Im Schlaraffenland - Heinrich Mann - E-Book

Im Schlaraffenland E-Book

Heinrich Mann

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Beschreibung

In seinem ersten Roman hat Heinrich Mann zugleich auch sein Lieblingsthema gefunden: die korrupte Gesellschaft zu Zeiten Kaiser Wilhelms II. Der Roman zeichnet Aufstieg und Fall des aus einfachen Verhältnissen stammenden und leidlich talentierten Möchtegern-Literaten Andreas Zumsse. Bedingt durch Glück und Beziehungen steigt er in der wilhelminischen Gesellschaft von Reichtum und Macht auf. Aber die Etablierten verzeihen ihm seinen Erfolg nicht. Und durch eigene Hybris und einem Hang zu Ränkespielen hat Zumsse schon bald seinen Zenit überschritten und sieht sich schlussendlich wieder auf dem Weg zurück nach unten. Jahre später schrieb Mann in einem Brief über seinen Roman: "Mit 20 konnte ich gar nichts. Gegen 30 lernte ich an meinem Schlaraffenland die Technik des Romans." Null Papier Verlag

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Heinrich Mann

Im Schlaraffenland

Ein Roman unter feinen Leuten

Heinrich Mann

Im Schlaraffenland

Ein Roman unter feinen Leuten

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected] EV: Albert Langen, München, 1900 2. Auflage, ISBN 978-3-962818-35-7

null-papier.de/neu

Inhaltsverzeichnis

An­mer­kun­gen zur Be­ar­bei­tung

I. Der Gum­pla­cher Schul­meis­ter

II. Das »Café Hur­ra«

III. Die deut­sche Geis­tes­kul­tur

IV. Türk­hei­mers

V. Ein de­mo­kra­ti­scher Adel

VI. Die Mit­tel, mit de­nen man was wird

VII. Eine Marot­te

VIII. »Ra­che!«

IX. Po­li­tik und Volks­wirt­schaft im Schla­raf­fen­land

X. Das Ver­gnü­gen, die Men­schen zu durch­schau­en

XI. Die klei­ne Matz­ke

XII. Die le­ben, die ge­nie­ßen!

XIII. Die hohe Kor­rup­ti­on

XIV. Fa­mi­li­en­rat

XV. Lieb­ling

XVI. Das Be­dürf­nis nach Rein­heit

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie sich für ein E-Book aus mei­nem Ver­lag ent­schie­den ha­ben.

Soll­ten Sie Hil­fe be­nö­ti­gen oder eine Fra­ge ha­ben, schrei­ben Sie mir.

Ihr Jür­gen Schul­ze

Anmerkungen zur Bearbeitung

Schreib­wei­se und In­ter­punk­ti­on des Ori­gi­nal­tex­tes wur­den über­nom­men; of­fen­sicht­li­che Druck­feh­ler wur­den kor­ri­giert.

Die Or­tho­gra­fie wur­de der heu­ti­gen Schreib­wei­se be­hut­sam an­ge­gli­chen.

Grund­la­ge die­ser Ver­öf­fent­li­chun­gen bil­den fol­gen­de Aus­ga­ben:

Al­bert Lan­gen, Mün­chen, 1900

Ver­lag Kul­tur und Fort­schritt, 1962

Rom, Ja­nu­ar 1898 – Riva, März 1900

I. Der Gumplacher Schulmeister

Im Win­ter 1893 ar­bei­te­te An­dre­as. Er war flei­ßig wie ein ar­mer Stu­dent, der nicht in alle Ewig­keit auf den Wech­sel von zu Hau­se rech­nen kann. Als es aber Früh­ling ward, ging eine Ver­än­de­rung mit ihm vor. Wäh­rend der Os­ter­fe­ri­en, die er aus Man­gel an Rei­se­geld in Ber­lin ver­brach­te, muss­te er im­mer­fort an die Freun­de den­ken und an die Fahr­ten, den Rhein zu Ber­ge. Ein aus­gie­bi­ger Vor­rat von des Va­ters pri­ckeln­dem Fe­der­wei­ßen be­fand sich im Boot.

Das Heim­weh ver­an­lass­te den jun­gen Mann zum Nach­den­ken. Er über­leg­te sich die große Zahl der Ge­schwis­ter und die schlech­te Ern­te des vo­ri­gen Jah­res. Nun, mit dem Wein­berg, der nur noch alle sie­ben Jah­re ein­mal or­dent­lich trug, wür­de er nichts mehr zu tun ha­ben. Sein zu­künf­ti­ges Erb­teil ging bei sei­nem Stu­di­um im Voraus drauf. Merk­wür­di­ger­wei­se schloss An­dre­as hieraus nicht, dass er umso schnel­ler auf das Ex­amen los­zu­ar­bei­ten habe, son­dern dass sei­ne An­stren­gun­gen gar zu we­nig loh­nend sei­en. Als mit­tel­lo­ser Schul­amts­kan­di­dat war al­les, was er tun konn­te: nach Gum­plach zu­rück­keh­ren und auf eine An­stel­lung am Pro­gym­na­si­um war­ten. War das eine Zu­kunft für ihn, An­dre­as Zum­see, des­sen Ta­lent, nach An­sicht al­ler, zu großen Hoff­nun­gen be­rech­tigt hat­te? Mit acht­zehn Jah­ren hat­te er Ge­dich­te ge­macht, mit de­nen sei­ne Freun­de und so­gar er selbst voll­kom­men zu­frie­den ge­we­sen wa­ren. Seit­dem hat­te der »Gum­pla­cher An­zei­ger« eine No­vel­le von ihm ge­bracht, die ihm die Gunst des Mä­zens von Gum­plach ein­ge­tra­gen hat­te. Es war der alte Herr, den es in je­der klei­nen Stadt gibt, und der bei sei­nen Mit­bür­gern als harm­lo­ser Son­der­ling gilt, weil er sich mit Li­te­ra­tur be­fasst.

Am Os­ter­sonn­tag be­such­te An­dre­as das Kö­nig­li­che Schau­spiel­haus, um den ers­ten Teil des Faust zu se­hen. Auf der Ga­le­rie zog er sich hin­ter einen Pfei­ler zu­rück. Er hat­te kei­nen Be­kann­ten in Ber­lin, schäm­te sich aber sei­nes bil­li­gen Plat­zes. Sei­ne Ei­tel­keit leg­te ihm Op­fer auf. Im Zwi­schen­akt stieg er, nicht weil es ihm Freu­de mach­te, son­dern weil die Selb­st­ach­tung es ihm ge­bot, ins Par­kett hin­ab und dräng­te sich auf dem Kor­ri­dor in der gu­ten Ge­sell­schaft um­her.

Ein­mal stau­te sich der Zug der Wan­deln­den, weil vie­le gaf­fend und hor­chend zwei be­deu­tend aus­se­hen­de Her­ren um­dräng­ten. Den grö­ße­ren von ih­nen er­kann­te An­dre­as so­fort wie­der; es war der Pro­fes­sor Schwen­ke, ein Aka­de­mi­ker, der sich eine Aus­nah­me­stel­lung ver­schafft hat­te da­durch, dass er al­les Mo­der­ne pro­te­gier­te. Er trug eine Künst­ler­lo­cke auf der Stirn, hielt die Hän­de in den Ta­schen sei­nes hel­len Jacketts und hat­te so große Furcht, pe­dan­tisch zu er­schei­nen, dass er beim Spre­chen den Ober­kör­per stets in ei­nem bur­schi­ko­sen Schwun­ge er­hielt. Sein Ge­gen­über war einen Kopf klei­ner, bart­los, und sein bors­ti­ges schwar­zes Haar hing über ei­nem Hals­kra­gen von zwei­fel­haf­ter Wei­ße. Er hat­te eine Ad­ler­na­se und gelb­le­der­ne Ge­sichts­haut, und sein zu wei­ter Geh­rock reich­te bis un­ter die Knie hin­ab. An­dre­as war sehr be­gie­rig zu wis­sen, wer die­se Per­sön­lich­keit sei, die äu­ßer­lich zwi­schen Cl­er­gy­man und Kon­zert­vir­tuo­sen un­ge­fähr die Mit­te hielt. Ein Herr, der von fern dem Klei­nen wink­te, rief:

»Herr Dok­tor Abell!«

»Soll­te das Abell sein?« dach­te An­dre­as, »der Kri­ti­ker des ›Nacht­ku­rier‹?«

Er konn­te es kaum fas­sen, dass man die großen Män­ner, die im Reich der Be­grif­fe leb­ten, hier in der Wirk­lich­keit wie­der­fand. Sein Herz schlug hö­her, und er schau­te sich arg­wöh­nisch um, ob man ihm et­was an­mer­ke. Denn er woll­te um kei­nen Preis naiv aus­se­hen.

Von sei­nem Ga­le­rie­platz such­te er die bei­den Her­ren wie­der auf; sie sa­ßen dicht hin­ter dem Or­che­s­ter. An­dre­as schiel­te mehr­mals has­tig nach sei­nem Nach­barn, ei­nem blon­den jun­gen Man­ne in be­schei­de­nem schwar­zen Röck­chen. End­lich hielt er es nicht mehr aus:

»Ent­schul­di­gen Sie«, sag­te er, »ich bin kurz­sich­tig. Ich mei­ne dort vorn den Dok­tor Abell zu er­ken­nen?«

Er be­müh­te sich, ganz dia­lekt­frei zu spre­chen. Der jun­ge Mann er­wi­der­te höf­lich:

»Ge­wiss. Das ist Dok­tor Abell. Er sitzt ne­ben Dok­tor Wa­che­les vom ›Ka­bel‹. Zwei Rei­hen hin­ter den Her­ren se­hen Sie auch Dok­tor Bär von der ›A­bend­zei­tung‹ und Dok­tor Thu­nich­gut von der ›Klei­nen Bör­se‹.«

Ne­ben ih­nen mach­te man »Pst!«, und der Vor­hang ging auf. An­dre­as sah nichts an­de­res mehr als die Rücken der Kri­ti­ker. Sie nah­men Plät­ze ein, de­nen auch er sich ge­wach­sen fühl­te. Mit san­gui­ni­scher Fan­ta­sie mal­te er sich schon sei­nen Ein­tritt in den Saal aus. Er schritt ge­las­sen, im Ge­fühl sei­ner Unent­behr­lich­keit, auf den ihm re­ser­vier­ten Ses­sel zu. Er lehn­te sich zu­rück, ver­schränk­te die Arme und lausch­te nach­läs­sig mit mil­dem Lä­cheln den Künst­lern, die mehr für ihn als für tau­send an­de­re spra­chen. Ei­ni­ge Zei­len in der Re­dak­ti­on, wo­hin er nach der Vor­stel­lung fuhr, flüch­tig auf das Pa­pier ge­wor­fen, si­cher­ten ihm Macht, Ein­fluss, ein gu­tes Ein­kom­men und eine an­ge­se­he­ne ge­sell­schaft­li­che Stel­lung in Ber­lin. Der Gum­pla­cher Schul­meis­ter durf­te die­se Zu­kunft nicht durch­kreu­zen. Das be­ru­fe­ne Ta­lent brach sich Bahn.

Um sich selbst in sei­nen Hoff­nun­gen zu be­stär­ken, hät­te er sie gern laut aus­ge­spro­chen. Er sah mehr­mals schnell um sich und schnapp­te vor Er­re­gung nach Luft. Sein Nach­bar, der ihn durch einen schwarzum­ran­de­ten Knei­fer still an­blin­zel­te, sag­te ver­bind­lich:

»Wir sind wohl Kol­le­gen?«

An­dre­as stutz­te und be­sann sich.

»Sie sind auch Schrift­stel­ler?« frag­te er.

Der an­de­re ver­beug­te sich.

»Fried­rich Köpf, Schrift­stel­ler.«

Er sprach mit ge­spitz­ten Lip­pen, als sei es ihm eher pein­lich, dies ein­zu­ge­ste­hen. An­dre­as wur­de im Ge­gen­teil rot vor Ver­gnü­gen, wäh­rend er sich vor­stell­te. Es war das ers­te Mal, dass er sich als Li­te­rat be­zeich­ne­te. Er mein­te sei­ne Lauf­bahn hier­mit in al­ler Form zu be­gin­nen.

»Ich ma­che al­ler­dings ge­ra­de die ers­ten Schrit­te in mei­nem Be­ruf«, setz­te er hin­zu.

»Oh, das be­ru­fe­ne Ta­lent bricht sich Bahn«, ver­si­cher­te der jun­ge Mann.

An­dre­as rich­te­te sich auf und sah ihn dro­hend an; aber er über­zeug­te sich, dass der an­de­re ganz harm­los lä­chel­te. Er ver­setz­te dar­auf:

»Ich bin bis­her bloß Mit­ar­bei­ter ei­nes Pro­vinz­blat­tes ge­we­sen.«

»Ah, Sie sind be­reits jour­na­lis­tisch tä­tig?«

»Ich habe am Feuil­le­ton mit­ge­ar­bei­tet.«

An­dre­as ver­mied es, das un­be­rühm­te Blätt­chen zu nen­nen, das sei­ne jun­ge Kraft ge­won­nen hat­te, und sein neu­er Be­kann­ter war dis­kret ge­nug, nicht da­nach zu fra­gen. Er sag­te über­haupt nichts mehr, son­dern hör­te voll Teil­nah­me zu, wie An­dre­as die Ge­dich­te zu­sam­men­rech­ne­te, die der »Gum­pla­cher An­zei­ger« ge­bracht hat­te, und von dem er­mu­ti­gen­den Er­fol­ge sei­ner No­vel­le er­zähl­te.

