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1848: Die Menschen im Deutschen Bund erheben sich gegen die Macht der Fürsten und der Zensur. Während Deutschland die Morgendämmerung der Demokratie erlebt, finden in den Wirren der Zeit zwei ungleiche Frauen zueinander: Die arbeits- und mittellose Susanne, die sich auf einen gefährlichen Auftrag eingelassen hat – und die mutige Schriftstellerin und unbeirrbare Demokratin Louise Otto. Seite an Seite kämpfen sie für Freiheit und Selbstbestimmung in einer Revolution, die trotz ihres Scheiterns das Land für immer verändern wird. Ein großer, ergreifender Roman, der mitreißend und unvergesslich erstmals davon erzählt, wie eines unserer wertvollsten Güter – die Demokratie – maßgeblich von Frauen erkämpft wurde.
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Seitenzahl: 589
Veröffentlichungsjahr: 2025
Tanja Kinkel
Roman
Für meine Mutter
Meißen, Sachsen, 1835
»Sie sind tot. Alle beide.«
Louise hatte gehofft, es würde für sie glaubhafter, wenn sie es sich nur oft genug laut vorsagte. Ihre Eltern waren tot. Keinen von beiden würde sie je wiedersehen. Nicht ihre Mutter, die vor fünf Monaten an Tuberkulose gestorben war, die Mutter, die zum Schluss so wenig bei sich gewesen war, dass sie, als man Louise und ihre Schwestern zu ihr brachte, um sich zu verabschieden, nur geschrien hatte: »Nehmt die tote Frau aus dem Bett, die da neben mir liegt!«
Nicht ihren Vater, Papa, der die Mutter nur um vier Monate überlebt hatte und gestorben war, weil der Arzt seine Blutvergiftung nicht rechtzeitig erkannt und geglaubt hatte, mit der Amputation eines Zehs alle Probleme gelöst zu haben. »Keine Sorge, Herr Gerichtsdirektor«, hatte der Mann getönt, während Papa vor Schmerzen schrie, »in ein paar Tagen geht es Ihnen wieder glänzend, und Sie werden die Dörfer besuchen und Recht sprechen.«
Papa war tot, genau wie die Mutter, und Louise würde nie, nie wieder einem Arzt trauen.
Sie war siebzehn Jahre alt und diejenige in der Familie, der immer ein frühes Ende prophezeit worden war. Die Jüngste, zu klein, zu zerbrechlich. Als der Vater sich weigerte, sie weiter unterrichten zu lassen, kurz bevor die Mutter krank wurde, hatte Louise in ihrer Enttäuschung geglaubt, das sei der eigentliche Grund, und war wütend genug gewesen, um es laut auszusprechen: »Glaubt ihr denn, es sei Geldverschwendung, weil ich ohnehin bald sterbe wie Clementine?«
Die Scham darüber brannte in ihr, jetzt mehr denn je. Danach hatte die Krankheit der Mutter jedes weitere Gespräch über die Zukunft unmöglich gemacht. Die Eltern mussten mit der Erinnerung an eine trotzige Louise in den Tod gegangen sein, an einen erbitterten Streit. Ihre Eltern, die immer liebevoll gewesen waren, die darauf bestanden hatten, von Louise und ihren älteren Schwestern geduzt zu werden – »Ihr sagt ja auch nicht zum lieben Gott Sie!«, hatte der Vater gelacht, ganz anders, als es die übrigen Familien in Meißen hielten, in denen die Väter etwas darstellten.
Sie bildete sich ein, dass Antonie und Franziska sie vorwurfsvoll anschauten. Schon vor dem Tod der Eltern hatten ihre Schwestern nicht verstanden, warum Louise überhaupt mehr Schulunterricht wollte. »Du weißt schon genug, um deinem Mann keine Schande zu machen, ganz gleich wen du heiratest, und wenn du unbedingt weiter über Bücher reden willst, kannst du einen Salon gründen«, hatte Antonie erklärt, und Franziska wollte nur wissen, ob Louise am Ende für die Lehrerin der Privatschule schwärme, die sie bis zu ihrer Konfirmation hatte besuchen dürfen.
Der Notar räusperte sich. »Fräulein Antonie, Fräulein Franziska, Fräulein Louise, ich wünschte, ich könnte es Ihnen ersparen, in der Zeit Ihrer Trauer so unerfreuliche Dinge wie ein Testament anhören zu müssen, aber das Gesetz will es so.«
Antonie tupfte sich mit einem Taschentuch die Augen und flüsterte: »Wäre es nicht möglich, dass mein Verlobter diese Angelegenheit mit Ihnen regelt?«
Unter anderen Umständen, in einer glücklicheren Zeit, hätte Louise die Augen gerollt. Erst am Vortag hatte Julius Dennhardt seinen Heiratsantrag gemacht, und seither konnte Antonie nicht aufhören, »mein Verlobter« oder »mein zukünftiger Gatte« zu sagen und ihn in jedem Gespräch zu erwähnen, selbst wenn es um das Schälen von Äpfeln ging oder darum, ob Tante Matthäi, die Schwester ihrer Mutter, das Dienstmädchen übernehmen würde. Wenn das die Art von Verhalten war, das die Liebe mit sich brachte, dann war Louise froh, selbst bisher nur für Schillers Helden zu schwärmen.
»Es wäre mir eine Ehre«, tönte ihr zukünftiger Schwager und warf sich in die Brust, als hätte er gerade angeboten, für Antonie eine Heldentat zu begehen. »Zarte Frauen sollte man ohnehin nie mit der Last von Rechtsangelegenheiten beschweren.«
»Herr Dennhardt, als angehender Gerichtsdirektor sollten Sie doch wissen, dass dergleichen rechtlich nicht zulässig ist«, entgegnete der Notar mit einem Unterton von Tadel. »Nach Ihrer Hochzeit können Sie selbstverständlich die Interessen Ihrer Gemahlin vertreten, doch hier und jetzt …«
»Die Interessen meiner Gemahlin und ihrer Schwestern«, unterbrach Julius Dennhardt. »Ich werde selbstverständlich ein treusorgender Vormund und zweiter Vater für meine Schwägerinnen sein, und deshalb denke ich, dass es doch dem Geist des Gesetzes entspräche, wenn ich jetzt schon …«
Die Mischung aus Trauer und Schuldgefühlen, die Louise seit Wochen das Herz abdrückte, wich mehr und mehr ungläubiger Empörung.
»Ich brauche keinen zweiten Vater. Ich bin kein Kind mehr!«, platzte sie heraus. Ihre Schwestern starrten sie bestürzt an.
»Der Schmerz macht das Kind rasend«, sagte Tante Matthäi hastig.
»Ja, Liebster, bitte verzeihen Sie der Kleinen«, fügte Antonie hastig hinzu. »Es ist ein großes Glück für uns drei, dass wir nicht alleine in der Welt sein werden, sondern dass ein Ehrenmann wie Sie sich um uns kümmern wird.«
Louise schaute zu Franziska, doch Franziska machte keine Anstalten, zu protestieren. Im Gegenteil, sie nickte beifällig. Nun, Franziska hatte auch immer bei ihr, Louise, abgeschrieben, obwohl sie die Ältere war, und war froh gewesen, den Schulunterricht hinter sich zu haben. Natürlich freute sich Franziska, wenn ihr jemand Rechtsbelehrungen ersparte oder das Nachdenken über die Zukunft. Andererseits hatte Franziska doch auch immer Sinn für Humor gehabt und gerne die Pompöseren unter Papas Kollegen parodiert, wenn sie unter sich waren. Wollte sie denn wirklich ihr Leben diesem Julius Dennhardt anvertrauen, der Antonie erst einen Heiratsantrag gemacht hatte, als Papa tot war? Julius Dennhardt, der Louise den Eindruck verschaffte, in Gedanken bereits alle Möbel hier im Haus vermessen zu haben und alle vierzehn Fenster? Der Papas Schreiber bereits entlassen hatte – zwei Männer, die jahrelang für Louises Vater gearbeitet hatten –, ohne den Mädchen die geringste Chance zu geben, sich zu verabschieden?
Jeder im Raum außer dem Notar blickte tadelnd zu Louise, als hätte sie Julius Dennhardt mit ihren paar Worten ins Gesicht gespuckt. Als die Tante auch noch »Entschuldige dich, Kind« murmelte, wurde es ihr zu viel. »Papa hat uns erzählt, dass es in Sachsen keine Geschlechtsvormundschaft mehr gibt seit der letzten Gesetzesreform«, sagte Louise, an den Notar gewandt. »Das heißt doch, dass Frauen keinen Kurator für ihr Vermögen mehr brauchen, richtig, Herr Lindner?«
Der Notar räusperte sich. Er war um mehrere Ecken mit ihnen verwandt, und seine Mutter war die beste Freundin ihrer Mutter gewesen. Wenn Antonie sich in ihn verliebt hätte, dann hätte Louise das schon eher verstanden, aber Otto Lindner war bereits verlobt.
