Unterm Kirschbaum - Horst (-ky) Bosetzky - E-Book

Unterm Kirschbaum E-Book

Horst (-ky) Bosetzky

4,8

Beschreibung

Hans-Jürgen Mannhardt, pensionierter Leiter der 12. Berliner Mordkommission und nebenamtlicher Dozent an der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege, besucht mit seinen Studenten die Justizvollzugsanstalt Tegel. Dort wird er von dem Häftling Karsten Klütz angesprochen, den man wegen Mordes zu einer langen Haftstrafe verurteilt hat. Mannhardt erkennt ihn wieder und erinnert sich dunkel an den Fall: Klütz war einmal ein prominenter Zweitliga-Fußballer. Er sei damals - 1998 - zu unrecht verurteilt worden, und bittet den Ex-Kommissar, dass er sich die Akten noch einmal vornehmen möge. Mannhardt und sein Enkel Orlando, der gerade sein Jurastudium begonnen hat, machen sich auf die Suche nach der Wahrheit. Der Fall liegt zehn Jahre zurück und die Beweise waren erdrückend, doch dann liefert ihnen ausgerechnet Theodor Fontanes Roman „Unterm Birnbaum“ einen entscheidenden Hinweis …

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Horst Bosetzky

Unterm Kirschbaum

Kriminalroman

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2009 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung / Korrekturen: Katja Ernst / Katja Ernst, Doreen Fröhlich

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

I. Teil

1.

Geelhaar und Schulze Woytasch, schon von Amts wegen auf beßre Nerven gestellt, hatten inzwischen ihren Abstieg bewerkstelligt, während Kunicke, mit einem Licht in der Hand, von oben her in den Keller hineinleuchtete. Da es nicht viele Stufen waren, so konnt’ er das Nächste bequem sehn: unten lag Hradschek, allem Anscheine nach tot, ein Grabscheit in der Hand, die zerbrochene Laterne daneben. Unser alter Anno-Dreizehner sah sich bei diesem Anblick seiner gewöhnlichen Gleichgültigkeit entrissen, erholte sich aber und kroch, unten angekommen, in Gemeinschaft mit Geelhaar und Woytasch auf die Stelle zu, wo hinter einem Lattenverschlage der Weinkeller war. Die Tür stand auf, etwas war aufgegraben, und man sah Arm und Hand eines hier Verscharrten. Alles andere war noch verdreckt. Aber freilich, was sichtbar war, war gerade genug, um alles Geschehen klarzulegen.

(Theodor Fontane, ›Unterm Birnbaum‹)

Seit er als Leiter der 12. Berliner Mordkommission pensioniert worden war, hätte Hansjürgen Mannhardt bis in die Puppen schlafen können, doch die innere Uhr ließ sich nicht so leicht umstellen, und so erwachte er auch an diesem Morgen pünktlich um 5.30 Uhr. Missmutig und müde wie immer. Die Botenstoffe, die Glücksgefühle auslösen sollten, schienen sein Gehirn für immer verlassen zu haben. Er lag da und wartete auf seinen Wadenkrampf. Auf den war Verlass. Da war er auch schon. Er war schmerzhafter als ein Schuss in die Wade. Mit einem leisen Aufschrei schwang sich Mannhardt aus dem Bett und suchte mit wild rudernden Armen nach einem Halt. Schwer atmend lehnte er schließlich am Kleiderschrank. Das Blut pochte in den Schläfen. Er fragte sich, ob das ein Anzeichen für ein Aneurysma oder eine Gehirnblutung war. Auch der Brustkorb wurde ihm eng. Das deutete eher auf einen Herzinfarkt hin. Sein Elend lastete schwer auf ihm.

Heike stand in der Tür, die Gefährtin seines Lebens. »Ist dir nicht gut?«

»Doch. Aber ich habe nachts zweimal auf die Toilette gemusst – die Blase mal wieder.«

»Inkontinenz ist keine Krankheit, lass dir vom Osterhasen Windeln bringen.«

Mannhardt murmelte, dass sie lieber nicht in die Küche gehen solle, weil dort Messer herumlägen und die meisten Morde Beziehungstaten seien.

So leise er gesprochen hatte, es war ihr nicht entgangen. Schließlich war sie Journalistin.

