Im Rhythmus der Stille - Sarah Neef - E-Book

Im Rhythmus der Stille E-Book

Sarah Neef

4,7

Beschreibung

Sie ist taub und spricht vier Fremdsprachen. Sie kann Musik nicht hören und tanzt Ballett. Sarah Neef lebt seit ihrer Geburt mit einem Schicksal, das man sich als Hörender kaum vorstellen kann. In ihrer beeindruckenden Autobiografie schildert sie, wie sie es mit ihrem starken Willen, großer Disziplin und schier unerschöpflicher Energie schafft, am Leben der Hörenden teilzuhaben. Früh erlernt Sarah das Lippenlesen und übt das Sprechen, meistert die Schulzeit unter Hörenden mit Bestnoten und entdeckt schon als Kind die Liebe zum Tanz und zur Musik. Sie nimmt die Töne als Vibrationen wahr und fühlt sie mit ihrem Körper. Sarah Neef lässt uns an ihrem Leben teilnehmen und möchte auch andere ermutigen, sich wegen ihrer vermeintlichen Defizite nicht von der Gesellschaft ausgrenzen zu lassen.

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Neef, Sarah

Im Rhythmus der Stille

Wie ich mir die Welt der Hörenden eroberte

www.campus.de

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Copyright © 2009. Campus Verlag GmbH

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E-Book ISBN: 978-3-593-40041-9

|5|»Selbst eine schwere Tür

hat nur einen kleinen Schlüssel nötig.«

Charles Dickens

(1732–1870, englischer Schriftsteller)

In Dankbarkeit und Liebe

meinen Eltern gewidmet,

die mir alle Türen geöffnet

und mir die Weisheit gegeben haben,

nicht die schwere, geschlossene Tür,

sondern das Schlüsselloch

und den Schlüssel

zu sehen.

|9|Neue Welten zu entdecken wird dir nicht nur Glück und Erkenntnis, sondern auch Angst und Kummer bringen. Wie willst du das Glück wertschätzen, wenn du nicht weißt, was Kummer ist? Wie willst du Erkenntnis gewinnen, wenn du dich deinen Ängsten nicht stellst? Letztlich liegt die große Herausforderung des Lebens darin, die Grenzen in dir selbst zu überwinden und so weit zu gehen, wie du dir niemals hättest träumen lassen.1

Sergio Bambaren

(*1960, peruanischer Schriftsteller)

|11|Vorwort

Sie werden sich vielleicht fragen: Warum schreibt eine 27-Jährige eine Autobiografie? Warum erzählt sie etwas, was noch lange nicht abgeschlossen ist? Sie haben Recht! Mein Leben ist noch zu jung für Memoiren. Trotzdem glaube ich, dass dieses Buch wichtig ist und nicht zu früh kommt. Viele sind über die Medien auf mich aufmerksam geworden und haben meinen Lebensweg als gehörlose Tänzerin begleitet, ohne mir wirklich zu begegnen. Viele schreiben mir, und anfangs habe ich versucht, jeden einzelnen Brief zu beantworten. Doch inzwischen sind es zu viele, und ich kann beim besten Willen nicht mehr auf alle Anfragen antworten. Wenn ich mit Journalisten spreche, werden die Interviews immer länger, die Fragen immer komplexer. Inzwischen frage ich mich manchmal selbst, was viele wissen wollen: Wie schaffte ich es als Gehörlose, mir die Welt der Hörenden zu erobern? Mit welchen Hindernissen und Ressentiments hatte und habe ich zu kämpfen? Wie denke ich über meine Gehörlosigkeit? Kämpfe ich dagegen an? Verleugne ich sie gar? Was ist mein innerer Motor? Woher schöpfe ich meine Kraft und Zuversicht? Wie ist das, wenn man noch nie ein Wort gehört hat? Welche Erfahrungen und Erlebnisse habe ich als lautsprachlich kommunizierende Gehörlose? Ich könnte niemals in wenigen Sätzen auf diese Fragen antworten, den Inhalt meines Lebens aufzeigen und die äußerste Vielschichtigkeit der Probleme erörtern, die Taubheit mit sich bringt. Daher habe ich mich entschieden|12|, mit diesem Buch Spuren in meinem Leben zu suchen, die mir helfen, auf viele Fragen zu antworten. Ich hoffe, dass dieses Buch viele Menschen erreichen wird, Denkanstöße gibt – und dazu einlädt, »die Welt einmal mit anderen Ohren zu betrachten«, wie es ein Freund von mir gerne sagt.

Oft werde ich gefragt, ob ich gegen meine Behinderung ankämpfe. Meine Antwort ist: Nein. Gerade weil ich sie akzeptiere, sie als einen Teil von mir sehe, kann ich diese »Schwäche« verstehen und in eine Stärke umwandeln. Gehörlosigkeit allein ist oft mit großen Schwierigkeiten verbunden, dennoch stellt sie keine Gefängnismauer dar, die den Betroffenen von der Welt abschneidet. Es ist hauptsächlich die Einstellung des Betroffenen selbst, die darüber bestimmt, wie er mit seiner Umwelt interagiert. Leider existieren in der Gesellschaft häufig vorgefasste Meinungen, die Gehörlosigkeit mit Unfreiheit und sehr eng gesteckten Grenzen assoziieren. Ich habe erfahren, dass es für viele Menschen nicht einfach ist, diese Vorurteile infrage zu stellen und kritisch zu überprüfen, und ich hoffe, dass ich mit meinem Buch einige Scheuklappen entfernen kann.

Gehörlos zu sein ist »Schicksal«. Man darf es nicht als Feind sehen, denn Taubheit kann man nicht »besiegen«. Aber man kann viele der Einschränkungen, die sie mit sich bringt, überwinden. Wichtig ist nur, dass man sein Schicksal akzeptiert, es annimmt und selbst in die Hand nimmt. Das ist nicht immer einfach, es ist eine große Herausforderung und eine Lebensaufgabe. Eine Behinderung ist so hinderlich, wie man sie selber sieht. Wie es mir gelungen ist, trotz der stärksten sozialen Behinderung ein soziales Netz in der Welt der Hörenden zu knüpfen, wird der rote Faden dieses Buches sein.