»Das stimmt. In den übrigen deutschen Fürstentümern ist die Rechtslage anders, doch in unserem Sachsen hat eine Frau nun das Recht, ohne männliche Vormundschaft über ihr Vermögen und ihr Leben zu entscheiden.«
»Eine Frau«, ergänzte Julius Dennhardt, der Louise mit wachsender Feindseligkeit musterte. »Kein halbwüchsiges Mädchen. Fräulein Louise, Sie sind in Sachsen wie in jedem anderen Staat noch minderjährig, und Ihr Verhalten hier und jetzt unterstreicht Ihren Mangel an Reife nur. Oder sehen Sie das anders, liebste Antonie?«, schloss er mit einem gebieterischen Blick auf Louises älteste Schwester.
»Ganz und gar nicht«, beteuerte diese hastig. Louise versuchte es der Schwester nachzusehen. Antonie hatte vor Dennhardt noch nie einen Verehrer gehabt und einmal gesagt, sie könne sich kein schlimmeres Schicksal vorstellen als das von Tante Matthäi: unverheiratet, eine alte Jungfer ohne eigenes Zuhause, immer darauf angewiesen, bei Verwandten zu leben.
Einen Moment lang war Louise versucht nachzugeben. Nur weil sie Dennhardt nicht mochte, hieß das noch lange nicht, dass er ein schlechter Mensch war. Es gab keinen bösen Klatsch über ihn in Meißen, und ihm stand wirklich eine Beförderung zum Rang eines Gerichtsdirektors ins Haus. Er würde vermutlich mit ihrem Teil des Erbes verantwortungsbewusst umgehen.
Aber Louise hatte Träume. Und Julius Dennhardt würde ihr ganz bestimmt nicht erlauben, sie zu verwirklichen. So, wie er von »zarten Frauen« sprach, würde er ihr noch nicht einmal gestatten, die politischen Journale zu lesen, wie es Papa getan hatte, und von der Welt mehr als Meißen und Umgebung zu sehen, vielleicht gerade noch Dresden. Selbst das würde er ihr als ihr Vormund verbieten können, wenn er erst einmal in der Lage dazu wäre. Antonie und Franziska würden ihr in so einem Fall bestimmt nicht zu Hilfe kommen, das machten die beiden gerade deutlich. Und Tante Matthäi erst recht nicht. Die hatte zu sehr Angst, von Dennhardt aus dem Haus komplimentiert zu werden, auf etwas freundlichere, aber genauso bestimmte Art, wie es den Schreibern geschehen war.
»Es gibt genügend Frauen in meinem Alter, die bereits verheiratet sind und Kinder haben«, sagte Louise und setzte sich etwas aufrechter. »Wenn ich alt genug bin, um zu heiraten und Kinder aufzuziehen, dann bin ich auch alt genug, um mich selbst um mein Geld und Gut zu kümmern.«
»Im Fall einer Ehe wäre es doch Ihr Gatte, der sich um alles kümmern und Ihnen diese Last abnehmen würde«, protestierte ihr zukünftiger Schwager und wandte sich an den Notar. »Frauen brauchen nun einmal den Verstand und den Schutz eines Mannes, das sehen Sie doch gewiss genauso, werter Kollege.«
Ich mache mir Sorgen um dich, murmelte Louises Mutter in ihrer Erinnerung. Wohin soll das noch führen, all diese Bücher? Du wirst nicht in einer Bibliothek leben, Loulou, sondern in unserer Welt, und kein Mann will eine Gattin, die mehr gelesen hat als er. Dich noch länger auf der Schule zu lassen, wäre einfach verantwortungslos, wenn wir dich auf das Leben vorbereiten wollen.
Warum, warum nur waren die Eltern tot? Warum war ein Streit das letzte gemeinsame Gespräch gewesen, nicht einer der wunderbaren Abende in dem Landhäuschen, das der Vater vor ein paar Jahren gekauft hatte, ganz oben auf einem Weinberg, wo sie gemeinsam die Sonne untergehen sehen konnten, während die Mutter mit ihrer schönen Stimme sang?
Reiß dich zusammen, dachte Louise. Die Vergangenheit kannst du nicht mehr ändern. Jetzt geht es um die Zukunft! Um dein gesamtes weiteres Leben!
Trotz ihrer Schwestern und ihrer Tante war sie auf sich allein gestellt in diesem Raum, hatte keinerlei Hilfe, das wusste sie. Aber sie entdeckte gerade, dass dieses Bewusstsein sie nicht schwächte, im Gegenteil. Es gab ihr Kraft. Gegen Krankheit und Tod der Eltern hatte sie nichts tun können. Sie war nichts als hilflos und ohnmächtig gewesen. Aber Julius Dennhardt, angehender Gerichtsdirektor, Schwager in spe, war kein unbesiegbarer Gegner. Er war nur ein etwas selbstgefälliger Mann, der sich für die Krone der Schöpfung hielt. Gegen ihn konnte sie kämpfen.
»Ich glaube nicht, dass Sie wollen, dass ich mir einen Gatten suche, Herr Dennhardt«, sagte Louise in ihrem sanftesten Tonfall. »Und ich würde einen finden, das wissen Sie. Was der dann fordert, geht bestimmt weit über das hinaus, worauf wir uns verständigen können.«
»Louise!«, rief Antonie empört. Von Franziska kam etwas, was verdächtig einem Glucksen ähnelte, doch als Louise zu ihr schaute, machte ihre zweitälteste Schwester rasch ein ernstes Gesicht. Tante Matthäi schüttelte missbilligend den Kopf.
In das Gesicht Dennhardts stieg Röte, soweit sich das unter seinem dichten Backenbart erkennen ließ. »Was sagt man dazu, Herr Kollege«, stieß er hervor und erwartete offensichtlich moralische Unterstützung von dem Notar.
»Nun, da es sich bei Fräulein Louise um eine sehr anziehende junge Dame aus bester Familie mit einer ansehnlichen Mitgift handelt, glaube ich auch, dass es ihr nicht schwerfiele, rasch einen Freier zu finden«, entgegnete dieser und klang fast ein wenig boshaft, als er hinzusetzte: »Schließlich ging es Fräulein Antonie nicht anders, nicht wahr?«
Die Röte auf Dennhardts Wangen vertiefte sich. Schließlich konnte man die Worte des Notars so verstehen, dass auch er als Mitgiftjäger gesehen wurde. Louise setzte sofort nach: »Mit wem möchten Sie lieber um die Verwaltung unseres Erbes verhandeln, mit einem erwachsenen, erfahrenen Mann oder einem halbwüchsigen Mädchen?«
Inzwischen schaute der Notar ausgesprochen beeindruckt drein, was gut war, denn da Louise tatsächlich noch minderjährig war, würde sie bis zu ihrer Volljährigkeit jemanden brauchen, der für sie Verträge aushandelte und beglaubigte. Herr Lindner war bereits verlobt und entfernt verwandt mit ihr; ihn würde sie als Anwalt nehmen können, ohne dass er auf die Idee käme, sie zu heiraten, und da er ein Verwandter war, würde es auch ihren Ruf nicht kompromittieren. Sie würde ihn dafür nach Stunden bezahlen, und es würde somit in seinem Interesse liegen, dass sie das weiter tun konnte, davon war sie überzeugt.
Julius Dennhardt öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Dann sagte er, sichtlich um Beherrschung ringend: »Sie werden noch feststellen, Fräulein Louise, dass ich nur Ihr Bestes gewollt habe. Aber bitte. Des Menschen Wille ist sein Himmelreich. Sie werden nicht sagen können, ich hätte Sie nicht gewarnt!«
Er schwieg, während der Notar nun endlich den letzten Willen des Vaters verlas, der zwar jeder von ihnen eine finanzielle Mitgift sicherte und ihnen zutraute, das Landhäuschen und den Weinberg sowie das Stadthaus in Meißen gerecht unter sich aufzuteilen. Papa wusste, dass wir keine Kinder mehr sind, sondern vernunftbegabte Wesen, dachte Louise. Er hat uns vertraut. Sie biss sich auf die Lippen, um zu verhindern, dass ihr Tränen in die Augen stiegen. Wenn sie jetzt Schwäche zeigte, dann war alles umsonst gewesen!
