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Im Namen der Thora
Die jüdische Opposition gegen den Zionismus
Das E-Book Im Namen der Thora wird angeboten von Books on Demand und wurde mit folgenden Begriffen kategorisiert:
Thora, Judentum, Oppostition gegen den Zionismus, Antizionismus, Nicht-Zionismus, Israel, Messianismus, Nationalismus
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Yakov M. Rabkin ist Professor für Geschichte an der Universität von Motreal. Von der Wissenschaftsgeschichte bis hin zur jüdischen und israelischen Geschichte hat er auf verschiedenen Gebieten gewirkt. Als Berater hat er für unterschiedliche internationale Organisationen gearbeitet, darunter auch für die UNESCO und die OECD. Seine Arbeiten und Kommentare werden international rezipiert und veröffentlicht unter anderem in der RAZ und Süddeutschen Zeitung.
Nur wenige Menschen sind sich darüber im Klaren, dass die meisten Juden, ob religiös oder nicht, den Zionismus ablehnten, als er gegen Ende des 19. Jahrhunders auftauchte. Diese Ablehnung ist bis zum heutigen Tag nicht verschwunden. Dieses Buch wirft Licht auf ein oft verdunkeltes Kapitel in der Geschichte des modernen Israels und ermöglicht einen ganz neuen Blick auf den seit über einem Jahrhundert währenden Konflikt im Heiligen Land.
Die Schrift des emeritierten Professors Yakov M. Rabkin wurde bis heute in vierzehn Sprachen übersetzt – darunter auch Arabisch und Hebräisch – und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.
Vorwort zur deutschen Ausgabe
Als israelischer Patriot und Philosoph
Vorwort von Professor Joseph Agassi(Universität Tel Aviv)
1 Grundlagen
Säkularisierung und Assimilation
Die Geschichte als Schlachtfeld
Anti-Zionisten und Nicht-Zionisten
2 Eine neue Identität
Vom Messianismus zum Nationalismus
Die Geburt des säkularen Juden
Die unvollendete Umgestaltung
Judenheit, Judentum, Israel
Das moderne Hebräisch und die säkulare Identität
3 Das Land Israel zwischen Exil und Rückkehr, zwischen Verbannung und Erlösung
Sünde und Strafe
Vorsicht Messias
Die zionistische Idee
Das zionistische Unternehmen
4 Der Einsatz von Gewalt
Kodifizierter Pazifismus
Russlands Juden: Vom Verlust der Hoffnung hin zur Anwendung von Gewalt
Selbstachtung und Selbstverteidigung
Widersprüchlicher Nationalismus
Israels Siege
Die Wurzeln des Terrors
5 Die Grenzen der Zusammenarbeit
Der Widerstand gegen den Zionismus im Heiligen Land
Der Widerstand gegen den Zionismus in der Diaspora
Beziehungen zum Staat
Der Staat und das Judentum
6 Der Zionismus, der NS-Völkermord und der Staat Israel
Der Genozid und seine Ursachen
Die Zionisten und der Genozid an den Juden in Europa
Wundersame Wiedergeburt oder Fortsetzung der Tragödie?
7 Untergangsprophezeiungen und Überlebensstrategien
Die Stellung des Staates Israel in der jüdischen Geschichte
Die öffentliche Debatte und ihre Grenzen
Hoffnung oder Bedrohung?
Schlusswort
Danksagung
Lexikon der Fachausdrücke
Biographische Notizen
Bibliographie
Anmerkungen
Der erste zionistische Kongress fand im Jahre 1897 in Basel statt. Wenigen dürfte bekannt sein, dass die Wahl dieses Ortes zustande kam, weil mehrere große jüdische Gemeinden in Deutschland sich mit Petitionen an die Behörden gewendet und darum gebeten hatten, die Durchführung des Kongresses in München zu verbieten. Insofern verweist Basel, der Geburtsort des Zionismus an der Wende zum 20. Jahrhundert, auf den scharfen Konflikt, den diese neue politische Bewegung unter den Juden hervorrief. Das vorliegende Buch ist eine Geschichte dieses folgenschweren innerjüdischen Konflikts, der bis heute andauert.
Mehr als ein Jahrzehnt musste vergehen, bis dieses Buch auf Deutsch erschien. Davor wurde es in vierzehn andere Sprachen übersetzt. Als vor einigen Jahren die hebräische Ausgabe publiziert wurde, geriet das Buch in eine Debatte über den Zionismus und den zionistischen Staat, der in den israelischen Medien mit großer Lebhaftigkeit geführt wurde. Anlass für diese Debatte war die wachsende Sorge um die Zukunft der Juden, auch jener in Israel, eine Sorge, die auch mich dazu bewegte, mich mit diesem Thema zu beschäftigen.
Tatsächlich ist die Idee zu dieser Arbeit in Israel entstanden, im Laufe eines Seminars über jüdisches antizionistisches Denken. Die meisten Teilnehmer auf diesem Seminar waren religiöse Juden und engagierte Zionisten, einige von ihnen wohnten in den von Israel im Jahre 1967 besetzten Gebieten. Sie wollten verstehen, warum der Zionismus, den sie ganz selbstverständlich als etwas grundsätzlich Positives und Jüdisches betrachteten, von den meisten Rabbinern und jüdischen Religionsgelehrten abgelehnt wurde. Wir verbrachten mehrere Monate mit dem Studium der rabbinischen Kritik am Zionismus und der klassischen Quellen des Judentums, dem Talmud, dem Midrasch und der rabbinischen Rechtsprechung (Responsa), auf die sich diese Kritik stützt. Auf einer anderen Ebene war meine Teilnahme an diesem Seminar Teil meines kontinuierlichen Thora-Studiums, dem ich als religiöser Jude seit fast einem halben Jahrhundert in Israel, Frankreich und Kanada nachgehe. Mein Arbeitgeber, die Université de Montréal, ermöglichte es mir, mehrere Sabbatjahre in Israel zu verbringen (zwei meiner Töchter wurden dort geboren, eine der beiden hat sich inzwischen dort niedergelassen). Es war das lebhafte intellektuelle Klima Israels, das mich dazu inspirierte, ein Buch über die jüdische Opposition gegen den Zionismus zu schreiben, über ein Phänomen, das vielen deutschen Lesern sicherlich paradox erscheinen mag, sogar ein Oxymoron. Wie jede Revolution rief der Zionismus Widerstand hervor, der sich bis heute hartnäckig hält. Der am klarsten formulierte Wider- stand kommt von Juden, unter ihnen viele Rabbiner, die sich gut in der Thora auskennen. Sie stehen vor schwierigen Entscheidungen. Die Infragestellung des Zionismus, wie generelle Kritik an der Politik Israels, kann ihnen den Vorwurf des Verrats, des Selbsthasses und sogar des Antisemitismus einbringen. Die Rabbiner der »Liberal Jewish Synagogue« in London haben die Frage- stellung klar formuliert:
Wir scheinen wählen zu müssen zwischen Loyalität gegenüber unserem Volk und Loyalität gegenüber Gott. Haben die Propheten etwa nicht ihr Volk geliebt? Dennoch tadelten sie seine Führung heftig. Hat irgendjemand das jüdische Volk leidenschaftlicher geliebt als Jeremia? Doch genau aus diesem Grund und verurteilte er dessen Sünden umso leidenschaftlicher.
Als ich nach Israel reiste, um die hebräische Ausgabe dieses Buches zu bewerben, hatten sich zufällig gerade am Tag meiner Ankunft mehr als eine halbe Million religiöser Juden vor den Toren der Stadt Jerusalem versammelt, um gegen ein neues Gesetz zu protestieren, das viele von ihnen verpflichtet hätte, in der Armee zu dienen. Sie leben zwar in dem Land Israel, aber viele von ihnen sprechen dem zionistischen Staat und seinen Gesetzen Legitimität ab. So ist es nicht verwunderlich, dass der israelische Verlag dieses Buch mit dem Untertitel Die Geschichte eines andauernden Kampfes versehen hat. Keine andere Frage spaltet die Juden so stark wie die »Israelfrage«, die aus dem Versuch der Zionisten entstand, die »Judenfrage« zu lösen. Aber diese Spaltung ist höchst aufschlussreich. Um ein Lied von Leonard Cohen (19342016), einem in Montreal geborenen Juden, zu zitieren: »There is a crack in everything – this is how the light gets in«. (»Es gibt in allem einen Riss – so kommt das Licht herein«).
Warum sollte diese innerjüdische Debatte, so faszinierend sie in intellektueller Hinsicht auch sein mag, deutsche Leser interessieren? Zumindest aus zwei Gründen: Erstens konzentriert sich das aktuelle deutschsprachige Narrativ über die Juden auf die Dichotomie zwischen Kosmopoliten (wie dem Emigranten Herbert Marcuse) und Nationalisten (wie dem Zionisten Gershom Scholem). Diese duale Vorstellung erkennt die traditionellen Juden nicht als Europäer an und wird zugleich dem jüdischen Pluralismus nicht gerecht. »Es muss ein Raum geöffnet und neue Konzepte für die jüdische europäische Geschichte erdacht werden, um das traditionelle Judentum zu integrieren« (Hacohen, 14).
Mein Buch öffnet diesen Raum, indem es den deutschen Leser in einen Konflikt einführt, der sowohl kosmopolitische als auch traditionelle Juden involviert. Zweitens klärt dieses Buch die weit verbreitete Verwechslung von Juden und Israel auf. In beispielhafter Weise brachte die deutsche Kanzlerin Angela Merkel diese Verwechslung in einer Rede vor dem israelischen Parlament zum Ausdruck: »Deutschland und Israel sind und bleiben durch die Erinnerung an den Holocaust in besonderer Weise verbunden.« Viele Deutsche meinen es gut, wenn sie Juden, die wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit im Holocaust gelitten haben, mit dem Staat Israel verwechseln, der als Ethnokratie für die Juden begriffen wird. Auf Grund dieser Verschmelzung von Juden und Israel betrachtet man in Deutschland den Staat Israel als kollektiven Überlebenden des Holocaust und gewährt ihm außergewöhnliche politische, wirtschaftliche und militärische Unterstützung. Dies wiederum wirft nicht nur Fragen hinsichtlich der Gestaltung der deutschen Außenpolitik auf, sondern widerspricht auch dem Traum der Gründerväter des zionistischen Staates, nämlich dass Israel eine normale Nation werden und als solche behandelt werden sollte.