Integration ist leider auch heute noch ein Traumschiff ohne Wasser unterm Kiel. Das liegt gar nicht an der Gehörlosigkeit selbst, sie |13|bedeutet keine unüberwindbare Barriere für die Integration. Wenn es eine Barriere gibt, dann ist es diejenige, mit hörenden Menschen nicht kommunizieren zu können. Leider wird die Kommunikation von beiden Seiten erschwert. Für eine funktionierende Integration ist es nämlich nicht nur wichtig, dass Behinderte aktiv auf die Gesellschaft zugehen. Allzu häufig besteht die Barriere nicht in meiner Behinderung selbst, sondern in bewussten oder unbewussten Vorurteilen der anderen. Ich habe immer wieder erlebt, dass nicht die Tatsache, dass ich nicht hören kann, sondern die Tatsache, dass ich für »gehörlos« gehalten werde – samt allen damit verknüpften Vorurteilen –, eine bessere Integration behindert. Glücklicherweise gelingt es mir immer wieder von neuem, Vorurteile abzubauen, und ich hoffe sehr, dass dieses Buch einen weiteren Beitrag dazu leisten kann.

Ich bin bekannt dafür, dass ich trotz meiner Gehörlosigkeit die Gebärdensprache nicht beherrsche. In diesem Buch geht es mir aber keinesfalls um die Verherrlichung der Lautsprache für Gehörlose. Genauso wenig maße ich es mir an, das Pro und Kontra von Gebärdensprache und lautsprachlicher Kommunikation stellvertretend für alle Gehörlosen gegeneinander aufzuwiegen. Wichtig ist mir nur, auf Gegensätze zwischen diesen Formen der Verständigung hinzuweisen, die für mich, mein Leben, meinen Alltag entscheidend sind. Dass die ersten Jahre der lautsprachlichen Erziehung mühsam sind, steht außer Zweifel. Leider ist sehr oft die Reaktion des Umfelds das Mühseligste und manchmal auch sehr Verletzende daran. So häufig stößt man auf Besserwisser, Unverständnis. Nicht selten werden wir lautsprachlich kommunizierenden Gehörlosen mit Anfeindungen als »Verräter der Gehörlosenkultur« konfrontiert. Oder wir gelten als Überflieger, höchstbegabte Behinderte, die alles aus dem Ärmel schütteln. Viele glaubten, ich sei nur besonders begabt – ein Wunderkind – und mir sei alles zugefallen. Dieses Buch soll zeigen, dass diese Vermutung ein Trugschluss ist. Wenn diejenigen, die so etwas behaupten, wüssten, wie viele Schritte nötig waren, um mir meinen Erfolg zu erarbeiten, |14|wie sehr ich für jeden einzelnen Schritt kämpfen musste. Und wie viel Unterstützung ich dabei von meinen wunderbaren Eltern erhielt, deren selbstloser Hilfsbereitschaft ich alles zu verdanken habe.

Zwei Welten – eine Heimat? Ich bin keine typische Gehörlose mehr. Ich wurde einmal als eine »Hörende unter Gehörlosen« und »Gehörlose unter Hörenden« bezeichnet. Beide Welten sind in mir. Und ich sehe es als eine Bereicherung, ihre Widersprüche in mir zu vereinen. Dass ich damit sehr glücklich sein kann, hoffe ich in diesem Buch erklären zu können.

Es ist mir ein Anliegen, Ihnen etwas über Gehörlosigkeit zu erzählen, indem ich über mich erzähle. Ich möchte Sie aber auch einladen zu einer Reise in die Welt der Musik, der Klänge. Ich lade Sie ein, sie in einer Weise neu kennen zu lernen, die Ihnen vermutlich unbekannt ist, wenn Sie hören können. Ich möchte Ihnen Einblick geben in die Welt der Stille, in der sich dem Horchenden (nicht dem Hörenden!) eine Vielfalt von Klängen offenbart. Vielleicht werden Sie dann selbst verstehen, warum meine Welt doch niemals still sein kann. Mit diesem Buch möchte ich auch dem Irrglauben entgegenwirken, dass sich Taubheit und Musik unvereinbar gegenüberstehen. Selbst einem tauben Ohr muss die Musik nicht verwehrt bleiben. Wie kann ein gehörloses Mädchen mit Begeisterung zur Musik tanzen? Wie ist es in der Welt der Stille, die doch gleichzeitig voller Gefühl, Sprache und Rhythmus sein kann? Ich kenne diese Welt. Ich lebe in ihr. Meine Aufzeichnungen führen Sie dorthin.

Ich gebe dieses Buch nun aus der Hand in der Hoffnung, dass es als Brückenschlag dienen kann, dass es zwei einander noch fremde Welten zusammenführt, dass es Hörende und Nichthörende einander näherbringt. Dem von Vorurteilen und Stereotypen geprägten Grundverständnis von Gehörlosigkeit, das in der Gesellschaft vorherrscht|15|, wird mit diesem Buch nicht entsprochen. Gehörlosigkeit ist leider immer noch eine Behinderung, über die in der Öffentlichkeit relativ wenig bekannt ist, und wenn, dann beschränken sich die Informationen oft auf die Gebärdensprache. Viele Leute staunen, wenn sie einer sprechenden Gehörlosen begegnen. Sie sind unsicher. Sie wissen nicht, wie sie sich verhalten sollen. Das macht mich nachdenklich. Ich möchte den Hörenden gern ihre Unsicherheit nehmen. Manches in diesem Buch wird sicher für Diskussionen sorgen – vielleicht tragen diese Denkanstöße ja dazu bei, bestehende Grenzen und Schranken zu überwinden.

Ich wünsche Ihnen viel Freude mit diesem Buch!

Sarah Neef

|17|Kapitel 1

Born that way1 – Prolog

»Life isn’t about finding yourself.

Life is about creating yourself.«

George Bernard Shaw

(1776–1950, irischer Schriftsteller) 

Es ist der 3. August 1981, 3 Uhr morgens.

Ihre Wehen setzen nun in kürzeren Abständen regelmäßig ein. Die Sachen für das Krankenhaus sind bereits gepackt und stehen im Flur. Behutsam fährt ihr Mann sie in das wenige Kilometer entfernte Krankenhaus.

Bis jetzt verläuft alles normal.

Keine Anzeichen von Komplikationen.

Im Krankenhaus angekommen, wird sie von der Stationsschwester auf die Geburt vorbereitet. Die Chefarztbehandlung ist vorgesehen.

Stunden vergehen. Die Wehen sind zu schwach. Um den Geburtsvorgang zu beschleunigen, öffnet die Hebamme die Fruchtblase. Als dies nicht merklich hilft, schließt man sie an den Wehentropf an.

Mehrere Stunden am Wehentropf ziehen sich hin.

Der Chefarzt überredet sie jetzt zu einer Periduralanästhesie. Mit der Begründung, es sei besser für sie und das Baby, da sie die Verkrampfung löse, sie und ihr Kind von Stress und Schmerz befreie. Sie hat Bedenken. Nach langem Hin und Her unterschreibt sie.

|18|Dann geht der Chefarzt.

Der Oberarzt setzt die Kanüle für die Injektion und verabreicht ihr eine Dosis.

