Im Wahn des Herrn - Horst (-ky) Bosetzky - E-Book

Im Wahn des Herrn E-Book

Horst (-ky) Bosetzky

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Beschreibung

Kommissar Schneeganß feiert gerade sein 10-jähriges Jubiläum bei der Berliner Mordkommission, als ihn die Meldung eines Leichenfundes am Innsbrucker Platz erreicht. Bei der Begutachtung des Fundortes stellen die Kommissare fest, dass die Leiche offensichtlich schon vor einiger Zeit dort abgelegt wurde. Auch Ex-Kommissar Mannhardt und sein Enkel Orlando werden hinzugezogen. Währenddessen geben ein folgenschwerer Fahrradunfall und eine entführte Frau weitere Rätsel auf, bis ein Abschiedsbrief Licht ins Dunkel bringt …

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Horst Bosetzky

Im Wahn des Herrn

Kriminalroman

Zum Buch

Weltretter Kommissar Schneeganß feiert sein 10-jähriges Jubiläum bei der Berliner Mordkommission. Neben seiner Kollegin Jessica Schamp kommt auch sein Vorgänger Mannhardt vorbei, um ihm zu gratulieren. Zur richtigen Feier am Abend hat er Mannhardt aus gutem Grund nicht eingeladen. Die Feierlichkeiten werden jäh unterbrochen, als Schneeganß die Meldung eines Leichenfundes am Innsbrucker Platz erreicht. Bei der Begutachtung des Fundortes stellen die Kommissare fest, dass die Leiche offensichtlich schon vor einiger Zeit dort abgelegt wurde. Währenddessen wird der 4-jährige Mario Rohokowski bei einem Fahrradunfall schwer verletzt. Vom Gerichtsmediziner erfahren Schneeganß und Schamp, dass dem Toten vom Innsbrucker Platz der linke Daumen fehlt. Gemeinsam durchforsten sie die Vermisstenkartei – mit Erfolg – und in ihnen reift ein unglaublicher Verdacht: Existiert etwa eine Verbindung zwischen dem Leichenfund und dem verunglückten Jungen? Eine entführte Frau gibt Schneeganß weitere Rätsel auf, bis ein Abschiedsbrief Licht ins Dunkel bringt …

Dr. Horst Bosetzky (ky) wurde 1938 in Berlin geboren. Der emeritierte Professor für Soziologie veröffentlichte neben etlichen belletristischen und wissenschaftlichen Arbeiten zahlreiche, zum Teil verfilmte und preisgekrönte Kriminalromane. 1992 erhielt der Altmeister des neuen deutschen Krimis den Ehren-Glauser des SYNDIKATS für das Gesamtwerk und die Verdienste um den deutschsprachigen Kriminalroman. 2005 wurde ihm der Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland verliehen. Zehn Jahre lang war Horst Bosetzky Sprecher des SYNDIKATS und Gründungsmitglied von QUO VADIS. Der Autor verstarb im September 2018 in Berlin. Neueste Veröffentlichungen: »Teufelssee« (2017), »Die Gebrüder Sass – geliebte Genoven« (2017), »Abgerechnet wird zum Schluss« (2018) und »Selbst ist der Mörder« (2018). Besuchen Sie: www.horstbosetzky.de

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Selbst ist der Mörder (2018)

Abgerechnet wird zum Schluss (2018)

Die Brüder Sass – Geliebte Ganoven (2017)

Teufelssee (2017)

Eingebunkert (2016)

Witwenverbrennung (2015)

Fahnenflucht (2013)

Der Fall des Dichters (2012)

Nichts ist so fein gesponnen (2011)

Promijagd (2010)

Unterm Kirschbaum (2009)

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2019

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © thign / fotolia.com

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-6034-0

Zitat

Die meisten Menschen sind unfähig, in einer Welt zu leben, in der der absonderlichste Gedanke jeden Augenblick Wirklichkeit werden kann.

Albert Camus

EINS

Gunnar Schneeganß, Erster Kriminalhauptkommissar (EKHK) in einer der vielen Berliner Mordkommissionen, hatte am frühen Morgen die »Berliner Zeitung« (»BZ«) vom 15. Juni 2017 vor sich zu liegen, wo ein Journalist mit Namen Axel Lier harte Kritik am LKA übte.

Das Landeskriminalamt kümmert sich um die schweren Berliner Kriminalfälle, doch es kommt mit den zahlreichen Ermittlungsverfahren nicht mehr hinterher. Die GDP warnt – und attackiert mit scharfen Worten den Senat.

Sie kommen nicht mehr hinterher! Im vergangenen Jahr wurden mehr als 41.000 Ermittlungsverfahren beim Landeskriminalamt (LKA) nicht bearbeitet. Die Beamten mussten mehr als 80.000 sogenannte Liegevermerke schreiben, die Ermittlungsverfahren ruhten demnach mitunter mehrmals.

Weiter untenkonnte Schneeganß dann lesen, dass es in seiner LKA-Abteilung 1 (Delikte am Menschen) 4.265 Liegevermerke geben sollte. Akten hätten die »Lizenz zum Liegen«. Das brachte ihn dazu, »wenn die das können, kann ich das auch« zu murmeln, sich auf vier aneinandergereihten Stühlen auszustrecken und ein wenig Schlaf nachzuholen.

Er schreckte erst hoch, als seine liebe Kollegin Jessica Schamp erschien und mit Mund und Zunge ein Schussgeräusch nachahmte. Etwas flog auf ihn zu. Im letzten Augenblick erkannte er, dass es ein Blumenstrauß war. Geschickt wie Manuel Neuer, fing er ihn gerade eben noch.

»Hast du dich nun doch in mich verliebt?«, kam die Frage, als er aufgesprungen war. Das sollte witzig sein, denn sie war voll und ganz lesbisch.

