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Warum gibt es im 21. Jahrhundert mehr Mauern und Grenzen als je zuvor? Wir leben in einem neuen Zeitalter des Isolationismus und Nationalismus, in dem Mauern wieder Konjunktur haben, von der amerikanischen Mauer an der Grenze zu Mexiko bis hin zu der Firewall, mit der China sich gegen den Westen abschottet. Europa errichtet Zäune gegen Flüchtlinge, Mauern und Zäune ziehen sich durch den Nahen Osten, den Sudan, Korea, Indien. Mindestens 65 Länder der Welt, mehr als je zuvor, haben stark befestigte Grenzen. Es gibt viele Gründe dafür: Reichtum und Armut, Rasse, Religion, Politik, Angst. Tim Marshall zeigt in seiner fesselnden und scharfsinnigen Analyse, wie Abschottung unsere Gegenwart prägt. Sie steht für ein Versagen von Politik und ist eine Gefahr für die Zukunft.
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Seitenzahl: 424
Tim Marshall
Abschottung
Die neue Macht der Mauern
Aus dem Englischen von Hans-Peter Remmler
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Mit Karten und Abbildungen
Für meine Mutter Margaret McDonald,
die ihr ganzes Leben mit dem Bau
von Brücken zugebracht hat
Die Grenzmauer zwischen IsraelIsrael und PalästinaIsrael und dem WestjordanlandPalästina gehört zu den abschreckendsten und feindseligsten Grenzbefestigungen der Welt. Aus der Nähe, ganz gleich von welcher Seite, ragt sie unmittelbar vor dem Betrachter auf, bedrückend und überwältigend. Vor dieser blanken Wand aus Stahl und Beton kommt man sich winzig vor, nicht nur wegen ihrer schieren Größe, sondern vor allem wegen ihrer Aussage. Auf der einen Seite stehst du – auf der anderen »die«.
Vor 30 Jahren wurde eine MauerBerliner MauerDeutschland niedergerissen – ein Ereignis, das ein Zeitalter der Weltoffenheit und Internationalität einzuläuten schien. 1987 trat Präsident Ronald ReaganReagan, Ronald ans Brandenburger Tor im geteilten Berlin und rief seinem Gegenüber in der SowjetunionSowjetunion jenen berühmten Satz zu: »Mister GorbatschowGorbatschow, Michail, reißen Sie diese Mauer ein!« Zwei Jahre später fiel die Mauer tatsächlich. Berlin, Deutschland und dann auch EuropaEuropa waren wieder vereint. Aufregende Zeiten waren das, und nicht wenige Intellektuelle sahen schon ein Ende der Geschichte kommen. Allein, Geschichte endet niemals.
Seit ein paar Jahren geht der Ruf nach dem Einreißen von Mauern zusehends in der allgegenwärtigen Festungsmentalität unter. Er wird kaum noch vernommen, kommt nicht mehr an gegen die erschreckenden Ausmaße der Massenmigration, den Widerstand der Globalisierungsgegner, den wiedererstarkten NationalismusNationalismus, den Kollaps des Kommunismus und all die Spätfolgen der Anschläge vom 11. September 2001. Diese Verwerfungen werden unsere Welt auf Jahre hinaus prägen.
Allenthalben sehen wir, wie neue Grenzmauern hochgezogen werden. Offenbar fühlen wir uns gespaltener denn je – GlobalisierungGlobalisierung hin, technologischer Fortschritt her. Überall auf der Welt sind im 21. Jahrhundert Tausende Kilometer an neuen Mauern und Zäunen entstanden. Mindestens 65 Länder, mehr als ein Drittel aller Staaten der Welt, haben Barrieren an ihren Grenzen errichtet. Die Hälfte aller Grenzbefestigungen, die seit dem Zweiten Weltkrieg entstanden, datieren aus dem Jahr 2000 und danach. Innerhalb weniger Jahre könnten die Staaten EuropasEuropa von mehr Kilometern an Mauern, Zäunen und Barrieren umgeben sein, als es zum Höhepunkt des Kalten KriegsKalter Krieg gab. Es begann mit den Grenzen zwischen GriechenlandGriechenland und MazedonienMazedonien, MazedonienMazedonien und SerbienSerbien, dann SerbienSerbien und UngarnUngarn, und – der Schrecken ob der neuen Stacheldrähte war kaum gewichen – es ging immer so weiter. SlowenienSlowenien schloss die Grenze zu KroatienKroatien, ÖsterreichÖsterreich schottete sich von SlowenienSlowenien ab, SchwedenSchweden errichtete Barrieren gegen illegale Einwanderer an der Grenze zu DänemarkDänemark. EstlandEstland, LettlandLettland und LitauenLitauen wiederum haben allesamt begonnen, Verteidigungsstellungen an der Grenze zu RusslandRussland aufzubauen.
Dabei sind die Europäer gewiss nicht die Einzigen: Die Vereinigten Arabischen Emirate haben einen Zaun an der Grenze zum Oman gebaut, KuwaitKuwait desgleichen an der Grenze zum IrakIrak. Den IrakIrak trennt eine massive Grenze vom IranIran, dasselbe gilt für die kompletten 700 Kilometer zwischen IranIran und Pakistan. In Zentralasien hat sich Usbekistan, obwohl komplett landumschlossen, von seinen fünf Nachbarn AfghanistanAfghanistan, Tadschikistan, Kasachstan, Turkmenistan und Kirgisistan abgeschottet. Die Grenze zu Tadschikistan ist sogar vermint. Und so geht es immer weiter, über die Barrieren, die Brunei von Malaysia, Malaysia von Thailand, PakistanPakistan von Indien, Indien von BangladeschBangladesch, ChinaChina von Nordkorea, Nord- von Südkorea trennen, und wo sonst noch auf der Welt.
Wir haben jede Menge Gründe, Mauern zu bauen – Reichtum, »Rasse«, Religion, Politik. Hier und da entzündet sich an diesen Trennlinien auch Gewalt, und Mauern werden gebaut als Schutz oder zur Verteidigung. Bisweilen sollen Mauern bestimmte Menschen fernhalten. Oder es werden gar keine physischen Mauern aufgestellt, und dennoch spüren wir die Trennung; es ist die Mauer in unseren Köpfen. Und diese unsichtbaren Barrieren sind oftmals nicht minder wirkungsvoll.
All diese Mauern sagen uns eine Menge über internationale Politik, doch die Ängste, für die sie stehen, gehen weit über die Staatsgrenzen hinaus, an denen sie errichtet wurden. Der Hauptgrund für die Mauern, die überall in EuropaEuropa aus dem Boden schießen, ist das Aufhalten der Migrationswelle – zugleich aber sagen sie sehr viel aus über die tiefgreifende Spaltung und die Instabilität innerhalb der Europäischen UnionEuropäische Union (EU) und innerhalb der Mitgliedsstaaten selbst. Die von Präsident TrumpTrump, Donald angekündigte Mauer an der Grenze zwischen den USAUSA und MexikoMexiko soll Migranten aus dem Süden stoppen, nutzt jedoch auch eine tiefer liegende Furcht vor demographischen Veränderungen, die viele seiner Anhänger umtreibt.
Trennlinien prägen die Politik auf allen Ebenen – auf der persönlichen, der lokalen, der nationalen und der internationalen. Wir müssen uns aber darüber im Klaren sein, was uns getrennt hat und uns weiterhin trennt. Nur dann können wir verstehen, was in der Welt von heute vor sich geht.
Denken Sie an den Anfang des Films ›2001: Odyssee im Weltraum‹,›2001: Odyssee im Weltraum‹ jenes Science-Fiction-Meisterwerk von Stanley Kubrick aus dem Jahr 1968. Die Sequenz ist betitelt mit ›The Dawn of Man‹, Aufbruch der Menschheitfrühe Siedlungen. In der prähistorischen afrikanischen Savanne hat sich eine kleine Horde Menschenaffen friedlich an einem Wasserloch versammelt, als eine andere Horde auftaucht. Unsere tierischen Urahnen teilen, was sie haben, gerne innerhalb der eigenen Gruppe – aber nicht mit dieser anderen, fremden, »neuen« Gruppe. Unter großem Gekreische entwickelt sich ein Kampf, in dessen Verlauf die neue Horde das Wasserloch erobert und die bisherigen Besitzer vertreibt. Hätten die Neuankömmlinge zu diesem Zeitpunkt den Verstand besessen, ein paar Ziegelsteine zu fertigen und etwas Zement anzurühren, wären sie in der Lage gewesen, ihren neuen Besitz mit einer Mauer vor Konkurrenten zu schützen. Da das Ganze jedoch vor ein paar Millionen Jahren spielt, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich dem nächsten Kampf zu stellen, als die erste Horde, diesmal mit Knochen bewaffnet, ein paar Tage später zurückkommt, um ihr Territorium zurückzuerobern.