»Wenn du mich mit dem Messer erledigen willst, dann bitte bald, eh du einen solchen Tatterich hast, dass du mein Herz nicht mehr triffst. Und schade um den neuen Küchenschrank. Wegen der Spritzer.«

Der allmorgendliche Kampf um den Platz im Bad begann. Heike, jetzt beim rbb festangestellt, musste ins Büro, Silvio, ihr gemeinsamer Sohn, ebenso dringend in die Schule. Dass er, Hansjürgen, noch dringender musste, interessierte keinen.

Er hämmerte gegen die Badezimmertür. »Wenn ich jetzt nicht auf die Toilette kann, pinkele ich vom Balkon!«

»Bitte zertrampele aber nicht wieder die Blumen dabei!«

Familie war etwas Herrliches. Die Wissenschaft hatte ja herausgefunden, dass man in ihrem Schoße viel älter wurde, als wenn man ein ödes Singledasein fristete.

Endlich saß er mit seinem Sohn am Frühstückstisch. Heike stand noch vor dem Spiegel.

»Papa, was machen wir an Ostern?«

»Zu Ostern!«, rief Mannhardt. »Wir sind hier in Berlin, und da heißt es zu Ostern und nicht an Ostern.« Wahrscheinlich hatte der Junge Lehrerinnen, die aus dem deutschen Süden oder Norden kamen und diese Unsitte mitgebracht hatten. Die sagten ja auch Samstag zu Sonnabend, Reibekuchen zu Kartoffelpuffern und Berliner zu Pfannkuchen. Das war doch abartig.

Ostern war zwar längst nicht so nervig wie Weihnachten, zumal Osterbäume noch nicht in Mode gekommen waren, und dennoch hatte Mannhardt auch unter diesem Fest erheblich zu leiden.

»Papa, warum fällt denn Ostern immer auf einen anderen Tag?«, fragte Silvio, der an sich Silvester hieß, dies aber als peinlich empfand.

Natürlich wusste Mannhardt die präzise Antwort nicht auf Anhieb und suchte Bedenkzeit zu gewinnen. »Wieso, es fällt doch immer auf einen Sonntag …?«

»Aber der ist mal im März und mal im April …«

»Das liegt am Mond.«

»Ah!« Silvio strahlte. »Ostern ist immer dann, wenn der Mond fast wie ein Ei aussieht.«

»Nein, aber …« Wie sollte er im Lexikon oder im Internet nachsehen, ohne dass sein Sohn das merkte? »Ostern feiern wir Christen die Auferstehung Jesu Christi vom Tod und …« Endlich hatte er es: »Der Ostersonntag ist immer der erste Sonntag nach dem ersten Vollmond im Frühling.«

»Hat Jesus als Kind auch schon Ostereier gesucht?«

»Nein, bei ihm zu Hause hatten sie weder Aldi noch Lidl, und Osterhasen gab es in Bethlehem auch nicht. Im Heiligen Land ist der Boden so hart von der dauernden Hitze, da können sie sich keine Höhlen bauen.«

Silvio gab es auf, die Welt verstehen zu wollen. »Mama hat schon Ostereier gekauft, wollen wir die jetzt mal zur Probe verstecken?«

»Meinetwegen.« Das ersparte ihm, weitere Bildungslücken eingestehen zu müssen. Immerhin hatten sie noch zehn Minuten Zeit.

Beide waren gerade fertig mit dem Verstecken und wollten sich ans Suchen machen, da kam Heike ins Wohnzimmer.

Sie war einer Herzattacke nahe, als sie sich auf ihren Stuhl setzte, nicht ahnend, dass Silvio unter ihrem Kissen eines der ungekochten Eier versteckt hatte. Kaum hatte sie sich von diesem Schock erholt, berichtete ihr der Sohn, was er von seinem Vater gelernt hatte.

»Du, Mama, Jesus hat noch keine Ostereier gesucht, weil sie da noch keinen Aldi und keinen Lidl hatten und Osterhasen auch nicht, weil im heimlichen Land der Boden so hart ist, dass sie sich keine Grube bauen können.«

Heike fauchte Mannhardt an. »Was hast du denn dem Jungen da wieder für einen Unsinn erzählt? Und heimliches statt Heiliges Land! Wenn er das in der Schule wiedergibt, kriegt er doch ’ne Fünf.«

»Aber später ist er fein raus: Unsinn wiederzugeben, ist doch die beste Garantie für eine große Karriere in der Politik.«

»Mit dir kann man nicht diskutieren!«

»Das ist ja das Gute an mir.« Er stand auf. »Ich muss ins Gefängnis.«

»Pass bloß auf, dass sie dich nicht gleich dabehalten«, murmelte Heike.