Nichts geschieht. Es tritt keine betäubende Wirkung ein.

Eine weitere Dosis wird verabreicht.

Nichts verändert sich.

Der Chefarzt kommt zurück. Und er stellt fest, dass die Kanüle falsch angelegt worden war. Erst mit einer neu angelegten Kanüle findet man die richtige Stelle.

Diese dritte Dosis wirkt. Sie betäubt den ganzen Unterleib.

In der Zwischenzeit kommen die Wehen in immer kürzeren Abständen. Doch jetzt hat sie kaum noch Kraft. Die fünf Stunden am Wehentropf haben sie zusätzlich geschwächt. Ihr Gefühl im Unterleib versagt. Es ist alles betäubt. Sie kann die Muskeln nicht mehr steuern, geschweige denn kontrolliert einsetzen.

»Pressen Sie, um Himmels willen!«, ruft die Hebamme.

Sie versucht alles, was in ihren Kräften steht. Aber es geht nicht. Die Entkräftung lässt es nicht zu. Aber sie kämpft. Sie ist zu geschwächt.

Sie ist verzweifelt. Doch sie gibt nicht auf – im Gegensatz zur Hebamme.

»Ich kann das nicht mehr länger verantworten. Es tut mir leid, aber ich kann es nicht!«, ruft die Hebamme panisch und rennt aus dem Kreißsaal.

Der Oberarzt erscheint. Er macht sich ein Bild von der Lage. »Das ist Sache des Chefarztes«, sagt er. Er wendet sich ab, kümmert sich nicht weiter darum.

Kein Arzt greift ein. Die Krankenschwestern schauen weg. Die Hebamme ist fort.

Alles wartet auf den Chefarzt. Er ist nicht da.

Die Zeit verrinnt.

|19|Der Kardiotokograf2 zeigt deutlich die abnehmende Herzfrequenz des ungeborenen Kindes. Sauerstoffmangel. Momente werden zu Sekunden, Sekunden zu Minuten.

Minuten, die die Angst um das Baby größer werden lassen.

Das Kind scheint verloren zu sein.

Im Verlauf der Geburt bricht ihr Steißbein. Während sie trotz Betäubung und gebrochenen Steißbeins versucht, ihr Kind zu gebären, kämpft das Ungeborene im engen Geburtskanal um sein Überleben. Es versucht, sich in das Leben hinauszukämpfen, den rettenden Sauerstoff zu erreichen. Doch der Kampf dauert lange.

Zu lange.

Endlich kommt der Chefarzt herein und das Kind kann in letzter Sekunde dank eines Dammschnittes gerettet werden.

Es ist der 3. August 1981, 14.50 Uhr nachmittags.

|21|Kapitel 2

Moments can change your life

The smallest moments can change your life in big ways.

(Unknown)

Es waren nur wenige Minuten, die über mein Schicksal entschieden und mein Leben auf eine bestimmte Bahn lenkten, auf die meine Mutter und ich selbst keinen Einfluss hatten. Einen Moment zu lange hatte ich im Geburtskanal gesteckt, einen Moment zu lange hatte mir der Sauerstoff gefehlt, der lebensnotwendige Stoff, den Neugeborene brauchen, um mit den ersten Atemzügen die Funktionen ihrer Zellen, Organe und Sinne in Gang zu bringen. Diese wenigen Augenblicke entschieden, dass ich in eine andere Welt als die meiner Eltern und Familie hineingeboren werden sollte.

Dennoch gab ich wie jedes normale Baby mit einem kräftigen Schrei mein Dasein bekannt. Ich besaß schon erstaunlich viele rabenschwarze Haare, die mein Gesichtchen umrahmten. Lebhaft blickte ich in meine neue Welt und reagierte mit wachsamen Augen auf meine Umwelt. Nichts wies auf eine Funktionsstörung irgendeines Sinnesorgans hin. Nichts Auffälliges war zu bemerken. Es schien, als sei alles in bester Ordnung. Allerdings wurden auch keine speziellen Untersuchungen veranlasst.

Nach der Geburt stand mein Vater draußen auf dem Gang. Er war erschöpft, aber erleichtert, dass scheinbar alles gut ausgegangen war. Der Chefarzt trat auf ihn zu. »Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Es ist alles in Ordnung«, sagte er und ging. Mein Vater blickte ihm nach. Dann stutzte er. Ein undefinierbarer Verdacht schnürte ihm die Kehle zu.

|22|Irgendetwas schien in der Luft zu hängen. Der Oberarzt hatte meine Mutter noch einmal gefragt, ob der vorher berechnete Geburtstermin richtig gewesen sei. Man bot meiner Mutter ein Einzelzimmer und einen längeren Krankenhausaufenthalt an.

Meine Eltern blieben wachsam. Ziemlich schnell merkte meine Mutter, dass ich auf Geräusche nicht reagierte. Aber inwieweit tun das Babys überhaupt? Als sie ihre Freundin Daniela besuchte, machten die beiden Frauen einen ersten Versuch. Sie setzten Danielas Sohn Akay und mich auf eine Decke mit Spielsachen und rasselten mit ihren Schlüsseln hinter unserem Rücken. Wir reagierten beide nicht. Zu sehr waren wir in unser Spiel vertieft und miteinander beschäftigt, als dass wir unsere Umgebung beachtet hätten.

Meiner Mutter fiel sehr schnell auf, dass ich jedes Mal schrie oder weinte, sobald sie aus meinem Gesichtsfeld verschwand. Ich war nicht wie ein normal hörendes Baby über das Gehör mit meiner Mutter verbunden. Die beruhigende Stimme meiner Mutter konnte mich nicht erreichen. Verschwand meine Mutter aus meinem Blickfeld, verschwand sie aus meiner Welt, und ich bekam Panik. Und weinte.

Da ich jedoch auf subtile, für Erwachsene kaum erkennbare visuelle Zeichen reagierte, behauptete der Kinderarzt, ich hätte ein gut funktionierendes Gehör. Da ich mich nicht an Geräuschen orientieren konnte, blickte ich munter und rege in die Welt und beobachtete viel. Mit den Augen versuchte ich zu erfassen, was um mich herum geschah. Auf diese Weise reagierte ich auch sehr schnell.