Sich zu Gruppen zusammenzuschließen, durch Fremde in großer Zahl alarmiert zu sein oder auf wahrgenommene Bedrohungen zu reagieren, all dies sind zutiefst menschliche Verhaltensweisen. Wir schließen Bündnisse, die fürs Überleben wichtig sind, aber auch für den sozialen Zusammenhalt. Wir entwickeln eine Gruppenidentität, was nicht selten zu Konflikten mit anderen führt. Unsere Gruppen konkurrieren um Ressourcen, aber das Ganze hat auch Elemente eines Identitätskonflikts – die alte Geschichte des »wir« auf der einen Seite und »die« auf der anderen.
In der Frühgeschichte der Menschheit waren wir Jäger und SammlerJäger und Sammler: Wir hatten uns weder irgendwo angesiedelt noch permanente, feste Ressourcen angeeignet, die Begehrlichkeiten bei »den anderen« hätten wecken können. Dann begannen in der Region, die wir heute als TürkeiTürkei und den Nahen Osten kennen, die Menschen mit der Landwirtschaft. Anstatt auf der Suche nach Nahrung weit umherzustreifen oder Vieh zu weiden, pflügten sie Felder und warteten ab, was dabei herauskam. Plötzlich (im Kontext der Evolution) sahen sich immer mehr von uns genötigt, Barrieren zu errichten: Wände und Dächer als Behausung für uns selbst und für das Vieh, Zäune zum Abstecken unseres Geländes, Festungen, in die man sich zurückziehen konnte, falls Eindringlinge das Territorium überrannten, und Wachposten zum Schutz des neuen Systems. Das Zeitalter der Mauern war über uns gekommen und hat für lange Zeit unsere Vorstellungswelt geprägt. Noch heute erzählen wir uns Geschichten über die Mauern von Troja, Jericho, Babylon, die Chinesische MauerChinesische Mauer, Groß-SimbabweSimbabwe, den HadrianswallHadrianswall, die Mauern der Inka in PeruPeru, Konstantinopels Mauern und viele andere mehr. Sie erstrecken sich durch alle Zeiten, Regionen und Kulturen, bis auf den heutigen Tag – nur kommen jetzt auch noch Suchscheinwerfer, Elektrizität und Überwachungskameras dazu.
Diese physischen Trennlinien finden ihre Entsprechung in den Köpfen – gemeint sind die großen Ideen, die unsere Zivilisationen geleitet und uns ein Gefühl der Zusammengehörigkeit vermittelt haben, etwa das große Schisma des ChristentumsChristentum, die AufspaltungIslam des Islam in SunnitenSunniten und SchiitenSchiiten und in jüngerer Vergangenheit die titanischen Schlachten zwischen Kommunismus, Faschismus und Demokratie.
Der Titel von Thomas Friedmans Buch ›Die Welt ist flach‹Die Welt ist flach (T. Friedman) aus dem Jahr 2006 basierte auf dem Glauben, die GlobalisierungGlobalisierung würde uns unweigerlich näher zusammenbringen. Das hat sie in der Tat, aber sie hat uns auch inspiriert, Barrieren zu errichten. Angesichts wahrgenommener Bedrohungen – Finanzkrise, Terrorismus, gewaltsame Konflikte, Flüchtlinge, Einwanderung, die immer tiefer werdende Kluft zwischen Arm und Reich – klammern sich die Menschen noch fester an ihre jeweilige Gruppe. Mark ZuckerbergZuckerberg, Mark, der Mitbegründer von FacebookFacebook, nahm an, die sozialen Mediensoziale Medien würden uns einen. In mancherlei Hinsicht taten sie das auch, gleichzeitig haben sie jedoch neuen Cyber-Sippen eine Stimme und eine Operationsbasis verliehen, und manche davon verbringen ihre Zeit größtenteils damit, ihre beleidigenden und spalterischen Äußerungen im World Wide Web auszukotzen. Heute scheint es mindestens so viele Sippen und entsprechend viele Konflikte zwischen diesen zu geben wie eh und je. Die Frage, vor der wir heute stehen, lautet: Welche Gestalt nehmen unsere modernen Sippen, Gruppen, Horden am Ende an? Definieren wir uns nach Gesellschaftsschicht, nach Abstammung, nach Religion, nach Nationalität? Und ist es für diese Gruppen überhaupt möglich, in einer Welt zu koexistieren, in der wir immer noch die Vorstellung von »wir und die anderen« pflegen?
Manchmal sprechen »die anderen« eine andere Sprache, haben eine andere Hautfarbe, eine andere Religion oder überhaupt andere Glaubensgrundsätze. Ein entsprechendes Beispiel konnte ich vor kurzem in London beobachten, als ich mit einer Gruppe junger Journalisten aus aller Welt zusammen war, die ich bei einer Schulung betreute. Ich hatte den IranIran-IrakIrak-KriegIran-Irak-Krieg erwähnt, in dem bis zu einer Million Iraner ihr Leben gelassen hatten, und benutzte irgendwann die vielleicht etwas unglückliche Formulierung »Moslems töten Moslems«. Ein junger Journalist aus ÄgyptenÄgypten sprang auf und rief, er könne nicht zulassen, dass ich so etwas sage. Ich verwies auf die statistischen Daten zu jenem furchtbaren Krieg, und er gab zurück: »Ja, aber die IranerIran sind doch gar keine Moslems.« Da fiel bei mir der Groschen, und ich sackte innerlich zusammen. Die Iraner sind mehrheitlich SchiitenSchiiten, ich fragte ihn also: »Wollen Sie damit sagen, SchiitenSchiiten seien keine Moslems?« »Genau, SchiitenSchiiten sind keine Moslems«, lautete seine Antwort. Derlei Spaltungen haben nichts mit dem Streit um Ressourcen zu tun, sondern nur mit dem Beharren darauf, das jeweils eigene Denken stelle die einzige, absolute Wahrheit dar, und Menschen, die diese Ansicht nicht teilen, seien von minderem Rang. Bei solcher Gewissheit über die eigene Überlegenheit wachsen Mauern schnell. Kommt dann noch der Kampf um Ressourcen dazu, werden die Mauern nur noch höher. Genau an dem Punkt scheinen wir nun angelangt zu sein.
In diesem Buch steht der Begriff »Mauer« nicht nur für Mauern aus Stein, sondern für Barrieren, Zäune und Trennlinien aller Art. Wir sprechen in jedem einzelnen Kapitel von physischen Mauern – für die meisten davon braucht es Bausteine und Mörtel, oder Beton und Drahtzäune –, aber diese Mauern beschreiben das »Was« einer Spaltung, nicht das »Warum«, und sie sind erst der Anfang.
Ich konnte nicht auf jede geteilte Region der Welt eingehen. Vielmehr habe ich mich auf diejenigen konzentriert, an denen sich die Herausforderungen in Bezug auf die (eigene) Identität in einer globalisierten Welt am besten aufzeigen lassen: die Auswirkungen der Migration (USAUSA, EuropaEuropa und der indische Subkontinent); NationalismusNationalismus als zugleich einende und trennende Kraft (China, Großbritannien, Afrika) und die Schnittstellen von Religion und Politik (IsraelIsrael und der Nahe Osten).
In ChinaChina sehen wir einen starken Nationalstaat mit einer ganzen Reihe von Spaltungen innerhalb der eigenen Grenzen – etwa regionale Unruhen und das Wohlstandsgefälle –, die eine Gefahr für die nationale Einheit darstellen, den wirtschaftlichen Fortschritt und die Wirtschaftskraft insgesamt bedrohen; deshalb muss die Regierung das Volk der Chinesen unbedingt unter strenger Kontrolle halten. Auch die USA sind gespalten, wenn auch aus ganz anderen Gründen: Die Ära TrumpTrump, Donald hat die RassenkonflikteUSA im »Land of the Free« verschärft, aber auch einen in dieser Heftigkeit nie gesehenen Riss zwischen RepublikanernUSA und Demokraten offengelegt, die sich unversöhnlicher denn je gegenüberstehen.