Jessica Schamp überhörte es. »Nein, Mensch, weißt du denn gar nicht, was heute für’n Tag ist?«

»Klar: Montag.«

»Nicht nur das, sondern auch der Tag, an dem du vor zehn Jahren unsere Mordkommission von Mannhardt übernommen hast. Gratuliere! Auf die nächsten zehn Jahre!« Damit umarmte sie ihn.

Schneeganß bedankte sich. »Du, ich hab den Tag nicht vergessen und uns ab 20 Uhr auch ein paar Plätze nebenan im Restaurant Rienäcker reserviert.«

»Ah, Rienäcker!«, rief Jessica Schamp. »Kommt denn Bodo auch?«

Er konnte ihr nicht folgen. »Welcher Bodo?«

Sie lachte. »Na, der von Theodor Fontane, der Offizier Botho von Rienäcker, der die Schneidermamsell Lene liebt, die hier gleich am Zoo zu Hause ist. ›Irrungen, Wirrungen‹.Die Standesgrenzen verhindern, dass sie heiraten. Es endet also tragisch.«

»Was ich in meinem Falle gern verhindern würde.« Schneeganß suchte nach einer Vase für seine Blumen.

In der nächsten Stunde kamen zwei Dutzend Kolleginnen und Kollegen zu ihm ins Büro, um ihm zum zehnjährigen Dienstjubiläum zu gratulieren. Dann tauchte auch Hansjürgen Mannhardt auf und umarmte ihn.

»Es ist mir eine Ehre, meinen Nachfolger im Amte beglückwünschen zu dürfen. Wachse, blühe und gedeihe, lieber Gunnar! Äh: Lieber Kollege Schneeganß.«

Man war sich nicht ganz grün. Mannhardt hatte noch immer nicht ganz verdaut, dass man ihn in den Ruhestand geschickt und Schneeganß zu seinem Nachfolger gemacht hatte. Er hielt den jungen Kollegen für einen leicht rechtslastigen arroganten Schnösel, während Schneeganß seinerseits über Mannhardt spottete, der sei einer von den typischen Sozialdemokraten, über die schon Lenin gesagt habe, dass sie sich bei einer Revolution erst eine Bahnsteigkarte lösen würden, bevor sie einen Zug stürmten. Natürlich ärgerte er sich darüber, dass es Mannhardt zusammen mit seinem Enkel sozusagen als Privatdetektiv gelungen war, einige Fälle zu lösen, an denen er sich die Zähne ausgebissen hatte. Mal duzte man sich, ein andermal sagte man Sie zueinander. Natürlich hatte er Mannhardt nicht zu seiner abendlichen Feier eingeladen.

Nun erschien ein Kriminaldirektor, um Schneeganß und alle anderen mit ein paar Worten zu erfreuen.

»Wir haben ja in der Abteilung 1 des Landeskriminalamtes Berlin etwa 260 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, und einer, der ein besonders hohes Maß an Professionalität, Menschlichkeit und Einfühlungsvermögen aufweist, ist unser lieber und verehrter Kollege Gunnar Schneeganß. Ich bin glücklich darüber, dass er nun schon zehn Jahre bei uns ist, und sage ihm herzlich Dank für all das, was er bisher für uns und das ganze Bundesland Berlin geleistet hat.« Alle Anwesenden klatschten Beifall, und es dauerte ein Weilchen, bis er fortfahren konnte. »Ich hoffe und sage es im Namen aller – nicht: Allahs –, dass er uns noch viele lange Jahre erhalten bleibe, obwohl die tägliche Arbeit hier oft psychisch sehr belastend ist, gehören doch Delikte am Menschen zu den abgründigsten Straftaten.«

Als alle wieder gegangen waren und sich Jessica Schamp zu einem kleinen Spaziergang durch das Dienstgebäude aufgemacht hatte, setzte sich Gunnar Schneeganß an seinen Schreibtisch, schloss die Augen und ließ sein Leben noch einmal an sich vorbeiziehen. Dass er einmal Erster Kriminalhauptkommissar sein würde, hatte er sich als Junge in seinen kühnsten Träumen nicht erhoffen können. Er kam aus einer total zerrütteten Familie. Sein Vater war Alkoholiker, andauernd arbeitslos und schlug, wenn ihn die große Wut überkam, auf alles ein, was in seiner Nähe war. Die Mutter hatte immer wieder in ein Frauenhaus flüchten müssen, mal mit ihm, mal ohne ihn, wenn ihn die Leute vom Jugendamt gerade in ein Heim gesteckt hatten. Zudem hatte er es in seinem Schöneberger Kiez als Deutscher ungemein schwer gehabt, zu groß war die Dominanz von Klassenkameraden mit Migrationshintergrund. Aber er hatte es geschafft, sich durchzuboxen, und war nach Abschluss der Hauptschule von der Schutzpolizei genommen worden, denn sein IQ lag weit über dem Durchschnitt, seine Allgemeinbildung war besser als die vieler Abiturienten und sportlich war er ein Ass. In allen seinen Stationen war er glänzend beurteilt worden, hatte sich von Besoldungsgruppe zu Besoldungsgruppe hochgearbeitet und sich durch seine Mitgliedschaft in der Polizeigewerkschaft und der SPD ein ansehnliches Netzwerk aufgebaut, so dass man ihn schließlich, nachdem er an der Abendschule das Abitur gemacht hatte, als Kommissarsanwärter zum Studium an die damalige Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege geschickt hatte. Nach drei Jahren hatte er es als Jahrgangsbester geschafft, war Beamter des gehobenen Dienstes geworden, bei der Kripo gelandet und langsam, aber sicher aufgestiegen.

