Im Wald der Wölfe - Linus Geschke - E-Book
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Im Wald der Wölfe E-Book

Linus Geschke

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Beschreibung

Eine Hütte im Wald. Eine Mordserie, die sich über sechs Jahrzehnte zieht. Ein eingebranntes Wolfsmal auf der Stirn der Opfer.   Und das Töten ist noch nicht vorbei. Mitten in der Nacht steht eine blutüberströmte Frau vor der Tür von Jan Römers Waldhütte, und schlagartig ist es mit seinem Erholungsurlaub vorbei. Die Frau, Hannah Wozniak, wirkt verängstigt, behauptet aber, nur beim Joggen gestolpert zu sein. Jan Römer lässt sich von ihr überzeugen, horcht aber auf, als sie ihm vom "Wald der Wölfe" erzählt, ein nahe gelegenes Waldstück, in dem schon früher Morde geschehen sind. Alle Opfer trugen Brandzeichen, einen Wolfskopf. Am nächsten Morgen ist Hannah verschwunden, und Jan Römer beginnt zu recherchieren. Schnell zeigt sich, dass die Morde in einem Zusammenhang stehen, der bis tief in die deutsche Vergangenheit hineinreicht. Und als Jan Römer selbst in die Schusslinie gerät, wird ihm klar, dass die Geschichte noch nicht zu Ende ist.

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Im Wald der Wölfe

Der Autor

Der 1970 geborene Linus Geschke arbeitet als freier Journalist für führende deutsche Magazine und Tageszeitungen, darunter Spiegel online und die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Mit seinen Reisereportagen hat der gebürtige Kölner bereits mehrere Journalistenpreise gewonnen.www.linus-geschke.de

Von Linus Geschke sind in unserem Hause bereits erschienen:Die LichtungUnd am Morgen waren sie totDas Lied der toten Mädchen

Das Buch

Mitten in der Nacht steht eine blutüberströmte Frau vor der Tür von Jan Römers Waldhütte. Der Reporter versorgt die Kopfverletzung der mysteriösen Fremden, die sich Hannah nennt. Am nächsten Morgen ist sie verschwunden. Dann findet die Polizei die Leiche eines Mannes in einem nahe gelegenen Waldstück – dem »Wald der Wölfe«, von dem auch Hannah erzählte und in dem schon früher Morde geschahen. Alle Opfer trugen Brandzeichen – einen Wolfskopf. Jan Römer beginnt zu recherchieren. Schnell zeigt sich, dass die Morde in einem Zusammenhang stehen, der tief in die deutsche Vergangenheit reicht. Und als Jan Römer selbst in die Schusslinie gerät, wird ihm klar, dass die Geschichte noch nicht zu Ende ist.

Linus Geschke

Im Wald der Wölfe

Kriminalroman

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage August 2019© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®, MünchenE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.comAlle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-8437-2139-4

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Inhalt

Der Autor / Das Buch

Titelseite

Impressum

Prolog

Frauenwald Derselbe Abend 22.13 Uhr

Köln

Frauenwald

Das Waldgebiet zwischen Frauenwald und Neustadt Herbst 1957

Gegenwart

Köln

Frauenwald

Der Wolf

Köln

Frauenwald

Köln

Frauenwald

Der Wolf

Köln

Das Waldgebiet südlich von Frauenwald 1963

Hannah

Suhl

Erfurt

Frauenwald

Ilmenau 1966

Der Wolf

Ilmenau

Frauenwald

Hannah

Frauenwald

Der Wolf

Der Wolf

Eisenach

Suhl

Eisenach

Frauenwald

Gotha

Frauenwald

Suhl 1988

Der Wolf 2015

Der Wolf

Der Wolf

Thüringer Generalanzeiger

Köln Dreizehn Tage später

Nachwort und Danksagung

Empfehlungen

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Prolog

Prolog

Sie war als Kind so oft im Wald gewesen, dass sie immer noch glaubte, jeden Baum zu kennen. Alle unebenen Wege, jede noch so sanfte Erhebung. Sie wusste, wie der Boden roch, wenn ein Regenschauer niederging, und wie der Wald aussah, wenn der frühmorgendliche Tau über Moosgeflechten und Farnen lag. Wie die Baumwipfel sich wiegten, wenn der Wind durch sie hindurchfuhr. Vor allem aber wusste sie, wie er sich veränderte, wenn es dunkel wurde.

Alles wurde dann dichter. Sämtliche Unterschiede verschwammen. Fichten und Lärchen, Birken und Tannen. In der Finsternis wirkten sie wie eine Armee stummer Soldaten, die sich eng aneinanderschmiegten, als wolle jeder Einzelne in der Nähe des anderen Schutz suchen.

Gegen Geister vielleicht.

Gegen Dämonen der Vergangenheit.

Jetzt war es wieder Nacht, und sie war wieder im Wald. Kein Laut, keine Bewegung. Nur diese Stille. Nur sie und die Bäume und die Sterne über ihr.

Keine hundert Meter weiter hatten Wanderer vor drei Jahren den Toten gefunden. Zwei Schusswunden klafften in seiner Brust, das Gesicht war von Hämatomen übersät. Am schlimmsten aber war, dass die Augen sowie Teile der heraushängenden Zunge fehlten. Krähen hatten sich die Köstlichkeiten geholt, und sie hatte diese Vogelart oft genug beim Fressen beobachtet, um zu wissen, wie aggressiv sie dabei vorgingen.

Wie die Krähen sich auf toten Körpern festkrallten. Wie sie ihre Köpfe hin- und herdrehten, um die Umgebung nach Gefahren abzusuchen. Wie sie ihre langen Schnäbel in die Augen­höhlen stießen und einzelne Teile herausrissen, die sie dann hastig herunterschlangen.

Der Tote hatte kein schönes Bild abgegeben, und dennoch war sein Zustand nicht der Grund, warum die Einheimischen seit seinem Auffinden noch mehr Angst vor dem Waldgebiet hatten. Das lag an dem Zeichen, das auf seiner Stirn eingebrannt war. Ein kreisrundes Symbol, rund viereinhalb Zentimeter groß. In ihm war ein Wolf mit gefletschten Zähnen und angelegten Ohren zu sehen, darunter die römische Ziffer XIII. Den älteren Bewohnern des Ortes war das Brandzeichen nicht fremd. Sie hatten es vor vielen Jahren bereits an anderen Toten gesehen. Eine Erinnerung, die sie allerdings lieber verdrängt hätten, weil sie einem Schandmal glich, das den Ort seitdem zeichnete.

Wenn die Bewohner Frauenwalds unter sich waren und über das Waldgebiet redeten, nannten sie es nur den Wald der Wölfe. Keiner ging freiwillig dorthin. Alle fürchteten ihn. So als sei das Böse in den Boden eingesickert, aus dem es sich nun jederzeit wieder erheben könnte.