Die Bruchlinien zwischen IsraelIsrael und PalästinaPalästinaIsrael und Palästina sind nur zu bekannt. Bei den vielen weiteren Unterteilungen innerhalb der einzelnen Bevölkerungsgruppen ist es nahezu unmöglich, auch nur zu versuchen, sich einer Lösung anzunähern. An religiösen und ethnischen Grenzlinien entzündet sich Gewalt im gesamten Nahen Osten und unterstreicht dabei den zentralen DisputIslam zwischen schiitischenSchiiten und sunnitischenSunniten Muslimen – jeder einzelne Vorfall ist das Ergebnis komplexer Faktoren, aber vieles davon lässt sich auf die Religion zurückführen, insbesondere die regionale Rivalität zwischen Saudi-ArabienSaudi-Arabien und dem IranIran. Auf dem indischen Subkontinent offenbaren Wanderungsbewegungen heute und in den kommenden Jahren die Not derjenigen, die vor religiöser Verfolgung fliehen, aber auch der zahlreichen Wirtschafts- und KlimaflüchtlingeKlimaflüchtlinge.
In Afrika erweisen sich die vom KolonialismusKolonialismus hinterlassenen Grenzen als kaum vereinbar mit der nach wie vor starken Identität der verschiedenen VolksstämmeAfrikaTribalismus und Stammeskultur. In EuropaEuropa ist der Grundgedanke der EU in Gefahr, während neue Mauern hochgezogen werden. Diese zeigen, dass die Differenzen aus der Zeit des Kalten KriegsKalter Krieg keineswegs vollständig überwunden sind und der NationalismusEuropäische Union (EU)Nationalismus im Zeitalter des Internationalismus niemals wirklich gewichen ist. Und während Großbritannien der EU den Rücken kehrt, deckt der BrexitVereinigtes KönigreichBrexit Bruchlinien im gesamten und gar nicht so vereinigten Königreich auf – lang etablierte regionale Identitäten, aber auch die aktuellen, sozial und religiös bedingten Spannungen, die im Zeitalter der GlobalisierungGlobalisierung entstanden sind.
In Zeiten der Angst und Instabilität werden sich die Menschen auch weiterhin zu Gruppen zusammenschließen, um gegen wahrgenommene Bedrohungen gewappnet zu sein. Diese Bedrohungen kommen nicht nur von außerhalb der Grenzen. Sie können auch von innen kommen – und China weiß das nur zu gut …
ERSTES KAPITEL
»Wie in der realen Welt braucht
es auch im Cyberspace sowohl Freiheit
als auch Ordnung.«
Präsident XiXi Jinping Jinping
Die Chinesische MauerChinesische Mauer erstreckt sich über 21000 Kilometer und verläuft ungefähr entlang der Grenze zwischen Zentralchina und der Inneren Mongolei.Mongolei, innere
Chinesische Kaiser hatten seit jeher alle Mühe, ihre disparaten und geteilten Lehensgüter zu einem geschlossenen Ganzen zu vereinen. Präsident XiXi Jinping Jinping geht es da nicht anders. Er mag vielleicht nicht Kaiser genannt werden, aber seine offiziellen Titel sagen eigentlich alles – Generalsekretär der Kommunistischen ParteiKommunistische Partei Chinas, Präsident der Volksrepublik China, Vorsitzender der Zentralen Kommission für integrierte militärische und zivile Entwicklung – die Liste ließe sich fast beliebig verlängern. Er ist nicht einfach nur der Oberste Führer, er ist der Alleroberste Führer.
Alles unter seiner Führung ist riesig – einschließlich der Herausforderungen, vor denen er steht. Chinas fünf Zeitzonen stehen für eine geographische Ausdehnung, die derjenigen der USA entspricht. Auf dem Staatsgebiet leben 1,4 Milliarden Menschen verschiedener Ethnien, die Dutzende von Sprachen sprechen; es ist ein multiethnisches Reich mit den Eigenschaften des kommunistischen China. Zwar gibt es fünf geographische Zeitzonen, aber nur eine ist die offizielle. Die Antwort auf die Frage nach der Uhrzeit lautet: »Es ist immer so spät, wie Beijing sagt.« Dieser Zentralismus existiert schon lange, doch der Herrscher des 21. Jahrhunderts genießt einen Luxus, der nur wenigen seiner Vorgänger vergönnt war. Er kann sein Reich von der Luft aus überwachen – und zwar nicht nur die Region vom HimalayaHimalaya bis zum Japanischen Meer, zur Wüste Gobi und hinunter bis zum Südchinesischen Meer, sondern heute auch ein Wirtschaftsimperium, das den gesamten Planeten umspannt.
XiXi Jinping ist ein Meister in der Kunst der Machtprojektion. Er reist mehr als die meisten seiner Vorgänger. Er fliegt in die Hauptstädte der Welt, voller Vertrauen auf die geballte Wirtschaftskraft des neuen China, aber schon der Weg zum Flughafen erinnert ihn stets daran, wie sorgfältig Chinas FührungChina darauf bedacht sein muss, das Zentrum zusammenzuhalten.
Bei der Fahrt von Beijing auf der Flughafen-Schnellstraße in nordwestlicher Richtung zur Großen MauerChina sind die Spaltungen innerhalb der Bevölkerung für den Fremden zunächst nur schwer auszumachen, aber dann werden sie immer offenkundiger. Für XiXi Jinping ist das leicht erkennbar, denn viele dieser Spaltungen sind in seiner Zeit entstanden, manche gar unter seiner Führung.
Vom Stadtzentrum mit seinen im Neonlicht glitzernden Konsumtempeln und teuren Apartmentblocks für die Gutbetuchten führt die Straße kilometerlang an Hochhäusern mit Wohnungen für die unablässig wachsende Mittelschicht vorbei. Weiter draußen leben die Fabrik- und IndustriearbeiterHandel und IndustrieChina, die Jahr für Jahr vom Land in die Hauptstadt und andere Großstädte strömen. Ein Einheimischer erkennt gleich, in welchen Blocks die Besserverdienendenfinanzielle UngleichheitChina zu Hause sind und welche eher hastig hochgezogen wurden, um den enormen Zustrom an Menschen unterzubringen. Weiter draußen, wenn es durch Kleinstädte und Dörfer geht, sieht man kaum noch Neonlicht und noch weniger Kommerzialisierung. In diesem Teil Chinas wirken die Städte trist und öde, spartanische Orte mit wenigen Annehmlichkeiten; das allgegenwärtige erdrückende Grau ist für das Auge des Fremden der alles überlagernde Eindruck. Und hier liegt vielleicht die tiefste Spaltung in China: diejenige zwischen StadtChina und LandChina, zwischen Reich und Arm. Wie wir später noch sehen werden, bereitet sie der herrschenden Kommunistischen ParteiKommunistische Partei eine Menge Kopfzerbrechen. Die Partei weiß sehr wohl, dass die Einheit und Stabilität der Volksrepublik in hohem Maß von der Überbrückung dieser Kluft abhängt und dass ihr der eiserne Griff, in dem sie das Volk hält, entgleiten wird, wenn ihr dies nicht gelingt.
Einheit ist seit jeher ein entscheidendes Element chinesischen Erfolgs und zugleich eine der schwierigsten Herausforderungen für das Land. In der Vergangenheit gab es eine Sache, die physisch wie symbolisch eine entscheidende Rolle für die Einheit des Landes spielte: die Große MauerChina. Würde XiXi Jinping am Flughafen vorbei auf der Schnellstraße weiterfahren, ginge es auf einer achtspurigen Autobahn in Richtung Nordosten, und schließlich gelangte er zu jenem Bauwerk, das die menschliche Fantasie seit jeher fasziniert.
Auf dem Weg zum Mutianyu-Abschnitt der MauerChina wird aus der breiten Autobahn eine schlichte zweispurige Straße, immer weniger Gebäude säumen die Strecke links und rechts, die Landschaft wird grüner. Ein paar Kilometer vor der Mauer führt die Straße auf einen Parkplatz, wo die Besucher in einen Bus umsteigen, der sie bis ans Ende der Straße bringt. Dort angekommen hat man die Wahl zwischen einer Seilbahn und einer drei Kilometer langen Wanderung, wobei auf dem steilen Weg nach oben auch die Begleitung durch eine Ziegenherde nicht auszuschließen ist. Die ungeführte Tour mit den Ziegen können Sie nicht buchen – wenn Ihnen die Ziegen folgen wollen, tun sie’s, wenn nicht, dann nicht. Aber ganz gleich, welchen Weg Sie wählen: Am Ende erwartet Sie etwas, das die Mühe in jedem Fall wert ist.