Wieder war es Jessica Schamp, die ihn hochschrecken ließ. »Du, wir müssen los. Leichenfund am Innsbrucker Platz.«

Schneeganß schnellte hoch. »Innsbrucker Platz … Das wird in der U-Bahn sein, U4, Nollendorfplatz – Innsbrucker Platz.«

»Du als geborener Schöneberger musst das ja wissen, ich als alte Ost-Berlinerin müsste erst auf dem Stadtplan nachgucken. Steigen wir also hier bei uns um die Ecke, Nollendorfplatz, in die U-Bahn, dann sind wir schneller da als mit dem Auto und gleich am Tatort.«

Schneeganß tippte sich an die Stirn. »Denkste! Da wird doch wegen eines Polizeieinsatzes, wie es immer heißt, wenn kein Zug kommt, alles abgesperrt sein und nichts mehr fahren.«

Also mussten sie versuchen, einen Dienstwagen zu ergattern. Das klappte auch, und sie machten sich auf den Weg. Immer geradeaus die Martin-Luther-Straße runter, dachte Schneeganß vorausschauend. Das dürften kaum mehr als drei Kilometer sein.

Sie parkten ihren Wagen am nördlichen Eingang des Bahnhofs und wunderten sich, dass hier noch kein weiß-rotes Absperrband flatterte und kein Kollege der Schutzpolizei sie am Weitergehen hindern wollte. Als sie unten auf dem Mittelbahnsteig standen, der mit seinen rotbraunen Keramikfliesen und den in Fraktur weiß auf schwarzem Grund gehaltenen Stationsschildern an das Berlin der Kaiserzeit denken ließ, war hier alles ganz normaler Alltag, keine Spur von all den Leuten, die bei einem Leichenfund das durchführten, was im Fachjargon der »erste Angriff« hieß.

»Die können doch nicht schon fertig sein«, brachte Schneeganß hervor.

Jessica Schamp lachte. »Soweit ich weiß, gibt es ja auch noch einen S-Bahnhof Innsbrucker Platz. Vielleicht liegt das Mordopfer dort.«

Schneeganß übte sich in Selbstkritik. »Kann sein, dass das mit dem Bahnhof bei mir eine unprofessionelle Assoziation war. Ich ruf mal lieber bei uns an.« Damit zog er sein Handy heraus und wählte die Nummer des Koordinators aller Berliner Mordkommissionen. »Du, wo ist denn der Fundort der Leiche nun ganz genau?«

»Auf der Friedenauer Höhe.«

Schneeganß war noch stärker verwirrt. »Friedenauer Höhe …? Nie gehört, obwohl ja Friedenau Teil von Schöneberg ist. Die haben doch gar keine Anhöhe, nicht mal da, wo die Odenwaldstraße langgeht.«

Jessica Schamp hatte inzwischen »Friedenauer Höhe« in ihr Smartphone eingegeben und fasste nun für Schneeganß zusammen, was sie da las. »Auf dem ehemaligen Güterbahnhof Wilmersdorf soll ein neues Stadtquartier entstehen. Auf 65.000 Quadratmetern, parallel zu den S-Bahn-Gleisen und der Stadtautobahn, etwa 940 Wohnungen, plus Hotel und Supermarkt … Na wunderbar: Ein riesiger Schuhkarton, wo jetzt eine freie Fläche mit viel Grün und frischer Luft ist!«

»Und Platz für die Obdachlosen aus Osteuropa und ihre Zelte«, spottete Schneeganß, um dann ernsthafter hinzuzufügen, dass die Menschen, die jedes Jahr neu nach Berlin kommen würden, um hier zu arbeiten und zu studieren, doch irgendwo wohnen müssten. Dann versuchte er, sich an den alten Güterbahnhof zu erinnern. »Der lag südlich der S- und Fernbahngleise zwischen dem Bahnhof Innsbrucker Platz und dem Bahnhof Wilmersdorf, von dem er auch seinen Namen hatte, obgleich er in Schöneberg lag, Ortsteil Friedenau. Als Kind und als Junge bin ich da immer gern vorbeigefahren, weil da viele Wagen und Lokomotiven standen und immer etwas ausgeladen wurde.«

»Ja, auch die Leiche, die sie jetzt gefunden haben«, setzte Jessica ironisch hinzu.

Sie überquerten den Innsbrucker Platz und fuhren unter den Brücken von S-, Fern- und Autobahn hindurch, bis sie gleich rechts dahinter und genau gegenüber der Rubensstraße auf die Baustelle stießen. Hier hatte es einst eine meterhohe Betonmauer gegeben, aber die war nun abgetragen worden und man hatte eine asphaltierte Rampe für alle Baufahrzeuge geschaffen, die auf das Plateau hinaufwollten. Dünenartige Sandberge umgaben sie ebenso wie etliche riesige Haufen von Trümmerschutt. Weit hinten, schon neben den Abstellgleisen der S-Bahn, entdeckten sie die weiß-roten-Absperrbänder und die Wagen ihrer Kollegen vom »ersten Angriff«.

»Das ist ja hier wie früher bei der Rallye Paris-Dakar«, murmelte Schneeganß und hatte Angst, mit seinem alten Opel im Sand steckenzubleiben.

Endlich hatten sie den Tatort erreicht und konnten die Leute von der Spurensicherung begrüßen und sich einen ersten Eindruck verschaffen. Man brachte ihnen den Baggerfahrer, der den Toten gefunden hatte.