Vielleicht war die Frau zu lange weg gewesen, um diese Befürchtung heute noch teilen zu können. Ihr machte der Wald keine Angst, warum auch? Weder er noch die Dunkelheit hatten den Mann getötet, sondern andere Menschen. Wahrscheinlich dieselben, die in der Region seit Jahrzehnten eine blutige Spur hinterließen. In den letzten Jahren hatte die Frau viel Zeit und Geld investiert, um mehr über die Taten zu erfahren. Über die Hintergründe. Sie war ihrem Ziel näher gekommen, doch der entscheidende Hinweis fehlte noch. Der auf die Täter. Wenn ihre Informationen stimmten, würde sich das heute Nacht jedoch ändern – vorausgesetzt, sie würde die nächsten Stunden überleben.

In dem Moment streifte ein herabhängender Ast wie ein mahnender Finger ihr Gesicht. Sie musste noch vorsichtiger sein. Auf ihre Bewegungen achten, die Schritte bedächtiger setzen, um jedes Geräusch zu vermeiden. Gerade jetzt, wo sie ihrem Ziel immer näher kam. Noch gut hundert Meter trennten sie von der Anlage, und wenn sie …

War da ein Geräusch gewesen, das nicht zu den natürlichen des Waldes gehörte? Sie stoppte und lauschte. Anfangs hörte sie nur das Rauschen der Blätter, dann mischte sich noch etwas anderes darunter. Menschliche Laute. Sie kamen von links. Ungefähr von dort, wo der alte Stasi-Bunker lag. Es war nur ein Geräusch gewesen, und dennoch stellte es alles infrage. Sie würde bald einen Punkt erreichen, von dem aus es kein Zurück mehr gab. Ein Tor in die Vergangenheit aufstoßen, ohne zu wissen, was sich dahinter befand.

Ihre Hände zitterten. Der Puls klopfte. Sie zwang sich zur Ruhe, dann schlich sie langsam weiter. Mit jedem Meter wurden die Stimmen lauter. Sogar die darin mitschwingende Arroganz war jetzt zu hören, das Gefühl von Überlegenheit, das sie verströmten. So als hätte es den Zusammenbruch der DDR nie gegeben. So als seien sie immer noch die Bedeutenden in einem bedeutungslosen Land.

Und vielleicht stimmte das sogar. Das sozialistische System mochte untergegangen sein, die alten Seilschaften waren es nicht. Sie existierten weiterhin, waren vielleicht aktiver denn je. Es waren unsichere Zeiten, das ganze Land war im Wandel, und in solchen Epochen sehnte man sich nach etwas Vertrautem, nach Sicherheit, egal, wie trügerisch diese auch war.

Hinter dem Stamm einer hoch aufragenden Fichte suchte sie Deckung, schloss die Augen und konzentrierte sich ausschließlich auf ihr Gehör. Zwei der Stimmen erkannte sie auf Anhieb, die dritte war ihr fremd. Ihr Ton klang geschliffener als der der anderen. Kälter, präziser und jünger. Vorsichtig bewegte sie sich ein Stück zur Seite, um einen Blick auf die Männer zu werfen, aber da waren nur Schemen, Umrisse. Zu wenig, um jemanden zu identifizieren. Wenn sie jetzt …

Unter ihren Schuhen knackte es.

Ein gottverdammter Ast.

Die Köpfe der Männer fuhren herum. Dann kamen sie auf sie zu. Bewegten sich durch die Nacht, als ob sie in der Dunkelheit sehen könnten.

Noch 15 Meter.

Noch zehn.

Sie wirbelte auf dem Absatz herum und stürmte los. Wie ein Reh oder irgendein anderes Fluchttier gab sie jedes Versteckspiel auf. Ihre Füße trommelten über den Waldboden, ihre Arme arbeiteten wie die Flügel einer Windmühle, ihr Gesicht wurde von Ästen gepeitscht.

Sie rannte um ihr Leben, und das war keine Floskel.

Es war die Realität.

Frauenwald Derselbe Abend 22.13 Uhr

Jan Römer hatte gerade die Welt gerettet. Nicht er selbst vielleicht, aber die Figuren aus Tom Clancys Roman Im Sturm, denen er die letzten Tage gefolgt war. Jetzt war das Schlusskapitel gelesen, und Jan beugte sich zur Seite, um nach dem Glas Rotwein auf dem Tischchen neben sich zu greifen.

Es war eine der besten Entscheidungen seines Lebens gewesen. Nicht der Rotwein und nicht das Buch, sondern die Wahl dieser Blockhütte. »Fühlen Sie sich wie in den Weiten Kanadas, mitten in Deutschland!«, hatte in dem Prospekt des Ferienhausanbieters gestanden, und genau so fühlte er sich auch, seit er vor fünf Tagen im Thüringer Wald angekommen war.

Sein für zwei Wochen gemietetes Heim stand in der Nähe des Örtchens Frauenwald, rund hundert Kilometer südöstlich von Eisenach. Es war eine von sechs baugleichen Hütten, die auf einer Lichtung im Halbkreis angeordnet waren. Zwischen jedem Gebäude lagen rund vierzig Meter Abstand, und jedes verfügte über gut siebzig Quadratmeter Wohnfläche, die sich auf zwei Ebenen verteilten. Im Erdgeschoss befanden sich das Bad, eine kleine Küche und das Wohnzimmer, von dem aus eine grob gezimmerte Holztreppe hoch ins ­offene Schlafzimmer führte. Nichts an der Einrichtung wirkte modern oder luxuriös, alles war auf Behaglichkeit getrimmt: der Kleiderschrank und das Bett im Landhausstil ebenso wie das Wohnzimmer mit den Holzmöbeln, die dunkel und schwer und massiv wirkten.

Jan hatte auf dem Buchungsportal gesehen, dass die Hütten im Sommer über Monate hinweg ausgebucht waren, aber jetzt, Anfang Mai, war er fast allein hier. Nur ein anderes Gebäude war ebenfalls vermietet, aber dessen Bewohner hatte er noch nicht zu Gesicht bekommen – alles, was auf die Anwesenheit weiterer Menschen hindeutete, waren die erleuchteten Fenster am Abend und der anthrazitfarbene Volvo C30, der vor dem Gebäude parkte.