Mein damaliger Kinderarzt glaubte meiner Mutter nicht, als diese Zweifel an meiner Hörfähigkeit äußerte. Statt ihrer Vermutung auf den Grund zu gehen, belächelte er sie als eine besonders überbesorgte Mutter. Um meiner Mutter zu zeigen, dass ich durchaus Geräusche wahrnehmen konnte, hantierte der Kinderarzt hinter mir mit Gegenständen, die Geräusche erzeugten. Natürlich |23|drehte ich mich zu ihm um. Ob es daran lag, dass ich seine Bewegungen hinter mir durch einen Lufthauch gespürt hatte, oder daran, dass ich merkte, wie meine Mutter nach etwas hinter mir sah, und ihren Blicken folgte, weiß ich natürlich nicht. Genauso gut ist es möglich, dass er einfach aus meinem Blickfeld verschwunden war und ich mich umdrehte, um ihn zu suchen. Jedenfalls tat der Arzt die Sorgen meiner Mutter als unbegründet ab. »Wäre ihr Kind gehörlos«, zog er das Fazit, »wäre sein Sozialverhalten nicht so weit entwickelt.«

Meine Mutter ging mit zwiespältigen Gefühlen nach Hause. Einerseits klammerte sie sich hoffnungsvoll an die Diagnose, dass ich hören konnte. Andererseits warnte sie nach wie vor die eigene Wahrnehmung, dass etwas nicht stimmte.

Vier Monate später, an einem Donnerstagabend, spielten meine Eltern mit mir. Ich stand in meinem Bettchen, das voller aufgeblasener Luftballons war, und wir spielten damit. Mein Vater wollte diese Szene gerade in einem Foto festhalten, als direkt hinter mir ein Luftballon platzte.

Ich reagierte nicht.

Fröhlich lachte ich weiterhin meine Eltern an.

In diesem Moment war meinen Eltern alles klar. Später sagte meine Mutter: »Ich dachte, du fängst gleich an zu weinen und ich müsste dich in den Arm nehmen, um dich zu trösten. Dein Vater und ich, wir sind erschrocken bei dem Knall, als der Luftballon platzte. Du hast aber nicht einmal mit den Augen geblinzelt. Das war für mich der Moment der Wahrheit. Ich hatte in den vergangenen Monaten so viele einzelne Puzzleteilchen gefunden, die sich aber nicht richtig zusammenfügen ließen. Jetzt war das Bild mit einem Mal vollständig.«

Gleich am nächsten Morgen packten mich meine Eltern in das Auto und fuhren zum Kinderarzt. Nachdem sie ihm das Erlebnis des vergangenen Abends geschildert hatten, stellte er eine weitere einfache Hörprüfung an. Nun war auch er vom Ergebnis betroffen|24|. Für eine fundierte ärztliche Diagnose müssten meine Eltern allerdings in die Universitätsklinik Tübingen, sagte er. Aber jetzt, kurz vor dem Wochenende, würden sie da keinen Termin mehr bekommen.

Meine Mutter ließ sich jedoch nicht davon abhalten, in der Universitätsklinik anzurufen. Dank einer verständnisvollen Ärztin am Telefon bekam sie am selben Freitag noch einen Termin. »Das war wichtig«, erklärte mir meine Mutter später. »Ich brauchte das. Die absolute Gewissheit, ob du nicht hören kannst. Ich konnte das Wochenende einfach nicht in der Ungewissheit überstehen.«

In der Hals-Nasen-Ohren-Klinik wurden verschiedene Untersuchungen mit mir durchgeführt. Ich bekam Kopfhörer aufgesetzt, um meine Reaktionen auf die Schallereignisse zu überprüfen. Zum Schluss ging die Ärztin auf meine Eltern zu. In ihrer Hand hielt sie ein Gerät, das aussah wie ein Teil eines Kopfhörers.

»Bevor wir uns eine Diagnose erlauben, müssen wir noch einen letzten Test anwenden«, sagte sie. »Wir untersuchen ihre Tochter mit dieser sogenannten Breuninger Kanone.«

Die Breuninger Kanone. Zu diesem Mittel griffen damals Ärzte in Tübingen, wenn alle anderen Untersuchungen keine Reaktion auf Schallereignisse gezeigt hatten. Sie wurde in der Zeit meiner Kindheit noch als letztes Mittel eingesetzt, um sich Klarheit zu verschaffen. Wenn ein Kind darauf nicht reagiert, dann hört es wirklich nichts. Es ist ein Gerät, das direkt an das Ohr gehalten wird und per Knopfdruck ein sehr lautes Geräusch auslöst. Es hört sich sich an wie eine extrem laute Ratsche mit einer Geräuschstärke von über 100 Dezibel. Für einen Hörenden geht es bis an die äußerste Schmerzgrenze.

Die Breuninger Kanone wurde ausgelöst. Flehend richteten sich alle Augen auf mich, das kleine Mädchen, das ungestört in wonniger Seelenruhe einer neu entdeckten Faszination nachging und mit dem Kragen der Hemdbluse seiner Mutter spielte. Endlos |25|dehnten sich die Sekunden in die Länge und zwangen die Anwesenden dazu, das Unbegreifliche zu begreifen.

Die Wahrheit war niederschmetternd. Nun war es klar.

Ich war taub.

|27|Kapitel 3

Wenn Töne schweigen

Es gibt Menschen unter uns, die in Erfahrungswelten leben, die unsereins niemals betreten kann.

John Steinbeck

(1902–1968, amerikanischer Schriftsteller)

Wie soll man einem Kind die Welt erklären, wenn man dabei das wichtigste Werkzeug, die Sprache, nicht verwenden kann? Eine Welt, in der eine Fülle von Geräuschen zur Orientierung dient, die jedoch nicht in das Ohr des tauben Kindes eindringen können. Die Diagnose Gehörlosigkeit hatte meine Eltern vor unzählige Fragen und schwierigste Entscheidungen gestellt. Wie konnten sie mir das Leben erleichtern? Wie wachsen gehörlose Kinder auf? Welches ist die beste Erziehung für das gehörlose Kind? Würde ich mich jemals in der Gesellschaft zurechtfinden können oder drohte mir gänzliche Isolation? Würde ich verstehen und verstanden werden können? Meine Eltern waren jedoch von Anfang an entschlossen, mich zur Selbstständigkeit zu erziehen, damit ich später nicht in Abhängigkeit von anderen leben musste. Sie wollten mir damit – bei einem gehörlosen Kind ein schwieriges Unterfangen – die Freiheit im Leben schenken, die Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung und Autonomie erst möglich macht.