»Mein Vater kommt in den Knast!« rief Silvio. »Cool.«

*

Mannhardt stand am Eingang zum U-Bahnhof Alt-Tegel und hatte Schwierigkeiten, sich zu entscheiden. ›Schnell entschlossen zögerte er‹, spottete Heike mehrfach am Tage. Aber es war auch schwer … Bis zur JVA Tegel waren es nur zwei Stationen, und das Laufen hätte seinen Blutdruck gesenkt, aber die Berliner Straße führte durch eine langweilige Gegend, und Auspuffgase wie Feinstaub waren Gift für seine Lunge. Für die U-Bahn sprach, dass er in drei statt in dreißig Minuten sein Ziel erreichte, gegen sie die Gefahr, Zeuge eines Suizids zu werden. Sich vor die U-Bahn zu werfen, wurde bei Selbstmördern immer beliebter, denn wenn dann ein bis zwei Stunden lang kein Zug mehr fahren konnte, war es auch ein Stück Rache an der Gesellschaft, die an allem Schuld hatte.

Ewig hier zu stehen, war aber auch keine Lösung, und so kam er nach einigem Hin und Her mit sich überein, dass ein Kompromiss das Beste war: Halb laufen, halb fahren, und so legte er das Stück bis zum Bahnhof Borsigwerke, auf dem es immerhin noch ein paar hübsche Schaufenster gab, zu Fuß zurück und stieg erst dort in die U-Bahn hinab.

Im engen Zugang lärmte ein Trupp Jugendlicher mit und ohne Migrationshintergrund, und er hätte gern eine Dienstwaffe bei sich gehabt, denn es gehörte nicht gerade zu seinen Hobbys, sich niederschlagen zu lassen und auf dem nächstbesten Friedhof zu landen. Tapfer ging er weiter, um dann doch noch umzukehren und bis zum Bahnhof Holzhauser Straße zu laufen. ›Lieber ein lebendiger Feigling als ein toter Held‹, hatte sein Vater immer gesagt.

Im Vorhof der Justizvollzugsanstalt stand der Trupp seiner Studierenden und fror. Alle kamen sie vom Fachbereich 3 der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege, an der sich Mannhardt noch immer als sogenannter Nebenamtler um Lehraufträge im Fach Kriminalistik bewarb. Einmal besserten die Honorare ihre Haushaltskasse auf, und zum anderen ersparte es ihm, zu Hause zu sitzen, Trübsal zu blasen und der allgemeinen Verkalkung anheimzufallen. Die jungen Menschen, allesamt Anwärter und Anwärterinnen für die Kommissarslaufbahn, hielten ihn geistig auf Trab, und manche Studentin sorgte dafür, dass er sich an unzüchtigen Gedanken erfreuen konnte. Mit anderen Worten, es war ein Job, den er gerne machte, und die ersten Semester führte er immer durch die Berliner Gefängnisse.

›Dies aus zweierlei Gründen. Einmal sollen Sie die Menschen kennenlernen, die meine Kollegen und ich schon zur Strecke gebracht haben, jeder Knacki ist ja ein Erfolgserlebnis für uns, zum anderen aber auch die Stätte erleben, wo der Verbrechernachwuchs ausgebildet wird, denn unsere Rückfallquoten sind immens. Und drittens, das ist immer das entscheidende Erlebnis, werden Sie bemerken, dass die Strafgefangenen ganz normale Menschen sind, zum Teil sogar außerordentlich sympathische Zeitgenossen. Da gibt es Mörder, meine Damen, die Sie gern zum Freund haben würden, so nett sind sie – und so ungemein männlich.‹

Mannhardt, zu Hause immer unter Beschuss und wegen seiner kommunikationstechnischen Fehlleistungen vielfach getadelt, genoss den Beifall der Menge. Auch hier vor der JVA wurde geklatscht, als er um die Ecke bog.