Die einsame Lage inmitten eines weitläufigen Waldgebiets störte ihn nicht, ganz im Gegenteil. Ihm stand der Sinn weder nach Ablenkung noch nach Unterhaltung. Wenn er etwas benötigte oder andere Menschen sehen wollte, fuhr er mit dem Auto in einen der umliegenden Orte, von denen die meisten kaum tausend Einwohner zählten und die größtenteils vom Tourismus lebten. Dort gab es kleine Lebensmittelgeschäfte und Tankstellen, an denen er die Dinge des täglichen Bedarfs kaufen konnte. Brot, etwas Aufschnitt, die aktuelle Tageszeitung vielleicht. Ansonsten hatte er sich in der Abgeschiedenheit prima eingerichtet – ohne Telefon und ohne Internet. Selbst das Handysignal war in der Hütte so schwach, dass die Verbindung immer wieder abriss, wenn er telefonieren wollte.

Kurz gesagt: Es war perfekt.

Jan war Redakteur beim Kölner Nachrichtenmagazin Die Reporter, wo er mit seiner Kollegin Stefanie Schneider – die von allen nur Mütze genannt wurde – unter anderem für die Rubrik Ungelöste Kriminalfälle zuständig war. Der letzte Fall, über den sie berichtet hatten – der Mord an einer 19‑Jährigen im Sauerland und die daraus entstandenen Folgen –, war ihm arg an die Nieren gegangen. Mehr, als dies normalerweise der Fall war. Er hatte sich in den Monaten danach überarbeitet gefühlt, geradezu ausgebrannt, wozu auch seine vor Kurzem gescheiterte Ehe beigetragen hatte und der Umstand, dass seine Ex‑Frau Sarah mit dem gemeinsamen Sohn Lukas nach Bayern gezogen war.

Jetzt trank er den letzten Schluck des italienischen Rotweins, bevor er einen Blick auf den mitgebrachten Wecker warf, dessen LED-Ziffern frei im Raum zu schweben schienen.

Kurz vor halb elf.

Der Abend war unbemerkt in die Nacht übergegangen, und die einzige Frage, die sich ihm stellte, war die, ob er jetzt zu Bett gehen oder mit dem nächsten Buch beginnen sollte.

Das Buch gewann.

Er schenkte sich ein weiteres Glas Wein ein und griff aus dem Bücherstapel neben dem Sofa einen Thriller von Don Winslow heraus. Anschließend las er den Prolog und versank in der Einstiegsszene. Nichts lenkte ihn ab, nichts riss ihn aus seiner Konzentration.

Bis es lautstark gegen die Tür hämmerte.

Bis er auf ein zweites Hämmern hin aufstand und die Tür öffnete.

Bis ihm eine blutüberströmte Frau in die Arme fiel.

Köln

Stefanie Schneider hätte die Frage nach dem Warum nicht beantworten können, aber Fakt war: Jan war erst seit fünf Tagen weg, und sie vermisste ihn jetzt schon. Sie versuchte es damit zu erklären, dass er der einzige Fixpunkt in ihrem Leben war. Der Mensch, den sie als Erstes anrief, wenn sie etwas freute oder betrübte. Mehrere Male hatte sie schon zum Handy gegriffen und seine Nummer angerufen, den Vorgang jedoch jedes Mal wieder abgebrochen. Sie kam sich dabei einfach zu albern vor. Wie ein Kind, das seinen Spielkameraden vermisste, wie eine Frau, die …

Anstatt über Jan nachzudenken, sollte sie sich lieber auf die Reportage konzentrieren, die für die nächste Ausgabe des Magazins vorgesehen war. Normalerweise nahm sie keine Arbeit mit nach Hause, aber heute war es nicht anders gegangen, weil die Stunden im Büro viel zu schnell vergangen waren und der Text sich als stör­rischer als erwartet erwies. Vor allem mit dem Anfang hatte sie Probleme. Dabei war sie als Journalistin erfahren genug, um zu wissen, dass der erste Absatz eines Berichts der wichtigste war. Er gab die Richtung vor für alles, was folgte. Im Prinzip ähnelte das Ganze einem Zug: Nur, wenn die Lokomotive stark genug war, hatte sie die Kraft, sämtliche Waggons zu ziehen, ansonsten ging ihr auf halber Strecke die Puste aus.

Der Rest war dann einfach. Was ist geschehen?, wollte der Leser wissen. Dies ist geschehen, antwortete der ­Autor. Dies … und das … und jenes. Alles in einfachen Worten ausgedrückt, ohne Schachtelsätze oder komplizierte Fremdwörter, die sowieso nur benötigt wurden, um das Ego des Autors zu befriedigen.

Das war’s. Ganz simpel und dennoch so schwer umzusetzen.

Es dauerte nicht lange, und sie war völlig in den eigenen Text versunken. In das Gefühl, das sie mit der Story verband und wiedergeben wollte. Anfangs war alles noch holprig, langsam und von vielen Korrekturen geprägt, aber dann begann es zu fließen, Leben anzunehmen, und ihre Finger fanden automatisch die richtigen Tasten, die zu den richtigen Worten führten. Es war wie ein Rausch, aus dem sie erst erwachte, als es schon kurz vor Mitternacht war.

Genug für heute. Das Schwierigste war geschafft; den Rest konnte sie auch morgen noch in der Redaktion erledigen.

Ein lautstarker Gähner, dann fuhr sie den Rechner herunter und schaltete die Schreibtischlampe aus. Anschließend schlurfte sie ins Bad, wusch sich und putzte die Zähne. Als sie kurz darauf im Bett lag, fielen ihr die Augen fast von allein zu, und dennoch konnte sie lange nicht einschlafen. Ihr Körper war müde, die Gedanken jedoch kamen nicht zur Ruhe. Sie kreisten um tausend Dinge, vor allem aber um die Verabredung, die sie für nächsten Samstag getroffen hatte.

Ihr Date hieß Daniel und wohnte ebenfalls im Kölner Stadtteil Sülz, nur ein paar Häuser entfernt. Sie hatte ihn vor zwei Wochen beim Einkaufen getroffen. Ein normales Gespräch in der Obstabteilung, diese Sorte Äpfel oder lieber die andere?

Dann, ein paar Tage später, war er in der Sportsbar aufgetaucht, in die sie gerne nach Feierabend auf ein paar Kölsch einkehrte. Zufällig, wie er sagte. Sein Name war Daniel, er war Mitte dreißig und somit zwei Jahre älter als sie. Dunkle Haare, eine gute Figur und das Lächeln eines Sonnyboys. Er war vielleicht nicht der spannendste aller Männer, aber ein netter. Sie hatten eine gute Stunde lang Small Talk betrieben; was er beruflich machte, welche Filme sie mochte. Als er dann fragte, ob sie sich nochmals treffen könnten, hatte sie zugesagt. Kommenden Samstag würde ihr erstes richtiges Date sein, und dennoch hatte Mütze nicht vor, lange zu bleiben.

Sie wollte nichts trinken, sie wollte vögeln.

