sie sie längs. Falten Sie sie ein zweites Mal längs, so dass die Längskanten von Ihnen weg weisen, das blaue Feld mit den Unionssternen oben liegt und sichtbar ist. Dann werden, beginnend an der Streifenseite und hin zu den Längskanten, Dreiecke gefaltet.« Das geht so weiter, bis nur noch das Sternenfeld zu sehen ist und die Flagge die Form eines Dreispitzes hat, und so den Hut versinnbildlicht, den die Patrioten während der Amerikanischen Revolution trugen.
Für die amerikanischen Streitkräfte, die jeden Abend beziehungsweise bei Beerdigungen Zeugen der Zeremonie des Einholens und Zusammenlegens der Flagge sind, hat jede einzelne Faltung eine Bedeutung. Die erste symbolisiert das Leben, die zweite den Glauben an das ewige Leben, die dritte den Glauben an die Auferstehung des Körpers, weiter über die fünfte – die an die berühmten Worte des Marineoffiziers Stephen Decatur über »unser Land« und »richtig oder falsch« erinnert – zur achten, »einen Tribut an den, der in die finstere Schlucht des Todes ging, damit wir das Licht erblicken können«. Mit der Schlusssequenz werden die roten und weißen Streifen ganz vom blauen Feld eingehüllt und, so die Militärs, »das Tageslicht verschwindet im Dunkel der Nacht«. Manches könnte angesichts der christlichen Untertöne problematisch sein, aber so wie die amerikanische Verfassung nicht festlegt, welchen Gott die Vereinigten Staaten anbeten, geht auch das amerikanische Militär hier nicht ins Detail.
Das Flaggengesetz leitet die Amerikaner auch an, wie sie eine Flagge im Bedarfsfall reinigen und flicken sollen. Doch »wenn eine Flagge so zerschlissen ist, dass sie nicht mehr als Symbol für unser Land geeignet ist, sollte sie entsorgt werden, indem man sie würdevoll verbrennt«. Und an dieser Stelle entfaltet sich eine ganze Erzählung, nämlich die eines Begräbnisses. Die Leitlinien für die Zeremonie des Flaggenverbrennens umfassen auch die folgende Passage:
Einzelpersonen, kleine Gruppen oder Organisationen sollten hier diskret vorgehen, damit das Verbrennen nicht als Protest oder Entweihung wahrgenommen wird … ein leerer Stuhl kann als »Ehrenplatz« für jene Old-Glory-Verehrer eingeschlossen werden, die verstorben oder zu schwach sind, um an der Zeremonie teilzunehmen.
Beginnen Sie die Zeremonie. Beteiligen Sie auch einen Kaplan oder Prediger Ihrer Glaubensrichtung daran.
LEITER DER ZEREMONIE: »Wir haben uns hier versammelt, um diese Flaggen zu entsorgen, die nicht mehr benutzbar sind … Diese Flaggen haben jene beflügelt, die sich nach Freiheit sehnten, und haben jenen, die von Tyrannei und Terror unterdrückt wurden, Hoffnung gegeben … Wisset, dass diese Flaggen gut und ehrenvoll gedient haben. Ihre Sterne und Streifen flatterten in den Winden der Freiheit und bauschten sich im Licht der Unabhängigkeit.«
Das geht eine Weile so weiter und endet mit dem gemeinsamen Singen von »God Bless America«.
Es gibt noch weitere förmliche Zeremonien. Bei diesen bleiben vor dem Verbrennen mindestens sechs Freiwillige, als »Retirement-Crew« bezeichnet, zurück, um die Flagge in mehrere Stücke zu zerschneiden. Vier Personen halten sie an den Ecken fest, eine weitere schneidet und eine andere nimmt die Stücke ab. Wiederum wird das Ganze mit einer ausgeklügelten Zeremonie abgeschlossen:
Danach wird die Flagge in einem Feuer verbrannt, bei dem verschiedene Holzsorten verwendet werden: Mammutbaum, »um uns an das rote Blut der Amerikaner zu erinnern, die kämpften und starben, um unser Land unter dieser Flagge zu schaffen. Eiche für die stabile Kraft, die die Flagge durch das ganze Land getragen hat und heute nach den Sternen greift. Zeder, um uns vor Seuchen und Verderbtheit zu schützen und unseren amerikanischen Lebensstil zu erhalten«, sowie »Walnuss, um uns an den fruchtbaren Boden, die wunderbare Landschaft und die erfolgreiche Bruderschaft zu erinnern, die unsere Vorfahren begründet haben«.