»Ick bin der Bernd Brennicke, und ick habe hier die letzten Schienen abräumen sollen, die hier noch uff die Schwellen liejen. Und als ick det Stück da mit mei’m Jreifer packe und hochziehe, da sehe ick, dat da wat liegt: ’n Skelett.«

»Das hat nun sicher die berühmte ›Lizenz zum Liegen‹«, sagte Schneeganß in Erinnerung dessen, was er vorhin über die vielen »Liegevermerke« im LKA gelesen hatte. »Passt ja prima!« Dabei sah er sich schon nach Doktor Christian Viellechner um, dem Herrn Gerichtsmediziner, der bei keinem Leichenfund fehlen durfte. Dass der Mann so hieß, empfand Schneeganß als außerordentlich witzig, denn er hatte kaum einen Menschen kennengelernt, der weniger lächelte. Viellechner war die personifizierte Verbitterungsstörung. Den Grund kannten sie alle: Er hatte seine medizinische Laufbahn als Chirurg begonnen und zu großen Hoffnungen Anlass gegeben. Bis ihm dann mehrere Patienten als Folge gravierender Kunstfehler »auf dem Tisch geblieben« waren und der erboste Klinikchef geschrien hatte: »Viellechner, lassen Sie die Hände von den Lebenden und schneiden Sie nur noch Tote auf!«

Man begrüßte sich, und Jessica Schamp kam sofort und etwas unüberlegt mit der Standardfrage, ob sich denn ohne Obduktion schon etwas sagen ließe.

»Was soll denn eine Obduktion hier bringen!«, fauchte Doktor Viellechner. »Fehlt nur noch, dass Sie mich nach der Todeszeitbestimmung fragen und wie es mit den Totenflecken, Fäulnis und Verwesung, der Fettwachsbildung und dem Madenfraß aussieht.«

Schneeganß bemühte sich, alles zu versachlichen. »Wie sieht es denn mit einer ersten Liegezeitschätzung aus, Herr Doktor?«

»Hm …« Doktor Viellechner ließ sich viel Zeit mit seiner Antwort. »Beim Klima in Berlin können wir davon ausgehen, dass sich das Körpergewebe nach zwei Jahren vollständig zersetzt hat, wobei Haare, Fingernägel und Sehnen länger erhalten bleiben. Nur noch das Knochengerüst des Körpers bleibt übrig. Abgesehen einmal von ein paar Resten der Kleidung.«

»Okay, danke, und wie sieht es mit der Bestimmung von Alter und Geschlecht aus?«, hakte Schneeganß nach.

Doktor Viellechner warf einen Blick auf das Gebiss des Toten. »Dem Schmelzabschliff und der leicht gelblichen Färbung des Zahnbeins nach zu urteilen, so zwischen dreißig und vierzig Jahre, und ein Mann dürfte es auch gewesen sein. Aber Genaueres werden wir erst in einigen Tagen wissen.«

*

Hansjürgen Mannhardt saß zu Hause und »drehte Däumchen«, wie seine Großmutter das genannt hatte. Der Besuch bei Gunnar Schneeganß hatte ihn so erschüttert, dass er zu seinem Enkel Orlando am Telefon gesagt hatte, er bräuchte jetzt »professionelle Hilfe«, wie sie das in der Serie »In aller Freundschaft« immer nannten, wenn einer zum Psychiater musste. Zwar hieß es in der Bibel so schön: »Niemand kennt Tag noch Stunde«, aber dass man weniger Zukunft vor sich hatte, wenn man auf die achtzig zuging, als ein Dreißigjähriger, war sicherlich unbestreitbar. Insofern konnte man den Statistiken und der Wahrscheinlichkeitsrechnung durchaus trauen. »O my God!«, rief Orlandos neue Freundin immer aus, und das tat er jetzt auch, wenn er daran dachte, wie schön es doch gewesen wäre, noch im Dienst zu sein und nicht gegen diesen Vollpfosten von Schneeganß ausgetauscht worden zu sein.

Die Einsamkeit zu Hause wurde immer unerträglicher. Automatisch hatte er die Stimme von Max Raabe im Ohr: »Kein Schwein ruft mich an. / Keine Sau interessiert sich für mich. / Solange ich hier wohn’, / ist es fast wie Hohn, / schweigt das Telefon.« Keiner rief an, wann er denn endlich nach Hause kommen würde. Heike, seine um viele Jahre jüngere Lebensgefährtin, saß beim Deutschlandfunk im alten RIAS-Gebäude am Hans-Rosenthal-Platz und produzierte ein Feature mit dem schönen Titel »Der Segen der Sterbebegleitung«,Silvio, ihr Sohn, war zum Training auf den Fußballplatz geeilt, und Orlando, sein Enkel, hockte bei sich zu Hause und büffelte für das Zweite Staatsexamen. Nach einigen Ausflügen in die Privatwirtschaft war der doch wieder zur Juristerei zurückgekehrt.

Mannhardt wanderte ziellos in ihrer Dreieinhalb-Zimmer-Wohnung umher und sah auf Silvios kleinem Schreibtisch ein kleines hellgelbes Reclam-Heftchen liegen: »Klassische Texte der Philosophie – Ein Lesebuch«. Oha! Beim Durchblättern stieß er eher zufällig auf einen Text von Epikur: »Keine Angst vor dem Tod, die Lust als Ziel«. Sofort schlug er die Seite 32 auf und begann zu lesen:

Gewöhne dich ferner daran zu glauben, der Tod sei nichts, was uns betrifft. Denn alles Gute und Schlimme ist nur in der Empfindung gegeben; der Tod aber ist die Vernichtung der Empfindung. Daher macht die richtige Erkenntnis – der Tod sei nichts, was uns betrifft – die Sterblichkeit des Lebens erst genußfähig, weil sie nicht eine unendliche Zeit hinzufügt, sondern die Sehnsucht nach der Unsterblichkeit von uns nimmt. Denn es gibt nichts Schrecklicheres im Leben für den, der im vollen Sinne erfaßt hat, daß nichts Schreckliches im Nicht-Leben liegt.