Ein paar Stunden leidenschaftlicher Sex, nicht mehr. Ihr stand der Sinn momentan nicht nach einer festen Beziehung, sondern nach körperlicher Befriedigung. Ein gemeinsames Frühstück danach wäre das Maximum an Verbindlichkeit. Kam er damit klar, gut, wenn nicht – sein Problem.

Anders als Jan war er …

Warum, verdammt, dachte sie in solchen Momenten immer an Jan?

Frauenwald

Jan packte die aus einer Kopfwunde blutende Frau unter dem Arm und führte sie zum Sofa. Eine Haarsträhne fiel ihr ins Gesicht, die Pupillen waren geweitet.

»Mein Gott … was ist denn mit Ihnen passiert?«

»Nur ein Unfall«, stammelte sie, nachdem sie sich hingesetzt hatte. »Ich … ich wollte nach Feierabend noch eine Runde joggen gehen, und plötzlich sind Wildschweine aufgetaucht. Beim Wegrennen muss ich dann an einer Wurzel hängen geblieben sein … zumindest bin ich hingefallen und mit dem Kopf auf etwas Hartem aufgeschlagen. Machen Sie sich bitte keine Sorgen: Es sieht sicherlich schlimmer aus, als es ist.«

»Sie müssen ins Krankenhaus!«

Die Unbekannte schüttelte den Kopf. »Das ist nur eine Platzwunde, nichts Ernstes.«

»Und wenn Sie eine Gehirnerschütterung haben?«

Sie lächelte schief. »Ich bin Ärztin. Wenn es eine Gehirnerschütterung wäre, wäre mir schlecht, aber mir geht’s gut, wenn man von dem Brummschädel absieht. Haben Sie hier vielleicht einen Verbandskasten? Da dürfte alles drin sein, was ich brauche.«

Schon bei seiner Ankunft war Jan der Erste-Hilfe-Kasten im Badezimmer aufgefallen. Er ging los, um ihn zu holen, und brachte auch ein nasses Handtuch mit, mit dem er ihr das Gesicht säubern wollte. Während er den Bereich um die Wunde abtupfte, betrachtete er sie eingehender. Die Frau war irgendwo Mitte dreißig, weder hübsch noch hässlich. Dunkelbraune Haare, schmale Lippen, die Wangenknochen hoch angesetzt. Ihr blauer Jogginganzug und die Laufschuhe trugen das Label eines bekannten Herstellers.

Außerdem war sie hart im Nehmen. Sie ließ das Prozedere widerspruchslos über sich ergehen und zuckte auch nicht, als er die Wunde mit Jod desinfizierte. Jetzt, wo das Blut entfernt war, sah er auch, dass der Riss auf ihrer Stirn wirklich nicht besonders groß war – wahrscheinlich hatte sie mit ihrer Selbstdiagnose richtig­gelegen.

»Danke«, sagte sie anschließend. »Mein Name ist übrigens Hannah Wozniak, aber sagen Sie Hannah zu mir. Und wie heißt mein Retter?«

»Jan. Jan Römer.«

»Angenehm!« Sie streckte ihm die Hand entgegen. »Ich ersetze Ihnen direkt morgen das Verbandsmaterial. Ich wohne ganz in der Nähe, in Frauenwald, und bringe Ihnen einfach nach Feierabend neues vorbei.«

»Momentan mache ich mir mehr Sorgen um Sie als um das Verbandsmaterial.«

»Das ist nett, aber das brauchen Sie nicht. Wenn ich langsam gehe, bin ich in einer halben Stunde wieder zu Hause.«

»Auf keinen Fall«, widersprach er. »Sie sollten sich zuerst ein wenig ausruhen. Anschließend fahre ich Sie nach Hause. Wenn Sie mich fragen, sind Sie …«

Trotz seiner Worte versuchte Hannah, sich zu erheben. Dann schwankte sie und ließ sich zurück aufs Sofa fallen. »Wahrscheinlich haben Sie recht«, gab sie nach kurzem Zögern zu. »Scheinbar ist mein Kreislauf doch noch nicht so stabil, wie ich dachte.«

Jan wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Stattdessen versuchte er, die Stille mit einem besonders freundlichen Gesichtsausdruck zu überbrücken. Er fand Hannah sympathisch und machte sich Sorgen um sie, gleichzeitig wollte er aber nicht aufdringlich sein. Er wusste nicht, ob es an dem Schock lag oder dem sicherlich seltsamen Gefühl, mit einem fremden Mann allein in einer abgeschiedenen Hütte zu sein, aber sie wirkte noch immer angespannt. Nervös, vielleicht auch ein wenig ängstlich.

»Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«, fragte er, bevor das Schweigen peinlich wurde. »Einen Kaffee oder eine Cola vielleicht?«

»Das wäre nett«, erwiderte sie, ohne sich festzulegen.

Er holte ihr beides. Anschließend setzte er sich in den Sessel und sah zu, wie sie Milch in den Kaffee rührte und genüsslich trank. So langsam bekamen auch ihre Wangen wieder Farbe.

»Ich will ja nicht neugierig sein, aber war es nicht ein wenig spät, um noch Joggen zu gehen?«

Sie lächelte unsicher. »Ich musste bis neun Uhr arbeiten und brauche danach immer noch ein wenig Bewegung, um schlafen zu können. Der Wald oder die Dunkelheit machen mir keine Angst, wenn Sie das meinen. Ich bin hier aufgewachsen und kenne jeden Weg und jede Biegung. Na ja«, wieder lächelte sie, »normalerweise zumindest. Wahrscheinlich wird mich mein Brummschädel eine Zeit lang daran erinnern, zukünftig vorsichtiger zu sein.«

»Tut’s sehr weh?«

»Nicht wirklich. Ich fühle mich noch ein wenig wackelig, aber ansonsten geht’s. Vielen Dank nochmals für alles – wenn Sie nicht da gewesen wären, hätte ich ein echtes Problem gehabt.«

»Vielleicht möchten Sie es sich ja bequem machen und die Beine hochlegen?«, bot er an. »Ich bin zwar kein Arzt, aber ich habe gelesen, dass das gut für den Kreislauf sein soll.«

»Nein, ich …«

Er legte den Kopf schief.

Sie zögerte, dann zog sie die Schuhe aus und bettete die Füße auf die eine Lehne des Sofas, während ihr Kopf auf der anderen ruhte. Woher auch immer ihre Anspannung kam – an seiner Gegenwart schien es nicht zu liegen.