Hannah Arendt, die als Jüdin vor den Nazis in die Vereinigten Staaten floh, war fest davon überzeugt, dass mörderische Amoralität nicht auf eine Nation oder eine Ideologie beschränkt ist. Arendt und 25 andere jüdischen Intellektuelle, unter ihnen Albert Einstein, warnten in einem offenen Brief an die New York Times vor der inhärenten Gefahr des exklusiven ethnischen Nationalismus der Zionisten. Im Dezember 1948, knapp ein halbes Jahr nach der einseitigen Proklamation des Staates Israel, bezeichneten sie den Vorläufer von Netanyahus Likud als »eine politische Partei, die in ihrer Organisation, ihren Methoden, ihrer politischen Philosophie und ihrer sozialen Anziehungskraft den nationalsozialistischen und faschistischen Parteien sehr ähnlich ist«.
Dieser Brief enthält zwar Vergleiche, die im heutigen Deutschland möglicherweise illegal sind, veranschaulicht aber auch, dass nicht nur ultra-orthodoxe Rabbiner den exklusiven ethnischen Nationalismus ablehnten. In der Folge des NS-Völkermords glaubten etliche deutsche Juden, dass ein demokratischer Staat, der Diskriminierung aufgrund von Ethnizität und Religion verbietet, die Zukunft der Juden am besten sichern würde, sei es im Heiligen Land oder anderswo. Diejenigen, die die zionistische Bewegung kontrollierten, zogen jedoch aus dem NS-Genozid eine andere Lehre: Für sie war er eine Folge der Schwäche der Juden. Diese zionistischen Führer erdachten die Vision eines neuen »Muskeljuden« und verwandelten einigen höchst erfolgreichen Militäraktionen Hunderttausende arabischer Bewohner Palästinas in Flüchtlinge, womit sie alle egalitären Hoffnungen für diese Region zunichtemachten. Das Ergebnis ist ein Zustand von permanenten Konflikten und Gewalt.
Das im Sommer 2018 verabschiedete neue Staatsangehörigkeitsgesetz erklärt Israel zur Heimat aller Juden. Israels Raison d‘être beruht auf dem Glauben, dass der Antisemitismus universell und ewig sei. Viele Juden, auch in Israel, teilen diesen Glauben keineswegs, weshalb sie, wenn sie dazu die Möglichkeit haben, friedliche pluralistische Demokratien dem zionistischen Staat vorziehen. Berlin hat inzwischen die höchste Konzentration von Israelis in Europa. Hunderttausende ehemaliger sowjetischer Juden ließen sich um die Jahrhundertwende in Deutschland nieder, obwohl Israel alles tat, um dies zu verhindern.
Darüber hinaus spielen Juden eine wichtige Rolle in politischen Kampagnen, die gegen die israelische Behandlung der Palästinenser protestieren, wie beispielsweise die weltweite BDS-Bewegung (»Boycott, Disinvestment and Sanctions«, zu Deutsch »Boykott, Investitionsentzug und Sanktionen«). Die Entscheidung des Bundestages vom Mai 2019, den kommerziellen Boykott israelischer Importe als Antisemitismus zu bezeichnen, ist wohl mit der Gleichsetzung von Juden und Israel zu erklären. Eine gewaltfreie politische Kampagne, die dagegen protestiert, wie die im Nahen Osten dominante Militärmacht mit den Palästinensern umgeht, wird zu Unrecht mit dem nationalsozialistischen Slogan »Kauft nicht bei Juden!« in Verbindung gebracht, der sich gegen eine jüdische Minderheit in Deutschland richtete.
Während rechtsextreme Bewegungen in Europa und andernorts in Israel neuerdings ein Bollwerk gegen Araber und Muslime sehen, hört man oft auch die Frage: »Wie können diejenigen, die unter den Nazis derartig gelitten haben, die Palästinenser so behandeln?« Eine nähere Betrachtung des Zionismus, wie sie dieses Buch gibt, mag die Antwort darauf geben.
Die Gründerväter des Zionismus waren stolz darauf, eine radikale Revolution ausgelöst zu haben, die Juden nicht nur ihren Geburtsländern, sondern auch ihrer moralischen Tradition entfremdete; einschließlich des folgenden prinzipiellen moralischen Imperativs: »Einen Fremden sollst du nicht ausbeuten. Ihr wisst doch, wie es einem Fremden zumute ist; denn ihr selbst seid in Ägypten Fremde gewesen.« (Exodus 23:9).
Dieses Buch soll den deutschen Lesern helfen zu verstehen, warum viele Juden, zu bestimmten Zeiten sogar die meisten, den Zionismus als etwas der jüdischen Kultur und Religion Fremdes ablehnten. Es stellt den Unterschied zwischen Juden und Israelis, zwischen Judentum und Zionismus heraus. So werden sie sich im Nachdenken über Themen, für die sich viele Deutsche mit Recht interessieren, mehr Klarheit verschaffen.
Montreal/Tel-Aviv, Dezember 2019
Übersetzung: Jürgen Jung
Vorwort von Professor Joseph Agassi (Universität Tel Aviv)
Im Europa des 19. Jahrhunderts praktizierten viele Menschen sowohl Säkularismus1 als auch Religion. Andere praktizierten Säkularismus anstelle von Religion. Auf diese Weise wurde der Nationalismus zu einer säkularen Religion, was wiederum den Staat zu einem Monster machte und die schlimmsten Katastrophen des 20. Jahrhunderts hervorbrachte. Dieses Buch hat sich das Ziel gesetzt, eine Debatte über den Nationalismus in meinem Land, in Israel, anzuregen. Der Autor hinterfragt den in diesem Lande verbreiteten Mythos, demzufolge Israel die Juden auf der ganzen Welt schütze und ihre naturgegebene Heimat sei. Das Buch zeigt, dass dieser Mythos anti-jüdisch ist. Die meisten Juden sehen irrtümlicherweise die Erfüllung dieses Mythos im Zionismus und argumentieren, dass wir nur dann unabhängig sein können, wenn alle Juden aus der Diaspora sich hier zusammenfinden. Die Juden müssten entscheiden, ob die Interessen des Staates Israel mit ihren eigenen Interessen übereinstimmen oder ihnen widersprechen. Gleichwohl ist diese Frage im Kontext der heutigen zionistischen Ideologie tabu. Mehr noch, diese Ideologie hält den Antisemitismus für unvermeidlich und Israel für den einzigen Ort, wo ein Jude sicher sein kann. Diese Auffassung ist ihrem Wesen nach antidemokratisch: Sie erklärt die Emanzipation der Juden in der modernen Welt a priori für nicht realisierbar.
Auf der anderen Seite erwartet diese auf Mythen basierende Ideologie von den Juden, Israel zu unterstützen, oft auf Kosten der nationalen Interessen der Länder, in denen sie leben. In ihrer bedingungslosen Unterstützung für Israel haben die meisten Führer der Diaspora nichts Besseres zu bieten, als das abgestandene Motto »My country, right or wrong« (»In Recht oder Unrecht, es ist mein Land«). Israelische Regierungen gebaren sich, als wären sie noch Führer der Gemeinde innerhalb von Ghetto-Mauern. Sie missachten die Interessen der nichtjüdischen Menschen in Israel und tragen so zu einem permanenten Kriegszustand bei, denn ein Ghetto mit einer starken Armee stellt eine große Gefahr dar. Dieses Buch zeigt, warum es so wichtig ist, den Mythos hinter sich zu lassen. Gerade dieser ist es nämlich, der viele Menschen, darunter auch zahlreiche israelische Juden, daran hindert, die Authentizität des jüdischen Antizionismus anzuerkennen und seine Verbundenheit mit der jüdischen Tradition einzugestehen. Für eine ehrliche Debatte über Israel und den Zionismus ist es entscheidend, die Legitimität des religiösen Anti-Zionismus zu respektieren. Solange die Zionisten, sowohl jüdische als auch christliche, diese Legitimität leugnen, wird diese Debatte unterdrückt werden.
Es ist nur allzu offensichtlich, dass man die sich auf die Thora gründende Opposition gegen den Zionismus gut kennen muss; andernfalls wird man den Kult der heiligen zionistischen Kuh nur noch verstärken. Dieser Kult beinhaltet die Vorstellung von der zentralen Rolle Israels im jüdischen Leben und das Recht der israelischen Regierung, für das Weltjudentum zu sprechen. Gegenwärtig erklären Zionisten jedwede Opposition gegen den Zionismus für antisemitisch, und dies hat schwerwiegende Konsequenzen für Juden überall auf der Welt, einschließlich der Juden in Israel. In der Theorie ist es wichtig, klar zu denken, zwischen unterschiedlichen Konzepten zu differenzieren. In der Praxis mag das weniger bedeutsam erscheinen. Genau an dieser Stelle erweist sich der besondere Nutzen dieses Buches. Es zieht wenig bekannte historische Fakten heran, um folgende Begriffe zu differenzieren:
Zionismus und Judentum
Israel als Staat, als Land, als Territorium und als das Heilige Land
Juden (Israelis und andere)
Israelis (Juden und Nicht-Juden)
Zionisten (Juden und Christen)
Antizionisten (wiederum Juden und Christen).
Um ein Beispiel zu geben: Wenn man Israel »den jüdischen Staat« nennt, verursacht dies eine reale und gefährliche Konfusion von Glauben und Nationalität. Man muss nicht religiös sein, um gegen die Instrumentalisierung religiöser Begriffe durch den Staat Israel zu protestieren. Ich bin nicht religiös und beteilige mich auch nicht an dem gegenwärtigen Trend, den Zionismus und seine Geschichte zu kritisieren. Aber als israelischer Patriot und Philosoph erachte ich es für unabdingbar, den jüdischen Antizionismus in die zwingend notwendige Debatte über Israels Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu integrieren.