Seit Jahrzehnten schwelt ein erbitterter, nicht selten feindselig ausgetragener Kampf zwischen den lautsprachlich kommunizierenden Tauben1 und den zahlreichen Gehörlosen, die die Gebärdensprache |28|verwenden. Auf der einen Seite stehen die »Oralisten« (lautsprachlich Kommunizierende), die sich für die Lautsprache von Gehörlosen einsetzen. Ihnen stehen die »Manualisten« (gebärdend Kommunizierende) gegenüber, die auf die Gebärdensprache als das alleinige Kommunikationsmittel für Gehörlose pochen. Ich glaube, dass dieser Kampf eines der größten Probleme ist, mit denen wir Gehörlose uns das Leben selbst erschweren. Vielleicht wären wir gemeinsam viel stärker, aber so ist die Welt der Gehörlosen seit langem in zwei feindliche Lager gespalten und der Methodenstreit2 zwischen lautsprachlicher und gebärdensprachlicher Präferenz ist noch heute im Gange. Ich spreche von »Kampf«, weil jede Seite sich als Sieger sehen möchte. Zwei Ideologien prallen aufeinander. Dabei attackieren sich nicht nur Gehörlose, sondern auch hörende Lehrer, Sonderpädagogen und Sprachtherapeuten bei hitzigen Kontroversen gegenseitig. Der höchst explosive Ideologiemix setzt sich aus zahlreichen und häufig emotional gefärbten Argumenten zusammen. Während gegen die Oralisten angeführt wird, dass die Lautsprache einen unnatürlichen Einfluss auf die Entwicklung des Gehörlosen darstelle, ja sogar als eine Art »Vergewaltigung« angesehen werden müsse, kontern die Oralisten gegen den Manualismus, dass die Gebärdensprache die Gehörlosen von allen außerhalb ihrer Gemeinschaft stehenden Menschen isoliere und die Kommunikation mit der hörenden Welt erheblich erschwere.

Wenn ich auch aufgrund meiner eigenen Erfahrungen Fürsprecherin der Lautsprache für Hörgeschädigte bin, so akzeptiere ich doch die Bedürfnisse anders kommunizierender Menschen. In diesem Buch möchte ich nur meine eigene Geschichte erzählen, die jedoch ohne die Lautsprache sicherlich nicht so verlaufen wäre. Ich und viele andere lautsprachlich kommunizierende Hörgeschädigte verwenden die Lautsprache nicht etwa, um unsere |29|Behinderung zu verleugnen. Wir gebrauchen die Sprache lediglich als Brücke zu den über 90 Prozent der Menschen, die hören und sprechen können. Wie auch die Normalhörenden unterscheiden wir Gehörlose uns in unserer Persönlichkeit: Die einen sind lebhaft, kontaktfreudig, gesellig, neugierig, lebensbejahend, die anderen passiv, desinteressiert, entmutigt, gleichgültig und ziehen den Weg des geringsten Widerstandes vor. Mit meiner extrovertierten Art möchte ich mich nicht von den vielen hörenden Menschen absondern und mich nicht darauf beschränken, innerhalb einer viel kleineren Gemeinschaft von Gehörlosen zu leben. Ich möchte mein Leben in seiner ganzen Fülle inmitten aller Menschen leben. Und dies kann ich nur als Oralistin. Denn wie viele Hörende beherrschen schon die Gebärdensprache?

Die Sprache der Hände ist für den Hörenden ein Faszinosum, eine mystisch anmutende Verständigung. Auch ich bin bisweilen gebannt von den sich schnell bewegenden geschmeidigen Händen und Fingern, die unterschiedliche Gesten hervorzaubern. Es ist eine Welt, in die der Hörende nicht eintauchen kann, sofern er die Gebärdensprache nicht gelernt hat. Aber sieht er auch die eigentliche Situation der Gehörlosen, die sich nur mithilfe der Zeichensprache verständigen und sich in der hörenden Welt kaum verständlich machen können? Ständig auf einen Dolmetscher als Begleiter angewiesen zu sein, erscheint mir einengend.

Ich habe die Gebärdensprache nicht gelernt. Schon allein deswegen nicht, weil ich niemanden kenne, mit dem ich mich in ihr unterhalten könnte. Ich bin mit Hörenden aufgewachsen, ich lebe mit Hörenden. Würde ich die Gebärdensprache lernen, könnte ich sie in meinem sozialen Umfeld nicht anwenden und würde sie somit wieder vergessen.

Ein Kinobesuch ist mir sehr nachhaltig in Erinnerung geblieben. Er hat mich regelrecht geschockt, da mir so offensichtlich vor Augen geführt wurde, welche Einschränkung die alleinige Beherrschung der Gebärdensprache bedeuten kann. Mit einer Freundin |30|schaute ich mir einen Film mit Untertiteln an. Eine kleine Gruppe von gebärdenden Gehörlosen hatte in derselben Reihe wie ich Platz genommen. Während der Vorstellung fiel mir auf, dass jemand neben mir ständig mit den Händen in der Luft gestikulierte. Ich drehte mich der Gruppe zu und erkannte erst jetzt, dass meine Sitznachbarin als Gebärdendolmetscherin fungierte, dass sie also die Untertitel, die gut lesbar am unteren Bildrand gezeigt wurden, in die Zeichensprache übersetzte. Die Gruppe, die sich nur durch Gebärden verständigte, war offensichtlich nicht in der Lage zu lesen beziehungsweise das Geschriebene zu verstehen. Es zeigt sich an diesem Beispiel, dass sich die Gebärdensprache nicht nur von der Lautsprache, sondern auch von der Schriftsprache unterscheidet. Was dies im Alltag für ein Individuum bedeuten muss, mag sich jeder selbst vorstellen.

Mir ist immer wieder aufgefallen, dass bei Gehörlosen in der Oberstufe oder auch später häufig Schwierigkeiten beim Zeitunglesen auftauchen. Kann ein tauber Mensch gerade mal den Inhalt eines Zeitungsartikels lesen, wird dies oft schon als Erfolg gewertet. Dadurch wird mir wieder einmal vor Augen geführt, dass es sich nicht um zwei austauschbare Formen gesprochener Kommunikation handelt. Der große Philosoph Ludwig Wittgenstein sagte: »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.« Wenn man anhand des Zeitunglesens oder auch des Kinobesuchs sieht, wie drastisch sich die Unterschiede auswirken und wie sehr sie in das gewöhnliche Alltagsverhalten hineinspielen, so bekommt das Zitat von Wittgenstein eine noch greifbarere Dimension und eine besondere Tragkraft.

Ich persönlich bin der Meinung, dass wir unsere Überlegungen nicht darauf beschränken dürfen, welche Sprache für das gehörlose Kind leichter zu erlernen ist. Die Frage nach der Bedeutung der Sprache ist weit tiefgreifender. Wir müssen uns der ungeheuren Bandbreite der Sprache und ihrer Komplexität bewusst werden. Sprache lässt sich nicht nur auf ein Mittel zur Verständigung, zum |31|bloßen Austausch von Informationen reduzieren. Sprache bedeutet so unendlich viel mehr. Sie ist ein sehr komplexes, vielschichtiges System, das alle Bereiche der physischen und psychischen Entwicklungen einschließt. Die Bedeutung der Sprache beginnt schon im frühesten Kindesalter; sie nimmt ständig zu bis etwa zum zwölften Lebensjahr, in dem das Sprachsystem weitgehend ausgereift ist. Schon bei Babys bemerken wir die dem Menschen angeborene Faszination für das Gesicht. Nichts erregt die Begeisterung eines Neugeborenen mehr als die Zuwendung eines Menschengesichts. Wenn eine Mutter mit ihrem Baby spricht, hebt sie unmerklich ihre Stimme um eine Oktave an und kommt damit in die Frequenzen hinein, um Signale des Babys zu beantworten. Dabei entsteht ein präverbaler Dialog, aus dem sich allmählich die differenzierte Lautsprache entwickelt.