Das Ge­spräch ward un­ter­bro­chen. Nach Schluss des Ak­tes be­gann An­dre­as wie­der:

»Aber in Ber­lin bin ich bis­her ganz fremd.«

»Wirk­lich?« sag­te Köpf zwei­felnd.

»Ich wür­de mich ja gern hier jour­na­lis­tisch be­tä­ti­gen, aber es ist so schwer, An­schluss zu fin­den.«

»Oh, was das an­be­langt, man wird über­all mit of­fe­nen Ar­men auf­ge­nom­men.«

»Wirk­lich?« frag­te An­dre­as sei­ner­seits.

Merk­wür­dig, er wuss­te nie­mals, was er aus den Wor­ten des Kol­le­gen ma­chen soll­te, ob­wohl al­les, was die­ser sag­te, un­ge­mein gut­mü­tig klang. Köpf schi­en das Miss­trau­en des jun­gen Man­nes zu be­mer­ken und es be­sei­ti­gen zu wol­len. Er ver­setz­te:

»Ich kann Sie zum Bei­spiel in das ›Café Hur­ra‹ ein­füh­ren, wenn Ih­nen dar­an liegt.«

»›Café Hur­ra‹?« frag­te An­dre­as.

»Ei­gent­lich Café Küh­le­mann, Pots­da­mer Stra­ße. Sie tref­fen dort ver­schie­de­ne Mit­ar­bei­ter an­ge­se­he­ner Zei­tun­gen.«

»Ah!« rief An­dre­as dank­bar und voll Hoff­nung. »Das wäre ja au­ßer­or­dent­lich freund­lich von Ih­nen.«

»Also kom­men Sie nächs­ten Don­ners­tag. Dann fin­den Sie mich wahr­schein­lich dort.«

Köpf emp­fahl sich gleich nach be­en­de­ter Vor­stel­lung. An­dre­as such­te, höchst zu­frie­den und den Schlag­ring kamp­fes­mu­tig in der Faust, sei­ne Woh­nung in der Li­ni­en­stra­ße auf. Der Gum­pla­cher Schul­meis­ter lag weit hin­ter ihm, es be­gann ein neu­es Le­ben.

II. Das »Café Hurra«

»Herr …?« frag­te Köpf zö­gernd.

»An­dre­as Zum­see.«

Köpf stell­te der Ta­fel­run­de im »Café Hur­ra« den neu­en Kol­le­gen vor. Die­ser ward mit Wär­me auf­ge­nom­men. Der an­ge­se­hens­te der Her­ren ließ ihn an sei­ner Sei­te sit­zen und zog ihn in die Un­ter­hal­tung. Als er den jun­gen Mann nach Stu­di­en und Ab­sich­ten be­fragt hat­te, sag­te Dok­tor Lib­be­now mit ei­nem viel­leicht be­schei­de­nen, viel­leicht auch stol­zen Seuf­zer:

»Ach ja, ich habe ei­gent­lich seit zehn Jah­ren kein Buch ge­le­sen.«

Man schi­en dies als eine be­ach­tens­wer­te Leis­tung an­zu­se­hen, und auch An­dre­as emp­fand, er wuss­te nicht warum, Be­wun­de­rung für Dok­tor Lib­be­now.

Es war die Rede von den miss­li­chen fi­nan­zi­el­len Ver­hält­nis­sen des Schau­spie­ler­paa­res Be­cken­ber­ger. Der Mann war in der Gunst des Pub­li­kums ra­pi­de ge­sun­ken, von sei­nem Di­rek­tor be­kam er nur noch ein Ta­schen­geld, und er ver­schwen­de­te das­je­ni­ge, was sich die Frau in ar­beit­sa­men Näch­ten, gleich­falls ohne Zu­tun des Büh­nen­lei­ters, ver­dien­te. Vor sechs Jah­ren hat­ten sie je­der zehn­tau­send Mark ge­habt.

»I wo«, sag­te Dok­tor Pohl­atz.

»Sie glau­ben das doch nicht?« frag­te er An­dre­as.

Die­ser lä­chel­te ver­bind­lich.

Pohl­atz er­läu­ter­te:

»Die Wei­ber be­kom­men näm­lich über­haupt nie was, dar­auf gebe ich Ih­nen mein klei­nes Ehren­wort.«

»Wa­rum denn nicht?« rie­fen die an­de­ren.

»Liz­zi Laffé hat noch heu­te ihre zehn­tau­send, und sie geht auf fünf­zig.«

»Re­den Sie doch kei­ne Ma­ku­la­tur!« ver­setz­te Pohl­atz schroff. »Was Liz­zi hat, hat sie von Türk­hei­mer.«

Die Na­men, die An­dre­as hör­te, präg­ten sich ihm ein, al­les, was ge­spro­chen wur­de, schi­en ihm be­deu­tend, am be­deu­tends­ten aber Dok­tor Pohl­atz. Er wuss­te al­les, er wi­der­sprach al­len, er kann­te die Ein­nah­men je­des Schau­spie­lers bes­ser als die­ser selbst. Aber als er end­lich fort­ging, ward es noch ge­müt­li­cher. An­dre­as er­laub­te sich die Fra­ge:

»Wel­cher Zei­tung ge­hört Herr Dok­tor Pohl­atz an?«

»Dok­tor?« sag­te je­mand, »der Kerl ist ja zum Ster­ben zu däm­lich.«

»Ei­nen Ko­gnak und das Adress­buch!« rief Dok­tor Lib­be­now.

»Das ist untrüg­lich«, sag­te er, in­dem er den Fin­ger auf Pohl­atz’ Na­men leg­te. »Hier sind dem Dok­tor sei­ne Gren­zen ge­setzt.«

»Wer ist denn über­haupt noch Dok­tor?« be­merk­te ein di­cker, schä­big aus­se­hen­der Herr mit wol­li­gem schwar­zen Voll­bart.

»Wenn man nur sonst ge­sund ist«, füg­te er hin­zu.

»Dok­tor Buhl? Dok­tor Reb­bi­ner?«

Ein Dok­tor nach dem an­de­ren ward im Ka­len­der auf­ge­schla­gen, und kei­ner ver­trug die Stich­pro­be. Nur Dok­tor Lib­be­now ver­schon­te man aus Höf­lich­keit.

Dass auch Dok­tor Wa­che­les vom »Ka­bel« und der große Abell ih­ren Ti­tel nur der Ge­fäl­lig­keit der Kol­le­gen ver­dank­ten, mach­te auf An­dre­as im­mer­hin Ein­druck, aber ge­wis­ser­ma­ßen brach­te der Um­stand sie ihm mensch­lich nä­her, in­dem er ihn mit ih­rer Grö­ße aus­söhn­te.

Köpf war be­reits ver­schwun­den, als die an­de­ren auf­bra­chen. Dok­tor Lib­be­now sag­te zu An­dre­as, der sich von ihm ver­ab­schie­de­te:

»Neh­men Sie sich vor Go­lem in acht; er will Sie an­pum­pen.«

An­dre­as be­merk­te, wie der di­cke Schä­bi­ge mit dem wol­li­gen, schwar­zen Voll­bart sich ei­lig nach der an­de­ren Sei­te ent­fern­te.

Zwei Tage spä­ter er­schi­en der jun­ge Mann wie­der im »Café Hur­ra«, und von da an kam er re­gel­mä­ßig. Es schmei­chel­te ihm, sei­ne Aben­de in der Ge­sell­schaft von Mit­ar­bei­tern an­ge­se­he­ner Zei­tun­gen zu ver­brin­gen, und das Ur­teil sei­ner neu­en Freun­de über ihn lau­te­te güns­tig. Wie er ein­mal un­be­merkt in die Tür trat, hör­te er Dok­tor Lib­be­now sa­gen:

»Der jun­ge Zum­see? Das ist so’n Ben­gel, der Ta­lent zum Glück­ma­chen hat.«

Er zeig­te ge­ra­de ge­nug Nai­vi­tät, um der Ei­tel­keit der an­de­ren zu schmei­cheln, und ge­ra­de ge­nug Schar­la­ta­nis­mus, um nicht durch Ein­falt zu be­lei­di­gen. Er sag­te: »Och, han ich’n Freud ge­habt«, wenn er froh war, nann­te »Knatsch geck« je­der­mann, der ihm miss­fiel, und nahm es nicht übel, wenn man sei­nen Dia­lekt be­lä­chel­te. Zum Lohn da­für durf­te er Mei­nun­gen, die er nicht ein­mal hat­te, so­gar dem stren­gen Dok­tor Pohl­atz ge­gen­über ver­tre­ten. Ein­mal ließ er es sich ein­fal­len, den So­zia­lis­mus, der ihm durch­aus gleich­gül­tig war, nur dar­um her­aus­zu­strei­chen, weil er dies für et­was Be­son­de­res hielt. Er irr­te sich, aber Pohl­atz, der je­den an­de­ren un­sanft zu­recht­ge­wie­sen hät­te, be­gnüg­te sich da­mit, ihm zu er­wi­dern:

»Das ver­ste­hen Sie nicht, jun­ger Mann, das ver­ste­he ich ja kaum, und ich habe stu­diert.«

Bei die­ser Ge­le­gen­heit er­fuhr An­dre­as den Grund, wes­halb das »Café Hur­ra« die­sen Na­men führ­te. Die Her­ren von der Ta­fel­run­de hat­ten frü­her staats­um­wäl­zen­den Grund­sät­zen ge­hul­digt, bis im März 1890 sich die So­zi­al­de­mo­kra­tie als nicht mehr zeit­ge­mäß her­aus­stell­te. Da­mals hat­ten alle ei­nem Be­dürf­nis der Epo­che nach­ge­ge­ben, sie wa­ren ih­ren frei­sin­ni­gen Prin­zi­pa­len ein Stück­chen We­ges nach rechts ge­folgt und be­kann­ten sich seit­her zum Re­gie­rungs­li­be­ra­lis­mus und Hur­ra­pa­trio­tis­mus. Der Name des Lo­kals be­wahr­te die Erin­ne­rung an die­se Evo­lu­ti­on.

An­dre­as be­weg­te sich den gan­zen Som­mer in die­sem Krei­se, voll des hei­te­ren Be­wusst­seins, nun­mehr der Ber­li­ner Li­te­ra­tur­welt an­zu­ge­hö­ren. Seit­dem er sein Stu­di­um auf­ge­ge­ben hat­te, war­te­te er die Er­eig­nis­se ab, um eine neue Ar­beit zu be­gin­nen. Bei sei­nen jet­zi­gen Ver­bin­dun­gen konn­te es ihm auf die Dau­er gar nicht feh­len. In Ver­tre­tung des di­cken Go­lem, der un­mä­ßig faul war, hat­te er be­reits mehr­mals im Ge­richts­saal als Be­richt­er­stat­ter fun­giert. Wenn er spät abends nach dem Ge­nus­se von zwei Tas­sen schwar­zen Kaf­fee und zwei Ko­gnaks heim­ging, blick­te er in eine glän­zen­de Zu­kunft ge­ra­de hin­ein. Frü­her hat­te er »geochst«, ohne an et­was zu den­ken, jetzt tat er nichts und war da­bei von ho­hem Ehr­geiz be­seelt.

Wohl blie­ben auch trübe­re, we­ni­ger zu­ver­sicht­li­che Stun­den nicht aus. An­dre­as konn­te manch­mal ein Ge­fühl der Lee­re nicht ver­leug­nen, wenn er den Tisch ver­ließ, an dem von zehn bis zwölf Schau­spiel­er­ge­häl­tern und schlecht zah­len­den Ver­le­gern ge­spro­chen wor­den war. Go­lem ver­schwand ein­mal auf acht Tage, und bei sei­ner Rück­kehr er­zähl­te er den er­staun­ten Kol­le­gen, dass er sein ers­tes Feuil­le­ton ge­schrie­ben habe. Seit zehn Jah­ren mach­te er nur Ge­richts­be­rich­te, jetzt aber hat­te ihn sei­ne Zei­tung nach Bay­reuth ge­schickt. Dies hat­te nichts Auf­fäl­li­ges an sich, über Wa­gner schrieb nach­ge­ra­de je­der. Aber An­dre­as mein­te, im »Gum­pla­cher An­zei­ger« zu­wei­len we­ni­ger schlech­te Ar­ti­kel ge­le­sen zu ha­ben.

Die­ser Go­lem er­füll­te ihn über­haupt mit Be­sorg­nis. Dok­tor Lib­be­nows Voraus­sicht, dass der Di­cke ihn an­pum­pen wer­de, war nicht un­er­füllt ge­blie­ben, und An­dre­as wag­te bis­her kei­ne ab­schlä­gi­ge Ant­wort zu ge­ben. Er fürch­te­te noch zu sehr, das Wohl­wol­len der Kol­le­gen zu ver­scher­zen. Vi­el­leicht war er nicht kräf­tig ge­nug der öf­fent­li­chen Mei­nung ent­ge­gen­ge­tre­ten, die ihn für einen be­gü­ter­ten Di­let­tan­ten zu hal­ten schi­en. Vor­läu­fig er­hielt nun Go­lem bald fünf und bald zehn Mark. Und in letz­ter Zeit ging der Un­glück­li­che, den der Ge­richts­voll­zie­her über­all­hin ver­folg­te, mit dem Pla­ne um, ein Zim­mer zu be­zie­hen, das in An­dre­as’ Woh­nung frei­stand.