In diesem Augenblick sehnte sich Mannhardt so sehr nach diesem Nicht-Leben, dass er sekundenlang mit dem Gedanken spielte, aus dem Fenster hinunter in den Tod zu springen oder zum U-Bahnhof Alt-Tegel zu laufen und sich vor den einfahrenden Zug zu werfen.

Nein, das konnte er den Seinen nie und nimmer antun!

Nun aber fühlte er sich noch um einige Grade elender als vor Epikurs Erkenntnissen. Er verspürte den Impuls, mit dem Kopf gegen die Wand zu laufen, umzufallen und erst im Krankenhaus wieder aufzuwachen.

»Positiv denken!«, befahl er sich, so wie es ihm Heike immer wieder eingetrichtert hatte. Er hatte ihre Dialoge zu diesem Thema ständig im Ohr.

Sie: »Stelle dir etwas Schönes vor, das du noch erleben willst, oder versuche dich an etwas Schönes zu erinnern.«

Er: »Das ist für einen pensionierten Kriminalbeamten doch etwas zu viel verlangt. Ich sehe die Ermordeten in ihrer Blutlache vor mir liegen, ich habe die Bilder vor Augen, wie Mörder, die ich festnehmen will, auf mich schießen.«

Sie: »Denke an die euphorischen Gefühle, wenn ihr wieder einmal einen Fall gelöst habt. Früher mit deinen Kollegen, jetzt mit Orlando.«

Er: »Der schönste Fall ist für mich der Fall der Mauer.«

Sie: »Dir ist nicht mehr zu helfen!«

Mannhardt suchte sich mit der alten Weisheit seiner Großmutter zu helfen: »Glück ist die Summe des Unglücks, dem wir entgangen sind.« Er könnte mit einem Schlaganfall oder Lungenkrebs im Krankenhaus liegen, er könnte kein Geld haben, um sich etwas zu essen zu kaufen, und gezwungen sein, zur Berliner Tafel zu laufen, er könnte obdachlos sein, dazu verdammt, im Tiergarten zu schlafen.

Nun schlief er wirklich ein …

… und erwachte erst, als Heike nach Hause kam und ihn fragte, wie es denn bei Schneeganß gewesen sei.

Mannhardt richtete sich auf. »Wie soll’s schon gewesen sein? Zur kleinen Feier abends hat er mich jedenfalls nicht eingeladen.«

»Hast du Glück gehabt, denn wir sind doch bei Orlando eingeladen. Seine neue Flamme will für uns kochen. Hättest du Schneeganß abgesagt, wäre er nur verstimmt gewesen. Sei also froh darüber, dass er dich nicht eingeladen hat.«

Er lachte. »Man merkt dir an, dass du eine Sendung über die Theorie des Scheiterns gemacht hast. Wer bei den Olympischen Spielen schon im Vorlauf ausgeschieden ist, der hat es gut, der kann sich jetzt um sein Studium und seine Familie kümmern, und der arme Sieger wird überall herumgereicht, muss für seinen Sponsor allen möglichen Mist machen und ist für sein ganzes kommendes Leben unglücklich, weil er seinen Höhepunkt schon hatte und er nur noch mit Hildegard Knef singen kann: ›Von nun an ging’s bergab …‹«

Gegen diese Logik kam sie nicht an und verschwand im Bad, um sich für den Abend frisch zu machen.

Es klingelte an der Tür, und Mannhardt eilte hin, um aufzumachen. Sicherlich wieder einer der Nachbarn, für die er ein Paket angenommen hatte, fluchend wie immer. Dieser scheiß Onlinehandel! Seine Nachbarn waren zu faul, in den Laden oder ins Kaufhaus zu gehen, und ihn rissen die Paketboten aus dem Mittagsschlaf.

Aber draußen stand kein Nachbar, sondern sein Enkel. »Orlando, du …?«

»Nein, mein Double. Ich selber musste noch im Kriminalgericht bleiben, weil der Richter den Prozess unbedingt zu Ende bringen wollte. Das bringt mein Referendariat so mit sich.«

»Okay, aber Sarah wollte doch für uns kochen …?«

Orlando nickte. »Ja, schon, aber die musste zu einer plötzlich einberufenen Elternversammlung, und da ich nicht allein zu Hause hocken wollte, dachte ich mir, ich besuche doch meinen alten Opa und repariere ihm den Rollator.«

»Danke, danke! Dein Humor ist köstlich.«

»Besser Humor als Tumor.«

»… und Rumor«, ergänzte Mannhardt.

Orlando staunte. »Rumor …? Was is’n das?«

»Ein veralteter Ausdruck für Lärm und Unruhe«, belehrte Mannhardt ihn.

Orlando lachte. »Na, hoffentlich rumort es nicht in meinen Gedärmen, wenn wir nachher zu eurem Lieblings-Thai gehen.«

Das war dann nicht der Fall, und »es mundete allen trefflich«, wie Mannhardt es mit den Worten seiner Vorfahren ausdrückte.