Bisher waren sie ein Haushalt von neun Personen gewesen: die Eltern, Antonie, Franziska, Louise, Papas zwei Schreiber, das Dienstmädchen und Tante Matthäi. Die Familie hatte die zweite Etage und ein paar Zimmer im dritten Geschoss bewohnt. Außerdem hatte der Vater ein Zimmer im Parterre gelegentlich an Studenten vermietet und die rechte Seite des Gebäudes für seine Arbeitszimmer und Akten genutzt. Am Ende des langen Tages hatte sich Louise mit ihrem zukünftigen Schwager darauf geeinigt, dass sie und nicht er die Arbeitszimmer des Vaters bekäme, während sie ihr altes Zimmer aufgab, damit der gesamte dritte Stock vermietet werden konnte. Sollte sie aus dem Elternhaus ausziehen, dann würde sie selbst Miete für diese Räume erhalten und über das Geld genauso entscheiden können wie über alle anderen von ihr geerbten Vermögenswerte, die bis zum Erreichen ihrer Volljährigkeit nicht von Julius Dennhardt, sondern von dem Notar Lindner verwaltet würden.
»In meinem Leben habe ich mich noch nie so sehr geschämt«, sagte Antonie, als Dennhardt endlich verschwunden war. »Wie konntest du nur? Er hätte sich um dich gekümmert, um uns alle, und du wirfst ihm derartige Boshaftigkeiten ins Gesicht. Wenn er kein solcher Mann von Ehre wäre, hätte er bestimmt schon unsere Verlobung gelöst, um nicht mit dir verwandt sein zu müssen. Warum tust du so was? Was willst du denn überhaupt?«
»Ihren Dickkopf durchsetzen«, sagte Franziska. »Immer durch die Wand, das ist unsere Louise. Aber ganz im Ernst, Loulou, das war ausgesprochen dumm, sich so viel zusätzliche Arbeit aufzuhalsen. Jetzt wirst du Rechnungen durchgehen müssen, statt weiter deinen Schiller zu lesen.«
»Jean Paul.«
»Was?«
»Ich liebe Schiller, aber derzeit lese ich Jean Paul. Und das kann ich auch, wenn ich vorher Rechnungen durchgehen muss.«
»Es ist doch gleich, welche Bücher du liest! Warum du mir um ein Haar das Leben ruiniert hättest, das will ich wissen!«, schluchzte Antonie.
Jetzt zuzugeben, dass sie keinen genauen Lebensplan hatte, das kam nicht in Frage. Wenn sie ehrlich mit sich war, wusste Louise vor allem, was sie nicht wollte: wie die Schwestern das Denken dem nächstbesten Mann überlassen, wie Tante Matthäi als geduldete Verwandte die Gouvernante spielen. Am liebsten würde sie an die Universität gehen und studieren, aber das war für Frauen überall verboten, nicht nur in Sachsen. Selbst die Lehrerinnen in der Schule, die Louise bis zu ihrer Konfirmation besucht hatte, hatten selbstverständlich nicht studiert, sondern waren ihrerseits durch Hauslehrer erzogen worden. So war Lehrerin einer der wenigen Berufe, die für sie als gebildete Frau in Frage kamen. Aber wenn sie sich vorstellte, jeden Morgen mit Kindern das ABC üben zu müssen, dann schauderte sie.
»Sag bloß, dass du noch immer die Jungfrau von Orleans werden willst«, neckte Franziska sie, als Louise nicht sofort antwortete. »Oder die Walküre Brünhild. Heldin werden zu wollen, ist nur verzeihlich, wenn man acht Jahre alt ist, und wie du uns allen heute so schön erklärt hast: Du bist kein Kind mehr!«
Es war eine harmlose Neckerei, aber sie erinnerte Louise daran, wie aufregend es für sie gewesen war, Sagen und Mythen zum ersten Mal zu hören. Als ihr die Eltern damals erklärt hatten, dass Mädchen heute keine Walküren mehr würden, hatte Louise sich damit getröstet, selbst ein Märchen zu schreiben, in dem Thusnelda, die Gattin Hermanns des Cheruskers, statt seiner eigenhändig die Römer besiegte und aus dem Land warf. Die Erinnerung daran, wie sie den Schreibern ihres Vaters Papier abgebettelt und es vollgekritzelt hatte, rückte plötzlich etwas in ihr zurecht.
»Nein, ich will nicht mehr Brünhild werden«, sagte Louise. »Ich will über Brünhild schreiben. Ich werde Schriftstellerin!«
Der Geruch würgte Susanne in der Kehle: fischig, mehlig, dazu der Schweiß des alten Mannes und ihr eigenes Blut. Sein rechter Arm lag auf ihr, und sie wagte nicht, sich zu rühren. Nicht, ehe er eingeschlafen war. Das Bett unter ihr war so, wie sie es sich erträumt hatte, wenn sie auf ihrem Strohsack schlief und zuhörte, wie sich der alte Mann auf ihrer Mutter abmühte, aber die weiche, gut gestopfte Decke auf ihrer Haut war jetzt schlimmer, als es Stroh und Sackleinwand je hätten sein können. Als sie den Mann neben sich endlich schnarchen hörte, hielt sie den Atem an. Dann begann sie sehr, sehr vorsichtig, von ihm fortzurutschen.
Sie war dreizehn Jahre alt, und gerade jetzt, in diesem Moment, war Susanne sich nicht sicher, ob sie je vierzehn werden wollte.
An den Vater konnte sie sich kaum erinnern. Irgendwann war er nicht mehr da gewesen, und die Mutter hatte den Hof hergeben müssen, den sie allein nicht bewirtschaften konnte. Dann hatte die Mutter versucht, sich als Magd an einem anderen Hof zu verdingen, aber nirgendwo war Platz und Geld genug, bis die alte Haushälterin des Dorflehrers starb. Seither lebten Susanne und ihre Mutter beim Lehrer, und im Dorf hieß es, die Grabaschin sei ein Glückspilz. Gut, sie musste dem Lehrer nicht nur das Haus rein halten, sondern auch die zwei Kühe und den kleinen Hof versorgen, mit nur einem Kind als Hilfe, weil er keine weitere Magd einstellen wollte, aber sie war doch noch jung und gesund genug, und das Kind bekam ordentlich zu essen beim Lehrer, an jedem Sonntag einen guten Eintopf, musste nicht mit acht oder gar zehn andern Mäulern teilen, wuchs auf mit ordentlich starken Knochen und Fleisch daran. Nein, die Grabasch Ilona hatte Glück, da waren sich alle einig.
Susanne dachte zuerst auch, dass sie Glück hatten, sie und die Mutter. Nicht nur wegen des Essens. Der Lehrer schien sie zu mögen. Er brachte ihr mit den anderen Schulkindern Lesen und Schreiben bei, obwohl sie nur die Tochter seiner Magd war, und erzählte ihr in seinem Heim Geschichten aus seinen Büchern. Weil sie sich an ihren Vater bald nicht mehr erinnern konnte, stellte sie sich ihn als einen Mann wie den Lehrer vor: mit tiefer Stimme, behäbig und gemütlich, wenn man ihn nicht wütend machte. Die anderen Kinder in der Dorfschule machten ihn wohl ständig wütend, denn er gebrauchte den Rohrstock oft. Wenn die Leute im Dorf an der Schule vorbeiliefen, hörten sie die Kinder immer wieder schreien und nickten einander zu; bei ihnen hatte er es wohl nicht anders gehalten. Aber Susanne gegenüber verhielt sich der Lehrer sanfter.
Als sie älter wurde, begriff sie, warum die Mutter hin und wieder nicht neben ihr in dem kleinen Verschlag lag, wo sie beide untergebracht waren, sondern in dem schönen großen Bett des Lehrers, das sogar Kissen mit echten Federn hatte. Aber jetzt wusste sie, dass sie es immer noch falsch verstanden hatte, denn lange hatte sie geglaubt, es bedeute, dass der Lehrer die Mutter liebe und irgendwann heiraten werde. Dann war Susanne alt genug geworden, um einmal im Monat zu bluten. Ihr Körper fing an, sich zu verändern, und der Lehrer verbrachte noch mehr Zeit mit ihr. Zum letzten Weihnachtsfest hatte er ihr sogar ein Buch geschenkt, ein eigenes Buch, nur für sie. Ganz gewiss hieß das doch, dass er sie als seine Tochter ansah und die Mutter doch noch heiraten würde, davon war sie überzeugt. Bis er sie zurückhielt, als sie der Mutter beim Melken der Kühe helfen wollte, und sie fragte, ob sie nicht genug davon habe, immer noch auf dem alten Strohsack zu schlafen.