Auch in an­de­rer Be­zie­hung stell­te sich das neue Le­ben als kost­spie­li­ger her­aus, als An­dre­as vor­aus­ge­se­hen hat­te. Die Ge­sell­schaft aus dem »Café Hur­ra« speis­te häu­fig zu­sam­men zu Abend, hier und da ließ sich je­mand, der sei­ne Bör­se ver­ges­sen hat­te, von dem jun­gen Freun­de be­wir­ten. Im Thea­ter wäre An­dre­as jetzt um kei­nen Preis mehr auf die Ga­le­rie ge­gan­gen. Aber alle die­se Ver­pflich­tun­gen, die ihm sei­ne ge­sell­schaft­li­che Stel­lung auf­er­leg­te, über­stie­gen die Kräf­te ei­nes ar­men Stu­den­ten­wech­sels. So kam es, dass An­dre­as sich um die Mit­te des Mo­nats ge­wöhn­lich in ein ve­ge­ta­ri­sches Re­stau­rant schlich. Ei­ni­ge Tage spä­ter bil­de­te dann der schwar­ze Kaf­fee sein haupt­säch­li­ches Er­näh­rungs­mit­tel. Das Mit­ta­ges­sen muss­te nur zu häu­fig, wie Pohl­atz sich aus­drück­te, durch stram­me Hal­tung er­setzt wer­den.

An­dre­as schul­de­te seit ge­rau­mer Zeit die Zim­mer­mie­te, und es war ein Glück für ihn, dass es auch mit der Ent­loh­nung der Wä­sche­rin nicht eil­te. Er hat­te Kre­dit er­langt da­durch, dass das jun­ge Mäd­chen, das ihm sei­ne fri­schen Hem­den brach­te, sich durch sei­ne Lie­be be­ste­chen ließ. Sie bat nur um Frei­bil­letts für das Thea­ter, die ein Schrift­stel­ler wie An­dre­as ihr doch wohl ver­schaf­fen kön­ne. An­dre­as er­klär­te, dass nichts leich­ter sei, aber Lib­be­now so­wohl wie Go­lem, der ihm doch viel­fach ver­pflich­tet war, ver­trös­te­ten ihn. Als nach vier­zehn Ta­gen noch kei­ne Frei­kar­te zur Stel­le war, ver­ließ ihn die jun­ge Wä­sche­rin mit dem Aus­druck ih­rer Ge­ring­schät­zung und nicht, ohne die Rech­nung auf sei­nen Tisch zu le­gen.

Im Ok­to­ber mach­te An­dre­as, ent­ge­gen sei­ner Ge­wohn­heit, ein­sa­me Spa­zier­gän­ge im Tier­gar­ten, wo die Blät­ter fie­len. Das »Café Hur­ra« ver­nach­läs­sig­te er. Moch­ten sie doch mer­ken, dass er sie ver­ach­te­te! Denn nach­ge­ra­de fühl­te er sich hier­zu ver­sucht. Wa­ren sie denn ei­gent­lich ein wür­di­ger Ver­kehr für ihn, die­se Leu­te, die meis­tens nicht ein­mal rich­tig Deutsch schrie­ben – so­weit sie über­haupt et­was schrie­ben. Es ward ihm im­mer kla­rer: ihre Bla­siert­heit, die ihm an­fangs als Über­le­gen­heit ge­gol­ten hat­te, war im Grun­de nur der Aus­druck von Un­wis­sen­heit und Im­po­tenz. Aber der gan­ze Ber­li­ner Ton kam schließ­lich bloß von Man­gel an Tie­fe. Sie ulk­ten, weil sie zu faul wa­ren, auf die Din­ge ein­zu­ge­hen. Er hat­te ge­nug da­von. Das »Café Hur­ra« war für ihn eine Sack­gas­se, die nie­mals zu ir­gend­ei­nem Zie­le füh­ren konn­te. Kei­ner der dort ken­nen­ge­lern­ten Her­ren schi­en ge­nug Ein­fluss zu be­sit­zen, um ihn jour­na­lis­tisch zu för­dern. Am Ende fehl­te auch der gute Wil­le. Au­ßer Go­lem, des­sen schlech­ter Ruf sei­ne Emp­feh­lun­gen ge­fähr­lich mach­te, ließ kei­ner einen Neu­ling an sei­ne Zei­tung her­an­kom­men. In sechs Mo­na­ten hat­te An­dre­as ge­nau vier­zehn Mark und fünf­und­sech­zig Pfen­nig ver­dient, was ihm nicht hin­rei­chend zur Be­grün­dung ei­ner Zu­kunft deuch­te. Das ers­te Stu­dien­jahr war dar­über hin­ge­gan­gen, sein Wech­sel lief jetzt noch zwei Jah­re. In­ner­halb des ge­ge­be­nen Zeit­rau­mes muss­te er es zu et­was brin­gen. Von die­ser Not­wen­dig­keit her­aus­ge­stört, tauch­te das Ge­s­penst des Gum­pla­cher Schul­meis­ters noch ein­mal vor ihm auf. Er wehr­te es ent­rüs­tet ab. Aber was dann? An­dre­as ver­moch­te auf die­se Fra­ge nur mit ei­nem Seuf­zer zu ant­wor­ten, und er hät­te sich zwei­fel­los sei­ner leicht­sin­ni­gen Un­tä­tig­keit aufs neue über­las­sen, wenn nicht eine krän­ken­de Er­fah­rung ihn vollends auf­ge­rüt­telt hät­te.

Er be­trat am sel­ben Abend das »Café Hur­ra« frü­her als die an­de­ren und das Haupt umso hö­her er­ho­ben, je tiefer ihm der Mut stand. Er mach­te die Run­de um das fast lee­re Lo­kal und be­grüß­te das Fräu­lein am Bü­fett. Es war eine fade Blon­di­ne, An­dre­as hat­te noch nie das Be­dürf­nis ge­fühlt, einen An­griff auf sie aus­zuü­ben. Heu­te aber glaub­te er, dies sei­ner Wür­de schul­dig zu sein. Kurz ent­schlos­sen leg­te er ihr den Arm um die Hüf­ten. Das Mäd­chen, das sich hier­durch nicht an­ge­spro­chen füh­len moch­te, ver­zog die Mund­win­kel in böse, schar­fe Fal­ten, sie ver­setz­te dem jun­gen Mann einen hef­ti­gen Stoß ge­gen die Schul­ter und sag­te mit Nach­druck:

»Jüng­ling, wie kom­men Sie mir vor?«

An­dre­as sah sie eine Se­kun­de lang an, er war au­ßer­or­dent­lich blass ge­wor­den. Da­rauf pfiff er durch die Zäh­ne, dreh­te sich auf den Ab­sät­zen um und ver­ließ ge­mes­se­nen Schrit­tes den Raum.

Gleich den fol­gen­den Mor­gen ging er zu Köpf, um sich mit ihm über sei­ne nächs­ten Schrit­te zu be­ra­ten. Das »Café Hur­ra« war eben­so ab­ge­tan wie der Gum­pla­cher Schul­meis­ter. Wenn selbst je­nes Mäd­chen, das ein hal­b­es Jahr lang Zeu­ge sei­nes ver­trau­ten Um­gan­ges mit den Mit­ar­bei­tern der an­ge­se­hens­ten Zei­tun­gen ge­we­sen war, ihm mit sol­cher em­pö­ren­den Nicht­ach­tung be­geg­nen konn­te, dann muss­te sei­ne ge­sell­schaft­li­che Stel­lung we­ni­ger glän­zend sein, als er ge­wähnt hat­te. Dies aber war das­je­ni­ge Be­wusst­sein, das er am we­nigs­ten zu er­tra­gen ver­moch­te.

Er muss­te in Köpfs Zim­mer, in der un­te­ren Do­ro­theen­stra­ße, ei­ni­ge Zeit war­ten und be­merk­te dar­in eine ge­wis­se Wohl­ha­ben­heit. Der brei­te Schreib­tisch von Ma­ha­go­ni und der be­que­me, mit ro­tem Maro­quin über­zo­ge­ne Lehn­ses­sel wäre in kei­nem mö­blier­ten Zim­mer an­zu­tref­fen ge­we­sen. Die Wän­de wur­den von ho­hen Bü­cher­ge­stel­len ver­deckt, an­ge­füllt mit ei­nem un­glaub­li­chen Plun­der, vor dem An­dre­as stau­nend stand. Zer­fetz­te Papp­bän­de und an­ge­fres­se­ne Le­der­rücken ver­brei­te­ten den Duft al­ler mög­li­chen Tröd­ler­bu­ti­ken. Eine alte Ge­schich­te Lud­wigs XIII. von Le Vas­sor füll­te mit den Denk­wür­dig­kei­ten von Saint-Si­mon ein gan­zes Fach. Wei­ter­hin stan­den so­gar die Kir­chen­vä­ter. An­dre­as be­griff nicht, wel­chen Zweck die­se Din­ge für je­mand ha­ben konn­ten, der Ro­ma­ne schrieb. Köpf be­schäf­tig­te sich, wie Lib­be­now wis­sen woll­te, mit der An­fer­ti­gung von Ro­ma­nen, die je­doch kein Mensch zu se­hen be­kam. Wei­ter wuss­te man von ihm schlech­ter­dings nichts. Er er­schi­en wö­chent­lich kaum ein­mal im »Café Hur­ra«, und die­ser Um­stand flö­ßte An­dre­as in sei­ner jet­zi­gen Lage Ver­trau­en ein, ob­wohl er es in letz­ter Zeit Köpf stark ver­dach­te, dass er ihn über­haupt in je­nen Kreis ein­ge­führt hat­te.

Es frag­te sich jetzt nur, was er ei­gent­lich von Köpf woll­te. An­dre­as, den das War­ten ner­vös mach­te, bau­te im Voraus ei­ni­ge schö­ne Sät­ze.

»Sie ha­ben an der Ent­wi­cke­lung ei­nes Ih­nen völ­lig Un­be­kann­ten gleich an­fangs so freund­li­chen An­teil ge­nom­men, dass ich, von neu­en Zwei­feln be­drängt, es noch­mals wage, Sie um Ihren Rat und Ihre Hil­fe zu bit­ten.«

Als die Pe­ri­ode fer­tig war, fand er sie al­bern. So sprach man nicht, be­son­ders nicht in Ber­lin. Au­ßer­dem klang es falsch; er woll­te Köpf doch nicht an­pum­pen.

Die­ser er­schi­en plötz­lich in der Tür und be­grüß­te den Gast sehr er­freut.

»Ah, lie­ber Kol­le­ge!«

An­dre­as hat­te einen Ein­fall:

»Wis­sen Sie, von dem ›Kol­le­gen‹ hab’ ich schon bald ge­nug«, sag­te er und dreh­te sich halb um.

Köpf lä­chel­te.

»Sie ha­ben im ›Café Hur­ra‹ wohl ein Haar ge­fun­den?«

»Meh­re­re.«

»Ich hät­te Ih­nen das vor­aus­sa­gen kön­nen. Aber es freut mich, dass Sie selbst da­hin­ter­ge­kom­men sind.«

Köpf blin­zel­te un­schul­dig. An­dre­as fand trotz­dem, dass es eine Dreis­tig­keit sei, ihn in die­ser Wei­se auf die Pro­be ge­stellt zu ha­ben und es ihm jetzt ganz of­fen zu sa­gen. Der an­de­re such­te sei­nen Un­mut so­fort zu be­schwich­ti­gen.

»Sie brau­chen es nicht zu be­reu­en, die­se scherz­haf­te Sei­te des Le­bens un­ter Kol­le­gen ken­nen­ge­lernt zu ha­ben. Man muss dies tun, be­vor man zu erns­te­ren Din­gen über­geht. Nun wol­len Sie aber Ernst ma­chen?«

»Aber wie?« frag­te An­dre­as ohne große Zu­ver­sicht.

»Oh, da gibt es ver­schie­de­ne Wege, näm­lich die Pres­se, das Thea­ter und die Ge­sell­schaft.«

»Sie ver­ges­sen die Li­te­ra­tur.«

»Durchaus nicht. Ich habe ge­sagt: das Thea­ter, und eine an­de­re Li­te­ra­tur gibt es bei uns nicht.«

An­dre­as nahm eine über­le­ge­ne Mie­ne an, denn er er­tapp­te Köpf auf dem Är­ger ei­nes, der kei­nen Er­folg hat.

»Sie selbst schrei­ben doch wohl Ro­ma­ne?«

»Oh!« mach­te der an­de­re mit ge­spitz­ten Lip­pen. »Re­den wir lie­ber nicht da­von. Ich schrei­be für mei­nen Pri­vat­be­darf, es fällt mir nicht ein, das Un­glück ei­nes ar­men Ver­le­gers her­bei­füh­ren zu wol­len, der mir nie et­was zu­lei­de ge­tan hat und der etwa auf mei­ne Wer­ke hin­ein­fie­le.«

»Atem ho­len!« dach­te An­dre­as, dem es Spaß mach­te, Köpfs Schwa­che zu be­ob­ach­ten.

»In­mit­ten ei­nes Vol­kes«, fuhr die­ser fort, »das durch alle Prü­gel der Welt nicht dazu be­wo­gen wer­den könn­te, ein Buch in die Hand zu neh­men, wer­den Sie also am bes­ten tun, sich an das Thea­ter zu hal­ten.«

»Aber ich habe noch kein ein­zi­ges Stück ge­schrie­ben!«

»Ist auch gar nicht nö­tig«, ver­si­cher­te Köpf leicht­hin. »Das Thea­ter hat zwei­fel­los auch eine li­te­ra­ri­sche Sei­te, aber die ge­sel­li­ge ist wich­ti­ger. Beim Thea­ter hat man es stets mit Men­schen zu tun, in der ei­gent­li­chen Li­te­ra­tur doch schließ­lich nur mit Bü­chern. In der ei­gent­li­chen Li­te­ra­tur braucht man eine Men­ge Ernst, Ab­ge­schlos­sen­heit und Rück­sichts­lo­sig­keit; al­les Ei­gen­schaf­ten, die beim Thea­ter nur scha­den kön­nen. Hier kommt es vor al­lem auf die ge­sell­schaft­li­chen Ver­bin­dun­gen an. Sie aber, mein Lie­ber, sind ein Ge­sell­schafts­mensch. – Soll ich Ih­nen sa­gen, wel­ches si­che­re Zei­chen ich hier­für habe?«

»Bit­te!«

»Man hat Sie im ›Café Hur­ra‹ nicht ernst ge­nom­men.«

Köpf sah mit sei­nem harm­lo­sen Lä­cheln zu, wie An­dre­as zu­sam­men­zuck­te.