Heike sah ihn an. »Endlich kann ich mal ein Lächeln auf deinem Gesicht entdecken. Aber du müsstest erst einmal sehen, Orlando, wie er strahlt, wenn ein neues Mordopfer angefallen ist und ihr den Fall aufklären könnt.«

Orlando trank den Rest seines alkoholfreien Bieres aus und begann mit einer so langatmigen Reflexion, als stünde er in einem Hörsaal. »Alle von der Mordkommission und wir sozusagen ehrenamtlichen Ermittler sollten allen Mörderinnen und Mördern dankbar dafür sein, dass sie aktiv geworden sind, denn sonst wären wir alle arbeitslos beziehungsweise sähen keinen Sinn in unserem Leben. Es lebe also das ›sogenannte Böse‹, wie Konrad Lorenz es genannt hat. Und was hat Friedrich Hebbel geschrieben: ›Der Mensch ist eine Bestie‹. Wir sollten also in die JVA Tegel gehen und allen etwas schenken, die wegen Mordes verurteilt worden sind. Goethe hat schon recht, wenn er Mephisto sagen lässt, er sei ›ein Teil von jener Kraft, / Die stets das Böse will und stets das Gute schafft‹.«

ZWEI

Mia Anders sah tadelnd zu Marius Uetze hinüber. »Du warst heute Nachmittag im Schnitt alle 23,5 Minuten auf der Toilette. Das deutet eindeutig auf Zucker hin – Diabetes Typ 2. Polyurie.«

Er reagierte gereizt. »Entschuldige, ich habe keinen Zucker. Ich habe mir gestern beim Baden draußen im Tegeler See die Blase verkühlt. Wassertemperatur 15 Grad!«

Sie wurde energisch. »Du gehst zum Arzt!«

»Okay«, kam es knurrend von Marius Uetze.

Diese Reaktion ließ Mia Anders erst recht energisch werden. »Und dann stehst du aber wirklich Punkt 6 Uhr auf. Hier ist die Liste mit dem Ablauf: Von 6.01 Uhr bis 6.21 Uhr bist du im Bad, von 6.22 Uhr bis 6.30 Uhr kochst du Kaffee und bereitest das Frühstück zu. Von 6.30 Uhr bis 7.15 Uhr frühstücken wir. Von 7.15 Uhr bis 7.29 Uhr machen wir uns fertig. Punkt 7.30 Uhr fahren wir los in die Firma. Hast du dir das alles eingeprägt?«

Marius Uetze hatte sich unwillkürlich geduckt. »Ja, habe ich.«

Mia Anders richtete sich auf. »Sag mal, sehe ich richtig? Auf welchem Kissen sitzt du denn da?«

Marius Uetze zog es unter seinem Allerwertesten hervor. »Na, auf diesem hier.«

Mia Anders war nun auf hundert. »Gott, das ist ein Erbstück von meiner Mutter! Das hat sie als junges Mädchen in der Handarbeitsstunde genäht und bestickt. Und jetzt sitzt du mit deinem breiten Hintern drauf – du mit deinen dauernden Blähungen! Das ist eine Schändung!«

Er gab sich schuldbewusst. »Tut mir leid, aber ich habe wirklich nicht …«

Mia Anders sprang auf, riss das Kissen an sich, roch daran und schrie: »Doch hast du gefurzt. Weißt du nicht, wozu dieses Kissen gedacht ist?«

Nun rastete Marius Uetze völlig aus. »Doch, das weiß ich: Dazu!«

Er presste ihr das Kissen aufs Gesicht. Sie wehrte sich. Er ließ aber nicht mehr von ihr ab, drückte mit dem Kissen so lange zu, bis sie sich nicht mehr rührte.

»Mia, Marius – Schluss, aus, wunderbar!«, rief Martin Nehmer, der das kleine Stück für die Jugendlichen der SBK geschrieben hatte und auch Regie führte. »Lest einmal bei Wilhelm Busch nach, wie das wirklich gewesen ist bei Tobias Knopp, der seinen alten Freund Sauerbrot besucht. Heißa!! – rufet Sauerbrot – Heißa! meine Frau ist tot!! Hier in diesem Seitenzimmer / Ruhet sie bei Kerzenschimmer.«

Nun kam auch Leon Schlieben, der Leiter des Vereins SBK, auf die Bühne, bedankte sich bei Martin Nehmer (»Theaterspielen ist die beste Therapie!«) und umarmte die beiden Hauptdarsteller, insbesondere aber Marius, den er lange Zeit für ein verlorenes Schaf gehalten hatte.

Dass eine kriminelle Karriere besser sei als keine, hatte sich auch Marius Uetze gedacht und alle Stadien durchlaufen, die zu einer solchen gehörten, bis er dann mit 19 Jahren in der SBK gelandet war, einer in der Neuköllner Weisestraße ansässigen Hilfsorganisation, die sich der Rettung gestrandeter Jugendlicher verschrieben hatte. SBK stand für »Safe Berlin Kids«.

Nach den ersten Gesprächen mit Marius Uetze hatte Leon Schlieben in den Akten vermerkt:

Ist in der Allerstraße unter schwierigen Lebensverhältnissen aufgewachsen. Starke soziale Benachteiligung. Vater war Alkoholiker, Mutter ist der Prostitution nachgegangen, Bruder drogenabhängig und mehrfach wegen Diebstahls und Drogenhandels in Haft. Unregelmäßiger Schulbesuch, Abgang ohne Abschluss. Umgang mit ähnlich belasteten Pers., früher Alkohol- und Drogenkonsum, Taschen- und Ladendiebstähle und Überfälle auf Rentner, um an das Geld zu gelangen, das man für Zigaretten, Joints, Alkohol und Mädchen brauchte. Auffällig oft in Schlägereien und Messerstechereien verwickelt. Hatte Spaß daran. Erste Haftstrafe, weil er einen anderen Jugendlichen krankenhausreif geschlagen hatte. Staatliche Jugendhilfe vergeblich. Offenbar auf Selbstbestrafung aus, denn er sagt, er sei froh gewesen, wenn er auch einmal »etwas auf die Fresse« bekommen habe. Fühlt sich irgendwie schuldig am Scheitern seiner Eltern. »Wäre ich nicht auf die Welt gekommen, dann …«

Mia Anders ging auf Marius Uetze zu, als der aus dem Umkleideraum kam. »Du, das mit dem Arzt im Stück hat mich daran erinnert, dass du bei dem real existierenden Arzt, bei dem du neulich warst, mal wieder nachfragen solltest, wann sie deine Nase endlich richten werden.« Die war ihm bei einer Schlägerei etwas »zermanscht« worden, aber seine Krankenkasse wollte nicht zahlen, da das eine Schönheitsoperation sei.