Joseph Agassi
»Ich will einen König über mich einsetzen wie alle Völker in meiner Nachbarschaft!«(Deuteronomium 17:14)
Der Zionismus ist vielleicht eine der letzten revolutionären Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts, die bis in unsere Zeit andauert. Die Zionisten und ihre Gegner gleichermaßen sehen in der Entstehung des Zionismus und der Proklamation des Staates Israel einen schicksalhaften Bruch mit der jüdischen Geschichte, die mit der Haskala, der jüdischen Aufklärung, und der damit verbundenen Emanzipation und Säkularisierung der europäischen Juden begonnen hatte.
Der Begriff »Zionismus« wurde Ende des 19. Jahrhunderts von Nathan Birnbaum (1864–1937) erfunden, einem österreichischen Juden, der dem Chassidismus seiner orthodoxen Vorfahren entsagte und einer der bedeutendsten Aktivisten der jüdischen Nationalbewegung wurde. Als Generalsekretär der zionistischen Weltorganisation förderte er mit allen Mitteln die Entwicklung des zionistischen Selbstverständnisses. Er zog sich jedoch nach wenigen Jahren enttäuscht vom Zionismus zurück und wurde sein kompromissloser Kritiker. Wie durch eine Ironie des Schicksals durchlebte hundert Jahre später der israelische Parlamentspräsident Avrum Burg eine ähnliche Wandlung. Auch er hatte eine bedeutende Stellung in der Führung der zionistischen Bewegung inne und übte später nicht nur gnadenlose Kritik am Zionismus, sondern auch an der israelischen Gesellschaft, in der er geboren wurde und aufwuchs.
Unter den zahllosen Strömungen des Zionismus gewann schließlich eine Richtung die Oberhand, die sich vier grundsätzliche Ziele setzte:
1. Das jüdische Selbstverständnis, das sich an der Thora und den religiösen Geboten orientierte, in ein zu jenen Zeiten in Europa übliches, nationales Selbstverständnis umzuwandeln.
2. Eine auf dem biblischen und dem rabbinischen Hebräisch beruhende gemeinsame moderne Landessprache, das Iwrit, zu schaffen.
3. Alle Juden aus den Ländern ihrer Geburt nach Palästina*2 zu führen.
4. Die politische und ökonomische Kontrolle über das »Altneuland«3 zu gewinnen, falls nötig mit Gewalt.
Während andere jüdische Nationalbewegungen nur die Macht im eigenen Land übernehmen, quasi »Herr im eigenen Haus« sein wollten, setzte sich die zionistische Bewegung höhere Ziele. Sie strebte auch die Erfüllung der ersten drei Punkte an.
Der Zionismus war der gewagte Versuch einer Zwangsmodernisierung und Umgestaltung eines Landes, das man für rückständig hielt und »begierig nach lebenspendender Erweckung« durch die europäischen Siedler. In diesem Sinne ist Israel bis heute ein Versuch, eine westliche Modernisierung in einer immer noch feindseligen Region zu verwirklichen. Das Blutvergießen im Heiligen Land, das seit mehr als hundert Jahren anhält, zeugt davon, dass die zionistische Bewegung, trotz ihrer unbestreitbaren wirtschaftlichen und militärischen Erfolge noch immer keinen endgültigen Sieg errungen hat.
Seit Beginn der Kolonisierung standen nicht nur die Araber, die sich als Opfer dieses Prozesses sehen, dem Zionismus feindlich gegenüber, sondern auch jene Juden, die das säkulare nationale Selbstverständnis ablehnen, auf dem das ganze zionistische Projekt aufbaut. Es ist interessant festzustellen, dass ausgerechnet in diesen zwei Bevölkerungsgruppen der größte demographische Zuwachs stattfindet. Das folgende Zitat des englischen Philosophen Leon Roth soll als Hintergrund dieses Buchs dienen:
Das Judentum4 war immer größer als die Anzahl seiner Gläubigen. Das Judentum hat die Juden geschaffen, nicht umgekehrt … Das Judentum war zuerst da, es ist nicht Derivat, sondern Ziel, und die Juden sind das Mittel ihrer Verwirklichung.(Johnson, 582)
Um die Komplexität einer jeden Diskussion über die Geschichte der Juden seit mehr als zweihundert Jahren einschätzen zu können, muss man verstehen, dass die Säkularisierung, das heißt die vollständige Befreiung der Juden vom »Joch der Thora und ihrer Gebote«, einen Keil zwischen die Begriffe »Judenheit« und »Judentum« trieb.
Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts war der Begriff »Jude« normativ: Er meinte einen Menschen, dessen Verhalten sich per definitionem bestimmten Prinzipien, nämlich den Geboten der Thora, unterordnete, die der gemeinsame Nenner für alle Juden waren. Selbst wenn ein Jude die Gebote verletzte, verleugnete er ihre Bedeutung nicht.
Die Worte aus der Thora »Ihr aber sollt mir als ein Reich von Priestern und als ein heiliges Volk gehören« (Exodus 19:6) waren für den Juden immer Gebot, Zuversicht und Quelle der Inspiration, und sie sind es geblieben, ganz einerlei, ob er alle 613 Gebote und Verbote erfüllte oder nicht. Rabbi Simon Schwab beschrieb das jüdische Leben wie folgt:
Innerhalb des Judentums [gab es] nur eine gültige Definition jüdischer Vorsehung: In der Treue zur göttlichen Lehre bestand der Sinn eines jeden Juden. Sie war die Grundlage der ethnischen Gemeinschaft, der nationalen Einheit der Juden, die den Verlust ihrer politischen Unabhängigkeit überlebte [...]. Und die brennende Hoffnung und alles verzehrende Sehnsucht nach einer noch unbekannten Zukunft, die leidenschaftliche Erwartung des Messias, der kommen wird und die Menschheit um das Heiligtum des Herrn vereint.(Schwab, 17).
Die Säkularisierung löste eine revolutionäre Umwälzung des jüdischen Selbstverständnisses aus, indem sie den Ausdruck »Judentum« aus einem ehemals normativen Begriff, der bestimmte religiöse und gesellschaftliche Verpflichtungen beinhaltete, die von der jüdischen Tradition definiert wurde, zu einem lediglich deskriptiven machte. Traditionell unterscheiden sich die Juden von ihrer nichtjüdischen Umgebung durch das, was sie tun oder tun sollen, während die neuen Juden sich nach sogenannten »objektiven«, angeblich wesentlichen, Kennzeichen, wie der Sprache, der Kultur oder dem Territorium, definieren.
Der Zionismus veränderte das jüdische Leben, ja sogar die Bedeutung des Wortes »Israel« selbst. Rabbi Jacob Neusner, Theologieprofessor am Bard College in New York, schreibt:
Das Wort »Israel« bezeichnet heute in der Regel den Staat Israel. Wenn jemand sagt: »Ich fahre nach Israel«, meint er damit, dass er nach Jerusalem oder Tel Aviv reisen werde. In der Bibel jedoch und in den kanonischen Texten der jüdischen Religion ist »Israel« die heilige Gemeinde, die Gott seit Abraham und Sarah auserwählt und der er am Berg Sinai die Thora (»Die Lehre«) übergeben hat. In den Psalmen und den Büchern der Propheten sowie in den Schriften der Weisen Israels aller Zeiten und in allen jüdischen Gebeten ist es diese heilige Gemeinde, die Israel genannt wird. In der Mehrzahl der Lesearten des Judentums bedeutet »Israel angehören« das Leben nach dem Bild und Gleichnis Gottes zu gestalten, so wie es in der Thora geschrieben steht. In den Gebeten in der Synagoge beschreibt das Wort »Israel« heute die heilige Gemeinde, im öffentlichen jüdischen Leben aber ist es auch der Name des Staates Israel.(Neusner, 3-4)
Neusner kommt zu dem Schluss, dass »der Staat wichtiger geworden ist als die Juden«, und zieht damit eine scharfe Grenze zwischen Juden und Juden, die sich zum Judentum als Religion bekennen. Er betont auch die Verschiebung des jüdischen Selbstverständnisses, die sich seit mehr als hundert Jahren vollzieht, und die aus einem Volk mit einem gemeinsamen Glauben ein Volk mit einem gemeinsamen Schicksal gemacht hat.
Die jüdische Gemeinde mag noch so klein sein, das Judentum könnte dennoch blühen unter denen, die es praktizieren. Aber selbst, wenn es viele Juden gibt, und auch wenn sie zu Einfluss kommen, aber dabei aufhören, das Judentum auszuüben oder sich einer anderen Religion zuwenden, wird das Judentum seine Stimme verlieren, selbst wenn die Juden als Gesellschaft prosperieren Die Schlussfolgerung ist klar. Ein Buch (das heißt, eine Sammlung religiöser Gedanken, die für die Gemeinschaft abstrakt bleiben) ist kein Judentum. Aber gemeinsame Ansichten zu irgendeinem Thema, selbst wenn alle Juden sie teilen, machen auch nicht das Judentum aus.(Neusner, 3)
Der Zionismus entstand Ende des 19. Jahrhunderts unter den Juden, die sich von der Tradition abgewendet hatten, das heißt unter den assimilierten Juden in Zentraleuropa. Die wenigen Juden, die sich nach Erreichen der formalen Emanzipation um Aufnahme in die gehobene Gesellschaft bemühten, fühlten sich verletzt und zurückgestoßen. Wie oft schon ihre Eltern, hielten sie sich nicht an die Gebote der Thora und waren kaum mehr mit den normativen Aspekten des Judentums vertraut. Sie schlossen sich der sich im gesamten Europa vollziehenden Loslösung von der Religion an und empfanden es als Kränkung, dass die Gesellschaft sie nicht als vollwertige Mitglieder aufnahm. Das war eine sehr spezifische Kränkung, die die säkularisierten Christen in Frankreich oder Deutschland nicht kannten. Wie Shlomo Avineri, Historiker für Zionismus, Professor der Staatswissenschaften an der Hebräischen Universität in Jerusalem und ehemaliger Direktor des Auswärtigen Amtes, bemerkt, eröffnete das 19. Jahrhundert den Juden nie dagewesene Perspektiven und Möglichkeiten (vgl. Avineri, 1981, 8). Gleichwohl führten all ihre Bemühungen, sich vollständig in die Gesellschaft zu integrieren, nicht zum erwarteten sozialen und psychologischen Ergebnis. Vor diesem Hintergrund erwuchs der Zionismus. Mit anderen Worten: »Der Zionismus war eine Erfindung assimilierter Intellektueller […], die die Rabbiner loswerden wollten, von der Moderne träumten und sich die Hacken abliefen auf der Suche nach einem Mittel gegen ihre Schwermut.« (Barnavi, 218).