Zunächst fand ich dieses Bauwerk, wie es sich über viele Kilometer die Berggipfel entlangschlängelt, längst nicht so spektakulär wie, sagen wir, den Anblick des Grand Canyon. Ich war auch nicht so überwältigt wie vom Anblick des höchsten Gebäudes der Welt, des Burj Khalifa in Dubai. Zudem konnte ich nichts von der politischen Ideologie verspüren, die die Mauer ausstrahlen sollte, anders als beim Besuch der Berliner MauerBerliner Mauer zu Zeiten des Kalten KriegsKalter Krieg. Aber da war noch etwas anderes. Ich fühlte, zu Recht oder zu Unrecht, dass ich China jetzt ein kleines bisschen besser verstand als zuvor.
Ein Chinaexperte war ich damit noch lange nicht, doch in dem Moment konnte ich mit Begriffen wie »antike Kultur« und »die größte Leistung in der Geschichte der Menschheit« wesentlich mehr anfangen, ebenso mit der Vorstellung, dass viele Menschen in der Volksrepublik die Welt nach wie vor in »Chinesen« und »Nichtchinesen« unterteilen. Schließlich war das Fundament dieser MauerChina ja ein ganz simpler Gedanke: Diesseits der Mauer war die Zivilisation zu Hause, jenseits davon die Barbarei.
Hinter mir, in südlicher Richtung, lag das Kernland des Reichs der Mitte, in dem das HanChinaHan-Volk-Volk beheimatet ist. Nach Norden zu, weit weg hinter den Bergen, begann die Steppen- und Wüstenlandschaft der MongoleiMongolei, zur Rechten lag die MandschureiMandschurei, die Region XinjiangXinjiang (Region) zur Linken.
Bevor es die Mauer gab, also vor rund 2500 Jahren, boten die Berge im Norden dem HanChinaHan-Volk-Volk einen gewissen Schutz. Die HanChinaHan-Volk hatten sich in den fruchtbaren Regionen der nordchinesischen Ebene angesiedelt. Plündernde Horden und gelegentlich auch ganze Armeen aus allen drei Regionen fanden jedoch immer wieder Wege durch die Bergpässe in das bewirtschaftete Flachland der Feudalstaaten und Städte wie Beijing, Luoyang und Kaifeng. Und so entwickelten die Chinesen über die Jahrhunderte diesen Inbegriff des »wir hier, die anderen dort«.
Dem hervorragenden amerikanischen Sinologen John King Fairbank verdanken wir vielleicht eine der besten Beschreibungen der Großen MauerChina – er nannte sie »eine Demarkationslinie, die die Steppe vom Ackerland trennt, das Nomadentum von der Landwirtschaft und die Barbarei von der Zivilisation«. Das passt sehr gut zur vorherrschenden Haltung des »Sinozentrismus« jener Zeit – dem Glauben, China sei das kulturelle Zentrum der Welt und die fortschrittlichste aller Zivilisationen. Die HanChinaHan-Volk glaubten auch, der Kaiser von China sei der einzige Herrscher auf der Erde, der direkt vom Himmel beauftragt und damit der legitime Herrscher der Welt wäre. Daraus folgte, dass nicht nur alle anderen Regenten ihm untergeordnet, sondern auch alle anderen Zivilisationen von minderem Status waren. Unmittelbare Nachbarn unterschiedlicher Ethnien waren der Herrschaft des Kaisers einzuverleiben, auch wenn sie durchaus ihre örtlichen Anführer behalten durften. Nahe gelegene Barbarenländer konnten Könige haben, mussten aber anerkennen, dass der chinesische Kaiser auf höherer Stufe stand. Und sogar weiter entfernte Gebiete wie XinjiangXinjiang (Region), Java und JapanJapan galten als »tributpflichtige Länder«, mussten mithin Zahlungen an das Reich der Mitte entrichten. Mit dieser Weltsicht macht man sich gewiss keine Freunde, aber sie verfehlt ihre Wirkung auf die Menschen nicht, und über lange Zeit hat sie ja auch funktioniert.
Die MauerChina hat über viele Jahrhunderte die Sicherheit Chinas gestärkt, die politische Einheit des Landes begründet und die Stabilität geschaffen, die es braucht, um Ackerland in den Regionen im Westen und Norden zu bewirtschaften. Mit der Ausdehnung der Mauer nach Westen diente sie auch dem Schutz der SeidenstraßeSeidenstraße und damit dem wirtschaftlichen Gedeihen. In der Zeit ihrer größten Ausdehnung maß diese Befestigung einschließlich der parallel dazu errichteten Mauern über 21000 Kilometer. Nur damit Sie eine Vorstellung vom schieren Ausmaß bekommen: Das entspricht vier nebeneinander aufgestellten Mauern von der Ostküste der USA bis zum Pazifik – und da würden noch eine Menge Steine übrig bleiben.
Auch wenn die MauerChina ihre physische Rolle bei der Vereinigung des Landes über die Jahre verlor, blieb sie doch ein wichtiges Symbol im Nationalbewusstsein. Das ging so weit, dass nach der Machtübernahme der KommunistenKommunistische Partei1949MaoMao Zedong Zedong die Mauer in einem Gedicht über den »Langen Marsch« verewigte. In dem Gedicht mit dem Titel ›Das Liupan-Gebirge‹›Das Liupan-Gebirge‹ (Mao Zedong) heißt es:
Der Himmel ist hoch, die Wolken sind leicht,
Die nach Süden ziehenden Wildgänse sind nicht mehr zu sehen.
Wer noch nicht an der Großen Mauer war, ist kein Held,
An den Fingern abgezählt war die Strecke 20000 Li …
Die vorletzte Zeile fand später Eingang in ein beliebtes Sprichwort: »Wer noch nicht an der Großen Mauer war, ist kein Held« soll heißen: »Ein Held ist nur, wer es schafft, größte Schwierigkeiten zu überwinden.«
Das Gedicht führte im neuen Regime zu Problemen, da die KommunistenKommunistische Partei offenbar andere Ansichten über die MauerChina hatten – viele sahen darin ein Symbol für die Feudalherrschaft früherer Zeiten und waren der Meinung, das gehöre der Vergangenheit an, ermunterten gar dazu, die Mauer zu zerstören. Da jedoch MaoMao Zedong darüber geschrieben hatte, wollten andere Kommunisten das Bauwerk besuchen und damit ihre Verbundenheit mit dem Geist des Großen Vorsitzenden MaoMao Zedong zeigen. Wenn Sie den Mauerabschnitt von Mutianyu besuchen, werden Sie die Worte »Loyalität zum Vorsitzenden MaoMao Zedong« in gigantischen weißen Schriftzeichen am Berggipfel geschrieben sehen. Und die Mauer wurde auch in der Nationalhymne erwähnt, auf die man sich 1949 geeinigt hatte. Damit stand fest, dass die Partei ihre kulturelle und historische Bedeutung anerkannte. Man beschränkte sich weitgehend darauf, sie zu ignorieren – jedenfalls vorerst. Während der KulturrevolutionChinaKulturrevolution, chinesische machten sich jedoch die eifrigsten unter den Rotgardisten daran, Abschnitte der MauerChina aktiv zu zerstören – für sie war sie nichts als ein Teil der »Vier Alten«, die im neuen China keinen Platz haben sollten: alte Gewohnheiten, alte Kultur, alte Sitten und alte Denkweisen. MaoMao Zedong starb 1976 und mit ihm die KulturrevolutionKulturrevolution, chinesische. Nach 1978 begann der neue Führer DengDeng Xiaoping Xiaoping mit der methodischen Sanierung der MauerChina. Er ließ es langsam angehen – die frühen Jahre nach MaoMao Zedong waren eine Zeit der Vorsicht –, aber um 1984 hatte er genug Selbstvertrauen, um zu verkünden: »Wir wollen unser China lieben und unsere Große Mauer wieder aufbauen.« Es ist anzunehmen, dass DengDeng Xiaoping bei diesem Vorhaben mit einem Auge auch Tourismus und Devisen im Blick hatte. Die kommunistischeKommunistische ParteiFührungChina begann, Elemente des Kapitalismus zu übernehmen, und ihr war vollkommen klar, wie weit das Land hinter anderen Teilen der Welt in Rückstand geraten war. Also erließ sie Gesetze, die das Beschädigen, Entfernen oder Verunstalten der Mauer mit Graffiti unter Strafe stellte, dazu wurden Anstrengungen unternommen, die Mauer zu erneuern (mit gemischtem Erfolg) und für Besucher attraktiver zu machen.