»Tut mir leid, meine Damen und Herren, dass ich ein paar Minuten zu spät komme, aber ich musste erst noch einen Amokläufer überwältigen.«

»Womit denn?«

»Mit meinem Mundgeruch«, antwortete Mannhardt. »Ich hatte mir extra zwei Tage lang nicht die Zähne geputzt. Ich musste ihn nur anhauchen, schon hat er aufgegeben.«

»Dann schreiben wir also die nächste Klausur über den Mundgeruch als Waffe?«

»So ist es.«

Die gute Laune verging ihnen aber schnell, als man Mannhardt und seine Gruppe an der Pforte ebenso durchsuchte und mit der Sonde abtastete wie jeden x-beliebigen Besucher. Auch wurden ihnen alle Handys abgenommen und eingeschlossen.

»Gott, ich bin Erster Kriminalhauptkommissar a. D., und das hier sind alles werdende Kriminalbeamte!«, rief Mannhardt.

»Tut mir leid, wir haben unsere Vorschriften.«

»Schon gut«, sagte Mannhardt. »Dann kaufen wir uns unser Rauschgift nicht hier bei Ihnen, sondern irgendwo draußen im Park. So wäre es aber bequemer.«

Nachdem sie alle ihre Ausweise abgegeben und dafür Plastikkarten in Empfang genommen hatten, kam der Vollzugsbeamte, der für Führungen zuständig war, und begann, sie durchzuschließen. Es ging durch endlose Flure und über diverse Höfe, und immer wieder gab es Türen, die auf- und wieder zuzuschließen waren.

»Die Damen halten sich nachher besser die Ohren zu«, sagte Mannhardt. »Und alle passen auf, wenn Spritzen auf sie zugeflogen kommen, die mit Blut von HIV-Positiven gefüllt sind.«

Immer wieder kam es vor, dass empfindsame Gemüter nahe am Kollabieren waren, wenn sie dies hörten.

Natürlich gab es Gefangene, die von den Galerien spuckten, brennende Kippen durch die Fangnetze warfen und sich an den Studentinnen aufgeilten, indem sie drastisch ihre sexuellen Wünsche kundtaten, aber die meisten grinsten nur, wenn sie die junge Kripo anrücken sahen.

Bei jedem Besuch in Tegel traf Mannhardt auf Langstrafer, die er durch seinen persönlichen Einsatz hinter Gitter gebracht hatte. Man gab sich die Hand und plauderte miteinander, als würde man durch eine alte Freundschaft verbunden sein. Da war keiner, der ihn hasste und ihm die Schuld daran gab, dass er lebenslänglich bekommen hatte.

So erschrak Mannhardt nicht im Geringsten, als ein eher unauffälliger Knacki auf ihn zukam und ihn am Jackett festhielt.

»Kann ich Sie mal einen Augenblick sprechen …?«

»Ja …« Mannhardt kam der Mann irgendwie bekannt vor, er hätte aber schwören können, keinen seiner speziellen Klienten vor sich zu haben.

»Ich bin der Karsten Klütz.«

»Ach ja …« Mannhardt hatte die Daten schnell parat: Der Fußballer, der den Mann seiner Geliebten umgebracht hatte. »Aber ich war doch nicht der, der Sie hierher …?«

»Nein, das war Ihr Kollege Schneeganß.«

»Oh …« Mannhardt mochte Schneeganß nicht besonders. Im inneren Monolog war er im Ordner Arschloch abgespeichert.

Klütz faltete die Hände wie zum Gebet und flehte Mannhardt an. »Bitte, Herr Kommissar, Sie haben doch jetzt Zeit genug: Gehen Sie meinen Fall noch einmal durch. Ich schwöre Ihnen bei Gott und bei allem, was mir heilig ist, dass ich den Mord damals nicht begangen habe. Ich habe alles aufgeschrieben, und stecke Ihnen meine Aufzeichnungen nachher schnell zu … Dann können Sie alles rekonstruieren. Es war ein riesiger Irrtum damals. Bitte, retten Sie mich!«

Mannhardt nickte zwar, verstand das Ganze aber nicht, denn er konnte sich deutlich daran erinnern, dass Klütz damals vor Gericht ein umfassendes Geständnis abgelegt hatte.