»Okay …«

*

Heike Hunholz machte sich Sorgen um ihren Lebensgefährten, denn sie hatte in einem kleinen Band mit Gedichten und kurzer Prosa von Theodor Fontane, den Orlando seinem Großvater zum letzten Geburtstag geschenkt hatte, folgendes Gedicht dick angestrichen gefunden:

Heute früh, nach gut durchschlafener Nacht,

Bin ich wieder aufgewacht.

Ich setzte mich an den Frühstückstisch,

Der Kaffee war warm, die Semmel war frisch,

Ich habe die Morgenzeitung gelesen

Es sind wieder Avancements gewesen.

Ich trat ans Fenster, ich sah hinunter,

Es trabte wieder, es klingelte munter,

Eine Schürze beim Schlächter hing über dem Stuhle,

Kleine Mädchen gingen nach der Schule.

Alles war freundlich, alles war nett,

Aber wenn ich weiter geschlafen hätt’

Und tät’von alledem nichts wissen,

Würd’ es mir fehlen? Würde ich’s vermissen?

Als er aus dem Bad kam, sprach sie ihn darauf an. »Was hat dich denn an diesem Gedicht so fasziniert?«

Mannhardt erschrak bei dieser Frage und brauchte ein langgezogenes »Ähhh«, um die richtigen Worte zu finden. »… nun, also … Da steckt ein Gedanke dahinter, der mich sehr verwirrt hat: Wenn ich in dieser Nacht gestorben wäre – wenn ich weitergeschlafen hätt’, also bis in alle Ewigkeit –, dann ginge hier bei uns vor der Haustür das Leben so weiter wie immer, so als wäre nichts geschehen. Keinem würde der Hansjürgen Mannhardt fehlen, keiner würde mich vermissen.«

»Silvio, Orlando und ich würden dich schon vermissen!«, hielt sie ihm entgegen.

»Aber auch du würdest schon am nächsten Tag mit deinen Reportagen weitermachen, Silvio in der Schule sitzen und Orlando im Gerichtssaal«, klagte Mannhardt.

Heike Hunholz lachte auf. »Entschuldige mal, aber dein Tod ist etwas anderes, als wenn ein riesiger Asteroid bei uns einschlagen würde und es heißen müsste: ›The day, when the earth stood still‹.«

Mannhardt versuchte, etwas heiterer zu klingen. »Ich im Jenseits – und das Leben hier: Würd’ es mir fehlen? Würde ich’s vermissen? Vielleicht ist das Nicht-Leben ja schöner als das Leben.«

Heike Hunholz rang die Hände. »Gott, Hansjürgen, du solltest wirklich einmal zu einem Therapeuten gehen.«

»Ja, damit die aus ihrem Schwarzen Loch herauskommen!«

»Nein, du aus deinem! Du musst was zum Arbeiten haben. Setz dich doch hin und schreibe deine spektakulärsten Fälle auf. Schreiben ist die beste Therapie.«

»Zu Befehl, meine Herrin!«

»Ach, mach doch, was du willst!« Heike Hunholz gab es für heute auf, sein Gemüt etwas aufzuhellen. »Ich muss jetzt arbeiten.«

»Was brütest du denn aus?«

»Für den Deutschlandfunk ein Feature über das Taxifahren.«

»Oh!« Mannhardt zeigte plötzlich ein strahlendes Gesicht. »Mit dem ›Taxi nach Leipzig‹ hat ja der große Boom der Krimi-Branche begonnen: Das war der erste ›Tatort‹, November 1970, nach einem Roman von Friedhelm Werremeier. Mensch, war ich da noch jung!«

Auch Heike Hunholz suchte sich zu erinnern. »Ich kenne nur Senta Berger als Taxifahrerin, wie sie als ›Schnelle Gerdi‹unterwegs ist. Und ich werde in fünf Minuten auch mit einem Taxi von hier abgeholt.«

»Hast du eins vorbestellt?«

»Nein, ich habe einen Termin mit Volkhard Fischer von der VF Transport & Logistik ausgemacht, die sitzen hier gleich nebenan in Waidmannslust, und der Chef persönlich holt mich ab.«

Mannhardt guckte filmreif. »Muss ich da eifersüchtig sein?«

Sie lachte. »Nun, vielleicht ist dieser Volkhard Fischer auch ein Menschenfischer …«

Mannhardt wurde sarkastisch. »Klar, das Leben mit mir wird ja für dich langsam zu einer Art Sterbebegleitung.«

Sie küsste ihn. »Du, danke! Das ist eine wunderbare Idee für ein Feature nach dem mit den Taxis: ›Bis zuletzt an deiner Seite – der Sterbebegleiter‹.«

Damit verließ sie die Wohnung und lief auf die Straße hinunter, um auf ihre Taxe zu warten. Die kam auch nach wenigen Augenblicken von der Berliner Straße her angerollt und überraschte sie mit der Werbeaufschrift: ›wie beamen‹. Der Fahrer sprang heraus und stellte sich als Volkhard Fischer vor.