Sprache ist auch eigentlich dasjenige, was uns als Kulturwesen ausmacht. Wie kein anderes Medium vermag die Sprache die ganze Bandbreite menschlichen Denkens und Handelns einzufangen und auszudrücken. Die Vielfältigkeit der verschiedenen Sprachen und Dialekte drückt eine immense Palette unterschiedlicher Weltsichten, Literaturen und Lebensweisheiten aus. Daneben steht die Bedeutung der Sprache als ein Mittel, uns selbst und unsere Gesellschaft zu verstehen und manche der Konflikte, Uneinigkeiten und Schwierigkeiten zu lösen, die aus den Wechselbeziehungen beziehungsweise Interaktionen zwischen den Menschen entstehen. Kein Bereich der Gesellschaft bleibt davon unberührt.

Soziale Umgebung und Sprache stehen in enger Beziehung zueinander. Wenn ich niese und jemand mir daraufhin »Gesundheit!« wünscht und ich ein »Danke!« erwidere, so liegt wohl kaum eine Vermittlung von Informationen oder Gedanken vor. Hier dient die Sprache zur Wahrung einer freundlichen Atmosphäre zwischen zwei Menschen. Wir Menschen sind soziale Wesen und unser Grundbedürfnis ist es, miteinander zu kommunizieren. Daher reden wir auch lieber über scheinbar bedeutungslose Themen wie das Wetter, um zwischenmenschlichen Kontakt aufrechtzuerhalten|32|, als stattdessen in Schweigen zu verharren. Bleibt jemand stumm, wenn solche »oberflächlichen« Sätze erwartet werden, so gilt dies als sicheres Indiz für Distanz und Abneigung.

Sprache ist auch Ausdruck der Identität. Sie signalisiert, wer wir sind und wo wir hingehören. Sie verrät viel über uns: regionale Herkunft, sozialen Hintergrund, Bildungsniveau, Alter etc. In vielen Situationen verbindet Sprache mehr, als dass sie informiert. Bekommen Sie nicht auch wie ich eine Gänsehaut, wenn sich bei den Fußballweltmeisterschaften vor jedem Spiel Menschen zusammenfinden und gemeinsam die Nationalhymne singen?

Nun wird auch ein Großteil unseres Denkens durch die Sprache erleichtert. Jeder rationale und logische Denkvorgang, mit dem Planungen vollzogen oder Strategien entworfen werden, vollzieht sich unter Mitwirkung der Sprache. In Shelleys Prometheus wird verkündet: »Er gab dem Menschen die Sprache, die schuf den Gedanken, der das Universum misst.«

Vom Nuancenreichtum der Sprache zeugen auch Witze und Rätsel, beides sind geistig anspruchsvolle Sprachspiele. Witze zum Beispiel zeichnen sich durch ihre verschiedensten sprachlichen Formen aus, mal drücken sie schwarzen oder trockenen Humor aus, mal überzeugen sie durch eine brillante und kluge Pointe, mal wirken sie subtiler, mal sind sie derber. Oder es gibt auch Witze, in denen die Ironie einfach nur so rausblubbert. Wie soll man diese Feinheiten, diese Finessen erfassen können, wenn man der Sprache nicht mächtig ist?

In Anbetracht dessen also, was Sprache über den bloßen Austausch von Fakten und Ansichten hinaus zu bewirken vermag, erscheint es mir fast grausam, wenn dem Gehörlosen der Zugang zur Lautsprache verwehrt bleibt. Werfen diese Überlegungen nicht sogar Fragen auf, inwieweit der Zugang zur Lautsprache gefördert werden muss? Wer sich nicht oder nur schwer lautsprachlich verständigen kann, hat die deprimierende Aussicht auf einen sehr eingeschränkten Gesellschaftskreis, der von vornherein durch |33|die Beherrschung der Gebärdensprache vorbestimmt ist. Diese Sprachbarriere ist es auch, die als ein wesentliches Hindernis angesehen werden kann, das der Verständigung zwischen Hörenden und Nichthörenden entgegensteht. Eine einigermaßen verständliche Artikulation könnte diese Barriere überwinden oder gar beseitigen. Darum meine ich, dass es erforderlich ist, dass die Lautsprache bereits im frühesten Kindesalter erworben wird. Es gilt als wissenschaftlich erwiesen, dass Gehörlose im fortgeschrittenen Alter meist nicht mehr sprechen lernen und wenn, dann sehr, sehr schwer und unvollständig. Wenn ein gehörloser Teenager oder Erwachsener sich später jedoch für die Gebärdensprache als Hauptkommunikationsform entscheidet, so verdient dieser Entschluss Respekt und seiner Umsetzung stehen keine unüberwindbaren Hindernisse im Wege wie im umgekehrten Fall. Doch er hat dann zumindest die Basis der Lautsprache erworben, mit der er sich in seiner Umwelt verständlich machen kann. Er kann beispielsweise beim Konditor seine Vorstellungen von einer speziellen Geburtstagstorte beschreiben, dem Arzt kann er seine Beschwerden schildern, ohne dabei stets auf einen Dolmetscher angewiesen zu sein. Einige US-Firmen bezahlen lieber bereitwillig Strafkosten, was weniger finanziellen Aufwand bedeutet, als einen ausschließlich gebärdenden gehörlosen Arbeitnehmer, dem zusätzlich ein Dolmetscher zur Verfügung gestellt werden muss. So schlimm und diskriminierend kann sich das Nichtbeherrschen der Lautsprache auswirken. Ich heiße solche Verhältnisse nicht gut, aber sie sind die bittere Realität.