Der Zionismus weckte die Hoffnung, dass statt der unzulänglichen individuellen Assimilation eine weitreichende kollektive Assimilation erfolgen werde, eine »Normalisierung« des jüdischen Volkes. Kaum einer der assimilierten Juden stellte die Idee der Assimilierung an sich in Frage. Sie galt als unstrittiges Zeichen des Fortschritts. Viele von ihnen waren Angehörige der ersten Generation von Juden, die die Gebote der Thora nicht mehr befolgten und die Möglichkeit, zum Judentum zurückzukehren, überhaupt nicht in Erwägung zogen. Manche konvertierten zum Christentum, ob kollektiv oder einzeln, niemand aber rief zur Rückkehr zum Glauben der Väter auf.
Auch die Verfolgungen durch die Nazis bewirkten keine Rückkehr zur Tradition. Vergeblich rief Rabbi Schwab 1934 die Juden in Deutschland zur »Heimkehr ins Judentum« auf. Die Verdrängung der Juden aus allen Bereichen des öffentlichen und kulturellen Lebens führte zu einem gewaltigen Aufblühen des jüdischen Gemeindelebens, aber nur sehr selten zu einer Rückkehr zur Religion.
Man gründete Sportvereine und sogar einen waschechten »Kulturbund«, bloß damit wir, Gott behüte, »nicht wieder im Ghetto« landen ... Ja, wir werden drangsaliert, aber wir bereuen nicht, wir sind gedemütigt, aber wir haben keine Demut, schon gar nicht vor Gott [...]. Aber wenn es so ist, sind wir dann noch Gottes Volk??(Schwab, 23-24)
Aber all dies kann das Entstehen des Zionismus nicht ausreichend erklären. Die persönliche Gekränktheit einzelner Personen und Familien, auch kleiner sozialer Gruppen, vor allem unter den bessergestellten Juden, Ärzten, Rechtsanwälten, Bankern etc., so schmerzlich sie war, hätte doch keine Massenbewegung hervorbringen können. Eine solche Bewegung konnte nur dort erstarken, wo die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen für Juden weitaus ungünstiger waren. Deshalb waren nicht die Länder des Westens die eigentliche Wiege des Zionismus in seinen konkreten Erscheinungsformen, sondern Osteuropa, insbesondere das russische Reich. Die Ausbreitung der zionistischen Ideen bewirkte einen tiefen Wandel im gesellschaftlichen Selbstverständnis der Juden. Die Zionisten setzten zur Erreichung ihrer Ziele auf offensive Agitation der Massen. Die zionistischen Ideen, so einfach und evident sie auch schienen, waren tatsächlich vollkommen neu, sie widersprachen der jahrtausendealten Tradition. Darin liegt die Erklärung für die zurückhaltende Einstellung der meisten Juden dieser Zeit dem Zionismus gegenüber. Unterdessen bahnten sich die Haskala und die Säkularisierung ihren Weg immer tiefer in das neue jüdische Selbstverständnis. Es gelang dem Zionismus, zu überleben, und später Eingang in Herz und Verstand der Menschen zu finden, indem er der Religion entsagte, ein Prozess, der damals in fast allen europäischen Völkern vonstattenging und das Eindringen eines nationalen Elements in das jüdische Selbstverständnis ermöglichte.
Das zaristische Regime in Russland konzentrierte die meisten Juden in eigenen Wohngebieten, weit weg von den attraktiven Zentren der russischen Kultur. Losgelöst von der Bindung an die Thora entwickelten dort die säkularen Juden einen »protonationalen Charakter und ein nationales Bewusstsein« (Leibowitz, 132). Die russischen Juden besaßen zumindest zwei Merkmale einer »normalen« Nation: ein gemeinsames Territorium (den Ansiedlungsbezirk) und eine gemeinsame Sprache (Jiddisch). Der Zionismus war nur eine von mehreren Bewegungen einer nationalen Wiedergeburt, wie sie zu jener Zeit die europäischen Völker in Aufruhr versetzten, zum Beispiel Finnen, Litauer, Polen und Tschechen. Am Ende des 19. Jahrhunderts, als die Welle der Säkularisierung die Juden in Russland erfasste, trug der aufkommende Antisemitismus das Seine zum Erfolg des Rassenzionismus bei.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts zog nur etwa ein Prozent der Juden, die das russische Reich verließen, nach Palästina. Die Mehrheit wählte den Weg nach Nordamerika. Trotzdem bildeten gerade die Emigranten aus Russland das Rückgrat der zionistischen Aktivitäten. Viele von ihnen hielten den Kontakt mit der Heimat aufrecht, und so mancher kehrte in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts gar in die Sowjetunion zurück, um dort am Aufbau des Sozialismus teilzunehmen. Der Gründer des Staates Israel, David Ben-Gurion (1886-1973), bewunderte Lenin und die kommunistische Revolution. Er nannte sie »eine große Revolution, die erste Revolution, die dazu bestimmt ist, die gegenwärtige Wirklichkeit mit der Wurzel auszureißen, ihre Fundamente zu zerstören, von dieser dekadenten und verfaulten Gesellschaft keinen Stein auf dem anderen zu lassen« (Barnavi, 219). Obwohl sie sich von ihrer eigenen Vergangenheit lösen wollte, übernahm die zionistische Elite in dem neuen Land die ihr aus Osteuropa vertrauen gesellschaftlichen und politischen Eigenarten, zum Beispiel die offen zur Schau gestellte Gottlosigkeit, den Kollektivismus oder die freie Liebe. Dieser »kulturelle Zwang« rief Widerstand hervor, zuerst von Seiten der orthodoxen Juden, die seit Generationen im Heiligen Land lebten, später von Juden, die aus islamischen Staaten gekommen waren, also von all denen, die in den sozialen Strukturen europäischen Typs, den Kibbuzim und anderen Formen kollektiven Lebens, die von seinen Gründern im zionistischen Staat aufgebaut wurden, keinen Platz finden konnten.
Die treibende Kraft des Zionismus in Russland waren die Maskilim, die Gebildeten, die Anhänger der Haskala. In vielen Fällen waren es ehemalige Schüler von Talmud-Hochschulen. Sie hatten bestimmte Vorstellungen von europäischer Kultur, besaßen aber in der Regel keine systematische europäische Bildung. Diese soziale Gruppe formte das neue Selbstverständnis des säkularen Juden (dazu mehr in Kapitel Zwei).
Ein Teil der Maskilim lernte Hebräisch und distanzierte sich bewusst von der eigenen Muttersprache, dem Jiddischen. Im Unterschied zu den westlichen Juden interessierten sie sich lebhaft für die Umgestaltung der Gesellschaft, prangerten wirtschaftliche Ungerechtigkeiten an und übten scharfe Kritik an den jüdischen Institutionen ihrer Zeit. In den ersten Jahrzehnten seines Daseins war der Zionismus durchdrungen von einem radikalen Idealismus (vgl. Reinharz). Auch die Pogrome am Ende des 19. Jahrhunderts förderten bei den jungen Juden maßgeblich die Hinwendung zu ethnisch-nationalen Ideologien wie dem Zionismus.
Der Zionismus bewirkte eine Umorientierung der Juden. Nicht mehr die passive Haltung der Erwartung des Messias, sondern die aktive Beteiligung am historischen Prozess wurde ihr zentrales Motiv. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie legitim aus dem Blickwinkel der jüdischen Tradition Nationalismus und jede Art von politscher oder gar militärischer Aktivität sind. Dr. Theodor Herzl (1860-1904), der Gründer des politischen Zionismus, geboren in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, assimilierter Jude und Publizist, erhob den Anspruch, alle Juden der Welt zu repräsentieren und das ungeachtet dessen, dass Jahrhunderte lang diejenigen, die den jüdischen Gemeinden vorstanden, in der Thora besser bewandert waren als er und die die Gebote, im Gegensatz zu ihm, streng befolgten. Herzls Vorgehen entsprach absolut dem Zeitgeist. Auch die Bolschewiki, die ja zunächst nur eine kleine Gruppe von Intellektuellen waren, erklärten sich selbst zu Vertretern der gesamten Arbeiterklasse. Zu dieser Zeit entstand in Europa eine Vielzahl verschiedenartiger Gruppierungen, die sich als »revolutionäre Avantgarde« bezeichneten und meinten, die »Gesetze der Geschichte« entdeckt zu haben. Damit glaubten sie sich im Recht, im Namen der »breiten Massen« zu sprechen, die ihrerseits den Aktivitäten, die in ihrem Namen geschahen, meistenteils gleichgültig, oft sogar feindselig gegenüberstanden. Aber Dr. Herzl schöpfte seine Legitimation noch aus einer weiteren Quelle: Er wollte die Juden nur in dem konkreten Fall der Suche nach einer politischen Lösung der Judenfrage repräsentieren, ansonsten in keiner Weise. Dies bewog schließlich die Führer der orthodox-zionistischen Misrachi-Bewegung, Rabbi Isaac Jacob Reines (1839-1915) und Rabbi Shmuel (Samuel) Mohilever (1824-1898), unter Bezug auf die »Zuk Haitim«, die Zeit der Drangsal, Herzl ihre Unterstützung zuzusagen.