Um das Gespräch in Gang zu halten, fragte er sie, in welchem Bereich genau sie tätig war. Sie strich sich die halb langen Haare zur Seite und sagte: »Ich arbeite als Psychologin mit Kindern. Sie wissen schon, das komplette Programm … von Verlustängsten nach einer Scheidung bis hin zu Misshandlungen oder sexuellem Missbrauch.«

»Das muss hart sein.«

»Ist es auch. Es gibt Tage, da könnte ich an der Welt verzweifeln, aber dann kommen auch wieder andere, an denen ich merke, dass das, was ich tue, einen Sinn ergibt. Haben Sie Kinder, Jan?«

»Einen Sohn.«

»Wie alt?«

»Mittlerweile fast vierzehn. Er lebt bei meiner Ex‑­Frau.«

»Ich werde jetzt nicht sagen, dass mir das leidtut. Ich weiß nicht, ob Ihr Sohn unter der Trennung gelitten hat, aber ich weiß, dass Kinder erstaunliche Wesen sind. Viel widerstandsfähiger, als man glauben mag. Manchmal bin ich selbst verblüfft, was sie alles wegstecken können, wenn man ihnen hilft.« Sie legte eine kurze Pause ein. »Aber jetzt zu Ihnen, Jan: Was machen Sie beruflich?«

»Ich bin Journalist. Genauer gesagt, Redakteur bei einem überregionalen Nachrichtenmagazin.«

Sie rutschte ein wenig höher. »Und was genau ist Ihr Aufgabenbereich?«

»Meistens Gesellschaft und Panorama. Wirtschaft und Politik interessieren mich nicht, aus dem Sport bin ich raus. Momentan betreue ich in erster Linie eine Rubrik, in der es um ungeklärte Kriminalfälle geht. Sie wissen schon … so ähnlich wie diese True-Crime-Serien, die ab und zu im Fernsehen laufen.«

»Das klingt spannend. Wie darf ich mir das genau vorstellen?«

Eigentlich war Jan nach Thüringen gekommen, um von der Arbeit abzuschalten, aber Hannah machte es ihm schwer. »Ganz am Anfang steht das Verbrechen«, sagte er. »Immer unaufgeklärt, häufig ein Mord. Wir recherchieren dann die Fakten nach und arbeiten die Geschehnisse auf. Schauen uns die Schauplätze an, sprechen mit Zeugen und versuchen, uns ein realistisches Bild von dem zu verschaffen, was passiert ist.«

»Dann sind Sie also ein Mann, der den Dingen gerne auf den Grund geht?« Sie schaute ihn interessiert an. »Jemand, der nachforscht und nicht so schnell aufgibt?«

Oha, dachte er – jetzt kam die Psychologin zum Vorschein.

»Wenn Sie so wollen, ja«, antwortete er. »Ich mag es nicht, wenn Dinge ungelöst sind. Offene Fragen lassen mir keine Ruhe. Außerdem finde ich, dass kein Verbrechen ungesühnt bleiben sollte.«

»Dann geht es Ihnen also um Gerechtigkeit? Darum, dass die Täter nicht ungestraft davonkommen?«

Er dachte über ihre Frage nach. »Auch, aber nicht nur«, sagte er dann. »Unser Job besteht in erster Linie darin, lange zurückliegende Ereignisse so darzustellen, dass sie für den Leser nachvollziehbar werden. Wenn wir dabei auf neue Fakten stoßen, ist das natürlich prima, aber für die eigentliche Ermittlungsarbeit ist nach wie vor die Polizei zuständig. Wir sind Journalisten – keine Privatdetektive mit Presseausweis.«

»Ich verstehe«, sagte sie leise und legte eine kurze Pause ein. »Und welcher ungelöste Mordfall hat Sie nach Frauenwald geführt?«

Jetzt lachte er. »Keiner! Ich hatte nur das Gefühl, ausspannen zu müssen, und die Gegend erschien mir ideal, um mal den Kopf freizubekommen.«

»Von der Arbeit?«

»Das auch. Vor allem aber von meiner Scheidung – sie liegt noch nicht allzu lange zurück.«

Hannah senkte den Blick. »Das tut mir leid – ich wollte nicht indiskret sein.«

»Sind Sie nicht«, versicherte er. »Dieses Kapitel gehört mittlerweile der Vergangenheit an, und es schreit auch nicht gerade nach einer Wiederholung. Vielleicht habe ich nur ein wenig gebraucht, um das zu verinnerlichen.«

Sie schwieg, dann wechselte sie das Thema. »Wenn ungelöste Morde Ihr Thema sind: Haben Sie schon mal vom Wald der Wölfe gehört?«

Er schüttelte den Kopf.

»Das ist ein Waldgebiet, keine zwei Kilometer von hier. Vor einigen Jahren haben Wanderer dort einen Toten gefunden, Werner Lehmann. Er wurde erschossen, und soweit ich weiß, sind die Täter immer noch auf freiem Fuß. Als Sie jetzt sagten … na ja, dass Sie über solche Geschichten berichten, da dachte ich, Sie seien deswegen hier.«

»Wie lange ist das jetzt her?«

»Ich weiß nicht … drei oder vier Jahre vielleicht.«

Er machte eine fast schon entschuldigende Geste. »Damit ein Mord für die mediale Berichterstattung interessant ist, muss er außergewöhnlich sein. Verstehen Sie mich nicht falsch, eine solche Tat ist natürlich immer grausam, aber deshalb muss sie noch lange nicht von überregionalem Interesse sein. Ich weiß, das klingt jetzt …«

»Oh, das ist er«, unterbrach sie ihn. »Außergewöhnlich, meine ich! Ich habe zumindest noch nie davon gehört, dass dem Opfer ein Wolfsmal in die Stirn gebrannt wurde.«

Er hob interessiert die Augenbrauen. »Was meinen Sie damit?«

»So genau kann ich das gar nicht sagen. Damals hat in den Zeitungen gestanden, es wäre so eine Art Branding gewesen, Sie wissen schon … ähnlich wie die Brandmale, die Cowboys früher ihren Rindern verpasst haben.«

»Und wie genau sah es aus?«

»Wenn ich mich recht entsinne, war es kreisrund und nicht besonders groß. Darauf war ein Wolf mit gebleckten Zähnen zu sehen, und dadurch ist auch erst der Name für das Gebiet entstanden: Wald der Wölfe.«

Er wunderte sich, dass er noch nie davon gehört hatte. »Hat die Polizei herausgefunden, was hinter dem Zeichen steckt?«

»Ich glaube nicht. Wenn Sie Genaueres wissen wollen, fragen Sie doch mal bei Ihren Kollegen hier nach oder bei der Polizei in Gotha – die können Ihnen garantiert mehr darüber erzählen.«

Noch während sie sprach, wusste er, dass er genau das machen würde. Er spürte instinktiv, dass diese Geschichte etwas Großes werden konnte; genau das, was sie für ihr Magazin brauchten. Nicht wegen des Mordes an sich, sondern wegen des eingebrannten Wolfsmals. Ein Detail nur, gewiss, aber eines, das aus einem gewöhnlichen Mord einen außergewöhnlichen machte.