Die Große MauerChina spielt seit jeher eine gewichtige Rolle in der Vorstellungswelt der Menschen – bei den Chinesen wie beim Rest der Bevölkerung. Allerdings argumentieren manche Historiker, die Europäer hätten es damit sogar wichtiger als die Chinesen, und gerade deshalb sei die Wahrnehmung und die Identifikation mit dem Bauwerk in China selbst größer, als dies sonst der Fall wäre. Somit war und ist die Mauer ein definierendes Merkmal Chinas, von außen betrachtet wie auch innerhalb der Grenzen, die sie umschließt.
In Wirklichkeit war die MauerChina militärisch gesehen allenfalls ein Teilerfolg. Ohne Zweifel sorgten ihr Frühwarnsystem, ihre Befestigungen und die strategischen Stützpunkte für ein gewisses Maß an Schutz, aber wie wir sehen konnten, war sie keinesfalls undurchdringlich. Als Symbol für die Verteidigung und als Schutzschild des HanChinaHan-Volk-Volkes gegen »Eindringlinge« war sie dagegen von überragender Bedeutung. Bis heute ist sie die Ikone einer großen, antiken Kultur.
Aber wie sieht es mit der großen, modernen Kultur aus?
Qin Shi HuangQin Shi Huang, Gründer der Qin-DynastieChinaQin-Dynastie, vereinigte mit Erfolg im Jahr 221 vor unserer Zeitrechnung sieben einander bekriegende Staaten zu einem China – aber nur weil dieses China 23 Jahrhunderte überdauert hat, muss das nicht heißen, dass es noch ein weiteres halten wird.
Die Chinesen reden nicht gern mit Ausländern über die Probleme und Spaltungen in ihrem Land. Sie werden beispielsweise in Großbritannien oder FrankreichFrankreich keine Schwierigkeiten haben, jemanden zu finden, der Ihnen sagt, sein Land gehe vor die Hunde. In China hingegen gilt es als unpatriotisch und als Gesichtsverlust, den Staat zu kritisieren. Außerdem könnte es in einem China, das nach wie vor eine Einparteiendiktatur ist, natürlich auch gefährlich sein, so etwas zu äußern.
Und doch gibt es sie, die Spaltungen und Bruchlinien in den 23 Provinzen, vier Großstadtregionen, fünf autonomen Regionen und zwei Sonderverwaltungsgebieten. Eine der tiefsten tut sich zwischen dem HanChinaHan-Volk-Kernland und den es halbkreisförmig umgebenden anderen Regionen auf.
Bevölkerungsanteil der HanChinaHan-Volk in den chinesischen Provinzen (2010)
Dies sind die MandschureiMandschurei im Nordosten, die Innere MongoleiMongolei, innere im Norden, XinjiangXinjiang (Region) im Nordwesten und TibetChinaTibet im Westen. Diese Regionen sind entscheidend für die Sicherheit, die Bodenschätze und den HandelHandel und IndustrieChina, nicht alle aber sind mit der chinesischen Herrschaft einverstanden. Die MandschureiMandschurei steht heute unter völliger Kontrolle der HanChinaHan-Volk, die anderen Gebiete pflegen jedoch weiter ihre Eigenständigkeit in Sachen Identität, Sprache, Tradition und, im Fall von XinjiangXinjiang (Region) und TibetTibet, Religion (Islam und BuddhismusBuddhismus), und es gibt dort nach wie vor separatistische Bewegungen.
China versucht seit Jahrhunderten, XinjiangXinjiang (Region) und das dort beheimatete Volk der UigurenChinaUiguren unter seine Kontrolle zu bekommen, dennoch hat die Bevölkerung die Herrschaft Beijings niemals vollständig akzeptiert. Es gab eine Reihe von Aufständen im 18. und 19. Jahrhundert und in den 1930er-Jahren sogar für kurze Zeit eine Republik OstturkestanOstturkestan, Republik. MaoMao Zedong annektierte schließlich XinjiangXinjiang (Region) im Jahr 1949, und heute macht die Provinz rund ein Sechstel des chinesischen Territoriums aus. Um eine Vorstellung davon zu vermitteln, wie karg und dünn besiedelt XinjiangXinjiang (Region) ist: Die Region ist flächenmäßig etwa halb so groß wie Indien, hat aber weniger als ein Fünfzigstel an Einwohnern.
Zwischenzeitlich hat XinjiangXinjiang (Region) eine massenhafte Zuwanderung von HanChinaHan-Volk-Siedlern erlebt, und in ein paar Jahren werden sie vermutlich fast die Hälfte der gegenwärtigen Bevölkerung von 22 Millionen ausmachen. Das blieb nicht ohne Widerstand. Die UigurenChinaUiguren beklagen, von besseren Jobs ausgeschlossen und durch Milizen verfolgt zu werden, die innerhalb der staatlich kontrollierten Bauindustrie gebildet wurden, und gelegentlich kommt es zu Unruhen und ethnischen Auseinandersetzungen. Opposition funktioniert bisweilen im Rahmen des Rechtssystems, es existiert allerdings auch eine kleine terroristischeTerrorismus Bewegung, teilweise befeuert durch muslimische Kämpfer, die aus dem IrakIrak und SyrienSyrien zurückgekommen sind. Man nimmt an, dass dschihadDschihadistische Organisationendschihadistische Organisationen in den zentralasiatischen Republiken diese Aktivisten finanziell unterstützen und ihnen, falls notwendig, Unterschlupf bieten. Sämtliche Alarmglocken schrillten, als die Terroristen des ISIslamischer Staat (IS) ein Video veröffentlichten, das uigurischeTerrorismusIslamUiguren Männer beim Training im IrakIrak zeigte. Diese gelobten, die ISIslamischer Staat (IS)-Flagge in China zu hissen, und drohten, es würden »Ströme von Blut« fließen.
Im Frühjahr 2017 kam es zu gewalttätigen ethnischen Auseinandersetzungen zwischen UigurenChinaUiguren und HanChinaHan-Volk in der Region. Was folgte, war eine massive Machtdemonstration schwerbewaffneter Regierungstruppen. Die regionalen FührerChina der Kommunistischen ParteiKommunistische Partei empfahlen, die Soldaten sollten »die Leichen der Terroristen im riesigen Meer des Volkskriegs beerdigen«. Präsident XiXi Jinping war etwas zurückhaltender und beschied sich mit dem Aufruf zum Bau einer »großen eisernen Mauer« zum Schutz von XinjiangXinjiang (Region), verbunden mit der Warnung, eine ethnische Spaltung würde nicht hingenommen – »So wie man seine Augen liebt, muss man die ethnische Einheit des Volkes lieben«, ließ er verlauten.
Trotz der Unruhen sind die Aussichten, dass Beijing seinen eisernen Griff lockert, nahezu gleich null. Die Region dient als Pufferzone, liegt an der neuen SeidenstraßeSeidenstraße und ist damit wichtig für den HandelHandel und IndustrieChina, außerdem verfügt sie über große Kohlereserven, auf die das energiehungrige China so dringend angewiesen ist. Und dennoch machen sich die Behörden ernsthafte Sorgen wegen der Vorkommnisse dort. Solche Spaltungen und Unstimmigkeiten untergraben das Ansehen der Kommunistischen ParteiKommunistische Partei als einziger Machtquelle und Beschützer des Volkes.
Gleiches gilt für TibetChinaTibet. Strategisch dient es als Pufferzone für das Kernland und hindert IndienIndien daran, die Hochebene entlang der indisch-chinesischen Grenze zu beherrschen – eigentlich stellt eher der HimalayaHimalaya die natürliche Barriere dar, und das ist vielleicht auch der Grund, warum es zwischen den beiden Ländern nie zu einem wirklich ernsthaften Konflikt kam. So kann China zudem seine WasserquellenChina schützen – TibetTibet wird bisweilen als »Wasserturm Asiens«Wasserturm Asiens bezeichnet, denn zahllose Flüsse entspringen in dieser Region.
Gemessen an den drei tibetischen Provinzen umfasst TibetTibet etwa 2,5 Millionen Quadratkilometer, also etwa die vierfache Fläche Frankreichs. Das macht immerhin ein Viertel der chinesischen Landmasse aus. Im offiziellen Sprachgebrauch Beijings bezeichnet TibetTibet jedoch stets das Autonome Gebiet TibetTibet, das nach dem Sieg Chinas über die tibetische Armee im Jahr 1950 eingerichtet wurde. Es besteht aus weniger als der Hälfte der Fläche der ursprünglichen drei Provinzen, da der Rest der Region von anderen chinesischen Regionen aufgesogen wurde, und dort lebt auch nur ein Drittel der ethnischen TibeterTibet in China.