»Sei­en Sie nicht böse!« bat er dar­auf. »Ich wer­de Ih­nen da­für noch man­ches Schmei­chel­haf­te zu sa­gen ha­ben. Was Ihre Freun­de im ›Café Hur­ra‹ be­trifft: hat Pohl­atz Ih­nen je­mals Grob­hei­ten ge­sagt?«

»Nein, warum denn?«

»Nun, se­hen Sie wohl. Wenn er Sie ernst ge­nom­men hät­te, wür­den Sie alle Tage et­was an den Kopf be­kom­men ha­ben. Sie glau­ben nicht, wie fein die Wit­te­rung die­ser Leu­te ist, so­bald sich ein Kon­kur­rent bli­cken lässt. Sie, mein Lie­ber, sind kei­ner. Man hat gleich er­kannt, dass Sie eine viel zu hei­te­re, of­fe­ne Na­tur sind, um sich mit In­grimm und Püf­fen durch Li­te­ra­tur und Pres­se hin­durch­zu­schla­gen.«

»Ich glau­be bei­na­he selbst«, be­merk­te An­dre­as, der sich be­müh­te, bla­siert aus­zu­se­hen.

»Sie ha­ben so et­was Glück­li­ches an sich, das Sie beim Thea­ter, das heißt in der Ge­sell­schaft, un­ge­mein rasch för­dern wird. Man braucht dort näm­lich nur glück­lich zu er­schei­nen, um es sehr bald wirk­lich zu wer­den. Auch Ihre Harm­lo­sig­keit, oder sa­gen wir, wenn Sie es lie­ber hö­ren, Ihre schein­ba­re Harm­lo­sig­keit wird Ih­nen dort gut zu­stat­ten kom­men. Man wird Sie in den rei­chen Sa­lons eben­so­we­nig ernst neh­men wie im ›Café Hur­ra‹, und es ist für Ihren Er­folg be­son­ders wich­tig, dass die Frau­en Sie nicht ernst neh­men! Die­se wer­den al­les mög­li­che, was sie an­de­ren nicht be­wil­li­gen wür­den, bei Ih­nen für harm­los und un­ge­fähr­lich hal­ten. Sie sind da­für ge­schaf­fen, viel Glück bei den Frau­en zu ha­ben, mein Lie­ber!«

Dies­mal blick­te An­dre­as den an­de­ren mit of­fe­nem Arg­wohn an. Aber aus Köpfs freund­li­chem Ge­sicht, das al­ler­dings eine ver­däch­tig spit­ze Nase zier­te, war nie­mals klug zu wer­den. Für alle Fäl­le zeig­te An­dre­as sich übel­lau­nig, um nur nicht zu­zu­ge­ben, dass er sich ge­schmei­chelt füh­le. Sein Glück bei Frau­en, das er sich üb­ri­gens zu­trau­te, schi­en ihm doch noch be­wie­sen wer­den zu müs­sen. Er ge­dach­te der her­ben Ent­täu­schun­gen, die er dem Wä­scher­mäd­chen und dem Bü­fett­fräu­lein ver­dank­te.

»Sie sa­gen mir eine Men­ge an­ge­neh­me Din­ge«, be­merk­te er ziem­lich tro­cken, »aber ich weiß noch im­mer nicht, wie Sie sich mei­ne Kar­rie­re nun ei­gent­lich den­ken. Was habe ich zu tun, wo­hin soll ich mich wen­den?«

»Neh­men wir hin­zu«, fuhr Köpf ohne zu ant­wor­ten fort, »dass Sie als Rhein­län­der eine mehr hei­te­re und un­ge­zwun­ge­ne Ge­sel­lig­keit ge­wohnt sind. In­mit­ten der Furcht, sich lä­cher­lich zu ma­chen, die in Ber­lin Ur­sa­che al­ler Dumm­heit und Lan­ge­wei­le ist, wer­den Sie zu­nächst wohl­wol­lend be­lä­chelt wer­den. Die Haupt­sa­che ist, dass Sie auf­fal­len.«

»Was habe ich zu tun, wo­hin soll ich mich wen­den?« wie­der­hol­te An­dre­as un­ge­dul­dig.

»Wie? Das habe ich Ih­nen noch nicht ge­sagt? Nun, ganz ein­fach: Sie ge­hen zum ›Nacht­ku­rier‹, ver­lan­gen den Che­fre­dak­teur Dok­tor Be­die­ner zu spre­chen, und lässt er Sie vor, so ge­hen Sie nicht frü­her wie­der weg, als bis er Ih­nen un­auf­ge­for­dert eine Emp­feh­lung an Türk­hei­mers ge­ge­ben hat.«

»Ah, Türk­hei­mer! Das ist doch der mit Liz­zi Laffé.«

»Sie ken­nen be­reits die Ver­hält­nis­se?«

»Na­tür­lich«, sag­te An­dre­as stolz.

»Also Sie wis­sen Be­scheid?« frag­te Köpf, in­dem er dem jun­gen Man­ne zum Ab­schied die Hand schüt­tel­te. »Un­ter­rich­ten Sie mich doch vom Er­fol­ge!«

An­dre­as ver­sprach dies, frag­te sich aber im ge­hei­men, warum er alle die zwei­fel­haf­ten Kom­pli­men­te ei­gent­lich an­ge­hört habe. Es konn­te wohl sein, dass Köpf sich seit dem Au­gen­blick, wo er ihn ken­nen­ge­lernt hat­te, fort­wäh­rend über ihn lus­tig mach­te. Es war An­dre­as un­mög­lich, dies zu er­fah­ren. Üb­ri­gens war es ja gleich­gül­tig, so­bald nur auch sonst nie­mand da­von wuss­te. In sei­ner Lage, bei sei­nen man­nig­fa­chen in­ne­ren Zwei­feln und der ge­rin­gen Aus­sicht, es auf eine an­de­re Wei­se zu et­was zu brin­gen, war es nun wohl das bes­te, Köpfs Rat blind­lings zu be­fol­gen. Er ging schon am nächs­ten Mor­gen, mit ei­nem kal­ten Ge­fühl im Un­ter­lei­be, doch hoch­er­ho­be­nen Haup­tes, zum Dok­tor Be­die­ner.

III. Die deutsche Geisteskultur

Auf der Trep­pe, die er zur Re­dak­ti­on des »Ber­li­ner Nacht­ku­ri­er« hin­auf­stieg, blen­de­te den jun­gen Mann der ganz neue und doch be­reits arg be­su­del­te Tep­pich. Al­les im Hau­se war reich und durch den re­gen Ge­schäfts­be­trieb mit­ge­nom­men. Jüng­lin­ge mit kot­be­spritz­ten Bein­klei­dern, sonst sehr ele­gant, has­te­ten an dem Be­su­cher vor­über. Dro­ben in dem großen War­te­zim­mer schob sich eine be­trächt­li­che Men­schen­men­ge durch­ein­an­der. An­dre­as, der ge­gen die Wand ge­drängt wur­de, blick­te durch eine Glas­schei­be in einen lan­gen, kah­len Saal hin­ein, wo un­ge­fähr drei­ßig jun­ge Leu­te an Pul­ten sa­ßen. Ei­ni­ge la­sen Zei­tun­gen, an­de­re plau­der­ten, in­des sie Blei­stif­te spitz­ten oder ihre Nä­gel pfleg­ten.

Eine Flü­gel­tür ward auf­ge­sto­ßen, und ein reich aus­se­hen­der Herr mit ra­sier­ter Ober­lip­pe und rot­blon­den Ko­te­let­ten, den Hut in der Stirn, rief ins Vor­zim­mer hin­ein:

»Kommt denn der Che­fre­dak­teur nicht?«

Der her­bei­ei­len­de Re­dak­ti­ons­die­ner ver­beug­te sich:

»Muss so­fort da sein, Herr Ge­ne­ral­kon­sul!«

»End­lich, mein lie­ber Dok­tor!« rief der Herr und streck­te die Hand mit mat­ter An­mut ei­nem großen, ele­gan­ten Man­ne ent­ge­gen, der von der Trep­pe her ein­trat und dem Die­ner Hut und Pa­le­tot1 zu­warf. Be­vor die bei­den hin­ter der Flü­gel­tür ver­schwan­den, hör­te man den Ge­ne­ral­kon­sul fra­gen:

»Sie wa­ren im Aus­wär­ti­gen Amt? Nun, was sagt un­ser Mi­nis­ter?«

An­dre­as er­schau­er­te vor Ehr­furcht, wäh­rend er be­dach­te, wel­che Unend­lich­keit von Macht und An­se­hen die­se Wor­te ah­nen lie­ßen. Wer hier im Vor­zim­mer des »Nacht­ku­ri­er« stand, war ge­wis­ser­ma­ßen in den Be­reich ei­ner Or­ga­ni­sa­ti­on ein­ge­tre­ten, die es an Aus­deh­nung und Fes­tig­keit selbst mit der des Staa­tes auf­nahm. Dok­tor Be­die­ner ging im Palais der Wil­helm­stra­ße aus und ein wie der Staats­se­kre­tär selbst. Sein Kol­le­ge war ein Mi­nis­ter des In­nern, dem kein Wil­le im Lan­de leicht­fer­tig zu­wi­der­han­del­te. Die Äm­ter wa­ren ver­teilt ge­nau nach dem Vor­bil­de des Staa­tes, von den Bot­schaf­tern in al­len Haupt­städ­ten der Welt bis hin­ab zu je­ner Schar von über­schüs­si­gen klei­nen Be­am­ten, un­be­zahl­ten Re­fe­ren­da­ren, die ihre Blei­stif­te spitz­ten und sich die Nä­gel pfleg­ten. Hoch über die­ser un­per­sön­li­chen Ver­wal­tungs­ma­schi­ne aber, hin­ter dem Ge­he­ge der Ge­set­ze und ge­deckt durch die Verant­wort­lich­keit sei­ner Mi­nis­ter, die er be­rief und entließ, thron­te der große Je­ku­ser, der Be­sit­zer des »Nacht­ku­ri­er«, ein kon­sti­tu­tio­nel­ler Mon­arch. Von den Ta­ges­mei­nun­gen un­ab­hän­gig wie an­de­re ge­krön­te Häup­ter, be­wahr­te er den­noch einen un­be­schränk­teren Ein­fluss als die­se, da er so­gar die Volks­ver­tre­ter ver­mö­ge sei­nes »par­la­men­ta­ri­schen Bü­ros« zu zen­sie­ren und zu maß­re­geln ver­moch­te. Und er war rei­cher als sie, denn von den Ab­ga­ben sei­nes Vol­kes, von den fünf­zehn Pfen­ni­gen, die Hun­dert­tau­sen­de von Le­sern täg­lich er­leg­ten, blieb der grö­ße­re Teil in sei­ner Ta­sche zu­rück.

Die Flü­gel­tür öff­ne­te sich halb, ohne dass je­mand sicht­bar wur­de. Aber in der war­ten­den Men­ge pflanz­te sich so­gleich ein Stoß fort, den schließ­lich der ge­gen die Wand ge­drück­te An­dre­as vor die Brust er­hielt. Er griff has­tig in die Ta­sche, die sei­ne Pa­pie­re ent­hielt. Glück­li­cher­wei­se fand sich der Brief des Herrn Schmücke noch vor. Seit ei­nem Jah­re hat­te der jun­ge Mann nicht mehr des Emp­feh­lungs­schrei­bens ge­dacht, das ihm der alte Herr in Gum­plach, der sich mit Li­te­ra­tur be­fass­te, an den Dok­tor Be­die­ner mit­ge­ge­ben hat­te. An­dre­as kam mit zu großer Ehr­furcht vor den Mäch­ti­gen der Erde nach Ber­lin, um sich gleich an­fangs bis zu ei­nem von ih­nen vor­drän­gen zu wol­len. Herr Schmücke war ge­wiss ein bra­ver li­be­ra­ler Bür­ger, aber ob der Che­fre­dak­teur des »Nacht­ku­ri­er« auf sei­ne Emp­feh­lung großes Ge­wicht le­gen wür­de, war mehr als zwei­fel­haft. Um den Brief nicht un­be­nutzt zu las­sen, übergab An­dre­as ihn ei­nem vor­über­ge­hen­den Die­ner, der mit ei­ner Hand­voll De­pe­schen das Er­schei­nen des Chefs er­war­te­te. Gleich dar­auf ver­ab­schie­de­te sich der Ge­ne­ral­kon­sul, den Dok­tor Be­die­ner bis zur Trep­pe be­glei­te­te. An­dre­as ver­folg­te mit scheu­em Blick jede Be­we­gung des Man­nes, von dem sein Schick­sal ab­hing. Er sah ihn mit ei­ni­gen jun­gen Leu­ten, die zu­nächst an sei­nem Wege stan­den, lei­se Wor­te wech­seln und nach­denk­lich, die Hand, auf der ein großer Bril­lant blitz­te, an sei­nem grau­en Spitz­bart, in sei­nem Ka­bi­nett ver­schwin­den. Wel­che be­täu­ben­de Fül­le von Ge­schäf­ten und wie we­nig Hoff­nung für einen be­schei­de­nen Neu­ling, hier ans Ziel zu ge­lan­gen! Doch schon nach we­ni­gen Mi­nu­ten trat ganz un­er­war­te­ter­wei­se der­sel­be Die­ner, dem An­dre­as sei­ne Emp­feh­lung an­ver­traut hat­te, auf den jun­gen Mann zu, um ihn zum Ein­tritt in das Büro des Herrn Che­fre­dak­teurs auf­zu­for­dern. An­dre­as durch­schritt blut­über­gos­sen die Rei­hen der War­ten­den. Er mein­te, die Be­vor­zu­gung, die ihm zu­teil ward, müs­se je­der­mann auf­fal­len.