Das wichtigste Ziel besteht meines Erachtens darin, dass der Gehörlose über sein eigenes Leben selbst bestimmen kann. Er soll beide Möglichkeiten und die freie Wahl zwischen ihnen haben. Er soll sich selbst für einen Weg entscheiden. Ich kenne einige lautsprachlich kommunizierende Hörgeschädigte, die wie ich so sehr in die Welt der Hörenden integriert sind, dass sie sich ein Leben in der viel kleineren »Gehörlosengemeinschaft« nicht mehr vorstellen können. Um den Zugang zur Welt der Hörenden aber wirklich |34|ganz und gar zu ermöglichen, muss die Lautsprache erlernt werden. Ein Gehörloser, der nur die Gebärdensprache gelernt hat, kann im Erwachsenenalter nicht mehr entscheiden, wie er sich verständigen möchte. Ihm steht nur noch dieses Kommunikationsmittel zur Verfügung. Daher erscheint mir in der heutigen Zeit, in der von persönlicher Freiheit so viel geredet und so wenig verstanden wird, die Beschränkung auf die Gebärdensprache als nicht zeitgemäß.

Vervollständigt wird diese Überlegung durch wissenschaftliche Erkenntnisse zur Frühförderung. Für das Kind bedeutet ein Hörschaden eine Einschränkung seiner gesamten Erfahrungswelt durch die Verringerung beziehungsweise das Fehlen des akustischen Reizangebotes sowie das Fehlen eines Anstoßes für die Sprachentwicklung. Die Hirnreifung ist genetisch präformiert (vorgegeben) und wird durch exogene (äußere) Einflüsse stimuliert. Denn das eigentliche Sprachorgan ist das Gehirn. Werden nicht so früh wie möglich mittels Hörgeräten oder Hörimplantaten akustische Reize erzeugt, erfolgt eine Reifungsstörung des Hörorgans, was die Sprachentwicklung erheblich beeinträchtigt. Die Entwicklung der Sprache ist demzufolge das Ergebnis der Gehirnreifung. Bei der Geburt besitzen beide Hemisphären (Gehirnhälften) das gleiche Potenzial, und die Sprache wird erst allmählich in der linken Hälfte lateralisiert.

Die wichtigste Grundlage für eine zentralnervöse Schallverarbeitung im Gehirn ist die Ausbildung von Kontakten zwischen den Nervenzellen. An diesen Kontaktstellen, den Synapsen, findet die Informationsverarbeitung statt. Im Laufe der Hirnentwicklung werden zunächst viele, auch falsche, synaptische Kontakte gebildet. Im Laufe der Reifungsprozesse werden die entstandenen neuronalen (Nerven-) Verbindungen dann auf ihre Richtigkeit hin überprüft, falsche Verbindungen werden wieder abgebaut. Kriterium für die Richtigkeit oder Unrichtigkeit von Verbindungen ist die »Brauchbarkeit« bei der Verarbeitung externer (äußerer) Reize. |35|Im Hörsystem ist dieses Überprüfungsverfahren also von Hörerfahrungen abhängig, denn die Stabilisierung von Synapsen im frühkindlichen Lebensalter bedarf unabdingbar externer Reize. Während dieser Entwicklungsperiode müssen die externen Reize mit Regelmäßigkeit immer wieder angeboten werden, sonst werden sie durch längeren Nichtgebrauch auch an den richtigen synaptischen Kontakten wieder abgebaut, sie gehen verloren. Dies bedeutet, dass die kritische Periode der Sprachentwicklung bereits innerhalb der ersten Lebensmonate liegt und dass die Nichtaktivierung der neuronalen Elemente zu deren unwiederbringlichem Verlust führt. Wer diese Chance im frühesten Kindesalter nicht nutzt, hat sie für immer verloren. Alles danach ist ein sehr mühsamer und schwieriger Prozess, der niemals mehr eine optimale Entwicklung gewährleistet.

Gewiss erfordert der Spracherwerb für Hörgeschädigte einen erheblich größeren Einsatz als für Hörende. Für Hörende vollzieht sich dieser Prozess ganz nebenbei, so instinktiv wie das Atmen – man muss es nicht einmal richtig wollen. Gehörlose jedoch müssen sich jedes einzelne Wort in seiner Bedeutung aneignen, der Weg zu einer verständlichen Aussprache ist mühevoll und nicht selbstverständlich.

Es war dennoch schwerer, fließend von den Lippen ablesen zu lernen als die richtige Aussprache zu erwerben. Es ist das Ablesen, das die Verbindung zu den Menschen herstellt, denn es ermöglicht, die Menschen zu verstehen, egal ob es sich um Fremde oder um Vertraute handelt. Meine Mutter nahm sich sehr viel Zeit für Gespräche mit mir »von Angesicht zu Angesicht«, verarbeitete Erlebnisse mit mir. Doch meine Fähigkeit zum Lippenlesen konnte erst im Laufe der Jahre ausgebildet werden, indem ich vielen verschiedenen Menschen und damit unterschiedlichen Mundbildern begegnete.

Mundbilder sind sehr spezifisch, so wie die Handschriften. Genau so, wie jeder über seine eigene Handschrift verfügt, besitzt |36|er auch ein eigenes Mundbild. Und genau so, wie Handschriften mal gut oder mal schlecht leserlich sind, gibt es auch gute und schlechte Mundbilder. Das kann am Gebiss oder an einer sehr verwaschenen Aussprache liegen. Aber dadurch, dass ich mit sehr vielen Menschen Kontakt hatte, habe ich auch die unterschiedlichsten Mundbilder kennen gelernt und sie mir eingeprägt. Es dauert gewöhnlich nur wenige Minuten, bis ich mich an die Sprache eines Fremden gewöhnt habe, je nachdem, wie beweglich und ausdrucksvoll sein Mund und sein Gesicht sind. Von etwa 80 Prozent der Menschen, die ich zum ersten Mal sehe, kann ich gleich gut ablesen, bei etwa 16 Prozent der Menschen dauert es etwas, bis ich mich an das Mundbild gewöhnt habe. Inzwischen gibt es nur sehr, sehr wenige Menschen, die ich wirklich schlecht verstehen kann. Etwa 4 Prozent der Menschen, denen ich begegne, kann ich überhaupt nicht verstehen. Im Allgemeinen verstehe ich Frauen besser, da sie expressiver, also ausdrucksstärker sind.

Interessant sind für mich die unterschiedlichen Reaktionen von Leuten, die noch nie einer gehörlosen Person begegnet sind und keine Ahnung haben, wie man mit mir sprechen soll. Entweder murmeln sie peinlich berührt vor sich hin oder sie sprechen viel zu langsam, wobei sie die Mundbewegungen sehr stark übertreiben (wie grotesk das manchmal aussieht!), sie überartikulieren und sprechen überbetont, was das Lippenlesen nur noch unnötig erschwert, denn die langsamen Lippenbewegungen verzerren die normalen Sprechmuster. Schlimmer noch, es gibt Menschen, die ohne Stimme mit mir sprechen. So etwas fällt auf, und der Sprechende sieht aus wie ein unterbelichteter Fisch. Am besten und einfachsten funktioniert Kommunikation mit einem Lippenleser dann, wenn der Sprechende ganz normal, ganz natürlich und vielleicht ein Quäntchen langsamer spricht.