Wald der Wölfe – allein der Begriff war schon die ideale Überschrift.

Sicher, Jan war nach Thüringen gekommen, um genau vor solchen Geschichten Ruhe zu haben, aber Jan war nun mal Jan. Niemand konnte aus seiner Haut.

»Wenn Sie mehr wissen wollen, sprechen Sie am besten mit Peter Drechsler«, sagte Hannah, als ob sie seine Gedanken gelesen hätte. »Das ist ein pensionierter Journalist hier aus Frauenwald, der bis vor Kurzem für eine Lokalzeitung gearbeitet hat. Er hat damals viele Berichte über den Mord geschrieben und ist sicherlich derjenige, der am meisten darüber weiß – von der Polizei mal abgesehen. Seine Nummer bekommen Sie wahrscheinlich über die Auskunft.«

Jan schrieb den Namen auf und bedankte sich. Damit war das Thema auch durch, und sie unterhielten sich noch über einige andere Dinge. Über seinen Sohn beispielsweise und über die Jahre, die Hannah in den USA verbracht hatte. Sie erzählte ihm, dass sie nie geheiratet und keine Kinder hatte, gerne Motorrad fuhr und eine bis heute anhaltende Vorliebe für die britische Band Oasis hegte, was ihr fast schon peinlich war.

Jan hatte mittlerweile das Gefühl, sie seit Ewigkeiten zu kennen. Wahrscheinlich war sie eine gute Ärztin, dachte er. Jemand, zu dem die Patienten schnell Vertrauen fassten.

Irgendwann stand er auf, um zur Toilette zu gehen, und als er zurückkam, war Hannah schon eingeschlafen. Sie hatte den Kopf zur Seite gelegt, ihr Atem ging langsam und gleichmäßig. Kurz überlegte er, sie zu wecken, entschied sich dann aber dagegen.

Leise holte er eine Decke aus dem Schrank und breitete sie über ihr aus. Dann schaltete er das Licht aus und tastete sich die Treppe hoch ins Schlafzimmer, wo er noch eine Zeit lang mit geöffneten Augen an die Decke starrte. Besonders ein Punkt ließ ihm keine Ruhe: Als Hannah ihm von dem Mord erzählt hatte, hatte sie immer von die Täter oder die Mörder gesprochen. Warum hatte sie das getan? Der Tote war erschossen worden – eine Tatausführung, die genauso gut ein Einzelner verübt haben konnte.

Er nahm sich vor, sie morgen danach zu fragen, obwohl ihre Formulierung wahrscheinlich nur Zufall gewesen war. Dann schloss er die Augen und dachte an den Wald der Wölfe. An das mysteriöse Symbol. Daran, dass er es kaum erwarten konnte, mehr darüber zu erfahren. Und dann … dachte er an gar nichts mehr.

Die ersten Sonnenstrahlen rissen Jan aus einem traumlosen Schlaf. Der Wecker zeigte 06.47 Uhr an, die Sonne konnte gerade erst aufgegangen sein. Er streckte sich und blinzelte gegen das durch die Lamellen der Jalousien einfallende Licht an. Sah winzige Staubkörnchen darin tanzen, die wie kleine Ballerinas wirkten, die sich nicht entscheiden konnten, ob sie schweben oder zu Boden sinken sollten.

Erst, als er die Füße auf den Boden setzte, fiel ihm sein nächtlicher Besuch wieder ein. Hannah – er hätte sie jetzt fast vergessen! Hastig zog er sich ein frisches T‑Shirt und eine Jeans an und ging nach unten, um zu fragen, was sie gerne zum Frühstück haben wollte.

Auf der Hälfte der Treppe blieb er stehen.

Das Sofa, auf dem sie gelegen hatte, war leer.

Ebenso das Wohnzimmer, das Bad. Nirgends eine Spur von ihr. Keine Nachricht und kein Zettel mit ihrer Telefonnummer. Wenn die zusammengelegte Decke nicht gewesen wäre, hätte er denken können, er hätte sich das Ganze nur eingebildet.

Er lief durch die Tür und um die Hütte herum, wobei er mehrmals ihren Namen rief. Erst danach akzeptierte er die Wahrheit. Hannah war weg. Sie war so blitzartig aus seinem Leben verschwunden, wie sie darin aufgetaucht war.

»Redaktion Die Reporter, Stefanie Schneider am Apparat. Was kann ich …«

»Ich bin’s«, flötete Jan in den Hörer. »Wie geht’s meiner Lieblingskollegin?«

»Mittelprächtig!«, erwiderte sie angesäuert. »Deine Lieblingskollegin ist sauer auf ihren Lieblingskollegen, weil der sich seit Tagen nicht gemeldet hat.«

»Tut mir leid. Ich wollte schon früher anrufen, aber dann kam immer …«

»Ein Eisbär dazwischen, der dich vom Handy vertrieben hat?« Er hörte, wie sie lachte. »Schenk dir deine Ausreden, ist schon okay. Sag mir lieber, wie es dir im Thüringer Wald gefällt.«

»Na ja, viel Wald halt. Jede Menge Ruhe. Und die Hütte ist toll.«

»Dann hältst du es also aus, ohne vor Langeweile durchzudrehen?«

Jan bestätigte, dass er das hinbekommen würde. Anschließend fragte er Mütze, ob sie ihm einen Gefallen tun könnte.

»Klar, schieß los.«

»Du musst eine Frau für mich finden.«

»Oh, das kann schwierig werden … Du bist kein einfacher Typ, dazu hast du in letzter Zeit um den Bauch herum …«

»Sehr witzig, aber ich meine es ernst. Hast du was zu schreiben?«

Sie seufzte. »Okay … jetzt!«

»Die Frau heißt Hannah Wozniak. Wozniak mit Z und Hannah mit einem H am Ende. Sie wohnt hier in Frauenwald, in einer Straße, die ›Auf dem Sonnenberg‹ heißt. Hast du das?«

»Wenn du ihre Adresse hast, was soll ich dann noch machen? Ich kann sie dir ja schlecht auf den Bauch binden.«

»Das ist das, was sie mir erzählt hat, aber es stimmt nicht – zumindest nicht, was die Adresse angeht. Ich war vorhin in der Straße und habe sämtliche Klingelschilder abgeklappert. Nichts. Außerdem kennt sie da auch niemand. Ach, und noch etwas: Sie hat gesagt, sie sei Ärztin. Kinderpsychologin. In irgendeinem Krankenhaus hier in der Nähe, vielleicht auch in einer spezialisierten Einrichtung. Wie gesagt: Sie heißt Hannah. Hannah Wozniak.«

»Warum?«

»Ich nehme an, weil ihre Eltern Herr und Frau Wozniak waren und weil ihnen der Name Hannah gefallen hat.«

»Das meine ich nicht. Will ich wissen, warum du sie suchst?«

Er zögerte kurz, dann erzählte er ihr, was vorgefallen war. Er berichtete vom Wald der Wölfe, von dem ermordeten Mann, von dem Branding auf der Stirn. Zum Abschluss sagte er Mütze noch, was Hannah ihm über sich selbst verraten hatte.