All das betrifft die Anfänge des Zionismus. Heute sieht die Lage vollkommen anders aus: Der romantische säkulare Nationalismus der ersten Jahrzehnte nach der Entstehung des Zionismus, der die Verbundenheit der Juden mit dem Land betonte, ist heute erloschen. Gleichzeitig verstärkte sich die nationalreligiöse5 Bewegung, deren Anhänger konsequent eine echte Revolution im Judentum vollziehen, aber an den rituellen Geboten festhalten. Sie sind diejenigen, die die Besiedelung des Westjordanlandes, im Gazastreifen und auf den Golan-Höhen, die 1967 erobert wurden, aktiv vorantreiben, und die jeden territorialen Kompromiss mit den Palästinensern ablehnen. Wie sich bei der Räumung der Siedlungen im Gazastreifen im August 2005 herausstellte, sind die Anhänger dieser Ideologie hauptsächlich Absolventen der nationalreligiösen Schulen.
Gleichzeitig zieht die romantische Vorstellung von der Aneignung neuen Bodens besonders die neuen zugezogenen Staatsbürger an, vor allem die Einwanderer aus der früheren Sowjetunion. Diese haben Schwierigkeiten, sich in die israelische Gesellschaft einzufügen und begeistern sich für die Vorstellung vom »tapferen Siedler«, die Verkörperung des »Juden mit starken Fäusten«, von dem die Väter des politischen Zionismus träumten. Die Ironie dabei ist, dass die Führer der Misrachi-Bewegung ihre Unterstützung des Zionismus davon abhängig gemacht hatten, dass er die Juden nicht als religiöse Eiferer darstellt, sondern als nüchterne Pragmatiker. Der Zionismus hatte für die Gründer der Misrachi-Bewegung keinerlei Bezug zu religiösen oder messianischen Erwartungen. Im heutigen Israel sieht die nationalreligiöse Bewegung, die vorgibt, das Werk der Misrachi-Bewegung fortzusetzen, im religiös-messianischen Zionismus ihr Ideal.6
Die einschneidenden Veränderungen im Leben der Juden, die ihre Emanzipation im 19. und 20. Jahrhundert mit sich brachte, verstärkten das Interesse an der Geschichte, im europäischen Sinn des Wortes, besonders unter jenen Juden, die die Tradition hinter sich lassen wollten. Der israelische Historiker Moshe Zimmermann formuliert es so:
Der Mensch, als einzelner oder als Teil einer Gruppe, will seinen Platz in der Gesellschaft finden, und zwar nicht nur in der Gesellschaft der Gegenwart, sondern auch in der Gesellschaft in ihrem Verlauf. Dafür wendet er sich an die Geschichte, entweder in Gestalt reiner Fakten und Chroniken, oder in Gestalt der Werke derer, die die Geschichte schreiben.(Leibowitz, 47)
Tatsächlich findet die Hinwendung zur Geschichte bereits in der Thora Erwähnung: »Denk an die Tage der Vergangenheit, lerne aus den Jahren der Geschichte! Frag deinen Vater, er wird es dir erzählen, frag die Alten, sie werden es dir sagen.« (Deuteronomium 32:7) Die Bedeutung der Geschichte in der jüdischen Tradition ist vielfältig: Sie dient als Hintergrund und als Weltanschauung, keinesfalls nur als Quelle des Wissens:
Der Anlass, etwas im Gedächtnis zu bewahren ist nicht das gewöhnliche und lobenswerte Bedürfnis, die Heldentaten eines Volkes vor dem Vergessen zu bewahren.; eine Reihe von biblischen Erzählungen scheinen vielmehr geradezu darauf angelegt, dem Nationalstolz eins auszuwischen. Die große Gefahr ist nämlich weniger, dass ein Ereignis an sich vergessen wird, sondern dass vergessen wird, wie es sich ereignete.(Yerushalmi, 23)
Yosef Hayim Yerushalmi (1932-2009), Professor für Geschichte, jüdische Soziologie und Kultur an der Columbia Universität und Direktor des Zentrums für israelische und jüdische Studien, betont, dass die Bibel nur von dem Eingreifen Gottes in den Gang der Weltgeschichte erzählt, nicht von den historischen Ereignissen selbst. Die Aufgabe der Bibel ist es, die Juden davor zu bewahren, sich an die Stelle Gottes zu setzen und sich selbst für die Lenker der Geschichte zu halten. Die Tradition legt das Gewicht nicht auf den historischen Prozess, sondern auf die moralischen Konsequenzen, die daraus abzuleiten sind:
Das Kommen und Gehen römischer Prokuratoren, die dynastischen Sorgen der römischen Kaiser, die Kriege und Eroberungen der Parther und der Sassaniden – nichts davon bot neue oder nützliche Einsichten über das bereits Bekannte hinaus. Selbst die Verwicklungen der hasmonäischen Dynastie oder die Intrigen der Herodianer – immerhin jüdische Geschichte – enthüllten nichts Wichtiges und blieben weitgehend unbeachtet.(Yerushalmi, 37)
Die jüdischen Quellen sagen wenig über die militärischen Operationen während der Belagerung von Jerusalem im ersten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. Stattdessen richten sie die Aufmerksamkeit auf die Lehre, die man aus der Niederlage zog: Der Tempel wurde zerstört als Strafe für die Sünden der Juden, insbesondere für ihren grundlosen Hass untereinander (vgl. Babylonischer Talmud, Joma 9b). Der Talmud erinnert daran, dass es kleinliche Streitigkeiten unter dünkelhaften Juden waren, die die nationale, oder wie manche sagen, die universale Katastrophe herbeiführten (vgl. Babylonischer Talmud, Gitin, 55b). Die Tradition zieht aus diesen Ereignissen eine eindeutige Lehre: Man muss bedachtsam und vorsichtig im Handeln sein, weil man die weitreichenden Folgen seines Handelns nicht voraussehen kann. Für den Kontext dieses Buches spielt vor allem die Auffassung eine Rolle, nach der letzten Endes die Juden selbst die Verantwortung tragen für die Zerstörung des Tempels und die Leiden des Exils.
Gemäß der Tradition ist die Geschichte dafür da, um zu lernen und zu lehren. Professor Yerushalmi erklärt, dass dies die Weisen der mündlichen Überlieferung ausdrücklich festlegten:
Wenn die Rabbiner kaum historische Aufzeichnungen machten, so könnte dies eben damit zusammenhängen, dass sie sich so rückhaltlos in die Deutung der biblischen Geschichte vertieften. Konnte man nicht anhand des Berichts der Bibel jeden weiteren historischen Vorgang begreifen? Es bedurfte keiner grundlegend neuen Geschichtsvorstellung, um sich Rom anzupassen oder jedem anderen Weltreich, das später entstehen sollte.(Yerushalmi, 35)
In diesem Verständnis spiegelt die jüdische Geschichte die Auswirkungen des Vermächtnisses wider, des Bundes, das zwischen Gott und dem auserwählten Volk geschlossen wurde. In dieser Lesart bekommt die Tragödie, die den Juden zuteilwird, einschließlich der Vertreibung aus dem Land ihrer Väter, die Bedeutung einer Strafe, die ihnen als Buße für ihre Sünden auferlegt wurde. Um ihr Los zu lindern, müssen die Juden Buße tun, sie sollen sich militärischer oder politischer Aktivitäten enthalten, die nur die göttliche Vorsehung herausfordern. Diese Auffassung findet sich in der jüdischen Historiographie immer wieder. Nach Übernahme der europäischen Weltsicht betrachteten die Juden ihre Geschichte jedoch fortan aus der Perspektive anderer Völker und nicht mehr aus der Perspektive der eigenen Tradition.
Der moderne Versuch, die jüdische Vergangenheit zu rekonstruieren, beginnt zu einer Zeit, in der die Kontinuität jüdischen Lebens einen tiefen Bruch erfährt, was auch einen immer stärkeren Verfall des jüdischen Gruppengedächtnisses bewirkt. Dabei fällt dann der Geschichte eine völlig neue Rolle zu – sie wird zum Glauben ungläubiger Juden. Erstmals wird in Fragen des Judentums statt eines heiligen Textes die Geschichte zur Berufungsinstanz. So gut wie alle jüdischen Ideologien des 19. Jahrhunderts, von der Reformbewegung bis zum Zionismus, beriefen sich zur Legitimierung auf die Geschichte. Wie nicht anders zu erwarten, lieferte »die Geschichte« den Appellanten jeden erwünschten Schluss.(Yerushalmi, 92)
Dabei muss man unterscheiden zwischen dem kollektiven Gedächtnis, das auf der Tradition beruht, und der Geschichte, die sich auf Dokumente, Ausgrabungen und dergleichen stützen muss. In einer Zeit, in der man unter dem Begriff »Geschichte« immer mehr politische Geschichte verstand, also die Geschichte der Staaten, folgerte man, dass mit der Zerstörung des jüdischen Staates im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung »die Geschichte des Volkes Israel an ihrem Endpunkt angelangt ist«. Nach Meinung des englischen Historikers Lionel Kochan begannen viele jüdische Intellektuelle im 19. Jahrhundert, die Juden als eine »außerhistorische Nation« zu sehen, ähnlich den Ukrainern, Roma oder Litauern, die zu dieser Zeit keinen eigenen Staat besaßen, im Unterschied zu den »historischen Nationen« wie zum Beispiel den Ungarn, Deutschen oder Italienern (vgl. Kochan, 3). Andere jüdische Historiker suchten in der Geschichte eine »Handlungsanweisung« und erklärten in Anlehnung an Karl Marx, man dürfe die Geschichte nicht nur studieren, sondern man müsse sie auch verändern: einen Staat gründen und damit »in die Geschichte zurückkehren.«
Dieser Standpunkt wurde allerdings von den Rabbinern zu Beginn des 20. Jahrhundert kategorisch abgelehnt und fand auch unter den der Moderne aufgeschlossenen jüdischen Intellektuellen keine Zustimmung. Franz Rosenzweig (1886-1929) und Simon Dubnow (1860-1941), um nur zwei Namen zu nennen, hatten nichts als Verachtung für den Zionismus. Sie waren der festen Überzeugung, dass das Leben im Exil eine wesentliche Voraussetzung für das Überleben der Juden während vieler Jahrhunderte gewesen sei:
Weil die jüdische Geschichte sich von Anfang an von Exil zu Exil fortbewegt, ist folglich der Geist des Exils, die Entfremdung von der Heimaterde (»Erdfremdheit«), und der Kampf für ein höheres Leben, gegen das Absinken in die Beschränkungen von Boden und Zeit, in die Geschichte dieses Volkes von Anbeginn an eingeprägt.(Kochan, 105)
Religiöse Juden lehnen ebenso die Vorstellung ab, der Verlust des Staates habe die Juden aus der Geschichte ausgeschlossen. Während die säkularen Gegner des Zionismus ihren Platz in der zionistischen Geschichtsschreibung und im Staat Israel gefunden haben (vgl. Shatz), wird über den orthodoxen Widerstand sehr viel weniger gesprochen. Obwohl man in Israel von dem Widerstand des orthodoxen Judentums gegen den Zionismus weiß, findet man in den Publikationen über die Geschichte des Zionismus nur wenig darüber.