Und dann führ­te er eine mög­lichst kor­rek­te Ver­beu­gung vor Dok­tor Be­die­ner aus, der ihm lä­chelnd die Hand mit dem Bril­lan­ten ent­ge­gen­streck­te.

»Sie sind mir als ein sehr aus­sichts­rei­ches Ta­lent emp­foh­len, Herr – re…«

»Zum­see«, er­gänz­te An­dre­as.

»Herr Zum­see«, wie­der­hol­te Dok­tor Be­die­ner.

Er wies auf einen Ses­sel, und An­dre­as, der dem Lei­ter des »Nacht­ku­ri­er« ge­gen­über Platz nahm, sag­te sich, dass der Empfang gar nicht güns­ti­ger hät­te sein kön­nen. Dok­tor Be­die­ner be­gann wie­der:

»Die Emp­feh­lung, die Sie gel­tend ma­chen, ist mir be­son­ders wert­voll, weil sie von ei­nem lang­jäh­ri­gen, lie­ben Freun­de kommt. Ich hof­fe, es geht mei­nem al­ten Schmücke gut?«

An­dre­as er­teil­te be­frie­di­gen­de Aus­kunft über die Ge­sund­heit des al­ten Herrn. Aber er er­fuhr mit Er­stau­nen die na­hen Be­zie­hun­gen des Che­fre­dak­teurs zu Schmücke, der sich de­ren nie ge­rühmt hat­te.

»Ich mei­ne so­gar, Ihren Na­men schon ir­gend­wo ge­fun­den zu ha­ben, Herr, Herr – re…«

»Zum­see«, er­gänz­te An­dre­as.

»Herr Zum­see«, wie­der­hol­te Dok­tor Be­die­ner, und er strich mit zwei ge­spreiz­ten Fin­gern su­chend über sei­ne hohe Stirn. Dach­te er an den »Gum­pla­cher An­zei­ger«? An­dre­as hät­te gern von sei­nen Er­fol­gen und Hoff­nun­gen, von den Ge­dich­ten, der No­vel­le, Köpf, dem »Café Hur­ra« und Türk­hei­mer des län­ge­ren ge­spro­chen. Aber durch die un­ge­ahn­te Lie­bens­wür­dig­keit des mäch­ti­gen Man­nes ward in ihm ein sol­ches Ent­zücken er­regt, dass er, mi­nu­ten­lang stumm und rot vor hef­ti­ger Schwär­me­rei, den Dok­tor Be­die­ner an­sah.

Nie im Le­ben hat­te An­dre­as sol­che aus­ge­such­ten Ma­nie­ren ken­nen­ge­lernt, sol­che welt­män­ni­sche Hal­tung, sol­che na­tür­li­che Glät­te in je­der Be­we­gung, je­dem Blick und je­dem Wor­te. Dok­tor Be­die­ner saß ein we­nig seit­wärts über die Leh­ne ge­neigt, auf die er einen Arm stütz­te. Mit dem an­de­ren be­schrieb er zu­wei­len eine flüch­ti­ge, doch un­nach­ahm­lich run­de Ges­te, die al­les zu er­klä­ren schi­en, was er an­deu­ten woll­te. Sein Lä­cheln war of­fen­bar so ganz für sein Ge­gen­über be­stimmt, dass die­ses sich nicht den­ken konn­te, er wer­de je ei­nem an­de­ren so viel Auf­merk­sam­keit schen­ken. Er sprach zö­gernd, mit leicht ver­schlei­er­ter Stim­me und ließ das R weit hin­ten im Hal­se ver­schwin­den, was dis­tin­guiert klang. Er moch­te mit ei­nem ar­men jun­gen Man­ne noch so fa­mi­li­är tun, ohne es zu wol­len, be­wahr­te Dok­tor Be­die­ner in sei­nem gan­zen We­sen stets eine so vor­neh­me Zu­rück­hal­tung, dass es An­dre­as vor­kam, als stei­ge er aus ei­ner hö­he­ren Di­plo­ma­ten­sphä­re her­nie­der, wo­hin er je­den Au­gen­blick ent­rückt zu wer­den droh­te.

Er ließ die Fra­ge, wo er An­dre­as’ Na­men schon ge­fun­den ha­ben moch­te, nach ei­ni­ger Über­le­gung auf sich be­ru­hen, um sich zu er­kun­di­gen:

»Ha­ben Sie schon li­te­ra­ri­schen An­schluss ge­fun­den?«

»Es ist mir als ganz un­be­kann­tem An­fän­ger sehr schwer ge­fal­len«, er­wi­der­te An­dre­as be­schei­den.

»Ich ken­ne ein paar Re­dak­teu­re, zum Bei­spiel Dok­tor Pohl­atz.«

»Oh, Pohl­atz«, sag­te Dok­tor Be­die­ner mit ei­ner Hand­be­we­gung, die nicht viel Hochach­tung aus­zu­drücken schi­en. Doch setz­te er hin­zu:

»Ich schät­ze Pohl­atz per­sön­lich hoch, ich kann so­gar sa­gen, dass wir recht gute Freun­de sind.«

»Schon wie­der je­mand, mit dem ich ver­kehrt habe, ohne zu wis­sen, dass er mit dem Che­fre­dak­teur des ›Nacht­ku­rier‹ be­freun­det ist«, dach­te An­dre­as.

»Nur möch­te ich Ih­nen da­von ab­ra­ten«, fuhr Dok­tor Be­die­ner fort, »an sei­nem Blat­te mit­zu­ar­bei­ten. Es wür­de für Sie we­nig Wert ha­ben – dies un­ter uns.«

An­dre­as ver­beug­te sich, voll Ver­gnü­gen über die ver­trau­li­che Mit­tei­lung, de­ren er ge­wür­digt wur­de. Wie gut, dass Pohl­atz gar nicht dar­an ge­dacht hat­te, ihn beim »Ka­bel« ein­zu­füh­ren! Er lausch­te atem­los auf Dok­tor Be­die­ners Be­leh­rung.

»Alle die­se Blät­ter mit stren­ger Par­tei­rich­tung tau­gen nichts für ein aus­sichts­rei­ches Ta­lent«, sag­te der Che­fre­dak­teur. »Sie wür­den sich dort kom­pro­mit­tie­ren, ohne für den Ver­lust Ih­rer Selbst­stän­dig­keit ent­schä­digt zu wer­den. Bei uns da­ge­gen, wis­sen Sie wohl, be­hält je­der Mit­ar­bei­ter sei­ne Ei­gen­art. Der ›Nacht­ku­rier‹ hat vor al­len an­de­ren er­kannt, dass die Par­tei­pres­se sich über­lebt hat. Dass man eine ge­sun­de li­be­ra­le Wirt­schafts­po­li­tik ver­tritt, ver­steht sich von selbst; wir wä­ren ver­rückt, wenn wir es nicht tä­ten. (Hier voll­führ­te Dok­tor Be­die­ner eine Arm­be­we­gung, die ei­ner län­ge­ren Par­en­the­se gleich­kam.) Im Üb­ri­gen be­trach­ten wir uns als ein Or­gan der deut­schen Geis­tes­kul­tur.«

Dok­tor Be­die­ner hielt an; er war bei­na­he warm ge­wor­den. Aber er er­lang­te so­fort sein vor­neh­mes Gleich­ge­wicht wie­der, des­sen au­gen­blick­li­ches Ab­han­den­kom­men An­dre­as in sei­ner Hin­ge­ris­sen­heit gar nicht be­merkt hat­te. Der Che­fre­dak­teur be­trach­te­te den Ein­druck, den er auf den jun­gen Mann mach­te, mit Wohl­wol­len. Er lä­chel­te so­gar, denn er hat­te die Be­mer­kung ge­macht, dass An­dre­as’ Blick, der zwi­schen dich­ten und lan­gen Wim­pern her­vor­kam, in sei­ner Treu­her­zig­keit merk­wür­dig ein­schmei­chelnd sei, und dass die be­din­gungs­lo­se Ver­eh­rung, die er aus­drück­te, ei­ner Dame über­aus an­ge­nehm sein müs­se. Flüch­tig dach­te er so­gar an Frau Türk­hei­mer. Er zö­ger­te noch, denn der miss­lun­ge­ne schwar­ze Rock, der dem gut ge­wach­se­nen Jüng­ling et­was Un­ge­schick­tes gab, for­der­te zur Vor­sicht auf. Das Haar war er­bärm­lich ge­schnit­ten, doch trug An­dre­as den Kopf recht gut. Dann ent­schloss sich Dok­tor Be­die­ner.

»Sie soll­ten sich vor al­lem beim Thea­ter ein­füh­ren, ich mei­ne in den Krei­sen, die dem Thea­ter na­he­ste­hen.«

»Schon wie­der das Thea­ter«, dach­te An­dre­as. »Es muss doch et­was da­mit los sein.«

Er öff­ne­te den Mund, aber Dok­tor Be­die­ner schnitt sei­nen Ein­wand ab.

»Sie wer­den noch nichts für die Büh­ne ge­schrie­ben ha­ben, das tut nichts zur Sa­che. Man er­obert die Welt nicht mehr von der Schreib­stu­be aus. Auch der Schrift­stel­ler muss heut­zu­ta­ge mit sei­ner Per­son ein­tre­ten. Sie wer­den sich in der Ge­sell­schaft um­se­hen müs­sen.«

»Kom­men jetzt Türk­hei­mers?« frag­te sich An­dre­as.

Aber der Che­fre­dak­teur zö­ger­te wie­der.

»Hal­ten Sie sich vor­läu­fig an uns«, sag­te er. »Un­se­re Sonn­tags­bei­la­ge ›Die Neu­zeit‹ steht den jun­gen Ta­len­ten of­fen. Schi­cken Sie uns et­was, und nach zwei, drei Ver­su­chen rech­nen wir Sie zu un­se­ren Haus­dich­tern, die bei den Büh­nen na­tür­lich einen Vor­sprung ha­ben. Das ist das, was ich Ih­nen ver­spre­chen kann.«

Die letz­ten Wor­te sprach er lang­sa­mer, er schi­en auf et­was zu war­ten. Aber An­dre­as sah schon die Spal­ten des »Nacht­ku­ri­er« zu sei­nem Empfan­ge weit ge­öff­net. Sei­ne san­gui­ni­schen Hoff­nun­gen wur­den alle wie­der wach. Es ward ihm ganz heiß, und ohne sich zu be­dan­ken, ver­setz­te er:

»Herr Dok­tor, ohne die große un­ver­dien­te Güte, die Sie mir ent­ge­gen­brin­gen, wür­de ich nie ge­wagt ha­ben, Sie dar­um zu bit­ten, ver­zei­hen Sie, dass ich es jetzt wage: wür­den Sie mich als Vo­lon­tär auf­neh­men?«

Dok­tor Be­die­ners Mie­ne drück­te plötz­lich tie­fe Be­sorg­nis aus.

»Sie ir­ren sich«, sag­te er. »Ich mei­ne es mit den jun­gen Leu­ten, die mir emp­foh­len sind, zu gut, um sie auf die von Ih­nen be­zeich­ne­te Art kalt­zu­stel­len. Ha­ben Sie die drei­ßig Un­glück­li­chen ge­se­hen, die dort drü­ben die Zeit tot­schla­gen?«

An­dre­as be­griff, dass das Fens­ter im War­te­zim­mer zu sei­ner und sei­nes­glei­chen Ab­schre­ckung an­ge­bracht sei.

»Wen Herr Je­ku­ser dort hin­setzt, das geht mich nichts an«, fuhr Dok­tor Be­die­ner fort. »Aber ich sehe, dass man dort durch das vie­le Her­um­lun­gern faul und un­brauch­bar wird. Wer es am längs­ten aus­ge­hal­ten hat, bringt es schließ­lich zu ei­ner klei­nen An­stel­lung bei ei­nem Pro­vinz­blatt. Be­schrän­ken sich Ihre Träu­me dar­auf? – Nein, mein Lie­ber«, so schloss der Che­fre­dak­teur, »wir ha­ben es bes­ser mit Ih­nen im Sinn. Was wir Ih­nen ver­spre­chen kön­nen, habe ich schon ge­sagt. Sie wis­sen ja, wel­cher wirk­sa­men Emp­feh­lung Sie un­ser Wohl­wol­len ver­dan­ken.«

Bei je­dem der von Dok­tor Be­die­ner ge­brauch­ten, ge­schäfts­mä­ßig küh­len »wir« über­rie­sel­te es An­dre­as kalt. Er ward sich be­wusst, dass sei­ne per­sön­li­che Un­ter­re­dung mit ei­nem ho­hen Gön­ner be­en­det sei, und dass er sich nur noch als na­men­lo­ser Bitt­stel­ler ei­nem Mäch­ti­gen ge­gen­über be­fin­de. Und dies bloß in­fol­ge sei­ner plum­pen Un­ge­schick­lich­keit; weil er durch eine dum­me Bit­te den gan­zen schö­nen Er­folg des bis­he­ri­gen Ge­sprä­ches zer­stört hat­te! Nun fühl­te er Dok­tor Be­die­ners Blick mit der deut­li­chen An­kün­di­gung auf sich ru­hen, dass die Au­di­enz be­en­det sei. Und nun wand­te sich der Che­fre­dak­teur ganz un­ver­hoh­len der Stutz­uhr auf dem brei­ten Schreib­ti­sche zu. Der arme jun­ge Mann biss sich auf die Lip­pen. Er war bleich und ver­wirrt, doch fest ent­schlos­sen, sich lie­ber vom Re­dak­ti­ons­die­ner hin­aus­set­zen zu las­sen, als un­ver­rich­te­ter Din­ge frei­wil­lig zu ge­hen.