Wie die uigurischen Muslime pflegen auch die tibetischen BuddhistenChina ein starkes, von den HanChinaHan-Volk-Chinesen getrenntes Identitätsbewusstsein. In beiden Regionen gibt es jedoch so gut wie keine Hoffnung auf Selbstverwaltung mehr. In TibetChinaTibet sind heute geschätzt bereits die Hälfte der Einwohner HanChinaHan-Volk-Chinesen. Genaue Zahlen sind schwer zu bekommen, man geht aber davon aus, dass insgesamt ca. sechs Millionen TibeterTibet und sechs Millionen HanChinaHan-Volk in dem Gebiet leben. In den größeren Städten leben sie Seite an Seite, wenn auch oft in verschiedenen Wohnvierteln. In den ländlichen Gebieten sind die TibeterTibet noch in der Überzahl.
Der StaatChina glaubt, mit diesen ethnischen Spaltungen klarkommen zu können, solange sich die Konflikte innerhalb der HanChinaHan-Volk selbst ausbügeln lassen. Und genau diese Spaltungen sind es, die die größte Gefahr für die langfristige Entwicklung von Wohlstand und Einheit Chinas darstellen könnten. Die Kommunistische ParteiKommunistische Partei nimmt diese Gefahr jedenfalls sehr ernst. Sie hat ihre Lektion aus der Geschichte gelernt und weiß, was passiert, wenn der Zusammenhalt des Staates durch eine zersplitterte Bevölkerung geschwächt wird.
Im 19. Jahrhundert erlebte China eine entscheidende Umstellung in der Funktionsweise seines HandelHandel und IndustriesChina. Die Handelsrouten über Land, quer durch Zentralasien, hatten immer ökonomische Priorität genossen, nun aber wurden die Seewege zur primären Handelsroute. Diese Umstellung geschah nicht ganz freiwillig – die Briten und andere fremde Mächte hatten mit ihrer Militärmacht China diese für sie günstigeren Handelsbedingungen aufgezwungen. In der Folge verlagerte sich der Handelsschwerpunkt an die Pazifikküste. Das förderte die Entwicklung der Städte in dieser Region, schwächte aber die Handelschancen im Landesinneren, was wiederum dazu führte, dass dort weniger in die Infrastruktur investiert wurde. Während also die Küstenregionen prosperierten, blieben die bettelarmen Bauern im Binnenland bettelarm – und die Fremden gewannen immer mehr Macht. Dies untergrub die Kontrolle des Zentralstaats über die Regionen und war teilweise verantwortlich für die Zersplitterung des Staates. Angesichts einer derart gespaltenen Bevölkerung war es unmöglich, das Zentrum beisammenzuhalten. Ein nun massiv geschwächtes China stand zunächst den »barbarischen« Kolonialisten, dann dem BürgerkriegChina und schließlich der 1931 begonnenen Invasion des Erzfeindes JapanJapan hilflos gegenüber.
Nach dem Zweiten WeltkriegZweiter Weltkrieg und nachdem die Kommunisten den Bürgerkrieg für sich entschieden hatten, war ihnen klar, dass sie das Land irgendwie wieder zusammenbringen mussten. Kommunistische RegimeChina sind weder für freiheitliche Tendenzen noch für ihren lockeren Umgang mit Vorschriften und dem Teilen von Macht bekannt. Also warf man die Fremden aus dem Land und besetzte die regionalen Hauptstädte mit Parteikadern. Unter MaoMao Zedong erstickten diese Kader brutal jedes Zeichen von Abweichung, das aus den Regionen kam, und bündelten alle Macht in der Parteizentrale in Beijing, das seit 1949 wieder die Hauptstadt des Landes ist.
Viele Handelsbeziehungen mit IndustriestaatenHandel und IndustrieChina wurden gekappt, womit zumindest teilweise jenes große kommunistische Ideal erreicht wurde: Gleichheit. Langsam, aber sicher wurden die Küstenregionen fast genauso arm wie das Landesinnere, und damit war diese Form der Ungleichheit zwischen den Regionen natürlich beseitigt. Abgesehen von diversen Parteibonzen blieben die meisten Menschen mehrere Jahrzehnte lang einfach arm, während MaoMao Zedong seine Macht konsolidierte und die nicht von HanChinaHan-Volk bewohnten Territorien unter seine Kontrolle brachte.
MaoMao Zedong mag auch das Land insgesamt wieder geeint haben, aber das ging auf Kosten der Entwicklung und geschah just zu der Zeit, als andere Länder in der Region in die Weltwirtschaft hineinwuchsen und rasche Fortschritte machten. JapanJapan, Südkorea, Singapur und andere ließen China wirtschaftlich klar hinter sich, manche sogar auch als Militärmacht. Wenn dieser Trend anhielte, würde das nicht nur die Landesverteidigung schwächen, sondern ebenso Chinas inneren Zusammenhalt, sobald offenkundig würde, wie weit die Chinesen hinter die anderen zurückgefallen waren.
Maos Nachfolger DengDeng Xiaoping Xiaoping atmete erst einmal tief durch und entschied sich dann für ein riskantes Spiel: Wenn Chinas Verbraucher zu arm waren, um sich viele der von China produzierten Waren leisten zu können, musste sich die Wirtschaft erneut für die Außenwelt öffnen. Das bedeutete HandelHandel und IndustrieChina an der Pazifikküste, sodass die Wirtschaft an den Küstenregionen wieder schneller erblühte als im Binnenland, was natürlich die Gefahr einer erneuten Spaltung wie schon im 19. und 20. Jahrhundert heraufbeschwor.
Das Ganze war und ist ein Wettlauf gegen die Zeit – und zugleich eine Strategie auf der Grundlage einer WirtschaftspolitikChina, die ohne Rücksicht auf Verluste ihr atemberaubendes Tempo beibehält. China muss einfach weiter Waren produzieren. Die Welt muss weiter diese Waren kaufen. Nimmt die Nachfrage ab, kann es sich China anders als »normale« kapitalistische Systeme nicht leisten, die Fertigung ganz herunterzufahren. Die Produktion muss weiterlaufen, die Schornsteine müssen rauchen, die Banken gestützt werden; Überschussproduktion? Macht nichts, dann muss man eben versuchen, die Sachen zu Schleuderpreisen irgendwo im Ausland loszuschlagen, und noch mehr davon an den Teil der eigenen Bevölkerung verkaufen, der es sich leisten kann. Nur das System darf auf keinen Fall ins Stocken kommen, sonst steht vielleicht am Ende das ganze Land still.
Das stellt eine faszinierende kapitalistische Version des alten Systems im Sowjetkommunismus dar. Dort wurden so viele Traktoren hergestellt, wie die Regierung vorgab, unabhängig davon, wie viele tatsächlich gebraucht wurden. Das System holte Hunderte Millionen Chinesen aus der Armut – allerdings auf Kosten massiver Umweltzerstörung und der neuerlichen Vertiefung der Kluft zwischen den Küstenregionen und dem Landesinneren, zwischen Reich und Arm.
Die Einkommensscherefinanzielle UngleichheitChina zwischen Industrie- und Landarbeitern hat sich in den letzten Jahren wieder etwas geschlossen, doch selbst jetzt kann ein Städter davon ausgehen, dreimal so viel zu verdienen wie ein Arbeiter auf dem Land.
Das Pro-Kopf-Einkommen im Jahr (2010)
Die Einkommensungleichheit ist fast nirgendwo auf der Welt so extrem wie in China, was einem das Gefühl vermittelt, die chinesische Geldmaschine hat nicht den vielen, sondern nur einigen wenigen zu Wohlstand verholfen – oder eben der »Familie ZhaoFamilieZhao«, wie die Chinesen diejenigen nennen, die das Sagen haben, oder »den oberen Zehntausend«. Der Ausdruck hat seine Wurzeln in einer beliebten Novelle aus dem Jahr 1921, ›Die wahre Geschichte des Ah QDie wahre Geschichte des Ah Q (Lu Xun)‹ von Lu Xun. Darin kommt die Zeile vor: »Glaubst du, du bist es wert, den Namen ZhaoFamilieZhao zu tragen?« – gemeint ist damit ein reicher Clan. Die Formulierung begann 2015 im chinesischen InternetInternet aufzutauchen, und heute bedeutet »ZhaoFamilieZhao und Nicht-ZhaoFamilieZhao« so viel wie »die Reichen und die armen Schlucker«.