Manche patriotischen Amerikaner setzen das wirklich so in die Tat um. Dies ähnelt der jüdisch-orthodoxen Tradition, kaputte Thorarollen auf dem Friedhof zu begraben, um dem »Wort Gottes« höchsten Respekt zu erweisen, und zeigt, wie totemähnlich die Flagge für Amerikaner ist.
Die meisten Amerikaner haben wahrscheinlich noch nie am zeremoniellen »Ausscheiden« ihrer Flagge teilgenommen, und manchen könnte das Ritual zu weit gehen. Doch das heißt nicht, dass es ihnen nichts ausmacht, wenn ihre Flagge verbrannt oder auf andere Weise entweiht wird. Das Verbrennen amerikanischer Flaggen ist in manchen Weltgegenden, insbesondere im Nahen Osten, ein häufiges Vorkommnis. Doch auch in den USA selbst ist es zu finden. In jedem Falle aber sind sich die Täter sehr bewusst, was sie tun und welche Emotionen sie auslösen. Selbst wenn sie die Bedeutung ihrer Aktion nicht in Worte fassen können, wissen sie instinktiv, dass es sich um eine schwere Beleidigung handelt – und genau darum tun sie es. Ich habe in Pakistan, im Irak, in Ägypten, in Gaza, im Iran und in Syrien Flaggen brennen sehen. Jedes Mal hatte die unartikulierte Wut, die es begleitete, auch etwas Kindisches. Jene, die Flaggen verbrannten, brachten damit zweifellos ihre mörderischen Gefühle gegenüber den USA zum Ausdruck, aber ich hatte auch den Eindruck, dass ihnen selbst während der eigentlichen Aktion unbewusst klar war, dass sie auch die Frustration über ihre Hilflosigkeit zeigten, nichts dagegen tun zu können, dass das System, das sie so hassen, so erfolgreich ist. Gleichzeitig entstammten die Beteiligten aber auch Kulturen, in denen Ehre beinahe ein Fetisch ist, und deshalb verschaffte die »Entehrung« eines Feindes großes Vergnügen.
Zu sehen, wie die Nationalflagge im Ausland verbrannt wird, weckt wahrscheinlich andere Emotionen, als wenn das Gleiche im eigenen Land durch Landsleute geschieht: Die Wut, die dadurch ausgelöst wird, ist noch größer. Ein paar Jahre vor seinem Tod stellte der amerikanische Sänger Johnny Cash einen Song über die Stars and Stripes vor, der den Titel »Ragged Old Flag« (Zerlumpte alte Flagge) trug. Er erklärte seinem faszinierten Publikum: »Ich danke Gott für all die Freiheiten, die wir in diesem Land haben. Ich schätze sie. Ich bin selbst auf das Recht, die Flagge zu verbrennen, stolz.« Das überraschte die Country-and-Western-Anhänger, und einige buhten bereits, als Cash um Ruhe bat und hinzufügte: »Aber ich sage Ihnen etwas. Wir haben auch ein Recht, Waffen zu tragen. Und wenn Sie meine Flagge verbrennen, werde ich Sie erschießen.«
Das war eine interessante Auslegung der Hierarchie zwischen dem Ersten Verfassungszusatz – »Der Kongress darf kein Gesetz erlassen, das die Einführung einer Staatsreligion zum Gegenstand hat, die freie Religionsausübung verbietet, die Rede- oder Pressefreiheit oder das Recht des Volkes einschränkt, sich friedlich zu versammeln und die Regierung durch Petition um Abstellung von Missständen zu ersuchen« – und dem Zweiten Zusatz – »Da eine gut ausgebildete Miliz für die Sicherheit eines freien Staates erforderlich ist, darf das Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen, nicht beeinträchtigt werden.«
Der Oberste Gerichtshof zog 1989 den Ersten Verfassungszusatz heran, um zu erklären, warum es in den Vereinigten Staaten nicht gesetzeswidrig ist, die Nationalflagge zu verbrennen, was von Zeit zu Zeit geschieht. Allerdings halte ich es für unwahrscheinlich, dass das Gericht den Zweiten Zusatzartikel als Genehmigung der Reaktion, die Mr Cash angedroht hat, interpretieren würde. Die Entscheidung stand am Ende eines Verfahrens vor dem Obersten Gerichtshof (Texas vs. Johnson) und wurde anschließend bestätigt (US vs. Eichman 1990