»Ich habe nichts mehr zu ris­kie­ren«, sag­te sich An­dre­as. »Gehe ich jetzt, so hin­ter­las­se ich den denk­bar schlech­tes­ten Ein­druck.« – »Ich muss die Emp­feh­lung an Türk­hei­mer ha­ben«, wie­der­hol­te er sich hart­nä­ckig und starr­te auf den hell­ge­blüm­ten eng­li­schen Tep­pich, der den Bo­den des Zim­mers be­deck­te. Er woll­te ein nied­rig hän­gen­des Öl­ge­mäl­de be­trach­ten, doch ver­sag­te ihm der Mut. Sein Blick wag­te sich nicht hö­her als bis zu Dok­tor Be­die­ners Lack­schu­hen und den wei­ßen Ga­ma­schen, über die das graue Bein­kleid mit un­säg­li­cher Ele­ganz her­ab­fiel. Wäre der Che­fre­dak­teur nur ein be­lie­bi­ges großes Tier ge­we­sen, vor dem ein ar­mer jun­ger Mann wie An­dre­as im Stau­be krie­chen muss­te! Aber er ge­bot ihm Ach­tung als Per­sön­lich­keit; dar­in lag das De­mü­ti­gen­de. Vor Er­re­gung ward An­dre­as von Ohren­sau­sen be­fal­len. Da­zwi­schen hör­te er Dok­tor Be­die­ner auf den Rand des Schreib­ti­sches trom­meln. Er warf einen ängst­li­chen Blick von un­ten her­auf, die Si­tua­ti­on war nicht län­ger halt­bar. Aber zu sei­ner Ver­wun­de­rung dreh­te der Che­fre­dak­teur Herrn Schmückes Brief in der Hand. Er sah so­gar mit ei­nem hal­b­en Lä­cheln dar­über hin­weg auf den jun­gen Mann, des­sen Stand­haf­tig­keit ihm schließ­lich viel­leicht Ach­tung ab­ge­wann. Der schwar­ze Rock muss­te al­ler­dings mit in den Kauf ge­nom­men wer­den. Den­noch über­wog das Emp­feh­len­de in An­dre­as’ Er­schei­nung. Auch war Herr Schmücke Gum­plachs ge­wich­tigs­ter li­be­ra­ler Wäh­ler.

»Die ge­sell­schaft­li­chen Ver­bin­dun­gen«, sag­te Dok­tor Be­die­ner, »be­trach­te ich, wie ge­sagt, als eine Haupt­sa­che. Ich bin auch gern be­reit, Ih­nen den An­fang zu er­leich­tern. War­ten Sie, ich wer­de Sie an ein Haus emp­feh­len, wo die aus­sichts­rei­chen Ta­len­te stets mit Wohl­wol­len auf­ge­nom­men wer­den. Die Haus­frau sam­melt die Blü­te un­se­rer kunst­sin­ni­gen Ge­sell­schaft um sich, Sie wer­den ein­fluss­rei­chen Leu­ten be­geg­nen. Pro­fi­tie­ren Sie von dem Ton, der bei Türk­hei­mers herrscht, lie­ber Freund!«

Da­mit übergab er An­dre­as die Vi­si­ten­kar­te, die er wäh­rend des Spre­chens mit ein paar Zei­len be­schrie­ben hat­te. Der jun­ge Mann sprang auf. In dem Stolz, den er über die Er­rei­chung sei­nes Zie­les emp­fand, steck­te er den kost­ba­ren Um­schlag so flüch­tig in die Brust­ta­sche, als käme es ihm gar nicht dar­auf an. Die­ser Zug moch­te den Bei­fall des Che­fre­dak­teurs fin­den, der die Hand auf An­dre­as’ Schul­ter leg­te und ihn sehr freund­lich zur Tür ge­lei­te­te. Im Vor­zim­mer konn­te je­der­mann hö­ren, wie Dok­tor Be­die­ner zu dem sich Ver­ab­schie­den­den sag­te:

»Auf Wie­der­se­hen, lie­ber Freund!«

»Merk­wür­dig«, dach­te An­dre­as, der blind vor Glück die Trep­pe hin­a­beil­te, »ich mein­te schon, es ganz mit ihm ver­dor­ben zu ha­ben, und jetzt bin ich gar sein lie­ber Freund, wie Schmücke und Pohl­atz. Nur nicht ängst­lich!« sag­te er sich tri­um­phie­rend, aber auf dem Trep­pen­ab­satz rann­te er mit ei­nem her­auf­stür­men­den Men­schen so hef­tig zu­sam­men, dass bei­de sich an­ein­an­der­klam­mern muss­ten, um nicht um­zu­fal­len.

»Wa­rum sa­gen Sie das nicht gleich?« ver­setz­te der Frem­de, wäh­rend sie sich um­armt hiel­ten. Dann hob er die Blu­me auf, die sei­nem Knopf­loch ent­glit­ten war.

Trotz ih­rer stür­mi­schen Be­geg­nung emp­fing An­dre­as einen güns­ti­gen Ein­druck von dem an­de­ren. Es war ein mit­tel­großer, un­ter­setz­ter jun­ger Mann, der einen Zy­lin­der trug. Sei­ne Klei­dung war ziem­lich ele­gant, von ei­ner Al­ler­welt­se­le­ganz, die nir­gends auf­fal­len konn­te. Sein Ge­sicht zeig­te eben­falls nichts Her­vor­ste­chen­des, er konn­te einen mit sei­nem for­schen­den Hun­de­blick an­se­hen und ei­nem ge­ra­de un­ter der Nase um­her­schnüf­feln, ohne dass man dies un­ver­schämt fand. Er hat­te et­was so Hei­te­res und Gut­mü­ti­ges an sich, dass man ihn ge­wiss an­stands­los über­all ein­ließ, ihm al­les mög­li­che an­ver­trau­te und da­bei gar nicht auf ihn ach­te­te. Was wäre für einen Re­por­ter wün­schens­wer­ter? Schon wie er An­dre­as lie­bens­wür­dig bei­sei­te schob, um sich Platz zu ma­chen, war es deut­lich, dass er über­all durch­kom­men und al­les er­fah­ren muss­te, was er woll­te, ohne auf Hin­der­nis­se zu tref­fen. So un­per­sön­lich wie er aus­sah, war ein Zu­sam­men­stoß mit ihm ei­gent­lich gar kei­ner.

Er stieg zwei Stu­fen hö­her, kam aber ei­lig zu­rück und sag­te:

»Ach, Par­don, hö­ren­se­mal! Da wir nun doch Be­kannt­schaft ge­macht ha­ben, kön­nen Sie mir viel­leicht sa­gen, ob der Chef gu­ter Lau­ne ist. Sie kom­men doch vom Chef.«

»Ich war beim Dok­tor Be­die­ner«, be­stä­tig­te An­dre­as.

»Kön­nen Sie mir sa­gen, was Sie da ge­macht ha­ben?« frag­te der an­de­re, und er schlug da­bei einen so freund­schaft­lich zu­spre­chen­den Ton an, dass An­dre­as so­fort die Über­zeu­gung ge­wann, er kön­ne im ei­ge­nen In­ter­es­se nichts Bes­se­res tun, als dem Frem­den sa­gen, was er beim Dok­tor Be­die­ner ge­macht habe.

»Nun, ich war an den Che­fre­dak­teur emp­foh­len«, ver­setz­te er.

»Aha, Sie sind wohl ein neu­er Kol­le­ge. Sehr er­freut!«

Er schüt­tel­te An­dre­as die Hand, ver­beug­te sich und sag­te:

»Kaf­lisch, vom ›Nacht­ku­rier‹.«

»An­dre­as Zum­see.«

»Vo­lon­tär, was?«

»Doch nicht«, sag­te An­dre­as stolz ab­leh­nend, als habe er nie den Wunsch ge­hegt, als Hilfs­ar­bei­ter in die Re­dak­ti­on ein­zu­tre­ten.

»Dann hat er Ih­nen wohl die Mit­ar­beit an der ›Neu­zeit‹ an­ge­bo­ten?«

An­dre­as sah den schlau lä­cheln­den Jour­na­lis­ten an. Kaf­lisch nahm die Über­ra­schung des Neu­lings für eine Ant­wort und frag­te wei­ter:

»Sa­gen­se­mal, hat er Sie auch an Türk­hei­mers emp­foh­len?«

»Na, herz­li­chen Glück­wunsch!« sag­te er, als An­dre­as be­jah­te. »Ein fei­nes Haus und ’ne schö­ne Frau.«

Er schmatz­te da­bei so stim­mungs­voll, dass An­dre­as plötz­lich al­ler­lei dunkle Be­gier­den emp­fand.

»Und bes­ten Dank, sehr ge­ehr­ter Herr. Wenn der Alte einen zu Türk­hei­mers schickt, dann ist er un­fehl­bar gu­ter Lau­ne. Dann kann ich ihm mit mei­nen Ge­schich­ten kom­men. Es ist ja ’n Elend, nie mehr als zehn Pfen­ni­ge für die Zei­le und da­bei noch den Staat er­hal­ten! Jetzt will ich vor den Ge­richts­voll­zie­hern nach Bres­lau flüch­ten, wis­sen­se, wo jetzt der Lust­mord­pro­zess an­fängt. Be­die­ner gibt mir die Be­richt­er­stat­tung, pas­sen­se mal auf. Wenn er zu Ih­nen so nett ist und Sie zu Türk­hei­mers schickt, dann tut er mir auch ’ne Lie­be. Na, Mahl­zeit, und viel Ver­gnü­gen! Auf Wie­der­se­hen!«

Er war schon dro­ben im Vor­zim­mer ver­schwun­den, als An­dre­as ihm noch nach­schau­te. Die­ser Kaf­lisch be­frem­de­te ihn zwar et­was, aber sein We­sen war nicht ge­ra­de ab­sto­ßend. Er ver­söhn­te mit sei­ner zu­dring­li­chen Neu­gier da­durch, dass er auch in sei­nen ei­ge­nen An­ge­le­gen­hei­ten kei­ne Dis­kre­ti­on kann­te.

Auf der Stra­ße wand­te sich An­dre­as um und sah zur Fassa­de des Hau­ses em­por, über die die In­schrift »Ber­li­ner Nacht­ku­ri­er« in mäch­ti­gen Re­lief­let­tern quer hin­über­lief. Der Au­gen­blick schi­en ihm fei­er­lich, er fühl­te, dass hier die ihm vor­ge­schrie­be­ne Lauf­bahn be­gann.

Zu Hau­se ging er so­fort an die Sich­tung sei­ner Gar­de­ro­be. Es hat­te sei­ne Schwie­rig­keit, einen pas­sen­den Vi­si­ten­an­zug zu­sam­men­zu­stel­len, da je­des der hel­len Bein­klei­der den einen oder an­de­ren Man­gel auf­wies. Seuf­zend ent­schloss sich der arme jun­ge Mann zu der Frack­ho­se, die zu­sam­men mit dem ver­un­glück­ten schwar­zen Rock schon dem Dok­tor Be­die­ner un­vor­teil­haft auf­ge­fal­len war. An­dre­as hat­te dies wohl be­merkt. Er be­saß ein an­ge­bo­re­nes Ver­ständ­nis für gute Klei­dung, das sich in Ber­lin rasch aus­ge­bil­det hat­te. So oft er über die Fried­rich­stra­ße ging, fing er den wohl­wol­len­den Blick ir­gend­ei­nes hüb­schen Mäd­chens auf, den sie aber ei­lig zu­rück­zog, so­bald sie den Rock des jun­gen Man­nes ab­ge­schätzt hat­te. Die­se schlan­ken, blon­den Mäd­chen, die am Arm klei­ner ge­schnie­gel­ter Her­ren mit blan­ken Zy­lin­dern auf schwarz­ge­lock­ten Häup­tern da­hin­wan­del­ten, ahn­ten nicht, wie tief sie An­dre­as ver­wun­de­ten. Heu­te, wie schon oft, stu­dier­te er lan­ge in sei­nem Ra­sier­spie­gel, und er sah bes­ser als je­der an­de­re, warum der An­zug, der doch we­nig ge­tra­gen war, ihm so et­was trau­rig Un­ge­schick­tes ver­lieh. Der Ge­dan­ke, dass in ganz Ber­lin kein Schnei­der auf sein Glück und Ta­lent ver­trau­en und ihm Kre­dit ge­ben wür­de, drück­te ihn tief da­nie­der und hielt ihn zwei Tage von dem Be­su­che bei Frau Türk­hei­mer ab.