Ungleiche Verteilungfinanzielle UngleichheitChina des Wohlstands gibt es in jedem Land, und jedes Land hat eigene Ausdrücke dafür, aber in China macht das extreme Ausmaß dieser Kluft den Unterschied aus, und die schiere Anzahl derjenigen, die auf der falschen Seite der Kluft stehen. Ein Bericht aus dem Jahr 2015 von den China Family Panel Studies an der Universität Peking untersucht das »Gesamtwohl der chinesischen Bevölkerung« und kommt zu dem Schluss, dass das Wohlstandsgefälle insgesamt größer wird. Laut dem Bericht befindet sich ein Drittel von Chinas Reichtum im Besitz von einem Prozent der Haushalte, die unteren 25 Prozent der Haushalte besitzen gerade einmal ein Prozent des Reichtums. Diese Disparität lässt sich bis auf die Öffnung der Wirtschaft des Landes im Jahr 1979 zurückverfolgen.
Die RegierungChina ist sich der mit diesem Gefällefinanzielle UngleichheitChina einhergehenden Probleme und Gefahren sehr wohl bewusst, zumal eine Umfrage im InternetInternet aus dem Jahr 2015 ergab, dass die ungleiche Verteilung des Reichtums und die entsprechenden Dominoeffekte für Gesundheit und BildungBildungChina das wichtigste Thema sind, das der Staat in Angriff nehmen sollte. In einem Artikel über die Umfrage kommentierte die Tageszeitung ›People’s DailyPeople’s Daily‹: »Diese Ungleichheit nimmt ständig weiter zu. Wenn das nicht zufriedenstellend gelöst werden kann, könnte dies die soziale Stabilität bedrohen, und die zukünftige gesellschaftliche Entwicklung könnte ins Stocken geraten.«
Sogar zwischen den Generationen ist eine Spaltung wahrnehmbar; manche Ältere blicken dabei gerne auf die Zeiten der »Gleichheit« unter MaoMao Zedong zurück. Sie schauen argwöhnisch auf die junge Generation, die in der Mehrzahl in den Städten lebt, besser gebildet und konsumorientiert ist – oder es doch gerne wäre. Die Zukunft der Kommunistischen ParteiKommunistische Partei hängt davon ab, was sie diesen Menschen bieten kann, und umgekehrt.
Die entstandenen Risse in der chinesischen Gesellschaft dürfen nicht noch tiefer werden. Einer der Wege, mit denen die RegierungChina das Problem in Angriff nehmen will, ist die deutliche Vergrößerung einer städtischen, konsumfreudigen Bevölkerung, um so die Schläge abzufedern, die der WirtschaftHandel und IndustrieChina beim Einbruch des Exportabsatzes drohen. Die Schätzungen gehen auseinander, aber allein in diesem Jahrhundert haben mindestens 150 Millionen Menschen die ländlichen Regionen verlassen, und diese Zahl wird wohl noch weiter steigen. Vor allem die Jüngeren kehren den Dörfern den Rücken, darunter ist ein unverhältnismäßig großer Anteil männlich – insbesondere verheiratete Männer werden sich oft aufmachen, um in den Städten Arbeit zu finden. Die Familie bleibt zurück und kümmert sich um die Felder. Dennoch darf keinesfalls übersehen werden, dass selbst heute noch rund 900 Millionen Chinesen auf dem Land leben und ca. 500 Millionen in den Städten.
Der Wandel kam schnell, und er wird sich noch beschleunigen. Beijing hofft, bis 2026 weitere 250 Millionen Menschen umgesiedelt zu haben – dann würde die Hälfte der chinesischen Bevölkerung in den StädtenChina leben. Dazu bedarf es einer massenhaften Entwurzelung der Menschen, einschließlich der Zerstörung von Dörfern, und es muss gebaut werden: neue Städte, Megacitys, Straßen, superschnelle Schienennetze. Diese Umsiedlung wird weiterhin vor allem in West-Ost-Richtung verlaufen, der Westteil des Landes wird eher ländlich bleiben, auch mit einer höheren Analphabetenquote. Der Osten, vor allem in der Nähe der Pazifikküste, wird immer stärker urbanisiert und auf Technologie, Industrie und Business ausgerichtet sein.
Diese Massenwanderung in die Städte offenbart und verschärft eine weitere Spaltung innerhalb der StadtbevölkerungChina, und auch hier handelt es sich um eine zwischen Arm und Reichfinanzielle UngleichheitChina. Entstanden ist sie durch das hukou-SystemChinahukou-System, eine Form der Registrierung und Wohnsitzkontrolle, die in der gesellschaftlichen Struktur des Landes verwurzelt ist. Es gehört zu den Dingen, die die Wahrnehmung der Landbevölkerung als Bürger zweiter Klasse noch verstärkt haben.
Das hukou-SystemChinahukou-System ist noch älter als die Große Mauer und geht bis auf die Xia-DynastieXia-Dynastie (2070 bis 1600 v. Chr.) zurück, die damit anfing, jedes einzelne Mitglied jeder Familie zu registrieren. 1953 setzte die Kommunistische ParteiKommunistische Partei den Einsatz dieses antiken Systems fort, begann aber auch, die Menschen nach ihrem ländlichen oder städtischen Wohnort zu klassifizieren. Das war nicht bloß ein weiterer Weg, alles und jeden unter Kontrolle zu haben; man beabsichtigte vielmehr, Menschen am Umzug in die Städte zu hindern, die zu jener Zeit gar nicht in der Lage waren, einen Zustrom aufzunehmen. Auch sollten damit die erneuten Benachteiligungen der Landbevölkerung aus dem vorherigen Jahrhundert vermieden werden.
Das System existiert bis auf den heutigen Tag, und von jedem Bürger müssen der Name, die Namen der Eltern, das Geburtsdatum, der Ehepartner usw. erfasst werden – so weit, so international durchaus üblich. Doch in China bestimmt der Ort, wo eine Person registriert ist, auch deren Wohnort und vor allem, wo und in welcher Form die betreffende Person staatliche Hilfen in Anspruch nehmen kann. Die entscheidenden Trennlinien ergeben sich aus den Kategorien lokal/nichtlokal und bäuerlich/nichtbäuerlich.
Angenommen, Ihre Familie ist in Shanghai als nichtbäuerlich registriert. Damit haben Sie in der StadtChina unmittelbar Zugang zu einer Vielzahl staatlicher Leistungen im Gesundheits- und BildungBildungChinasbereich. Laut einem Papier in der ›China Economic Review‹ lag die Förderung pro Schüler in Beijing im Jahr 1998 zwölfmal höher als in der Provinz GuizhouGuizhou (Provinz) – im Jahr 2001 war sie gar auf das 15-Fache angestiegen. Ist Ihre Familie dagegen als bäuerlich registriert und stammt aus einer landwirtschaftlichen Region 1600 Kilometer westlich von Shanghai, haben die Schulen einen weit geringeren Standard als diejenigen in Shanghai, dasselbe gilt für das begrenzte Angebot an sozialen EinrichtungenChina und Dienstleistungen. Überdies müssen Sie extrem anstrengende und mühsame Arbeit leisten, die oft gerade einmal für den Lebensunterhalt reicht.
Also ziehen Sie lieber nach Shanghai und suchen sich Arbeit in der Fabrik. Sie verdienen augenblicklich mehr Geld und können vielleicht sogar einen Teil davon nach Hause an die Familie schicken. Aber Sie sind immer noch als »bäuerlich/landwirtschaftlich« registriert, deshalb haben Sie keinen Anspruch auf SozialleistungenChina oder Gesundheitsversorgung in Shanghai. Sollten Sie heiraten und ein Kind haben, berechtigt die Registrierung Ihres Kindes auch nicht zur SchulbildungChina in Shanghai. Das hat zum Entstehen einer riesigen Unterklasse städtischer Arbeitsmigranten aus ländlichen Gebieten geführt, die nun vollkommen von Sozialleistungen ausgeschlossen sind. Sie waren auf dem Land Bürger zweiter Klasse und müssen jetzt feststellen, dass sie in der Stadt ebenso behandelt werden.