Der Zionismus ist ein Bruch sowohl in der jüdischen Kontinuität als auch in der jüdischen Geschichtsschreibung. Zwei populäre historische Publikationen über die Geschichte des Zionismus erwähnen den Widerstand von Seiten der Charedim7 nur am Rande, und nur in sarkastischem Tonfall (vgl. Laqueur, Sachar). Mit Ausnahme einiger weniger Monographien und Essaysammlungen, die sich speziell mit dem Thema der Beziehung zwischen Zionismus und Judentum befassen (vgl. Almog; Luz; Ravitzky; Salmon, 2002), wird der jüdisch-orthodoxe Widerstand gegen den Zionismus in den meisten Publikationen über die Geschichte der Juden, ganz gleich ob sie in Israel oder anderswo geschrieben wurden, schlicht ignoriert. Sogar die »Neuen Historiker«*8, die seriös und sogar mit Anteilnahme über den arabischen Widerstand schreiben, neigen dazu, den Widerstand der Charedim zu übergehen und ihre politischen Aktivitäten zu ignorieren, sie verschweigen auch die Gewalt, die das zionistische Establishment bisweilen gegen sie anwendet.
Noch weniger präsent in der Geschichtsschreibung des Zionismus und des Staates Israel sind die Reformjuden, die den Zionismus grundsätzlich ablehnen. Immerhin zwei Monographien über die Geschichte der Juden in Deutschland (vgl. Breuer; Lowenstein) und eine Studie über das Verhältnis der Reformjuden zum Zionismus (vgl. Greenstein) liefern reichlich nützliche Informationen über den Widerstand gegen den Zionismus. Obwohl eine umfangreiche polemische Literatur existiert, die die antizionistischen Ideen der Charedim verbreitet, findet sie in der Regel keinen Platz in der Geschichte des Zionismus und des Staates Israel. Aus dieser Literatur stammt das meiste Material für dieses Buch: Monographien, Aufsätze und Essays in hebräischer und anderen Sprachen, dazu Interviews mit namhaften Persönlichkeiten aus dem religiösen Widerstand gegen den Zionismus.
Während die Zionisten auf der Ansicht beharren, die Geschichte der Juden im Exil sei von Nichtjuden gestaltet worden, halten viele Kritiker des Zionismus dagegen, dass die Juden im Gegenteil immer eine aktive Rolle in der Geschichte spielten. Die Unterschiedlichkeit der Auffassungen sollte nicht überraschen, denn eines der Ziele des Zionismus war ja die »Rückführung der Juden in die Geschichte«, um sie so »zum ersten Mal seit zweitausend Jahren« zu Gestaltern ihres eigenen Schicksals zu machen. Andererseits weigern sich die religiösen Gegner des Zionismus, die Juden als passive Opfer der Geschichte zu sehen. Sie sagen, dass die Juden ein Verantwortungsgefühl vor Gott haben. Die Attribute Gottes – Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Mitgefühl – bestimmen das Schicksal jedes einzelnen Juden, der ganzen Judenheit und sogar der ganzen Menschheit. Der Mechanismus dieser Wechselbeziehung zwischen Gott und Mensch übersteigt das menschliche Begreifen, und die Philosophie des Judentums enthält eine Vielzahl unterschiedlichster Konzepte, auf welche Art und Weise das Handeln des Menschen die Geschichte beeinflusst. Die traditionelle jüdische Weltsicht ist, im Unterschied zum modernen jüdischen Selbstverständnis, der Auffassung, dass alles, was mit den Juden geschieht, allein durch ihr eigenes Verhalten bestimmt wird.
Indem der Nationalismus versuchte, »das jüdische Volk zu einem normalen Volk zu machen«, war er gezwungen, der jüdischen historischen Kontinuität den Kampf anzusagen, die auf den Begriffen Belohnung und Strafe, Exil und Erlösung basiert. Die Geschichte wurde zur Waffe im Kampf gegen die Tradition, welche eher dazu aufruft, die Welt durch die eigene moralische Selbstvervollkommnung zu verbessern als mit Hilfe politischer oder kriegerischer Aktivitäten. Auf diese Weise wurde der religiöse Begriff des Exils in einen militärpolitischen umgewandelt. Die Verbannung, sagt der israelische Historiker Shlomo Sand, »ist kein Ort, der keine Heimat ist, sondern ein Zustand, der keine Erlösung ist.« (Sand, 206).
Einige israelische Historiker verurteilen die »Zionisierung« der jüdischen Geschichte, weil durch diese Lesart der Geschichte die jahrhundertelange Judenverfolgung aufgebauscht wird. Wenn man die traditionelle jüdische Auslegung ignoriert, muss die Aufzählung dieser Plagen den Eindruck von Ohnmacht und Verzweiflung hervorrufen, den nur die politische Selbstbestimmung mildern kann. Mehr noch, die Rückkehr in die Heimat ist nur möglich, wenn das Volk, nicht nur seine militärische Führung, aus dem Heiligen Land vertrieben wurde und dieses Volk über zweitausend Jahre seine ethnische Identität bewahrt hat. Seriöse Historiker, ganz gleich, wie stark ihre zionistischen Überzeugungen auch sein mögen, können heute so nicht mehr argumentieren. Der traditionelle Begriff »Am Israel« (»Volk Israels«) ist weitaus komplizierter als der moderne Begriff der »ethnischen Identität«. »Der Mythos der Vertreibung aus der jüdischen Heimat ist in der israelischen Populärkultur existent, aber unter seriösen jüdischen Historikern spielt er so gut wie keine Rolle«, betont Israel Bartal, Dekan der geisteswissenschaftlichen Fakultät an der Hebräischen Universität zu Jerusalem. »Kein Historiker, der sich mit der jüdischen Nationalbewegung auseinandersetzt, würde das jüdische Volk als ethnisch rein bezeichnen.« (Bartal, 2008).
Die zionistische Geschichtsschreibung erklärt die Gründung des Staates Israel zur historischen Notwendigkeit:
Diese Historiker, denen sehr daran lag, teilzuhaben am Aufbau der Nation, spielten sie eine folgenschwere Rolle bei der Bewusstseinsbildung der zionistischen Aktivisten. Die Analyse ihrer Arbeiten zeigt deutlich, woher die Idee der Gleichsetzung der Begriffe »Jude« und »Zionist« kommt. Die jüdische Geschichte, so ihre These, ist die Geschichte der israelischen Nation, die niemals verschwunden war und niemals ihre Bedeutung verloren hat.(Grodzinsky, 229)
Diese ideologisierte Lesart der Geschichte, die alle anderen Varianten ausschließt, machte es möglich, Generationen von Israelis in patriotischem Geiste zu erziehen. Sie zog aber zugleich auch eine immer stärkere Kritik auf sich, sowohl innerhalb Israels wie auch im Ausland:
Indem sie den Determinismus ihrer Vorgänger ablehnten, vollzogen die Neuen Historiker eine doppelte Revision der jüdischen Geschichte: Einerseits stellten sie den guten Namen der Diaspora wieder her, andererseits verringerten sie die Bedeutung des Nationalismus in der jüdischen Geschichte, die sich solcherart als vielstimmiger, multipolarer und vor allem offener gegenüber der Weltgesellschaft darstellt, auch gegenüber der christlichen und muslimischen.(Abitbol, 1998, 20)
Der neuen Geschichtsauffassung, die die gewohnten Mythen über die Entstehung Israels entzaubert, wird vorgeworfen, sie schüre den Selbsthass und riefe die Gefahr eines kollektiven Selbstmords herauf. Aber der Einfluss der „Neuen Historiker“ wird immer größer. Im Verlaufe des Friedensprozesses der Neunzigerjahre machte die enthusiastische israelische Jugend Bekanntschaft mit den Ideen der palästinensischen Nationalbewegung, die das Alleinrecht der Juden an das Land Israels ablehnt. Nach neuesten Untersuchungen geben fast die Hälfte der Israelis zu, dass zunächst zionistische Truppen und später die israelische Armee Hunderttausende von Palästinensern gewaltsam vertrieben, um den Staat Israel zu gründen (vgl. Boussois).
Dieselben Untersuchungen zeigen aber auch, dass in vielen anderen Fragen, die mit diesem Konflikt zusammenhängen, das kollektive Gedächtnis der Israelis mit den Kategorien »Gut« und »Böse« operiert (»Wir sind die Guten, die Palästinenser, Araber und Moslems sind die Bösen«), so wie es die staatliche Propaganda verlangt (vgl. Eldar).