Sein Schnarchen wurde lauter, und es war ihr gelungen, von der Bettkante zu gleiten, ohne ihn dabei aufzuwecken. Fast blind vor Schmerz, Demütigung und Tränen tastete sie sich aus dem Raum und die Treppe hinunter.
Es kam ihr vor, als wären Stunden vergangen, seit der Lehrer mit ihr die Treppe hochgegangen war, schwer schnaufend, weil er als einer der wenigen im Dorf mit jedem Jahr dicker wurde, und mit einem Arm auf sie gestützt. Aber die Sonne stand fast noch so wie vorhin. Also musste die Mutter noch im Stall sein. Der Mutter unter die Augen zu treten, so wie sie war, mit dem Schweiß des Lehrers auf ihrer Haut, das erschien Susanne unerträglich, und sie rannte in die umgekehrte Richtung, in den Wald am Dorfrand. Rannte und rannte, bis ihr rote Funken vor den Augen tanzten. Irgendwann brach sie keuchend zusammen und krümmte sich auf dem Boden. Das Moos unter ihrem Gesicht war angenehm kühl.
Sie stellte sich vor, einfach weiterzulaufen, wenn sie sich ausgeruht hatte. Irgendwohin, bis zum nächstgrößeren Ort, dann noch weiter. Alles, nur nicht hierbleiben.
Aber dann würde der Lehrer ihrer Mutter die Schuld dafür geben. Eine neue Hauswirtschafterin bekam er jederzeit, so schlecht, wie die Dinge standen, während immer mehr Höfe verödeten. Er würde die Mutter hinauswerfen. Und niemand sonst im Dorf würde ihr Arbeit geben. Das waren ihre frühesten Erinnerungen: mit der Mutter von Hof zu Hof zu ziehen nach dem Tod des Vaters, als sie davon leben mussten, dass die Mutter hier und da bei der Ernte half oder Ställe ausmistete. Würd dich schon länger einstellen, Grabaschin, wenn du allein wärst, aber noch ein Kindermaul stopfen, das kann ich nicht, so oder so ähnlich hatten sich all die Bauern ihres Dorfes ausgedrückt. Die Zeiten sind schlecht für uns alle. Nur einmal, da waren sie Viehhändlern begegnet, die hatten es umgekehrt gehalten, hatten angeboten, Susanne zu nehmen, aber nicht die Mutter. Hatten sogar Geld zahlen wollen. Susanne war stumm vor Angst gewesen, überzeugt, die Viehhändler würden sie schlachten wie die Hexen kleine Kinder in den Märchen. Hatte sich an die Mutter geklammert, die wohl nichts dergleichen dachte und gewiss in Versuchung gewesen sein musste, das Kind loszuwerden, das sie kaum ernähren konnte. Aber die Mutter hatte nichts dergleichen getan. Hatte Susanne nur stumm an sich gedrückt und war mit ihr weitergegangen.
Du und ich, Suse, ich und du, hatte sie gemurmelt. Wir bleiben zusammen. Immer. Was nützt mir Geld, wenn ich mein Kind nicht hab? Wir finden schon was, wart’s nur ab, mein Schatz.
Sie hatten den Dorflehrer gefunden.
Jetzt zurückzugehen, das bedeutete jedoch vor allem eins für Susanne: Der heutige Tag würde sich wiederholen. Das Gewicht des alten Mannes auf ihr, seine Hände, überall. Die Schmerzen in ihrem Unterleib. Natürlich konnte Susanne ihn anflehen, sie in Ruhe zu lassen, aber das hatte sie vorhin versucht, und er war nur wütend geworden, hatte gesagt, dass sie doch sein Geschenk angenommen habe und all die Wohltaten, die er ihr erwiesen hatte; sie sei’s doch gewesen, die ihn nicht in Ruhe ließ und vor ihm herumscharwenzelte als wahre Evastochter, ob sie ihn denn zum Narren halten wolle?
Nein, der Lehrer würde nicht aufhören. Susanne drehte sich auf den Rücken und starrte auf den Himmel über sich, der blasser wurde, bereits in die Dämmerung überging. Fortlaufen? Bleiben?
Wieder sah sie die Mutter vor sich, spürte ihre abgearbeiteten Hände, wie sie Susannes Haare zu Zöpfen flochten, mit Bändern, die von der Mutter selbst bestickt worden waren. Hörte die Stimme ihrer Mutter, wie sie Susanne in den Schlaf sang. Wie sie mit ihren Fingern Vogelschwingen formte oder Hasen, deren Schatten im Flackern des Talglichts an die Wand geworfen wurden, um Susanne zum Lachen und Staunen zu bringen, als Susanne noch klein war, um sie von dem nagenden Hunger in ihrem Magen abzulenken.
Du und ich, Suse. Ich und du.
Sie konnte ihre Mutter nicht im Stich lassen. Aber es kam auch nicht in Frage, gar nichts zu tun. Susanne wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und raffte sich auf. Die Scham brannte in ihr, aber sie würde der Mutter erzählen, was geschehen war. Würde sie anflehen, mit ihr gemeinsam fortzulaufen. Weg von dem Dorf. Anderswo musste es doch Arbeit geben, für sie alle beide. Susanne war kein kleines Kind mehr, das nur eine Last war, das nicht mit anpacken konnte.
Und wenn die Mutter ihr nicht glaubte? Wenn sie den Lehrer liebte? Sie hatten nie darüber geredet, Susanne und ihre Mutter. Selbst dann nicht, wenn sie gemeinsam im Stall die Kühe molken und die Mutter Scherze darüber machte, dass der Stier vom Germer-Bauern, der hier in der Gegend die Kühe deckte, mit den Jahren auch immer fauler werde, wie so mancher Mann. Die Übelkeit in Susannes Magen wuchs. Vorhin hatte sie nicht auf den Weg geachtet, aber sie kannte die Gegend gut genug, um ohne weiteres zum Dorf und damit zum Haus des Lehrers zurückzufinden. Zum Haus des Lehrers. Nicht zu ihrem Zuhause. Nie wieder würde sie so an das Haus denken.
Was, wenn die Mutter es anders hielt?
Ihr war nach wie vor schlecht, aber sie zwang sich weiterzugehen. Die Tür stand leicht offen. Das würde dem Lehrer nicht gefallen und der Mutter auch nicht; so kamen immer wieder Mäuse und Ratten ins Haus. Susanne ging schneller, trat über die Schwelle und schloss die Tür hinter sich.
Das Erste, was sie sah, war der schwere Körper des Lehrers am Fuß der Treppe. Er lag fast so, wie sie ihn in seinem Bett zurückgelassen hatte, auf dem Rücken, aber seine Augen waren nicht geschlossen; sie starrten ausdruckslos in die Höhe. Kein Laut kam von ihm. Um ihn herum waren Splitter verteilt. Sie konnte Spritzer von ausgelaufenem Öl riechen und schaute sich instinktiv um, ob die Öllampe irgendetwas in Brand gesetzt hatte. Dabei entdeckte sie ihre Mutter. Die Mutter stand am oberen Ende der Treppe und löste gerade einen dünnen Strick von den Holmen an beiden Seiten des Geländers, der auf Fußgelenkhöhe gespannt gewesen sein musste. Ihr Blick traf auf den Susannes.
»Er hat mit mir machen können, was er wollte«, sagte die Mutter heiser. »Aber nicht mit meinem Kind.«
Etwas in Susanne löste sich. Erst jetzt wurde ihr klar, wie sehr sie im Innersten Angst gehabt hatte, die Mutter würde ihr die Schuld geben für das, was geschehen war, wenn sie davon erfuhr. Würde wie der Lehrer sagen, dass Susanne das gewollt haben musste, was er mit ihr tat. Doch so war es nicht. Ihre Mutter stand auf ihrer Seite und liebte sie noch immer!
Gleichzeitig spürte Susanne, wie Entsetzen sie ergriff. Der Lehrer war tot. Menschen, die andere Menschen umbrachten, wurden erst hingerichtet, und dann kamen sie in die Hölle. So hatte sie es gelernt … von dem Mann, der auf dem Boden vor ihr lag und sie vor ein paar Stunden geschändet hatte.
»Mir ist gleich, was mit mir geschieht, solang du in Sicherheit bist«, sagte die Mutter, als würde sie Susannes Gedanken lesen, und Susanne fand ihre Stimme wieder.