Das Ablesen von den Lippen kann manchmal etwas verwirrend sein, aber es ist erstaunlich, wie genau man diese Fähigkeit im Laufe der Zeit erlernt. Ich begegnete vielen Menschen und damit auch unterschiedlichen Dialekten und Akzenten. Als ich dreizehn |37|Jahre alt war, traf ich auf einen Tschechen, der immer »scheen« statt »schön« und »siiieß« statt »süß« sagte. Ich merkte sogar, dass manche Leute lispeln und mit der Zunge bei bestimmten Buchstaben an den Zähnen anstoßen. Ein gelispeltes [s] sieht ähnlich aus wie das englische [th], und manchmal denke ich erst, die Person spricht englisch. Ich lernte zu unterscheiden, welche Akzente Franzosen, Russen, Spanier oder Engländer haben, wenn sie deutsch sprechen. Irgendwann war ich auch in der Lage, Amerikaner von Engländern zu unterscheiden: die verwaschene, nicht deutlich voneinander getrennten Wörter des Amerikanischen von dem gepflegten britischen Englisch.

Wie aber sieht eine komplexe Information aus, die man allein beim Lippenlesen erwerben kann? Das akustische Sprachsignal, mit dem beim Sprechen der gedankliche Inhalt kodiert wird, entsteht in einem kontinuierlichen und wohlkoordinierten Bewegungsprozess der aktiv beweglichen Sprechorgane wie Lunge, Zwerchfell, Luftröhre und Brustmuskeln. Beim Sprechen ist der Bewegungsvorgang in Bezug auf das akustische Signal optimiert. Es werden nicht die Bewegungen der einzelnen Sprechorgane, des Kiefers und der Lippen hörbar, sondern es entsteht ein Gesamtklang, der sich kontinuierlich verändert. Sprechen ist eben nicht das Aneinanderreihen von gesprochenen Buchstaben, die wie abgehackte Morsezeichen gesendet werden, sondern ein Fluss von Lauten, die nahtlos ineinander übergehen und so das Wort formen.

Bei diesem Prozess werden nur die Bewegungen weniger Organe sichtbar: der Lippen, des Unterkiefers mit den Zähnen, manchmal auch die Zungenspitze. Das sind nur wenige Organe, und nicht einmal die wichtigsten, die an der Klanggestaltung aktiv beteiligt sind.

Die Bewegungen der anderen Organe, die für die Bildung des akustischen Signals der Lautsprache wesentlich sind, vor allem die differenzierten Bewegungen des Zungenrückens, des Gaumensegels sowie die wichtigen Bewegungen der Stimmlippen im Kehlkopf|38|, die die Stimmhaftigkeit oder die Stimmlosigkeit der Laute oder Lautfolgen im akustischen Signal bewirken, sind für einen Lippenleser nicht sichtbar.

Geht man allein von den Lippenbewegungen aus, so nimmt der Lippenleser ein mehrdeutiges Lückenbild wahr. Die wenigen sicheren Informationen, wie sie beispielsweise beim vollständigen Verschluss der Lippen erkannt werden können, sind zudem noch mehrdeutig. Es gibt verschiedene Möglichkeiten. Sie können mit den Lauten /b/ oder /p/ oder /m/ identifiziert werden. Im hinteren Gaumen gebildete Laute wie /k/, /g/, /ch/, /r/, /j/ und /h/ kann das Auge nicht erfassen. Worte wie Butter und Mutter sind nicht auseinanderzuhalten, ganz zu schweigen von Papa und Mama. Zudem werden sie bis zu dem nächsten eindeutigen Lippenbild durch eine Lücke unterbrochen, in der ein oder mehrere Laute stecken könnten; aber es braucht auch gar kein verdeckter Laut dazwischen zu sein. Das kann ein großes Problem sein. Ebenso ist kein Unterschied zwischen Wein, fein, Wahn, fahr’n sichtbar. Etwa 30 Prozent des Gesprochenen kann man tatsächlich von den Lippen lesen, der Rest ist logisches Kombinieren und einfühlsames Ergänzen und Erraten. Lippenlesen ist eine hohe, langjährig zu erlernende Kunst, die schon in den frühesten Jahren gefördert werden muss, damit man in diesen Prozess hineinwachsen kann.

Ich erlebe manchmal Situationen, in denen es lustige Missverständnisse gibt, über die ich herzlich lachen kann. Als mich eine Kosmetikerin zu einer neuen Creme beriet, fragte sie mich, ob ich Flugzeuge vertragen würde. Ich stutzte, da mir sofort klar war, dass ich das Wort falsch abgelesen hatte. Mein Gehirn arbeitete auf Hochtouren und versuchte, aus dem Kontext heraus Assoziationen zu bilden, um das richtige Wort zu kombinieren. Ich befand mich im Gespräch mit einer Kosmetikerin, wir hatten über eine neu entwickelte Creme gesprochen. Wenn ich etwas vertragen soll, musste es ein Inhaltsstoff der Creme sein. Also überflog ich im Geiste eine Liste aller chemischen Stoffe, die ich kannte, |39|und stieß dabei auf Fruchtsäure! Ich hatte Flugzeuge gelesen und Fruchtsäure richtig kombiniert. Ähnlich verhielt es sich bei einem Besuch in der Familie eines Freundes. Seine Mutter erzählte mir, dass sein Bruder im Keller einen Gefrierschrank habe und dass er diesen immer mit einem Sicherheitsschloss sehr sorgfältig abschließen müsse, damit die anderen Hausbewohner nicht herankommen. Es sei gefährlich und könnte üble Folgen haben, wenn er tatsächlich das Abschließen mal vergessen würde. An dieser Stelle kamen mir Zweifel. Wäre es tatsächlich so übel und folgenschwer, wenn ein anderer Hausbewohner etwas aus dem Gefrierschrank entwenden würde? Mein Verdacht erhärtete sich, dass das Wort Gefrierschrank nicht passen konnte. Ich aktivierte alle meine Kombinationsmöglichkeiten, dachte an den Bruder, seine Vorlieben für Essen, an seinen Beruf als Förster – und blitzschnell kam die Erleuchtung! Als Förster brauchte er Gewehre und zur Aufbewahrung einen Gewehrschrank, und mit diesem Wort passte alles andere im Kontext auch.

So ähnlich sehen sich viele Wörter, die jedoch eine vollkommen verschiedene Bedeutung haben. Die Bedeutung muss man sich zusammenkombinieren, ja manchmal sogar regelrecht zusammenreimen. Vom Lippenlesen her sind beispielsweise Rahmen, Raben, Gaben, Haben, kamen