Der Grund für diese Übereinstimmung der öffentlichen Meinung mit der offiziellen Darstellung dieses Konfliktes liegt darin, dass die Mehrzahl der Israelis auch weiterhin in den Schulen nach den Idealen von Tapferkeit, Kriegerehre und Heldenhaftigkeit erzogen wird (vgl. Peled, Bettelheim), eben jenen Idealen, die die Juden nach Meinung der Erzieher in Folge der Vertreibung ins Exil verloren haben. Die Charedim wiederum halten dagegen, dass gerade diese Ideale, als Erscheinungsformen von Stolz und Unversöhnlichkeit, sie ins Exil geführt haben. Diese beiden gegensätzlichen Standpunkte offenbaren, welche Lehren jedes der Lager aus der Geschichte gezogen hat.
Die derzeit an den israelischen Universitäten vor sich gehende Revision der zionistischen Geschichtsdeutung nimmt immer stärkeren Einfluss auf diejenigen, denen Zweifel am Zionismus gekommen sind. Die Stimmen der „Neuen Historiker“ und der frommen Gegner des Zionismus vereinigen sich in der Kritik an dem Militarismus, welcher der zionistischen Bewegung eigen ist. Sie beklagen die durch viele Dokumente belegte Gleichgültigkeit und Tatenlosigkeit einiger zionistischer Führer angesichts der Massenvernichtung von Juden durch die Nazis, oder sogar die Kollaboration mit ihnen (siehe Kapitel Sechs). Sogar der Vorwurf eines »kulturellen Genozids« wird erhoben, begangen an den Einwanderern aus Asien und Afrika in den Jahren 1950 bis 1970, und zwar durch israelische Beamte, die zu dieser Zeit fast ausnahmslos aus Osteuropa stammten. Mit anderen Worten, »die Summe der Elemente des israelischen Nationalbewusstseins, das in einhundert Jahren Zionismus ›konstruiert‘ wurde‹, steht heute auf dem Prüfstand. »Heute sind wir weit entfernt von jenen Zeiten, als das Land noch mit einer Stimme sprach.« (Abitbol, 1998, 21-22). Tatsächlich hat dieses Land niemals mit einer Stimme gesprochen; nur hat man die Stimmen, die nicht im Chor mitsangen, also vor allem die Stimmen der religiösen Gegner des Zionismus, einfach überhört. Ihre Lexik, ihr Begriffssystem und sogar ihre aus dem Innersten der Tradition schöpfende Argumentation schlossen die Charedim aus der Diskussion über die Zukunft der israelischen Gesellschaft aus. Über die Einheit der Tradition wacht die Halacha*, das jüdische Recht. Ob eine Speise koscher ist, um ein Beispiel zu nennen, darüber darf es innerhalb einer Gemeinde keine geteilte Meinung geben, auch wenn das, was in der einen Gemeinde zulässig ist, in einer anderen abgelehnt wird. Bei Fragen moralischer, politischer oder philosophischer Natur gestattet die Tradition noch größere Abweichungen, zumal es im Judentum (wie im Islam auch) keine einheitliche religiöse Instanz gibt. Antizionisten und Nicht-Zionisten halten an der traditionellen Weltanschauung fest, die den Zionismus und den zionistischen Staat prinzipiell nicht akzeptiert, gleichwohl gehen sie oftmals Kompromisse mit bestimmten Institutionen dieses Staates ein (siehe Kapitel Fünf).
Der Zionismus stellt eine Reihe ernsthafter Fragen an diejenigen, die sich zum Judentum bekennen und der Tradition folgen. Wie soll man die Rückkehr der Juden in das Land vor dem Kommen des Messias verstehen? Bedeutet diese Rückkehr das Ende der Einzigartigkeit der jüdischen Geschichte und ihrer metaphysischen Bedeutung? Ist die Unterwerfung unter einen fremden Souverän die pragmatische Anpassung an die politische Machtlosigkeit oder ein religiöses Prinzip, das von den Gründern des rabbinischen Judentums erfunden wurde? Und letztlich müssen diejenigen, die den Zionismus ablehnen, die Frage beantworten: Was sind die wirklichen Ziele der Zionisten? Richtet sich ihre Rebellion ausschließlich gegen die politische Passivität der Juden, oder wollen sie das Judentum selbst vollständig zerstören, also die religiöse Tradition mit der Wurzel ausreißen, die ihrer Meinung nach die Schuld an dem trägt, was die Juden zu Unterwürfigkeit, politischer Tatenlosigkeit und letzten Endes in den Holocaust führte? Die religiöse Kritik am Zionismus bringt eine feste Überzeugung zum Ausdruck, deren Kern schicksalhaft ist: Soll man sich an die religiösen Gebote halten oder soll man sie ablehnen? Ravitzky betont: Die Experten denken, dass die Angst vor den Versuchen, die Erlösung zu beschleunigen, keine Erfindung der Antizionisten ist (vgl. Ravitzky, 18). Sie entstand nicht als Waffe im Kampf gegen den Zionismus, sondern ist ein unabdingbarer Teil der Tradition.
Lange vor Erscheinen des Zionismus riefen die Gelehrten dazu auf, das Joch des Exils in Demut zu tragen, doch die Mahnung gegen messianisches Abenteurertum wurde umso nachdrücklicher, je mehr das zionistische Projekt erstarkte und je mehr die Massen von seinem Feuer ergriffen wurden.
Die Zahl der aktiven Gegner des Zionismus ist verhältnismäßig klein, sie beträgt wahrscheinlich nicht mehr als einige Hunderttausend (vgl. Ravitzky, 60). Ravitzky und andere israelischen Intellektuelle weisen allerdings darauf hin, dass ungeachtet ihrer geringen Zahl ihr Einfluss auf breite Schichten unter den Juden wächst. Auf der Beerdigung von Rabbi Joel Teitelbaum (1887– 1979), dem Verfasser von Wajoel Mosche, einem fundamentalen Werk des religiösen Antizionismus (vgl. Teitelbaum, 1985), äußerten viele namhafte Rabbiner, darunter auch seine Gegner, er sei den einzig wahren Weg gegangen.
Die Antizionisten glauben, Ideologie und Praxis des Zionismus stünden im Widerspruch zu den Grundsätzen des Judentums. Die Nicht-Zionisten wiederum denken, der Zionismus widerspreche der Tradition, aber sie sind bereit, ihn zu dulden, weil sie in dem Staat Israel ein politisches System wie jedes beliebige andere sehen, das heißt ein prinzipiell temporäres Gebilde. Beide Seiten aber sind sich einig in der Ablehnung des jüdischen Nationalismus und umso mehr in der Leugnung jeglicher Verbindung von Nationalismus und Erlösung des jüdischen Volkes.
In der Welt von heute üben zionistische Organisationen, da sie weitaus stärker sind als ihre Opponenten, häufig moralischen, ökonomischen und sogar physischen Druck auf ihre Gegner aus. Drohungen an die Adresse derer, die sich weigern, ihre Solidarität zum Staat Israel zu bekunden, gehören zum Alltag. Das Beispiel von Hannah Arendt (1907-1995), ehemals zionistische Aktivistin, spricht für sich. Als sie begann, sich kritisch gegen den Zionismus zu wenden, wurden ihre Arbeiten tabuisiert. Ihre zionistischen Gegner gingen nicht auf ihre Argumente ein, sondern griffen sie persönlich an. Ihr »Ton« gefiel ihnen nicht. »Was mich an deinen antizionistischen Argumenten verletzt, ist nicht ihr Inhalt, über den wir jederzeit diskutieren können, sondern die Art und Weise wie du sie vorbringst« (Leibovici, 365-367), schrieb Gershom Scholem (1887-1982). Eine legitime Opposition zum Zionismus scheint unmöglich, ganz nach dem Motto: »Wer nicht für uns ist, der ist gegen uns«.
Antizionisten werden oft als Kollaborateure angesehen, und man begegnet ihnen mit tiefer Verachtung. Man wirft ihnen vor, sie würden »dem Judentum ein Messer in den Rücken stoßen«. Viele Antizionisten, vor allem die Chassidim können sich ihrer Umwelt nicht verständlich machen und nicht erklären, was doch paradox erscheint: Warum eine Gesellschaft, die so eifrig auf ihre kulturelle Unabhängigkeit achtet, gegen jede Form politischer Unabhängigkeit vorgeht (vgl. Rubin, 175-176).
Nach antizionistischen Demonstrationen in Montreal bemerkten einige jüdische Gemeinden, dass die finanzielle Unterstützung ihrer Schulen und Jeschiwot spürbar zurückging. Viele Sponsoren fühlten sich von der öffentlichen Demonstration antizionistischer Ansichten vor den Kopf gestoßen. Eine Lehranstalt musste sogar schließen, weil die Sponsoren den Leiter dieser Einrichtung, der an der Demonstration teilgenommen hatte, nicht weiter finanzieren wollten.
Anfang 2007 reisten mehrere antizionistische Rabbiner (Angehörige der Neturei Karta*) in den Iran und trafen sich dort mit Präsident Ahmadineschād, einem erklärten Gegner des Zionismus. Diese Demonstration antizionistischer Solidarität rief heftigste Reaktionen hervor (siehe Kapitel Sieben), die Empörung in der israelischen Öffentlichkeit erreichte ein nie dagewesenes Ausmaß. Darin zeigt sich, wie tief der kulturelle Graben zwischen den traditionellen religiösen Juden und den übrigen Israelis ist. Viele Jahre pflegten die Juden eine Politik der Versöhnung. Deshalb suchten die Neturei Karta nach Möglichkeiten eine wohlwollende Einstellung seitens des iranischen Präsidenten zu den Juden zu erreichen. Zugleich waren sie sich mit ihm einig über die Ablehnung des Zionismus, den sie als zentrale Bedrohung der weiteren Existenz der Juden sehen (vgl. Rabkin, 2007). Offensichtlich fühlten sich viele Patrioten und Anhänger Israels im Ausland schwer verletzt, für die der Zionismus die unbezweifelbare Grundlage ihres Selbstverständnisses ist, die aber zugleich um die Fragilität des zionistischen Staates wissen.
Der profilierte Nahostexperte Daniel Pipes, zum Beispiel, einer der bekanntesten Bündnisgenossen Israels in den USA, sorgt sich um das demographische Wachstum der Gegner des Zionismus: Im Jahre 2007 seien etwa die Hälfte aller Schulanfänger in Israel Charedim oder Araber gewesen (vgl. Pipes).