»Ich verrat nichts. Jeder wird denken, dass es ein Unfall war, Mama!«
Sie lief die Treppe hoch und umarmte ihre Mutter, spürte, wie die Mutter, die für Susanne immer Sicherheit und Liebe verkörpert hatte, am ganzen Leib zitterte.
»Keiner kriegt’s raus«, flüsterte Susanne, »versprochen!«
Ihr Dorf war zu klein, um einen eigenen Gendarmen zu haben. Also holte Susanne den Dorfpfarrer und den Schankwirt, die neben dem Lehrer am meisten im Dorf galten, klagte, die Mutter und sie hätten den Lehrer nach dem Melken der Kühe so gefunden, und was denn nun würde.
Inzwischen war es dunkel, aber die Mutter hatte die Kerzen angezündet, die der Lehrer sonst nur an Festtagen benutzte. Der Pfarrer sprach ein Gebet über den Körper, dann zogen er und der Schankwirt ihn hoch und trugen ihn gemeinsam bis zum Küchentisch.
»In der Öllampe kann nicht mehr viel Öl gewesen sein«, sagte der Pfarrer, »sonst wäre wohl ein Feuer ausgebrochen. Im Dunkeln ist es dann wohl passiert. Bei seinem Ranzen war ja immer die Gefahr, dass er da stürzt, wo ihn keiner mehr aufrichten kann. Wehe der Völlerei, denn sie ist eine der sieben Todsünden.«
Der Schankwirt versprach, später mit seinem Knecht wiederzukommen, damit der Herr Lehrer ordentlich aufgebahrt werden könne. Dabei schnupperte er plötzlich in der Luft, als witterte er etwas, wie ein Hund. Seine Augen wanderten von Susanne zu ihrer Mutter und dann wieder zu Susanne. Mit Schrecken wurde ihr klar, dass der Samen des Lehrers noch immer an ihr klebte. Bei all dem Schrecken und der Eile hatte sie völlig vergessen, sich zu waschen. Sie griff nach der Hand ihrer Mutter und spürte, wie die Finger ihrer Mutter erneut zu zittern begannen, als der Wirt noch näher an die Leiche herantrat und wieder schnupperte. Susanne fragte sich sofort, ob der Lehrer sich vor seinem Tod noch die Schenkel von ihrem Blut gereinigt hatte. Sie bezweifelte es. Ihr Herz pochte immer schneller, und sie bildete sich ein, der Pfarrer und der Wirt müssten es beide hören.
»Scheint viel über den Durst getrunken zu haben, der Hans«, sagte der Wirt ruhig. »Hab ihm schon immer gesagt, dass er so einen Rausch ausschlafen muss, ehe er Treppen runterpoltert.«
»Auf Ratschläge hat er nie gehört. Gott sei seiner Seele gnädig«, stimmte der Pfarrer zu.
Susannes Mutter fing an zu weinen, und Susanne glaubte nicht, dass sie nur so tat. Wahrscheinlich hatte sie bis jetzt geglaubt, dass ihre Tat entdeckt würde, und nun, da dies doch nicht der Fall war, verließ sie die Kraft, welche die Mutter bisher aufrecht gehalten hatte.
Als der Wirt an Susanne vorbei zur Tür trat, spürte sie, wie er ihr flüchtig die Hand auf die Schulter legte und sich zu ihr beugte, während der Pfarrer ihre Mutter tröstete.
»Mein Mädel hat er auch gehabt, das Schwein«, flüsterte der Wirt und verließ das Haus.
»Eine fleißige Arbeiterin steht früh 5 Uhr auf und setzt sich gegen 6 Uhr an ihren Arbeitstisch – dann steht sie nicht eher auf als um 12 Uhr zum Mittagessen – in längstens einer halben Stunde ist dies beendigt, und sie setzt sich gleich wieder hin – hat sie viel zu tun, so macht das Abendessen keine Unterbrechung, ein Stück Brot mit Salz kann neben der Arbeit gegessen werden – gegen 10 Uhr, oder je nachdem die Arbeit treibt, geht sie schlafen und sagt sich, daß sie heute vielleicht drei Neugroschen verdient hat.«
Louise Otto, Für die Arbeiterinnen
Oederan, Sachsen, Sommer 1845
Als Susanne dem Fräulein das erste Mal begegnete, lief sie so schnell, dass sie Louise Otto um ein Haar umgerannt hätte.
Inzwischen war sie fünfzehn Jahre alt, und die Erinnerung an den Lehrer, seine Hände und seinen Tod hatte sich ins Dunkel ihres Gedächtnisses verflüchtigt, wie Dreck, den man immer wieder in die Ecken kehrt, ohne ihn je aus dem Haus entfernen zu können. Der Ekel war da, aber Susanne war viel zu beschäftigt, um oft daran zu denken.
Im Dorf hatten sie nach dem Tod des Lehrers nicht bleiben können, die Mutter und sie, nicht nachdem die Kartoffelfäule in ihre Gegend kam und alle noch ärmer gemacht hatte. Sogar die Erben des Lehrerhauses hatten dieses sofort verkauft, um ihren eigenen Hof zu retten. Aber im nächsten größeren Ort gab es Arbeit: in Oederan, bei der Tuchfabrik Gerstig. Die gesamte Gegend war schon immer voller Weber gewesen, und Spulen, das Auf- und Umspulen von Garn, das dann dem Webstuhl zugeführt wurde, das hatte die Mutter noch gelernt und zu Lebzeiten des Vaters auch getan. Das Spulen in der Fabrik war zunächst auch nicht viel anders, nur größer und staubiger. Außerdem musste man den ganzen Tag gekrümmt sitzen, und Susanne bemerkte, dass ihre Mutter mittlerweile nicht mehr gerade ging, wenn sie nach den täglichen zwölf Stunden Spulen in das kleine Haus liefen, das sie mit ein paar weiteren Arbeiterinnen der Fabrik bewohnten.
In diesem Jahr waren dann Veränderungen wie Blitze eingeschlagen, als der Fabrikbesitzer die neuen Maschinen aus England kommen ließ, zusammen mit englischen Maschinenbauern, die kein Mensch verstand, wenn sie versuchten, den Arbeitern und Arbeiterinnen zu erklären, wie man sie bedienen solle. Die Kerle behaupteten zwar, Deutsch zu reden, aber es klang überhaupt nicht wie das Sächsisch, das Susanne ihr Leben lang gesprochen hatte. Immerhin waren sie besser im Gestikulieren. Wer nicht schnell begriff, was sie da vormachten, wurde entlassen, weil es keinen Mangel an früheren Bauern gab, die verzweifelt nach Arbeit suchten und bereit waren, jede Tätigkeit zu übernehmen. Susannes Freundin Doris, die erste gute Freundin, die sie je gefunden hatte, schwor, sie habe alles verstanden, schon weil ihr Vater zu denen gehörte, die hinausgeworfen worden waren. Doris brauchte das Geld. Hinterfragt hatte die Behauptung keiner, auch weil die anderen sonst hätten zugeben müssen, selbst noch nicht richtig begriffen zu haben, wie man mit den Maschinen umging, und Doris stand sogar eine Beförderung ins Haus – bis sie drei Finger an die neue Maschine verlor, weil sie wie alle anderen nicht wusste, wie man das Ding ausstellen konnte.
Arbeiterinnen wie Doris oder Susanne bekamen den Fabrikbesitzer selbstverständlich nie persönlich zu Gesicht, das hatte Susanne auch nicht erwartet, doch als sie verzweifelt versuchte, die blutenden Stumpen ihrer Freundin zu verbinden, und das Geschrei schließlich auch den »Faktor« auf den Plan rief, der für die Arbeiter der Stellvertreter des unsichtbaren Fabrikanten vor Ort war, da war sie doch davon ausgegangen, dass der Faktor einen Arzt für Doris rufen lassen würde.
Stattdessen war Susanne sogar verboten worden, Doris Stoff aus der Fabrik für weitere Verbände mitzugeben. Noch nicht einmal ausgesonderte Stoffreste. Und natürlich gab es keinen Groschen für Doris, damit sie selbst einen Arzt bezahlen konnte. Sie wurde umgehend entlassen.
»Erst um ein Haar die neue teure Maschine aus England kaputt machen und uns einen halben Tag Arbeit kosten, und dann auch noch Gewinn daraus ziehen wollen? Nichts da! Sonst dauert’s nicht lang, und ihr faules Volk lasst eure Finger absichtlich in der Maschine, um dem Patron Geld aus der Tasche zu ziehen! So weit kommt’s noch!«
Am liebsten hätte Susanne dem Kerl ins Gesicht gespuckt, doch das hätte Doris nicht geholfen.