Die RegierungChina steht vor einem Dilemma, wenn sie versucht, dieses Problem anzupacken. Eine Option besteht darin, eine Revolution der Sozialfinanzierung auf dem Land in die Wege zu leiten und die ländlichen Gebiete auf das Niveau der Städte anzuheben. Das würde aber nicht bloß Unmengen Geld kosten, es würde auch dafür sorgen, dass die Menschen lieber auf dem Land bleiben – und das ausgerechnet zu einer Zeit, da der Regierung bewusst ist, dass sie nach wie vor eine städtische Konsumbevölkerung schaffen muss, damit ihre Wirtschaftspolitik aufgeht. Und schlimmer noch: Einige derjenigen, die bereits in die Städte gezogen sind, werden zurück aufs Land gehen. Wenn dies geschieht, ist es vorbei mit dem Wirtschaftswunder, die Arbeitslosigkeit schießt in die Höhe, und soziale Unruhen sind die Folge.
Beijing ist gezwungen, irgendwie zu verhindern, dass die Bilanzen aus den Fugen geraten. Es muss ein hukou-SystemChinahukou-System für diejenigen Städter finanzieren, die aus den ländlichen Gebieten zugewandert sind, zugleich die SozialleistungenChina insgesamt erhöhen, da die Städte immer weiter wachsenChina – und dann muss der Staat, idealerweise gleichzeitig, die Standards auch auf dem Land anheben, ohne den Anreiz zum Umzug in die neu gebauten Städte aufzuheben. Am besten sollten dadurch neue Städte im Landesinneren entstehen.
Das ist eine gewaltige Aufgabe, und es ist nicht auf den ersten Blick zu erkennen, wie man das angehen soll. Ganz abgesehen von den enormen Kosten ist die Schaffung so vieler neuer städtischer Zentren, verteilt übers ganze Land, eine logistische Herausforderung. Beijing spielt mit dem Gedanken, den Regionalbehörden mehr Macht zur Erhebung lokaler Steuern einzuräumen, die Einnahmen durch Landverkäufe zu erhöhen und die Erträge nach eigenem Ermessen zu investieren. Das könnte schon funktionieren – aber wenn nicht, muss Beijing die betreffende Regionalregierung quasi herauskaufen. Und selbst wenn es gelingt, könnte es etwas anheizen, was die Partei fürchtet: Regionalismus.
DengDeng Xiaoping scheint gewusst zu haben, dass dieses Glücksspiel viele solcher Probleme aufwerfen könnte. In einem berühmten Interview im Jahr 1986 befragte Mike Wallace von CBS News den 82-jährigen Kommunistenchef zu der verblüffenden Aussage aus den späten Siebzigern, die ihm zugeschrieben wird: »Reich werden ist ruhmvoll.« DengDeng Xiaoping gab zurück: »Der Marxismus sagt, die kommunistische Gesellschaft gründet auf materiellem Überfluss … Reich zu werden ist folglich keine Sünde. Allerdings haben wir eine andere Vorstellung als Sie davon, was Reichtum bedeutet. Reichtum gehört in einer sozialistischen Gesellschaft dem Volk. In einer sozialistischen Gesellschaft reich zu werden bedeutet Wohlstand für das ganze Volk. Die Grundsätze des Sozialismus sind: Zuerst kommt die Entwicklung der Produktion, danach der allgemeine Wohlstand. Wir gestatten einigen Menschen und einigen Regionen, zuerst Wohlstand zu erlangen, um so den allgemeinen Wohlstand schneller zu erreichen. Deshalb wird unsere Politik auch nicht zur Polarisierungfinanzielle UngleichheitChina führen, zu einer Situation, in der die Reichen reicher und die Armen ärmer werden.«
Damit lag er zur Hälfte richtig und zur Hälfte falsch. Falsch, weil die Reichen eben doch reicher wurden, aber richtig, weil trotz der riesigen Ungleichheit die Armen immerhin nicht ärmer wurden – viele sind sogar tatsächlich reicher geworden.
China hat eine Mittelschicht mit rund 400 Millionen Menschen geschaffen, und weitere viele Hundert Millionen hat es zumindest aus bitterer Armut herausgeholt. Das Ganze ist ein laufendes Projekt, und die Möglichkeit, dass sich die Dinge wieder rückwärts entwickeln, ist nicht auszuschließen. Es gibt jedoch noch genug Chinesen, die sich erinnern können, wie arm die meisten Menschen früher waren, und auch, dass es praktisch keine Chance gab, sich selbst aus dieser Armut zu befreien – immerhin waren die meisten Großeltern der heutigen Erwachsenen einstmals Bauern in einer Feudalgesellschaft. Dadurch gewinnt die Partei etwas mehr Zeit, um das Problem anzugehen; wenn es ihr aber nicht bald gelingt, das Wohlstandsgefälle zu verringern, wird am Ende der Unmut der »Nicht-Zhaos« zunehmen.
Ein anderes Problem für die RegierungChina besteht in der alterndenChinaBevölkerungalternde Bevölkerung. Das trifft natürlich nicht nur auf China zu. Aber für China ist es ein besonders akutes Problem wegen der »Ein-Kind-Politik« und führt dazu, dass die demographische Alterung weitaus schneller ansteigt als in anderen Ländern. In nicht ganz einem Jahrzehnt ist die Anzahl der Älteren von 200 auf 300 Millionen gestiegen. Ist die Regierung für einen solchen demographischen Wandel gerüstet? Ihre Wirtschaftspolitik baut auf junge und im Überfluss vorhandene Arbeitskraft. Dieser Anteil an Arbeitskräften – und Steuerzahlern – schrumpft proportional, während die Kosten für die Pflege der Älteren steigen und das wirtschaftliche Wachstum gefährden.
Wieder ist nicht klar, worin die Lösung des Problems besteht. Eine Option wäre es, das Rentenalter um fünf Jahre hochzusetzen. Das verschiebt das Thema jedoch nur, und gleichzeitig entsteht dadurch ein neues Problem: Das Erziehungssystem produziert am laufenden Band Schulabgänger, die Arbeit suchen. Jetzt schon sind Arbeitslosigkeit und mangelnde Karrierechancen ein Thema, das noch virulenter wird, wenn die Älteren später in Rente gehen. Die Alternative besteht darin, die Renten abzusichern und die »Ein-Kind-Politik« fallenzulassen. Letzteres ist 2015 geschehen. Doch die Regierung sucht nach wie vor nach Lösungen für die Renten.
Dies also sind die diversen schwelenden Konflikte innerhalb der HanChinaHan-Volk-Bevölkerung, und alle können sich zu einer Gefahr für den Staat auswachsen. Die BehördenChina brauchen die Kontrolle über das chinesische Kernland, wenn sie die Wirtschaft auf Kurs und die entlegenen Regionen in Schach halten wollen. Ihre Lösung besteht darin, den InformationsflussChina zu kontrollieren, die Verbreitung abweichender Gedanken zu unterbinden, eine Konsolidierung der Opposition zu verhindern. Sie müssen spalten, um die Einheit zu wahren; und so entstand, im Zeitalter des InternetsInternet, die digitale Version der »Great Wall«, wie die Chinesische MauerChinesische Mauer im englischen Sprachraum heißt: die »Great FirewallChina«GreatFirewall (China).
Daraus ergeben sich zwangsläufig Widersprüche: InformationenChina unterdrücken und gleichzeitig eine dynamische Wirtschaft schaffen, die vermehrt auf Datenaustausch im Land selbst, aber auch mit dem Rest der Welt angewiesen ist – wie soll das gehen? In der Anfangszeit des InternetsInternet war das kein Problem für eine Regierung, die von ihrer Stellung als Chinas einziger Quelle von Macht und InformationenChina keinen Millimeter abzurücken gedachte. Der Zugang wurde eingeschränkt und die gesamte Kommunikation im Land staatlich kontrolliert. Die wenigen Internetcafés oder Universitäten, die mit dem Web verbunden waren, waren nicht schwer zu überwachen, weder physisch noch elektronisch. Noch 2005 hatten gerade einmal zehn Prozent der Bevölkerung einen Internetzugang. Heute sind es allerdings schon 50 Prozent – und täglich werden es mehr. Das sind rund 700 Millionen Benutzer, etwa ein Viertel der weltweiten Online-Gemeinde. Das lässt sich schon viel schwerer überwachen.
Die Chinesen digital von der Außenwelt abzuschotten war und ist einfacher, als den Kontakt untereinander zu verhindern. Was der Rest der Welt als »Great FirewallChina«GreatFirewall (China) bezeichnet, kennt man in China als den »Goldenen SchildChina«. Diese nach außen gerichtete Firewall soll das Volk der Chinesen vor schädlichen Ideen wie Demokratie, freie Meinungsäußerung und überwachungsfreie Kultur abschirmen. Natürlich gibt es »Schleichwege« wie etwa VPN-Services (Virtual Private NetworkVirtual Private Network (VPN)