Mit dem Mute der Verzweif­lung schlug er end­lich den Weg in die Pots­da­mer Stra­ße ein. Er ging die Kö­ni­gin-Au­gus­ta-Stra­ße ent­lang und bog ent­schlos­sen in die Hil­de­brandt-Pri­vat­stra­ße ein, eine stil­le mit Sand be­streu­te Al­lee, die an bei­den En­den durch ein Git­ter ab­ge­schlos­sen war. Das Palais Türk­hei­mer fiel als das groß­ar­tigs­te un­ter den Ge­bäu­den je­dem Passan­ten auf. Es war in ei­nem deut­schen Re­naissance­stil er­baut, den man auf sei­ne Echt­heit nicht nä­her an­se­hen durf­te. An­dre­as schell­te an dem rei­chen bron­ze­nen Gar­ten­tor, und es öff­ne­te sich ohne das Er­schei­nen ei­nes Men­schen. Ein­sam wie der Mär­chen­prinz, der ein ver­wun­sche­nes Schloss er­obert, schritt der jun­ge Mann über eine Art von Bur­g­hof, be­trat eine ma­je­stä­ti­sche Freitrep­pe und stand vor der ele­gan­ten Glas­tür, die in die Wöl­bung des kunst­voll ge­mei­ßel­ten Por­tals von pro­fa­nen Hän­den ein­ge­fügt schi­en.

Die Tür ging auf, doch der grün-sil­ber­ne La­kai, der An­dre­as ent­ge­gen­trat, be­saß die Macht, den mu­ti­gen Ero­be­rer von der Schwel­le sei­nes Pa­ra­die­ses zu­rück­zu­scheu­chen. Er sag­te, dass die gnä­di­ge Frau nicht zu Hau­se sei. Un­ter dem ers­ten Ein­druck die­ser Nach­richt übergab ihm der jun­ge Mann sei­ne Kar­te und das Bil­lett des Dok­tor Be­die­ner. Gleich dar­auf fiel ihm ein, dass er dies nicht hät­te tun sol­len. Er blick­te bleich vor Wut dem Die­ner in das un­ver­schäm­te Ge­sicht und stand im Be­grif­fe, einen Schlag hin­ein­zu­ver­set­zen. »Wenn es nicht mei­nem In­ter­es­se zu­wi­der­lie­fe«, sag­te er sich, »wür­de ich es tun. Üb­ri­gens kann ich ihm sei­ne Un­ver­schämt­heit nicht nach­wei­sen, sie ist ver­steckt wie im­mer bei sol­chen Men­schen.«

Er ging mit der Last sei­ner ver­nich­te­ten Hoff­nung auf der Brust die Stra­ße zu Ende und be­fand sich am Tier­gar­ten. Zwei Stun­den lang trieb ihn sein ent­täusch­ter Ehr­geiz in den ent­laub­ten We­gen um­her. Er fühl­te sich so leer und ziel­los wie an dem Tage, als er mit dem »Café Hur­ra« zu bre­chen be­schloss. Aber in­zwi­schen hat­te er Schrit­te ge­tan, die nicht so leicht zu wie­der­ho­len wa­ren. Wenn nun der fre­che La­kai, der ihn wie einen stel­lung­su­chen­den Kan­di­da­ten ge­mus­tert hat­te, die Kar­te des Che­fre­dak­teurs nicht ab­gab?

Aber schon am fol­gen­den Mor­gen er­hielt An­dre­as mit der Post eine Ein­la­dung zum Abend des zehn­ten No­vem­ber von Frau Adel­heid Türk­hei­mer.

leich­ter, zwei­rei­hi­ger Her­ren­man­tel  <<<

IV. Türkheimers

An­dre­as Zum­see er­schi­en, weil er dies für vor­neh­mer hielt, sehr spät auf der Soi­ree in der Hil­de­brandt­stra­ße. An dem bron­ze­nen Gat­ter, das dies­mal weit auf­stand, stieß ein ma­je­stä­ti­scher Por­tier sei­nen Stab auf den Bo­den. An­dre­as blick­te ihm ins Ge­sicht, es drück­te aber nur im­po­san­te Käl­te aus. Der La­kai, der ihm sei­nen Man­tel ab­nahm, war zu­fäl­lig der­sel­be, den er kann­te. An­dre­as sah ihn nicht ein­mal an. »Du hast mich nicht hin­dern kön­nen, her­zu­kom­men«, dach­te er.

Das Selbst­be­wusst­sein, mit dem er sei­nen Ein­tritt voll­führ­te, er­stick­te sei­ne ge­hei­me Ver­le­gen­heit, mach­te ihn aber auch un­vor­sich­tig. Als­bald stieß ihm ein klei­nes Un­glück zu. Ne­ben der Gar­de­ro­be lag ein Vor­zim­mer, das An­dre­as auf den ers­ten Blick für leer hielt. Er be­trat es, ohne sich an­zu­kün­di­gen, aber schon nach zwei Schrit­ten stand er auf der Schlep­pe ei­nes Abend­man­tels. Es war ein Man­tel aus gel­ber Sei­de mit Bro­kat­sti­cke­rei, ge­füt­tert mit Sa­tin-Du­ches­se. Und An­dre­as konn­te sich nicht schnell ge­nug zu­rück­zie­hen, um nicht mehr zu be­mer­ken, dass die Be­sit­ze­rin des Man­tels von dem jun­gen Man­ne, der ihn ihr ab­nahm, einen Kuss emp­fing. Es war eine große star­ke Blon­di­ne, und das wü­ten­de Ge­sicht mit der auf­ge­stülp­ten Nase, das sie An­dre­as zu­wand­te, er­füll­te ihn mit sol­chem Schre­cken, dass er un­ter ge­stam­mel­ten Ent­schul­di­gun­gen recht kläg­lich bei­sei­te schlich.

Gleich dar­auf, wie er die Trep­pe zum ers­ten Stock hin­an­stieg, fie­len ihm die geist­reichs­ten Wen­dun­gen ein, mit de­nen er sein Un­ge­schick hät­te gut­ma­chen kön­nen. Ganz zer­schla­gen von dem Be­wusst­sein, der Lage nicht ge­wach­sen ge­we­sen zu sein, ließ er sich durch zwei Säle von ei­nem Strom von Gäs­ten fort­zie­hen, der ihn an das Bü­fett führ­te. Im Ge­drän­ge stieß er ei­nem dis­tin­guiert aus­se­hen­den al­ten Herrn hef­tig ge­gen die Schul­ter und brach­te nicht ein­mal mehr ein Wort der Ab­bit­te her­vor, ganz ent­setzt über sein neu­es Miss­ge­schick. In­des sag­te der alte Herr ver­bind­lich »Par­don« und reich­te An­dre­as Tel­ler und Be­steck. Der arme jun­ge Mann ge­wahr­te jetzt die sei­de­nen St­rümp­fe des Haus­hof­meis­ters und wand­te sich mit blut­ro­tem Ge­sicht hin­weg.

Vor ihm stan­den Kü­bel mit Sekt­fla­schen. Ein Die­ner war­te­te auf sei­nen Wink, um ihm ein­zu­schen­ken. Aber An­dre­as be­fürch­te­te, man möch­te ihm an­se­hen, dass er noch nie­mals Cham­pa­gner ge­nos­sen habe. Er woll­te einen Wein wäh­len, als man hin­ter ihm lach­te. Die ver­schie­de­nen De­mü­ti­gun­gen, die er in so kur­z­er Zeit er­lit­ten hat­te, brach­ten ihn au­ßer sich, er war im Be­grif­fe, sei­ne Zu­kunft durch einen Skan­dal zu ver­der­ben. Sehr bleich dreh­te er sich nach zwei Her­ren in sei­ner Nach­bar­schaft um, er war ent­schlos­sen, den ers­ten, der ihn schief an­zu­se­hen wag­te, zu ohr­fei­gen. Als die bei­den je­doch sein Ge­sicht be­merk­ten, schie­nen sie es gar nicht ge­we­sen zu sein. Der eine von ih­nen sprach An­dre­as an, und auch das stärks­te Miss­trau­en konn­te in sei­ner Stim­me nur ru­hi­ge Höf­lich­keit ent­de­cken.

»Ich rate Ih­nen zu dem Cha­b­lis dort«, sag­te er. »Es ist das Feins­te, was hier zu ha­ben ist.«

An­dre­as dank­te und trank mit wie­der­ge­won­ne­ner Fas­sung meh­re­re Glä­ser. Da der Wein in einen nüch­ter­nen Ma­gen ge­lang­te, brach­te er bald die freund­lichs­te Wir­kung her­vor. Als An­dre­as den letz­ten Trop­fen ge­trun­ken hat­te, tri­um­phier­te er. »Die bei­den Job­ber ha­ben vor mei­nem Ge­sicht Furcht ge­habt«, sag­te er sich.

Er emp­fand das Be­dürf­nis, zu spre­chen; man schi­en sich hier ja un­be­kann­ter­wei­se an­zu­re­den.

»Da ist ja Kaf­lisch!« rief er plötz­lich, als be­grüß­te er einen lan­ge ver­miss­ten Freund. Der Jour­na­list zeig­te sich am Arm ei­nes kor­pu­len­ten Herrn mit kur­z­em schwar­zen Spitz­bart, schwe­ren Li­dern und von dem Aus­se­hen ei­ner be­deu­ten­den Per­sön­lich­keit. An­dre­as mein­te ihn zu er­ken­nen.

Kaf­lisch mus­ter­te den Fremd­ling. Als er ihn in sei­nem Ge­dächt­nis un­ter­ge­bracht hat­te, schüt­tel­te er ihm die Hand.

»Freut mich, Sie wie­der­zu­se­hen. Nu sehn­se­woll, wie ’ne Emp­feh­lung von un­ser’m Al­ten hier wirkt?«

»Fa­mos!« sag­te An­dre­as. Er fühl­te sich un­ter­neh­mungs­lus­tig. Er er­kun­dig­te sich:

»Wis­sen Sie nicht, wo die Haus­frau ist?«

»Kom­men Sie von Ra­ti­bohr?« frag­te der kor­pu­len­te Herr. Der jun­ge Mann stutz­te.

»Nein, von Gum­plach«, er­wi­der­te er.

Der Herr lä­chel­te ihn wohl­wol­lend an. Kaf­lisch brach in Ge­läch­ter aus.

»Gold­herz meint, ob Sie der Haus­frau von Herrn Ra­ti­bohr was zu sa­gen ha­ben. Sie wol­len sich ihr wohl nur vor­stel­len? Hat ja gar kei­nen Zweck.«

Der kor­pu­len­te Herr folg­te ge­lang­weilt dem Ruf ei­nes Be­kann­ten. Kaf­lisch nahm An­dre­as’ Arm wie den ei­nes Ju­gend­freun­des.

»War das der be­rühm­te Ver­tei­di­ger?« frag­te der jun­ge Mann.

»Ihn selbst ha­ben Ihre sterb­li­chen Au­gen ge­se­hen. Wis­sen­se, den müs­sen Sie ken­nen­ler­nen.«

Im Men­tor­ton setz­te Kaf­lisch hin­zu:

»Von de­nen, die hier sind, kann kei­ner sa­gen, dass er ihn nicht ei­nes Ta­ges nö­tig ha­ben wird.«

»Wie geht es Ih­nen sonst?« frag­te er gleich dar­auf. »Ist Be­die­ner nett zu Ih­nen?«

»Sehr«, sag­te An­dre­as. »Vo­ri­gen Sonn­tag ist was von mir er­schie­nen.«

»Aha, das Ge­dicht in der ›Neu­zeit‹.«

»Ha­ben Sie es ge­le­sen?«

»Das kön­nen Sie nicht ver­lan­gen. Aber von je­dem aus­sichts­rei­chen Ta­lent, das an den Al­ten emp­foh­len ist, bringt die ›Neu­zeit‹ ein Ge­dicht. Auf das zwei­te kön­nen Sie lan­ge war­ten. – Da ha­ben Sie Asta«, setz­te er schnell hin­zu, stieß An­dre­as an und wand­te sich un­ver­fro­ren nach ei­ner vor­über­ge­hen­den Dame um.

»Wer, Asta?« frag­te An­dre­as, der Kaf­lisch’ Bei­spiel folg­te. Aber sei­ne wein­se­li­ge Auf­ge­räumt­heit räch­te sich so­fort, er trat der Dame auf die Schlep­pe, und sie zeig­te ihm ein Ge­sicht vol­ler Ver­ach­tung.

»Nu ha­ben Sie sie doch mal an­ge­se­hen«, sag­te Kaf­lisch freund­lich. Die Dame ging wei­ter, ei­nem lan­gen, blon­den Herrn mit schüt­term Bart ent­ge­gen, der ihr über den Köp­fen der Men­ge, hin­ten an der Tür zu­wink­te.

An­dre­as war jetzt nicht mehr so leicht aus der Fas­sung zu brin­gen. Er frag­te, über­mü­tig la­chend:

»Sa­gen Sie doch, wer ist denn die Asta?«

»Die Toch­ter vom Hau­se, mein jun­ger Freund. Und wenn die hier spa­zie­ren­geht, so kön­nen Sie glau­ben, dass die Mut­ter ganz wo an­ders ist.«

»Wa­rum?« frag­te An­dre­as. Er war doch leicht er­schro­cken.

»Wa­rum? Die lie­be Un­schuld! Asta ist ’n Mäd­chen mit Grund­sät­zen, das heißt, sie geht à la Ib­sen fri­siert, mo­der­nes Weib, mehr in­tel­lek­tu­ell als Ge­schlechts­we­sen, ver­stehn­se mich, sehr ge­ehr­ter Herr?«

Kaf­lisch sprach mit der Nase dicht an An­dre­as’ Mund und sehr laut. Es lag ihm of­fen­bar nichts dar­an, sein Licht un­ter den Schef­fel zu stel­len. Um sie her fing man an zu la­chen. An­dre­as fühl­te die Auf­merk­sam­keit auf sich ge­rich­tet, was ihm schmei­chel­te.

»Und die Mut­ter?« frag­te er mit er­ho­be­ner Stim­me, wäh­rend sie weiter­schlen­der­ten.