»Aber die Doris braucht doch Verbände«, beharrte sie, »der erste ist bald durchgeblutet …«
»Aller Stoff hier ist Eigentum der Tuchfabrik Gerstig. Wenn ich erst zulasse, dass eine von euch was mit nach Hause nimmt, dann klaut ihr bald alle wie die Raben! Und jetzt schau, dass du selbst wieder an deinen Platz kommst und weiterarbeitest!«
Von dem Faktor war also keine Hilfe zu erwarten. Wie der Fabrikbesitzer aussah oder wo genau in Oederan er wohnte, das wusste Susanne nicht, und nach dem Verhalten des Faktors zu urteilen, würde der feine Herr auch keine seiner Arbeiterinnen über die Schwelle lassen. Außer Susanne hatte Doris auch andere Freundinnen, aber keine von denen machte Anstalten, etwas zu unternehmen. Jede hatte zu große Angst, entlassen zu werden. Und Doris’ Vater tat seit seiner Entlassung ohnehin nichts mehr, als zu trinken, wenn er irgendwo billigen Fusel in die Hand bekam; der war auch keine Hilfe.
»Lass gut sein, Kind«, sagte Susannes Mutter, die auch Angst hatte, nicht nur vor der Entlassung, sondern davor, überhaupt Aufmerksamkeit zu erregen. Manchmal träumte der Mutter, dass Männer mit Ketten kämen, um ihr doch noch den Tod des Lehrers vorzuwerfen.
Susanne wollte es nicht gut sein lassen. Die Adresse des Fabrikbesitzers wollte oder konnte ihr keiner der anderen Arbeiter nennen, aber immerhin die der Kirche, in die der Patron und seine Familie gingen. Susanne beschloss, sich an den Pastor zu wenden, der dort predigte. Der kannte doch gewiss den Patron und würde bereit sein, ihm ins Gewissen zu reden oder wenigstens zu vermitteln, damit Doris etwas Geld bekäme.
Unter der Woche hatte Susanne keine Zeit, um den Pastor aufzusuchen, nicht bei einem Arbeitstag, der frühmorgens begann und spät am Abend endete. Zwölf Stunden Arbeit, fast eine Stunde Fußmarsch zu ihrem Heim und dann noch die Hausarbeit, das ließ beim besten Willen keinen Raum. Aber der Sonntag wenigstens war frei, und obwohl die Frau des Pastors Susannes Kleid, aus dem sie sichtbar herausgewachsen war, mit Missbilligung musterte, wurde sie ins Pfarrhaus gelassen.
»Mein Kind«, meinte der Pastor schließlich, »es tut mir herzlich leid um deine Freundin. Aber du musst verstehen, dass Herr Gerstig nach den entsetzlichen schlesischen Unruhen im letzten Jahr vielleicht ein wenig zur Strenge neigt, was seine Arbeiter betrifft, doch nur wie ein Kapitän, der sein Schiff durch stürmische Wellen einer aufgewühlten See steuern und vordringlich an die gesamte Besatzung denken muss. Manche Maßnahme, die da streng erscheint, ist berechtigt um des Ganzen willen. Wenn das Mädchen gelogen hat, was ihre Kenntnisse betrifft, und so den gesamten Ablauf mit der neuen Maschine gefährdete, dann ist das kein Beispiel, das ein gewissenhafter Herr ermutigen darf.«
Die Hälfte von dem, was er da erzählte, war für Susanne Unsinn. Weder ein Meer noch Schiffe hatte sie je gesehen. Was er mit »entsetzliche schlesische Unruhen im letzten Jahr« meinte, war ihr auch nicht klar. Aber sie verstand die Art, wie der Pastor ihrem Blick auswich, und die feinen Schweißperlen auf seiner Stirn, obwohl es doch ein kühler Tag war. Er wollte es sich nicht mit dem Fabrikbesitzer verscherzen. Vielleicht hatte er sogar Angst. Auf jeden Fall zählte das Wohlwollen des Patrons mehr für ihn als Doris, die, selbst wenn sie ohne einen Arzt überlebte, mit einer unbrauchbaren Hand zukünftig höchstens würde betteln können.
Die Enttäuschung in ihr mischte sich mit Wut, und sie hätte ihn am liebsten gefragt, ob Gott denn nicht die Armen und Kranken liebe. So hatte es in der Kirche, in die sie mit ihrer Mutter ging, jedenfalls geklungen. Aber dann sah sie wieder Doris vor sich.
»Haben Sie denn etwas frisches Verbandszeug für Doris, Herr Pastor?«
Er gab ihr etwas altes Leinen und versprach, für Doris zu beten. Geld gab er ihr nicht. Susanne würgte es in der Kehle, und weil sie sicher war, loszuschreien, wenn sie noch einen Moment länger bliebe, drehte sie sich um und stürmte mit dem Stoff in der Hand aus dem Pfarrhaus. Die kleine Frau, die gemessenen Schrittes gerade auf das Haus zuhielt, sah sie nicht. Sie spürte den Aufprall gegen einen anderen Körper, und ihr fiel der Stoff aus den Händen. Der Anblick des Tuchs auf dem zertrampelten Boden und dann der jungen Frau, deren Kleid fast neu wirkte, zerstörte, was von Susannes Selbstbeherrschung noch übrig war.
»Du dämliche Kuh, du dämliche, nicht mal dreckige Lumpen gönnt ihr uns, schuften und verrecken, nur dazu sind wir gut für euch, fahr zur Hölle!«
Die Fremde trat einen Schritt zurück. Sie hatte dunkelbraune Haare, die zu beiden Seiten an den Schläfen und Wangen in Schnecken gelegt waren, die verrieten, dass sie am Morgen genügend Zeit für diese Art von Frisur haben musste, eine Stupsnase und blaue Augen, die gegen ihre Haare einen großen Kontrast abgaben und sich während Susannes Ausbruch geweitet hatten. Ihr nach unten bauschender Rock bestand aus drei Reihen grauen Volants, was Susanne vor ein paar Jahren noch nicht gewusst hätte, aber in der Fabrik hatte sie die Namen verschiedener Stoffe gelernt. Sie war kleiner als Susanne, und Susanne selbst hatte noch nicht aufgehört zu wachsen, also hielt sie die andere zuerst auch für ein Mädchen, bis sie ihre Stimme hörte, die eher wie diejenige der Vorarbeiterin klang – die einer erwachsenen Frau.
»Ich darf doch sehr bitten«, sagte die andere steif. Eine Dame. Zweifellos würde sie gleich nach ihrem Knecht rufen, damit er Susanne verprügelte. Jetzt war auch alles egal.
»Sie dürfen bitten, sicher, aber ich nicht. Und Doris nicht. Nur betteln, wenn sie überlebt, die arme Laus, die arme«, sagte Susanne bitter und bückte sich, um das Tuch aufzuheben. Jetzt war es dreckig, aber in dem Haus, das ihre Freundin Doris mit ihren Geschwistern und ihrem ewig betrunkenen Vater bewohnte, war ohnehin wenig sauber. Sie spürte etwas Feuchtes auf ihren Wangen, doch erst als sie wieder gerade stand, wurde ihr klar, dass sie weinte. Das fehlte noch, vor einer reichen Pute in Tränen ausbrechen. Susanne rannte wieder los.
»Warten Sie!«, rief die andere. Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass jemand Susanne mit »Sie« angesprochen hatte, was nicht an ihrem Alter lag. Ihre Mutter wurde auch von allen geduzt, genau wie alle anderen Arbeiter. »Sie«, das waren die Höhergestellten, der Faktor, der Pastor, der Patron, wenn sie ihm je begegnen würde. Keinem von denen wäre es eingefallen, noch den ältesten Bauern und Knecht anders als mit »du« anzureden. Deshalb war die Überraschung über die Anrede groß genug, um Susanne innehalten zu lassen. Die andere hatte sie mit wenigen Schritten eingeholt, und Susanne schalt sich töricht. Gewiss wollte die Dame sie nun wegen der ihr entgegengeschleuderten Beleidigungen verhaften lassen.
»Was ist Ihnen denn Schlimmes geschehen, dass Sie in einem solchen Zustand sind?«, fragte die Fremde. »Und wer ist Doris?«
Eine halbe Stunde später waren sie gemeinsam auf dem Weg zu Doris. Susanne war immer noch etwas misstrauisch und achtete darauf, nicht die Straßen zu nehmen, die sie auf dem Hinweg benutzt hatte. Sie kannte die Regeln. Außerdem schadete es dem Fräulein nicht, durch Waldpfade stapfen zu müssen. Aber die Frau, die sich als Louise Otto vorgestellt hatte, war der erste Mensch, der die Nachricht, dass ein Arbeitermädchen drei Finger verloren hatte, als furchtbar für das Mädchen anzusehen schien und nicht für den Tuchfabrikanten.