Ende des 19. Jahrhunderts wurden erste Klagen laut, die jüdische Presse sei unter die Kontrolle der Zionisten gefallen (vgl. Salmon, 1998, 33). Diese Klagen sind durchaus nicht unbegründet. Viele Rabbiner konnten ihre oppositionelle Haltung zum Zionismus nur unter Schwierigkeiten öffentlich äußern, aus dem einfachen Grund, weil in den jüdischen Periodika fast ausschließlich jüdische Intellektuelle arbeiteten, die dem Zionismus nahestanden. Und auch heute noch, hundert Jahre später, ist wenig über die jüdische Kritik am Zionismus bekannt, weil die noch immer zahlreichen Zeitungen der Charedim vor allem in hebräischer und jiddischer Sprache erscheinen.
Für viele religiöse Juden gibt es zwischen dem Staat Israel und der Erlösung des jüdischen Volkes keinerlei Zusammenhang. Für sie besitzt das Land (unabhängig von der Thora) keinen eigenständigen Wert. Von ihrem Standpunkt aus muss jede jüdische Gemeinde, sei es in Israel oder sonstwo in der Welt, nach den traditionellen Kriterien bemessen werden: Bringt es die Juden der Thora und der Erfüllung der Gebote näher oder nicht?
Diese Ablehnung der jüdischen Besiedelung Palästinas war so grundsätzlich, dass sie schon vor dem ersten zionistischen Kongress in Basel (1897) laut wurde. Schon 1894 äußerte der russische Rabbiner Alexander Mosche Lapidos seine Unzufriedenheit über die ersten Versuche (ab 1881) der russischen präzionistischen Bewegung »Chibbat Zion« (oder »Chowewei Zion«)*, eine jüdische Kolonie in Palästina zu gründen.
Die Gründung des Staates schuf eine neue Situation: Es ist sehr viel leichter, den Zionismus als Ideologie abzulehnen, als zu einem Staat in Opposition zu treten, dessen Existenz im tagtäglichen Leben spürbar ist. Wie wir im Folgenden sehen werden, bedeutet die Kooperation mit dem Staat keinesfalls seine Anerkennung als gewünschtes und oder auch nur legitimes Gebilde. Diverse, ihrer geographischen, historischen und kulturellen Provenienz nach höchst unterschiedliche Gruppen in Israel und im Ausland teilen diese pragmatische Einstellung. Wichtig ist anzumerken, dass aus dem Widerstand gegen den Zionismus in diesem Kontext nicht die Delegitimierung Israels zu folgern ist, sondern nur die Delegitimierung des Anspruchs Israels, Staat der Juden zu sein.
Als letzte charedische Gruppe entstand die »Schas«-Bewegung*. Ihre Mitglieder sind jüdische Einwanderer aus den arabischen Staaten, die in Israel einen erheblich größeren kulturellen Druck verspüren als die aschkenasischen Juden aus Europa. Tatsächlich waren das zionistische Unternehmen und der Staat Israel die Erfüllung einer europäischen Vision, geboren aus der Realität und den Träumen, in denen die Juden des russischen Reichs lebten. Ihre Anschauungen waren den meisten der aus den muslimischen Staaten eingewanderten Juden fremd. Deren Verhältnis zu ihren moslemischen Nachbarn war harmonischer und herzlicher, sie beherrschten auch die lokalen Sprachen, Arabisch, Persisch, Paschtunisch, usw. In ihrer Geschichte gab es weniger Verfolgung und weniger Gewalt als in der Geschichte der Juden im christlichen Europa. Schas wurde gleichzeitig zu einer Bewegung, die darum bemüht war, die Selbstachtung der sephardischen Juden wiederherzustellen, und zu einer politischen Partei, die ein leistungsfähiges Netz von Bildungseinrichtungen und sozialen Dienstleistungen aufbaute. Die Einwanderer aus den islamischen Ländern »glaubten, sie könnten mit Hilfe des Zionismus und des staatlich-religiösen Bildungssystems in die Modernität eintreten, aber es gelang ihnen nicht« (vgl. Rotem).
Einer der Gründer der Schas-Bewegung war ein aschkenasischer Rabbiner und offener Gegner des Zionismus, Schas war eine nicht-zionistische Bewegung und ihre Führer üben zuweilen ziemlich scharfe Kritik am Zionismus, obwohl sie weiterhin in der Knesset sitzen. Insbesondere verurteilten sie die Diskriminierung von Seiten der Aschkenasim, die eine führende Position in der zionistischen Bewegung und im israelischen Staat innehatten und noch haben. Zugleich bemühten sich die Wähler der Schas, sich in die israelische Gesellschaft einzufügen, sie dienten, zum Beispiel, in der Armee, und sie hatten auch schlicht keinen Bezug zum religiösen Antizionismus. Ihr Einfluss wuchs weiter an, und auf der anderen Seite drängten die ausländischen Mäzene der Partei Schas zu einer größeren Annäherung an die zionistische Bewegung. Schließlich und endlich trat Schas im Jahr 2010 in die Zionistische Weltorganisation ein, wofür sie allerdings gezwungen war, einige Paragraphen ihres Programms zu ändern.
In Litauen gab es vor dem Zweiten Weltkrieg hervorragende Talmudschulen, die als Vorposten im Kampf gegen die Haskala und gegen die Säkularisierung in Osteuropa galten. Nach dem Krieg wurden die litauischen Talmudschulen und ihre intellektuellen Traditionen in Israel und einigen anderen Staaten, darunter die Vereinigten Staaten, Kanada, Mexiko, Süd-Afrika, Frankreich, England, Schweiz, Russland wieder zum Leben erweckt (vgl. Helmreich). Rabbiner, die den Krieg überlebt hatten, unterrichteten ihre Schüler im Geiste der Hingabe an die Lehre des Talmuds, die von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Die Bewegung zog Tausende von jungen Juden aus den arabischen Staaten an, aber auch viele junge aschkenasische Juden. Diese litauische Tradition, die den Zionismus seit jeher ablehnte, besitzt heute im Wesentlichen zwei Zentren: Bnei-Brak in Israel und Lakewood im Staat New Jersey in den USA.
Eine weitere Gruppe von Gegnern des Zionismus ist die chassidische Bewegung, sie erwuchs aus den Rabbiner-Dynastien, die im 18. und 19. Jahrhundert auf dem heutigen Gebiet der Ukraine, Polens, Ungarns, der Slowakei und Rumäniens entstanden waren. Der Chassidismus ist eine mystische Erneuerungsbewegung, die im 18. Jahrhundert aufkam und mehrere unterschiedliche Strömungen ausbildete. An ihrer Spitze standen einflussreiche, oft charismatische Rabbiner, die »Zaddikim«, die prunkvolle »Höfe« führten und regelrechte Dynastien gründeten. Obwohl sich auch das Leben der Chassidim wesentlich auf das Talmudstudium gründet, widmen sie der jüdischen Mystik und dem geistigen Erbe älterer Zaddikim große Aufmerksamkeit. Mit ihrer Kritik am Zionismus taten sich im 20. Jahrhundert vor allem die Chassidim von Belz, Wischnitz, Munkatsch, Lubawitsch und Satmar hervor.
Außerhalb des russischen Reichs stieß der Zionismus auf leidenschaftlichen Widerstand der orthodoxen Juden Ungarns und West-Galiziens. In diesen Gebieten duldete man auch nicht die geringste Sympathie gegenüber dem Zionismus. Die Opposition erfasste alle orthodoxen Einrichtungen, auch die im Jahre 1917 von Sarah Schenirer (1883-1935) gegründeten »Beit Yaakov«- Mädchenschulen. An der Spitze der Gegner des Zionismus standen die ungarischen Juden, vor allem die aus Satmar. Die Satmar-Chassidim, die den Krieg überlebten, ließen sich später im New Yorker Stadtteil Williamsburg nieder, das zu Brooklyn gehört, und gründeten dort im Jahre 1948 die Gemeinde »Yetev Lev de Satmar« mit kaum einem Dutzend Mitgliedern. Aber schon wenige Jahre später umfasste die Gemeinde ungefähr tausend Familien (vgl. Rubin, 40). Die Satmar-Chassidim gründeten Gemeinden in Jerusalem, Bnei-Brak, Antwerpen, London und Montreal sowie in mehreren südamerikanischen Städten. Später nahm die Bewegung Kontakte zu anderen Organisationen auf, darunter der Neturei Karta, deren Mitglieder hauptsächlich den alten Jerusalemer Familien angehören, die den Rebbe von Satmar als einen ihrer großen geistigen Führer anerkennen.
Die Ablehnung der zionistischen Ideologie kennzeichnet praktisch alle Strömungen im orthodoxen Judentum. Für ihre Anhänger bedeutet Zionismus Ketzerei, Leugnung fundamentaler Prinzipien des jüdischen Glaubens und den Bruch jenes Schwures, den das jüdische Volk Gott einst gegeben hat: das Heilige Land nicht mit Gewalt zu erobern. Die Satmar-Chassidim verstärkten ihre antizionistischen Aktivitäten nach dem NS-Völkermord, den sie als Strafe Gottes für die »Ketzerei des Zionismus« betrachteten (vgl. Rubin, 95). Den Anspruch der Zionisten, alle Juden der Welt zu repräsentieren, lehnten sie entschieden ab. Es kann niemanden verwundern, dass die Satmar-Chassidim in Nordamerika, genau wie andere antizionistische Gruppierungen, die mit ihren nichtjüdischen Nachbarn in Frieden zusammenleben, bisweilen von Juden attackiert werden, die mit dem Staat Israel sympathisieren. Widerstand gegen den Zionismus ist auch unter den Nachfolgern von Rabbi Samson Raphael Hirsch (1808-1888) spürbar, einem führenden Kopf des orthodoxen Judentums in Deutschland, dessen Ideen über die Stellung des Juden in der modernen Gesellschaft auch heute noch viele Juden inspirieren.