»Bitte weitergehen!« Der Vollzugsbeamte, der sie durch die Teilanstalten, die Werkstätten und die Küche führte, schien es entweder eilig zu haben oder zu fürchten, gegen irgendwelche Vorschriften zu verstoßen.

Mannhardt wagte dennoch eine Frage. »Wer ist denn der zuständige Sozialarbeiter hier?«

»Frau Minder-Cerkez.«

Wie der Mann den Namen aussprach, verbarg er kaum, wie sehr er Frauen hasste, die Doppelnamen im Ausweis stehen hatten, und dass er diejenigen, die auch noch mit einem Türken verheiratet waren, am liebsten sofort nach Anatolien ausgewiesen hätte. Überhaupt, diese ganze Sozialarbeiterscheiße.

»Kann ich Frau Minder-Cerkez mal sprechen?«

»Sie ist gerade in einer Sitzung.«

Mannhardt war alt genug, um sich in solchen Fällen nicht mehr aufzuregen. Als sie an der Zelle vorbeikamen, die als Beratungszimmer diente, prägte er sich den Namen ein: Margrit Minder-Cerkez, Diplompsychologin.

Im selben Augenblick stand Klütz hinter ihm und übergab ihm seine zusammengerollten Bögen wie einen Staffelstab. Der Vollzugsbeamte merkte nichts oder wollte nichts merken.

II. Teil

2.

Der kaum vom Winde bewegte Rauch stieg sonnenbeschienen auf und gab ein Bild von Glück und Frieden. Und das alles war sein! Aber wie lange noch? Er sann ängstlich nach …

(Theodor Fontane, ›Unterm Birnbaum‹)

Rainer Wiederschein ging über die Frohnauer Brücke und genoss es, von vielen erkannt und mit Respekt begrüßt zu werden. Hier war er wer. Von daher war es richtig gewesen, die alte Villa am Graben der S-Bahn zu kaufen und den Umbau zu wagen. Gute Restaurants gab es viele im Berliner Norden, aber keines, das so war wie sein ›à la world-carte‹. Der Grundgedanke war frappierend einfach: Biete den Leuten unter einem Dach all das, was sie auf ihren Reisen rund um die Welt genossen haben. Seine Speisekarte war nach Art einer Weltkarte gestaltet und man konnte das bestellen, was für ausgewählte Metropolen, Küsten und Landschaften typisch war. Sein Lebenslauf war so exotisch, dass man ihm ohne Weiteres abnahm, dabei authentisch zu sein. In jeder Tageszeitung hatte es Porträts von ihm gegeben.

Wiederschein war am 14. April 1963 im Berliner Bezirk Schöneberg auf die Welt gekommen und hatte die ganze Jugend und Kindheit darunter gelitten, dass alles um ihn herum so furchtbar langweilig war: die Wartburgstraße, seine Eltern, seine Verwandten, seine Mitschüler. Alle waren zwar nett, aber eben furchtbar nett, das heißt, ungemein bürgerlich und bieder, spießig und langweilig. So hatte er sich zu seinem 16. Geburtstag an die Tür seines Zimmers ein selbst gemaltes Plakat angeheftet: ›Langeweile kann tödlich sein‹. Seine Eltern, ehrbare Beamte in der Bezirksverwaltung, hatten das als Affront empfunden und sich fürchterlich darüber aufgeregt, weil sie meinten, er würde damit ihr Leben entwerten. Der Streit mit ihnen war im darauffolgenden halben Jahr derart eskaliert, dass er beschlossen hatte, das Gymnasium zu verlassen und auf das Abitur zu pfeifen. Stattdessen hatte er eine Lehre als Koch begonnen, aber auch die nicht zu Ende gebracht, denn jeden Tag von frühmorgens bis spätabends Gemüse zu putzen und am Herd zu stehen, war auch alles andere als spannend. Die Insel West-Berlin hatte ihn angewidert, und so hatte er seinen Rucksack gepackt, um rund um den Erdball zu trampen und das große Abenteuer zu suchen, sprich: das berühmte Glück am anderen Ufer, obwohl er sich sehr wohl darüber im Klaren war, dass es allein der Weg war, der zählte, nicht das Ziel. Mit dem Erreichen des Zieles begann immer schon das Unglück, das heißt, die Langeweile.

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