»Ich schreibe Bücher«, sagte das Fräulein Otto, »und auch für die Journale. Das nächste Buch soll – nun, ich möchte mehr über das Leben der Arbeiter erfahren, als in den Zeitungen steht, und ich dachte mir, der Pastor hier zählt ja die Fabrik zu seiner Gemeinde.«
Susanne schniefte verächtlich. Mittlerweile war sie ziemlich sicher, dass für den Pastor nur der Fabrikherr und dessen Familie zur Gemeinde zählten. Vielleicht noch der Faktor.
»Er hat nur was von schlesischen Unruhen geredet und von Kapitänen auf der See.«
»Der Aufstand der Schlesier letztes Jahr ist der Grund, warum ich über Arbeiter schreiben möchte«, entgegnete Louise Otto lebhaft und erzählte, dass in Schlesien Weber eine Tuchfabrik gestürmt und kurz und klein geschlagen hätten, bis der preußische König Truppen schickte. Geändert für die Weber habe sich ihres Wissens nichts.
»Ich hoffe natürlich, dass es bei uns in Sachsen besser zugeht. Der Gatte meiner Schwester Antonie ist hier in Oederan Gerichtsdirektor, und ich dachte mir, ich nutze einen Besuch bei meiner Schwester dazu, um selbst nachzuforschen – in Meißen gibt es keine Tuchfabriken.«
Wenn sie sich nicht so große Sorgen um Doris gemacht hätte, dann wäre Susanne neugierig gewesen. Die Bücher, die der Lehrer besessen hatte, mussten von jemandem geschrieben worden sein, das war ihr natürlich klar, auch das eine, das er ihr gegeben hatte, eine Sammlung von Märchen. Aber sie war immer davon ausgegangen, dass die Menschen, die Bücher schrieben, Leute wie der Lehrer und der Pfarrer wären: gelehrte Männer. Von schreibenden Frauen hatte sie noch nie gehört, und auch nicht von Schriften, in denen es um Arbeiter ging statt um den lieben Gott oder Prinzen, die Prinzessinnen retteten. Aber gerade hier und jetzt fragte sie sich nur, ob das Fräulein Otto bereit sein werde, Doris zu helfen, und zwar nicht nur durch gute Worte oder dadurch, dass sie sich von dem Unfall berichten ließ. Während sie Louise Otto zuhörte, entwickelte sich in Susanne ein Plan.
»Viele Arbeiter werden Sie nicht finden, Fräulein, die mit Ihnen reden. Weil’s nämlich verboten ist.«
»Mit mir zu reden? Herr Gerstig kennt mich doch überhaupt nicht.«
»Mit irgendjemandem außerhalb der Fabrik zu reden über das, was in der Fabrik geschieht«, stellte Susanne klar. »Bisher hab ich gedacht, es ist, weil der Faktor so stolz auf seine englischen Maschinen ist und Angst hat, dass ein anderer Fabrikherr rausfindet, wie’s bei uns gemacht wird. Aber nach dem, was Sie gerade erzählt haben über die Schlesier, da kann’s auch sein, dass der Faktor und der Patron nicht wollen, dass man schlecht über die Fabrik redet, weil sie denken, dann gibt’s auch bei uns einen Aufstand. Jedenfalls hat jeder Arbeiter und jede Arbeiterin versprechen müssen, dass wir mit keinem reden, als sie uns eingestellt haben. Sonst wird man rausgeworfen. Und wer wegen so was rausgeworfen wird, den stellt auch sonst keiner ein!«
Nichts davon war gelogen. Doch dass der Faktor noch nicht einmal Tuch für Verbände hatte bereitstellen wollen, das hatte in Susanne die Angst vor Entlassung vor der blanken Wut zurückweichen lassen. Natürlich war sie bereit, dieser Frau hier zu erzählen, wie es in der Fabrik zuging. Sie hätte es am liebsten von den Dächern geschrien. Aber wenn sie das tat, dann stand sie am Ende ohne Arbeit da, und für Doris hätte sich nichts geändert. Nein, sie musste klug vorgehen. Das Fräulein wollte Auskünfte. Susanne wollte Hilfe für Doris. Sie musste einen Handel daraus machen.
»Aber Sie reden doch mit mir«, erwiderte Louise Otto langsam.
»Von dem Unfall hab ich Ihnen erzählt. Ich glaub, dass Sie mehr wissen wollen«, gab Susanne zurück.
Inzwischen waren sie bei dem Haus am anderen Ende des Ortes angekommen, in dem Susanne und ihre Mutter, Doris, ihr Vater und ihre Geschwister und noch zwei weitere Arbeiter ohne Familie wohnten, die am Sonntag gewöhnlich in der nächsten Kneipe zu finden waren. Susanne hörte, wie Louise Otto neben ihr scharf die Luft einsog. Sie wusste nicht, was so ungewöhnlich an dem Haus sein sollte. Die Fenster hatten kein Glas wie die in der Fabrik, gut, aber das hatte doch das Fräulein Otto nicht erwartet, oder? Im Winter verstopften Susanne und ihre Mutter die Fenster mit Lumpen, aber jetzt, im Sommer, war es gut, wenn etwas Luft hereinkam.
Bereits ehe sie eintraten, hörte Susanne das Geheul von Doris’ Geschwistern, aber die hatten schon geschrien, als Doris noch gesund und munter war; unter der Woche gab es niemanden, der Zeit hatte, sich groß um sie zu kümmern, weil alle in der Fabrik waren, also waren die Kleinen vor allem gut darin, aufeinander einzuprügeln und laut zu sein. Einer der Jungen rannte an Susanne und dem Fräulein vorbei, gefolgt von seinem Bruder; beide trugen keine Hosen, weil Doris schon vor ihrem Unfall nicht mehr mit dem Sticken und Stopfen hinterhergekommen war. Louise Ottos Augen weiteten sich, als hätte sie noch nie einen nackten Jungen gesehen.
Am Sonntag passte Susannes Mutter auf Doris auf, obwohl es eigentlich der nutzlose Vater von Doris hätte tun sollen. Die Mutter hustete, als sie aufstand und Susanne das Verbandsmaterial abnahm. Wenn es sie wunderte, wer das feine Fräulein an Susannes Seite war, zeigte sie es nicht; sie hatte in der letzten Nacht, als sie alle Angst hatten, dass Doris sterben könnte, so wenig geschlafen wie Susanne selbst.
»Was – was ist das für eine Decke?«, fragte Louise Otto mit einer sehr gepressten Stimme und zeigte auf das Bett, wo Doris auf den Latten lag, weil es kein Stroh mehr gab, das noch brauchbar gewesen wäre. Dafür hatte Doris’ Vater seine Jacke als Kissen hergegeben.
»Ist der Rock, den sie tagsüber trägt«, entgegnete Susanne sachlich. »Was anderes hat sie nicht.«
Zu ihrer Überraschung erfasste Louise Otto sie am Ellenbogen.
»Lassen Sie uns nach draußen gehen.«
Das ist mein Leben, dachte Susanne, und du kannst es keine fünf Minuten ertragen, du feine Dame. Doch Louise Otto überraschte sie noch einmal. Sobald sie sich außer Hörweite von Susannes Mutter und Doris befanden, sagte sie: »Ihre Freundin braucht einen Chirurgen, nicht irgendwann, sondern jetzt, sofort. Ich glaube, die Hand muss amputiert werden, oder sogar der Arm. Ich werde mich in jedem Fall darum kümmern und dafür bezahlen, unabhängig davon, ob Sie mir noch mehr erzählen. Das sollen Sie wissen. Aber es wäre mir dennoch sehr wichtig, mehr von Ihnen über das Leben in der Fabrik zu hören, nach diesem Anblick mehr denn je.«
Ein ungewohntes Gefühl keimte in Susanne, warm und gleißend: Hoffnung. Sie versuchte, ihre Vorsicht nicht völlig fallen zu lassen. Wenn Doris tatsächlich vom Arzt versorgt worden ist, sagte sie sich, dann kann ich dankbar sein und mich freuen. Nicht vorher. Trotz dieses Vorsatzes konnte sie nicht anders; sie spürte, wie sich ihre Lippen zu einem Lächeln krümmten.