»Die rätselhafte Unbekannte also«, erwiderte sie, nachdem er fertig war. »Ist dir mal in den Sinn gekommen, dass sie an einer Vertiefung des Kontakts kein ­Interesse hatte und deshalb einfach verschwunden ist?«

»Klar, aber ich denke, das ist nicht der Grund. Darum geht’s auch gar nicht. Ich kann es dir nicht besser erklären, aber ich glaube, sie ist vor irgendetwas weggerannt. Zumindest hat sie panisch gewirkt, als sie an die Tür klopfte.«

»Okay, verstehe …«

Das war wahrscheinlich gelogen.

»Hast du eine Beschreibung für mich?«

Jan beschrieb Hannah, so gut er konnte. Dabei kam ihm eine Idee. »Vielleicht steht ihr Verschwinden ja in Verbindung zu dem Mord, von dem sie mir erzählt hat?«

Er hörte, wie Mütze den Atem ausstieß.

»Nein, ernsthaft«, schob er nach. »Es könnte doch sein, dass sie …«

»Jetzt mach mal halblang, Jan. Vor Jahren ist in der Gegend ein Mann getötet wurden. Dann taucht mitten in der Nacht eine Frau bei dir auf, die aus einer harmlosen Platzwunde blutet, die von allem Möglichen stammen kann. Vielleicht ist sie einfach nur gestolpert, vielleicht waren wirklich Wildschweine dort. Und nur, weil sie verschwindet, ohne dir vorher Tschüss zu sagen, glaubst du jetzt, das Ganze stünde miteinander in Verbindung? Ich bitte dich!«

Er merkte selbst, wie unglaubwürdig das klang. Zumindest, wenn man in Köln saß und die Geschichte nur erzählt bekam. Hier, in Frauenwald, sah das Ganze schon anders aus.

»Wahrscheinlich hast du recht«, sagte er dennoch, um vor Mütze nicht wie ein Vollidiot dazustehen. »Versuch aber bitte trotzdem, ob du irgendetwas über sie herausfinden kannst. Eine Adresse, eine Telefonnummer. Nur, damit ich beruhigt bin.«

»Du weißt schon, dass ich …«

»Bitte! Ich habe hier keinen Internetempfang, und das nächste Internetcafé ist in Ilmenau. Außerdem bist du in so was einfach …«

»Ist ja schon gut, ich mache es«, seufzte sie. »Ich lasse den Namen durch den Rechner laufen und schaue mir die Webseiten der umliegenden Krankenhäuser an. Komme ich damit nicht weiter, telefoniere ich ein wenig in der Gegend rum. Mach dir aber bitte keine großen Hoffnungen, okay?«

»Tue ich nicht«, versicherte er. Dann dankte er Mütze, und sie beendeten das Telefonat. Wenn jemand eine Spur von Hannah finden konnte, dann sie. Was Nachforschungen anging, glich Mütze einem Terrier. Ausdauernd und unerbittlich.

Anschließend rief er sich noch einmal jede Kleinigkeit ins Gedächtnis, die ihm von Hannahs Besuch vor Augen geblieben war. Der Wald der Wölfe, der getötete Mann und das eingebrannte Mal auf seiner Stirn.

Das Ganze dauerte keine zehn Minuten.

Dann wusste er, was er übersehen hatte.

In einem Punkt zumindest hatte Hannah nicht gelogen: Die Nummer von Peter Drechsler hatte Jan anschließend problemlos über die Auskunft bekommen. Nachdem er dem pensionierten Lokaljournalisten gesagt hatte, dass er ein Kollege sei und gerne mit ihm über den Wald der Wölfe reden würde, verabredeten sie sich für den Nachmittag in einem nahe gelegenen Waldcafé. Große Überredungskünste waren dafür nicht nötig gewesen. Drechsler hatte am Telefon wie ein Mann gewirkt, der nach seiner Pensionierung zu viel Zeit hatte und froh war, sich mal wieder mit einem Kollegen austauschen zu können.

Direkt nach dem Telefonat mit Drechsler rief Jan Alexander Herold an, den Herausgeber von Die Reporter. Er sagte ihm, dass er an einer Geschichte dran sei, die das Zeug hatte, sich zu einer großen Story zu entwickeln.

»Und?«, fragte Herold. »Warum rufst du an? Du hast doch Urlaub – mach in deiner Freizeit, was du willst.«

»Ich werde Geld brauchen. Recherchemittel. Außerdem habe ich Frau Schneider gebeten, im Internet ein paar Nachforschungen anzustellen.«

»Worum geht’s überhaupt?«

Herold bekam einen kurzen Überblick – ähnlich wie Mütze eine Stunde zuvor.

»Lohnt sich das denn?« Herold klang nicht überzeugt. »Denkst du, du kannst mehr herausfinden als das, was allgemein bekannt ist?«

»Wahrscheinlich nicht. Ich würde es dennoch gerne versuchen.«

Jan hatte einen guten Riecher für Storys. Das wusste er ebenso gut wie Herold und, ja, eigentlich die gesamte Redaktion. Deshalb hatte Jan auch in Zeiten ständiger Einsparungen oftmals zusätzliches Personal und Gelder zur Verfügung. Aber er musste liefern und zeigen, dass er dieses Vertrauen auch verdiente. Den ein oder anderen Fehlgriff konnte er sich vielleicht leisten, allzu viele sollten es nicht werden. Vor Ort nach Fakten zu suchen war teuer, teurer, als sich seine Schlagzeilen aus sozialen Medien oder Pressemitteilungen zusammenzustellen. Wahrer Journalismus kostete Geld, aber der Trend ging dahin, dass niemand mehr willens war, für das Ergebnis zu bezahlen. Schon aus diesem Grund hatte er nicht vor, Herolds Unterstützung leichtfertig zu verspielen.

»Folgender Deal«, schlug er deshalb vor. »Wie du gerade gesagt hast – ich bin sowieso vor Ort und habe Urlaub. Der Redaktion entstehen also keine Extrakosten, und Frau Schneider werde ich nur einspannen, wenn ich allein nicht klarkomme. Alles, was ich brauche, ist eine Kostenübernahme für Bewirtungen, Tankquittungen, den ganzen Kleinscheiß halt. Wie klingt das?«

Eine kurze Pause, dann: »Im Wald der Wölfe klingt zumindest nach einer guten Headline. Was mich angeht, ich bin dabei. Sieh zu, dass du es anfangs möglichst klein hältst, und melde dich, wenn mehr Fleisch am Knochen hängt. Und, Jan?«

»Ja?«

»Keine Risikonummern mehr, hörst du?«

Bevor Herold zu einem seiner üblichen Vorträge über Sicherheitsbedenken ansetzen konnte, verabschiedete sich Jan und hängte ein.