Sie streckte ihm die Hand hin. »Heike Hunholz. Schön, dass es geklappt hat und wir uns einmal persönlich kennenlernen. Ich habe ja schon etliches von Ihnen gehört, von Ihrer sozialen Verantwortung, siehe ›Safe Berlin Kids‹ …«

Volkhard Fischer winkte ab. »So ihr das königliche Gesetz erfüllet nach der Schrift: ›Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, so tut ihr wohl‹ – Jakobus 2,8.«

»Oh!«, rief Heike Hunholz da aus. »Sollte Berlin nach Carl Bolle, dem Bimmel-Bolle mit seinen Milchwagen, einen zweiten stark religiösen Unternehmer bekommen haben?«

»Ah, Bolle! Ich kenne da das Bolle-Jugendhaus in Marzahn, wo sie Straßenkinder betreuen. Mit denen wollen wir demnächst kooperieren.«

»Woher nehmen Sie denn all die Zeit?«, fragte Heike Hunholz nun, wobei sie ihr kleines Aufnahmegerät einschaltete. »Die VF Transport & Logistik mit all ihren Tochterfirmen erfordert doch den ganzen Mann …?«

Volkhard Fischer winkte ab. »Man hat ja seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, alles eine Sache der Delegation. Aber fahren wir doch nach Waidmannslust und sehen Sie sich da alles an.«

»Okay, ja. Aber vorher noch eine Frage zum Namen Ihrer Taxifirma: ›wie beamen‹. Soll das eine Anspielung auf Bob Beaman sein, Olympiasieger im Weitsprung, Mexiko 1968, die sagenhaften 8,90 Meter …?«

»Nein, nein, das zielt auf das Raumschiff Enterprise ab: ›Beam me up, Scotty!‹.Das soll heißen, dass man mit unseren Taxen fast genauso schnell am Ziel ist, als würde man dorthin gebeamt werden.«

Heike Hunholz freute sich, dass sie die ersten schönen O-Töne »im Kasten« hatte, ließ sich nun nach Waidmannslust fahren und stellte munter ihre Fragen, zuerst die nach der allgemeinen Situation auf dem Berliner Markt.

Volkhard Fischer musste nicht lange überlegen. »Nun, da ist viel los. Berlin hat Deutschlands größte Taxiflotte und eine überdurchschnittliche Taxidichte pro Einwohner. Sieben- bis achttausend Taxen gibt es, dreitausend Taxiunternehmen, mehrere Taxizentralen und vier Verbände.«

»Und wie sieht es mit den Fahrtkosten aus?«, wollte Heike Hunholz als Nächstes wissen.

»Der Grundpreis beim Einschalten des Taxameters beträgt 3,90 Euro, der Kilometerpreis liegt zwischen 1,50 und 2,00 Euro.«

»Was würde denn eine Fahrt vom Flughafen Tegel zum Hauptbahnhof kosten?«

Da musste Volkhard Fischer kurz nachdenken. »Das sind vielleicht etwas mehr als sieben Kilometer, Fahrzeit rund eine Viertelstunde, zum Preis von … von 16 bis 17 Euro.«

»Lohnt sich da der eigene Wagen noch?«

»Der Grenzwert liegt bei exakt 11.250 Kilometern pro Jahr – hier sind die Kosten für das eigene Auto und die alternative Carsharing- und Mietwagennutzung identisch«, lautete Fischers Antwort. »Wer weniger fährt, der fährt besser mit uns.«

Heike Hunholz überlegte nun ernsthaft, den eigenen Wagen wieder abzuschaffen. Aber war ein Mensch ohne eigenes Auto überhaupt jemand, der etwas galt? An der Preisklasse seines Wagens ließ sich gut ablesen, zu welcher gesellschaftlichen Schicht man zählte, und ohne Auto wurde man der unteren Unterschicht zugerechnet, also dem Prekariat.

Sie waren nun in Waidmannslust in der Oranienburger Straße angelangt und rollten auf den Parkplatz vor der großen Lagerhalle der VF Transport & Logistik.

»Ich habe auch noch eine Lagerhalle in Blankenburg draußen und eine im nördlichen Berliner Umland, wo alles billiger ist, aber von dort ist es ein weiter Weg in die Innenstadt, und wenn es um Minuten geht, dann bin ich mit meiner Waidmannsluster Halle gut aufgestellt«, erklärte ihr Volkhard Fischer.

»Ah ja.« Heike Hunholz war ein bisschen abgelenkt, weil sie schon die ganze Zeit darüber nachdachte, welchem Schauspieler dieser Volkhard Fischer wohl ähnlich sah. Humphrey Bogart? Nein. Marlon Brando? Nein. Tom Cruise? Nein, auch nicht. Tom Hanks, Clark Gable, Hugh Grant oder Burt Lancaster? Nein, erst recht nicht. Es war einer, der in einem Mehrteiler den Jesus von Nazareth gespielt hatte. Sie kam und kam nicht darauf. Doch dann hatte sie es endlich: Robert Powell.

Sie war nicht wenig verwirrt, denn sie hatte ja nun auch die fünfzig schon lange überschritten und es nicht mehr für möglich gehalten, dass ihr der Anblick eines vielleicht vierzigjährigen Mannes gleichsam den Atem rauben würde. Aber der Unternehmer neben ihr hatte nun einmal ein hohes Maß von dem zu bieten, was man Aura oder Charisma nannte. Sie musste automatisch an das denken, was ihre Mutter in ähnlichen Situationen immer gesagt hatte: »Der kann mir gefährlich werden.« Mühsam zwang sie sich zur professionellen Distanz, als sie nun auf dem Betriebshof der VF Transport & Logistik hielten. Dort wurde ihr auch einer der Topmanager der Firma vorgestellt, einer gewisser Simon Himmelmann.

Heike Hunholz musste sofort daran denken, wie Orlando beim Hören dieses Nachnamens geblödelt hätte: »Was macht dieser Mann des Himmels bei einem Logistikunternehmen, der gehört doch in die Kirche und müsste Pfarrer sein.«

Er öffnete Volkhard Fischer und ihr die Tür zur großen Lagerhalle, und der begann zu dozieren, nachdem sie ihm ihr Mikrofon hingehalten hatte.