»Die ist ’ne gute Frau«, er­klär­te Kaf­lisch leicht­hin. »So­gar zu gut ge­gen uns jun­ge Leu­te.«

»Ich ver­ste­he«, sag­te An­dre­as mit ei­ner Be­to­nung, die er für viel­sa­gend hielt.

»Kommt dort nicht Liz­zi Laffé?« frag­te er. Der Name je­ner Dame, die er schon im Vor­zim­mer durch sei­ne In­dis­kre­ti­on be­lei­digt hat­te, war ihm zu sei­nem Schre­cken ein­ge­fal­len. Er kann­te sie von der Büh­ne her, der sie an­ge­hör­te, und Liz­zis Be­zie­hun­gen zu Türk­hei­mer wa­ren im »Café Hur­ra« des öf­te­ren er­ör­tert.

»Abend, Liz­zi«, sag­te Kaf­lisch, der ihr im Vor­über­ge­hen die Hand schüt­tel­te. Sie be­merk­te An­dre­as gar nicht, der voll Ehr­furcht fest­stell­te, dass ihre Toi­let­te, seit sie den gelb­sei­de­nen Man­tel ab­ge­legt, an Prunk noch nichts ver­lo­ren hat­te. Er schau­te ihr vor­sich­tig nach, wie sie in ih­rer alle ein­schüch­tern­den Üp­pig­keit, mit Bril­lan­ten über­sät, am Arm des­sel­ben Herrn da­hin­schritt, mit dem er sie über­rascht hat­te. Es war ein ge­schnie­gel­ter jun­ger Mann, mit bart­lo­sem, doch her­aus­for­dern­dem Ge­sicht, breit­schult­rig, be­leibt und von der Hal­tung ei­nes Korps­stu­den­ten.

»Also Liz­zi ist auch da!«

An­dre­as be­müh­te sich, recht harm­los zu spre­chen. Die Be­geg­nung mit die­ser Frau, die ei­ner be­lei­dig­ten Her­zo­gin glich, hat­te ihn völ­lig er­nüch­tert. Auch sah ihr Beglei­ter ge­fähr­lich aus.

»Na, sie ge­hört hier ja zum In­ven­tar«, setz­te An­dre­as hin­zu. Kaf­lisch grins­te.

»So­lan­ge es dau­ert, heißt das. Türk­hei­mer soll sie satt ha­ben. Ko­misch, ge­ra­de jetzt, wo sei­ne Frau den Edel­berg los ist, wis­sen­se?«

»Hab’ ich auch ge­hört«, log An­dre­as, der sich vor­nahm, ohne wei­te­res al­les zu be­grei­fen.

»Es ist aber nicht schön von Liz­zi«, sag­te er ver­trau­lich, »was ich vor­hin zwi­schen ihr und dem jun­gen Mann ge­se­hen habe, mit dem sie eben vor­bei­kam.«

Kaf­lisch horch­te auf.

»Mit dem, der so staats­er­hal­tend aus­sieht?« frag­te er. »Nun, was mach­ten sie denn?«

»Sie küss­ten sich.«

»Mehr nicht?«

Kaf­lisch war ent­täuscht. An­dre­as such­te sich zu ent­schul­di­gen.

»Na, hier im Hau­se –« mein­te er.

»Un­sinn. Die­de­rich Klemp­ner ist ja ihr Schoß­hünd­chen. So’n Pos­ten soll­ten Sie sich auch su­chen, mein Lie­ber. Klemp­ner ist ein Stre­ber, aber ohne Liz­zi wäre er nichts ge­wor­den.«

»Was ist er denn?« frag­te An­dre­as.

»Das wis­sen Sie nicht? Dra­ma­ti­ker doch!«

»Klemp­ner? Ich habe ihn nie auf dem Thea­ter­zet­tel ge­se­hen.«

»Die lie­be Un­schuld! Ist ja gar nicht nö­tig, er schreibt nie was, aber Dra­ma­ti­ker ist er doch.«

»Wie­so?« frag­te An­dre­as ziem­lich kurz. Er fand den Aus­druck »Die lie­be Un­schuld« et­was zu her­ab­las­send. Kaf­lisch er­läu­ter­te:

»Wenn er was schrei­ben wür­de, dann wür­de es viel­leicht ein Dra­ma wer­den. Ver­stehn­se mich?«

Sie be­tra­ten jetzt den ers­ten der drei großen Sa­lons, in de­ren Tie­fe man hin­einsah. Er war blass­grün, der zwei­te pur­pur­rot und der drit­te bleu mou­rant1 und Ro­ko­ko. Eine er­staun­li­che Men­schen­men­ge er­schwer­te das Wei­ter­kom­men, aber Kaf­lisch be­saß das Ta­lent, über­all Platz zu fin­den. An­dre­as wun­der­te sich über die Men­ge von Hän­de­drücken, die er rechts und links aus­teil­te. Er schob die Leu­te mit ei­nem freund­schaft­li­chen Scherz bei­sei­te und wand sich hin­durch.

Man hör­te schon von Wei­tem eine Grup­pe von Her­ren strei­ten, die Bör­sen­be­su­cher sein muss­ten, denn sie spra­chen von ei­nem Herrn Schme­er­bauch, der die Ge­wohn­heit hat­te, je­den Tag mit ei­ner neu­en Hose zur Bör­se zu kom­men. Heu­te hat­te er eine schon be­kann­te an­ge­habt, was al­ler­lei Zwei­fel er­reg­te. Man rief einen un­ter­setz­ten, be­hä­bi­gen Herrn an, der mit ei­ner schlan­ken jun­gen Blon­di­ne vor­über­ging.

»Blosch! Wis­sen Sie was über Schme­er­bauch?«

»Ist ja al­les nicht wahr!« sag­te Blosch phleg­ma­tisch.

»Das mit der Hose?« frag­te je­mand.

»Ein An­fall von Me­lan­cho­lie«, ver­setz­te Blosch. »Schme­er­bauch hat eine un­glück­li­che Lie­be.«

Schme­er­bauchs Kre­dit war wie­der her­ge­stellt.

»Der Glück­li­che!« seufz­te ein schlan­ker jun­ger Mann mit fei­nem schwar­zen Schnurr­bart und man­del­för­mi­gen dunklen Samtau­gen, de­nen ge­wiss noch kei­ne wi­der­stan­den hat­te.

»Duschnitz­ki, wenn Sie re­nom­mie­ren, möch­te man Sie prü­geln, so dumm se­hen Sie aus«, sag­te ein an­de­rer. Duschnitz­ki ent­geg­ne­te sanft:

»Süß! Die lie­be Un­schuld!«

»Schon wie­der die lie­be Un­schuld«, be­merk­te An­dre­as für sich.

»Da ist ja Kaf­lisch!« rie­fen die an­de­ren.

»Kaf­lisch, wis­sen Sie was von ›Ra­che!‹?«

»Durch!« ant­wor­te­te der Jour­na­list. »Türk­hei­mer hat es durch sei­nen Schwie­ger­sohn in spe beim Po­li­zei­prä­si­den­ten durch­ge­setzt.«

»Ja, wenn man einen Schwie­ger­sohn im Mi­nis­te­ri­um hat. Hochs­tet­ten ist doch Ge­hei­mer Rat?«

»Und nicht zu sei­nem Ver­gnü­gen. Vor­läu­fig muss er Türk­hei­mer einen Or­den ver­schaf­fen. Man weiß nicht wel­chen, aber ir­gend­ei­ner soll im Hei­rats­kon­trakt in­be­grif­fen sein. Der Son­nen­or­den von Pu­er­to Vergo­gna tut es nicht mehr. Und dann muss er ›Ra­che!‹ auf­füh­ren las­sen.«

»Ganz und gar?«

»Mit lum­pi­gen Än­de­run­gen«, er­klär­te Kaf­lisch. »Der Bar­ri­ka­den­kampf, die Er­mor­dung des Ver­wal­tungs­rats durch die em­pör­ten Pro­le­ta­ri­er, die Aus­peit­schung der Ban­kiers­frau auf of­fe­ner Stra­ße, al­les darf blei­ben. Bloß das biss­chen Kir­chen­schän­dung und die Be­nut­zung der ge­weih­ten Ge­fäße zu un­sau­be­ren Zwe­cken muss weg.«

»Zu­stand!«

»Frech­heit!«

Man rief durch­ein­an­der.

»Darf man nur uns auf der Büh­ne ver­ge­wal­ti­gen und die Pfaf­fen nicht? Was ha­ben die vor uns vor­aus?«

»Die Re­li­gi­on ist doch eine Sa­che für sich«, sag­te die schlan­ke jun­ge Frau, die mit Blosch ge­kom­men war. Ei­ner der Her­ren be­merk­te:

»Die lie­be Un­schuld!«

An­dre­as wun­der­te sich nicht mehr, dass man ihn selbst mit dem Aus­druck an­re­de­te, da er auch ei­ner Dame an den Kopf ge­wor­fen wur­de. Üb­ri­gens kehr­te das Wort im­mer wie­der. Je­der, der nur zwei Sät­ze sprach, war es sich schul­dig, es zu ge­brau­chen. In­des fühl­te An­dre­as die Ver­pflich­tung, für die jun­ge Frau Par­tei zu neh­men. Auch fürch­te­te er al­bern da­zu­ste­hen, wenn er noch län­ger schwieg.

»Die gnä­di­ge Frau hat recht«, sag­te er mit Ent­schie­den­heit. »Die Re­li­gi­on muss aus dem Spiel blei­ben.«

»Kann sein«, mein­te ei­ner zö­gernd, aber Duschnitz­ki er­griff eif­rig die um­schla­gen­de Stim­mung.

»So ist es. Sie ha­ben recht, gnä­di­ge Frau, und Sie, Herr, Herr –«

»An­dre­as Zum­see«, sag­te An­dre­as.

»Schrift­stel­ler«, setz­te Kaf­lisch hin­zu. Duschnitz­ki fuhr fort:

»Heut­zu­ta­ge, bei den Zu­stän­den kann man al­les ver­ul­ken und mit Fü­ßen tre­ten, die Ehre des Bür­ger­tums –«

»Und un­ser ruhm­rei­ches Heer!« rief Süß.

»Die al­ler­höchs­ten Per­so­nen!« mein­te ein an­de­rer.

»Den Ruf ei­ner Frau!« der nächs­te.

»So­gar die Bör­se«, schlug lei­se ei­ner vor.

»Aber den lie­ben Gott!« sag­te Duschnitz­ki nach­drück­lich. »Das geht nicht!«

»Das muss die Po­li­zei ver­bie­ten!« schrie Süß. »Es er­regt Är­ger­nis!«

»Und es ist ge­schmack­los«, setz­te Duschnitz­ki ge­ring­schät­zig hin­zu.

»Stimmt!« ver­setz­te Kaf­lisch un­ter all­ge­mei­nem Bei­fall. »Wir ha­ben das über­wun­den! Man muss schon ’n biss­chen ver­al­ter­ter Wür­den­greis sein wie der große Mann da hin­ten.«

Die Ge­sell­schaft be­gann zu la­chen. An­dre­as, der den Bli­cken der an­de­ren folg­te, be­merk­te am Ein­gang zum zwei­ten Sa­lon einen lan­gen Greis mit klei­nem, lä­cheln­den Vo­gel­kopf. Ein we­nig Flaum tanz­te auf sei­nem kah­len Schä­del. Er re­de­te em­pha­tisch auf einen großen Kreis von Da­men und Her­ren ein, aus dem er hoch auf­rag­te. An­dre­as er­hasch­te ab­ge­ris­se­ne Wor­te: »Dunkle Ge­stal­ten er­he­ben heu­te wie­der ihr Haupt …« Er mein­te, den Greis schon ge­se­hen zu ha­ben.

»Ist das nicht Wal­de­mar Wen­ni­chen?« frag­te er Kaf­lisch.

»Na­tür­lich! Sie ken­nen doch un­se­ren großen Dich­ter. Wol­len wir uns dem Krei­se sei­ner Ver­eh­rer an­schlie­ßen?«

Kaf­lisch such­te An­dre­as los­zu­wer­den. Er hat­te ge­hofft, der jun­ge Mann wer­de zu la­chen ge­ben, was für ihn, sei­nen Men­tor, schmei­chel­haft ge­we­sen wäre. Da An­dre­as au­gen­blick­lich so­gar Bei­fall ge­ern­tet hat­te, lang­weil­te er Kaf­lisch.

Der Neu­ling, auf­merk­sam und be­flis­sen, nach Dok­tor Be­die­ners Wei­sung von dem hier herr­schen­den gu­ten Ton zu pro­fi­tie­ren, merk­te sich, dass man mit Auf­klä­rung nicht prah­len durf­te. Wäh­rend sie ih­ren Weg fort­setz­ten, er­kun­dig­te er sich bei dem Jour­na­lis­ten, wer jene schlan­ke jun­ge Frau ge­we­sen sei. Kaf­lisch er­klär­te so­gleich:

»Die wird nicht ge­reicht. Es ist Frau Blosch. Las­sen Sie sich Ihre Ge­schich­te mal er­zäh­len, zum Bei­spiel von Die­de­rich Klemp­ner, der ver­steht es als Dra­ma­ti­ker.«

Sie tra­ten an die Wen­ni­chen­sche Grup­pe her­an.

»Sei­en Sie mir ge­grüßt, mein Lieb­ling!« re­de­te Kaf­lisch einen erns­ten Herrn mit ta­del­lo­sem Frack und schwar­zem Voll­bart an.

»Darf ich die Her­ren be­kannt ma­chen?« setz­te er has­tig hin­zu. »Herr Schrift­stel­ler An­dre­as Zum­see, Herr Lieb­ling, Zio­nist.«