Er kam eine Viertelstunde zu früh zu dem Treffen mit Drechsler. Es war ein warmer Maitag, also setzte Jan sich auf die Terrasse und bestellte einen Kaffee und ein Stück Schwarzwälder Kirschtorte. Die Sonne schien ihm ins Gesicht, und er dachte, dass es ihm seit Ewigkeiten nicht mehr so gut gegangen war. Wann genau hatte er das letzte Mal so viel Zeit für sich gehabt? Er wusste es nicht, und allein dieser Umstand machte ihm klar, wie überfällig der Urlaub gewesen war.

Er hatte sich gerade den ersten Bissen in den Mund geschoben, als ein Mann auf ihn zutrat, den er auf Mitte sechzig schätzte. Der Fremde trug ein schwarzes Polohemd, darunter eine beigefarbene Cordhose und halbhohe Lederschuhe, die wie frisch poliert glänzten. Sein eisengraues Haar war voll, die Haltung aufrecht.

»Jan Römer?«

Jan stand auf und streckte dem Mann die Hand entgegen. »Dann müssen Sie Peter Drechsler sein, richtig? Setzen Sie sich doch bitte.«

Drechsler erwiderte das Lächeln und nahm Platz. Dann öffnete er den Mund und schloss ihn wieder, als wenn er sich nicht sicher wäre, was er jetzt sagen sollte.

Jan hatte dieses Problem nicht.

Zuerst betonte er, wie schön die Gegend sei und wie nett er das Waldcafé fand. Belangloser Small Talk, der die Stimmung lockerte. Anschließend fragte er Drechsler, wie genau der Aufgabenbereich des Lokaljournalisten früher ausgesehen hatte. Gemeinsamkeiten betonen – die beste Variante, um das Eis zwischen zwei fremden Gesprächspartnern zu brechen.

Drechsler erzählte, dass er bis zu seiner Pensionierung bei einer Thüringer Zeitung als Redakteur für ­Panorama und Politik zuständig gewesen war. Dann ­berichtete er von den Veränderungen, die die Wiedervereinigung mit sich gebracht hatte. Von den Arbeitsbedingungen davor und den Schwierigkeiten des Blattes, sich in einer völlig veränderten Presselandschaft zurechtzufinden. Jan hörte aufmerksam zu, er liebte solche Schilderungen: Ohne Pathos und Übertreibungen vorgebrachte Erinnerungen an eine Zeit, die ihm selbst bereits unendlich fern erschien.

»Aber was ist mit Ihnen?«, wollte Drechsler anschließend wissen. »Was hat Sie nach Frauenwald geführt?«

»Eigentlich wollte ich nur ausspannen, ein bisschen zur Ruhe kommen. Aber dann habe ich vom Mord im Wald der Wölfe erfahren. Der Fall interessiert mich.«

»Und warum, wenn ich fragen darf?«

Jan berichtete Drechsler von seinem nächtlichen Besuch und was die Unbekannte erzählt hatte. Mit der Schilderung von Hannahs plötzlichem Verschwinden endete er.

»Und jetzt glauben Sie an einen Zusammenhang?«

»Keine Ahnung, aber als ich die Frau fragte, wer mir mehr über den Fall erzählen kann, hat sie mir Ihren Namen genannt. Ich dachte, Sie würden sie kennen.«

Drechsler schaute ihn fragend an, und Jan beschrieb ihm Hannah, was bei dem Rentner ein kurzes Zögern auslöste. Ein Sekundenbruchteil nur, vielleicht bildete Jan es sich auch lediglich ein.

»Das sagt mir leider gar nichts«, erwiderte Drechsler dann. »Auch bei dem Namen klingelt nichts. Sind Sie sicher, dass diese Hannah Wozniak in Frauenwald wohnt?«

»Das hat sie zumindest gesagt. Allerdings war ich heute Morgen schon bei ihrer angeblichen Adresse, und die war falsch. Ich habe auch mit zwei Anwohnern gesprochen – keiner kennt eine Hannah Wozniak oder eine Frau, auf die die Beschreibung passt.«

»Das klingt tatsächlich seltsam, und es tut mir leid, dass ich Ihnen auch nicht weiterhelfen kann. Aber wenn Sie Fragen zu dem Mord haben, nur zu.«

Jan lächelte. »Im Prinzip interessiert mich alles. Ich kenne den Namen des Ermordeten, das war’s.«

»Nun denn … Der Tote hieß Lehmann, Werner Lehmann. 62 Jahre alt, ein Unternehmer aus Suhl. Zu Lebzeiten galt er nicht gerade als sympathischer Zeitgenosse, ganz sicher nicht. Man soll ja über Tote nichts Schlechtes sagen, aber in seinem Fall mache ich gerne eine Ausnahme. Lehmann war ein Rassist. Ein wohlhabender Mann, der seinen Reichtum nutzte, um rechtsextreme Gruppen zu unterstützen. Ehrlich gesagt hat es mich nicht gewundert, dass er umgebracht wurde.«

»Sie glauben, dass sein Tod damit in Verbindung steht?«

»Das weiß ich nicht, aber ich kann es mir vorstellen. Hat Ihre Besucherin Ihnen von dem Wolfsmal erzählt, das dem Toten in die Stirn gebrannt wurde?«

Jan nickte.

»Allein schon deshalb hat der Fall damals große Wellen geschlagen. Die regionalen Zeitungen waren voll davon, sogar der MDR ist mit einem Fernsehteam aufgekreuzt. Am Anfang«, Drechsler lächelte, »gab es jeden Tag eine neue Theorie, welche Bedeutung das Zeichen haben könnte. Esoteriker hatten eine Meinung, die Polizei eine andere, und unter den Einheimischen gab es nicht wenige, die an die Tat eines Serienmörders glaubten. Verständlich – die Umstände erinnern ja an einen Ritualmord.«

»Und Sie? Was glauben Sie?«

»Wie gesagt … Lehmann hat verbotene Organisationen wie den Thüringer Heimatschutz unterstützt, und wenn man den Gerüchten glauben will, kannte er auch Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt – die beiden Rechtsterroristen, die zusammen elf Menschen getötet haben. Sie wissen, wen ich meine?«

Jan nickte – die Vorgänge rund um den Nationalsozialistischen Untergrund, kurz NSU genannt, waren ihm noch gut in Erinnerung.

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