»Versprochen?«, fragte sie, wie das Kind, das sie gewesen war, als sie den Lehrer noch für einen zweiten Vater hielt. Louise Otto ergriff beide ihrer Hände. Ihre eigenen waren sehr viel weicher als Susannes, bis auf die rechten Zeige- und Mittelfinger, deren Kuppen verhornt waren.
»Versprochen. Es gibt so viele Menschen, die politischen Journalen aus dem Weg gehen und nichts von Pamphleten wissen wollen. Aber Romane, die lesen sie! Und wenn man etwas ändern will, dann muss man die Menschen erreichen.«
Bei sich bezweifelte Susanne, dass es in der Fabrik besser würde, wenn die Leute in einem Buch darüber läsen, wie schwer es die Arbeiter hätten. Aber schaden konnte es wohl nicht, solange so ein Buch dem Faktor keinen Grund geben würde, sie, Susanne, zu entlassen.
»Dann müssen Sie mir auch versprechen, dass Sie auf keinen Fall jemandem erzählen, dass ich mit Ihnen gesprochen habe. Die Mutter und ich brauchen unsere Arbeit.«
Es sei denn, dachte Susanne, dass das Fräulein Otto zwei neue Mägde gebrauchen könnte. Sie öffnete den Mund, um danach zu fragen, und schloss ihn hastig wieder. Besser nicht zu viel wollen, nicht zu gierig sein, sonst überlegte das Fräulein es sich am Ende doch anders. Außerdem kam die andere Frau vielleicht selbst auf den Gedanken.
»Einverstanden«, sagte Louise Otto, ohne zu zögern und ohne eine Alternative vorzuschlagen. Susanne wusste nicht, ob sie erleichtert oder enttäuscht war.
Sachsen, Winter 1845/46
Mit der Postkutsche im Winter zu reisen, war noch unangenehmer als im Sommer; Schneematsch statt Staubwolken und die ständige Gefahr vereister Straßen sorgten dafür. Seit eine Eisenbahnstrecke zwischen Leipzig und Dresden eröffnet worden war, hoffte Louise auch auf eine für Meißen, aber das würde wohl noch eine Weile dauern, und sie konnte nicht warten. Seit der Brief ihres Verlegers sie erreicht hatte, schien es, als brennte ihr alles unter den Nägeln.
Mittlerweile hatte sie Übung darin, die neugierigen Blicke ihrer Mitreisenden zu ignorieren. Eine unverheiratete Frau reise nicht allein, hieß es immer, zumindest nicht, bis sie wie Tante Matthäi das fünfzigste Jahr überschritten habe, und Louise würde im nächsten März erst sechsundzwanzig. Als sie vor ein paar Jahren ihre erste unbegleitete Reise unternahm, waren die Reaktionen ihrer Verwandten bezeichnend gewesen. Antonie hatte ihr entsetzliche Gefahren und Belästigungen prophezeit. Franziska dagegen hatte nur gemeint: »Also wirklich, Loulou, nur weil Toni und ich jetzt beide verheiratet sind, musst du doch nicht zu so verzweifelten Maßnahmen greifen, um dir einen Mann zu angeln.« Tante Matthäi war schlicht beleidigt gewesen. »Ich verstehe nicht, warum du mich nicht mehr dabeihaben willst. Als ob ich nicht immer auf dich geachtet hätte, wie nur je deine Mutter, Gott hab sie selig, es tun hätte können!«
»Tantchen, wenn wir gemeinsam verreisen, dann habe ich schlicht und einfach nicht die Zeit, all das zu tun, was mir vorschwebt, weil es zu anstrengend für dich wäre.«
Insgeheim vermutete Louise, dass die Tante einige ihrer Ziele auch gerne besucht hätte, aber da Tante Matthäi einen großen Teil jeder Reise mit Mahlzeiten und der Überprüfung der Zimmer verbrauchte, in denen sie untergebracht waren, nur um später genau zu erklären, wo ein Zimmermädchen besser hätte Staub wischen sollen, wäre Louise auch allein gereist, wenn es um weniger ernste Fragen gegangen wäre als die, ob ihr vierter Roman endlich veröffentlicht werden durfte.
Ihr vierter Roman. Die ersten drei waren immerhin bemerkt worden, wenn auch manchmal nicht auf eine gute Weise. »Natürlich heißt die Verfasserin Louise – denn alle verrückten Frauenzimmer führen diesen Namen!«, hatte der große Feodor Mehl über ihren Erstling geschrieben. Schon allein deswegen verfasste Louise ihre Artikel über politische und soziale Fragen unter einem männlichen Pseudonym, Otto Stern. Sie stand zu ihren drei Romanen, hatte sich Mühe mit ihnen gegeben, aber dieser, der vierte, das würde derjenige sein, der ihr zum Durchbruch verhalf, da war sie sicher. Wenn er veröffentlicht wurde.
Ein Roman, in dem es um soziale Fragen ging, war von vornherein verdächtig. Das hatte sie gewusst, natürlich hatte sie es gewusst. Aber sie war sicher gewesen, das Zensurgesetz, eines der wenigen Gesetze, die in allen deutschen Staaten galten, umgehen zu können, denn es besagte, dass nur Romanbände von unter vierhundert Seiten dem Zensor vorgelegt werden müssten. »Wer die Geduld hat, über vierhundert Seiten am Stück zu lesen, hat keine Zeit für Rebellion«, hatte ihr Verleger einmal gescherzt. Dem Manuskriptumfang nach hätte Louises neuer Roman in drei Bänden erscheinen sollen, von denen jeder einzelne der Zensur hätte vorgelegt werden müssen. Stattdessen sollte Schloß und Fabrik in nur zwei Bänden erscheinen. Den ersten, schmalen Band hatte Louises Verleger ordnungsgemäß den Zensoren vorgelegt, und da in diesen ersten hundert Seiten nur die bürgerlichen und adligen Heldinnen und Helden und ihre Liebesverwicklungen eingeführt wurden, war nichts beanstandet worden. Den Rest des Romans, von der Schilderung der ersten armseligen Arbeiterhütte an, in einen einzigen Band zu packen, brachte diesen über einen Vierhundert-Seiten-Umfang, und deshalb brauchte man ihn den Buchstaben des Gesetzes nach auch nicht vorzulegen. Die Zensoren hatten so viel zu tun, dass sie sich mit einem Roman, den sie für einen weiteren Liebesroman hielten, nicht die Mühe machen würden, darauf hoffte Louise, darauf wettete ihr Verleger. Bis gemeinsam mit den Druckfahnen die Polizei bei ihm anrückte und alle Fahnen wegen »Umgehung des Zensurgesetzes« beschlagnahmte.
Der arme Adolph Wienbrack. Er hatte schon ihren Gedichtband nicht veröffentlichen wollen. Weil Gedichte sich nicht verkauften, wie er sagte. Weil Lieder eines deutschen Mädchens auch auf die sozialen Fragen einging, wie Louise glaubte. Aber um gerecht zu sein: Er lebte von seinem Buchhandel und war Verleger aus Leidenschaft. Er glaubte genug an sie, um nicht nur einen, sondern mehrere Romane von ihr herauszubringen. Ganz gewiss würde er das Buch nicht zurückziehen, von dem er wissen musste, dass es ihr bisher bestes war!
Die Vorstellung, den Roman Schloß und Fabrik nicht veröffentlichen zu dürfen, schnürte ihr die Kehle zu. Das lag nicht nur an all der Arbeit, die sie sich damit gemacht hatte. Was sie in Oederan und anderswo beobachten konnte, lastete ihr auf der Seele. Sie hätte es nicht für möglich gehalten, dass mitten in deutschen Landen Menschen in einer solchen Armut lebten, keine Bettler, nein, arbeitende Menschen, während die Fabrikbesitzer reicher und reicher wurden. Früher hatte ihr Schwager Dennhardt sich um einen Empfang beim Kronprinzen bemüht, jetzt tat er das immer öfter bei Tuchfabrikanten und den Besitzern von Kohlebergwerken. Wenn das Geld da war, um prachtvolle neue Villen zu errichten wie diejenigen, die Louise in Oederan gesehen hatte, dann hätten sich die Fabrikanten eigentlich verpflichtet fühlen sollen, ihre Leute besser zu bezahlen, doch das war nicht so. Man musste sie öffentlich beschämen. Ihre Geschichte und die ihrer Arbeiter musste erzählt werden.
Es war wirklich unerträglich, dass man in deutschen Landen nur dann frei denken konnte, wenn man diese Gedanken nicht veröffentlichte.
»Ich hab’s Ihnen gesagt«, begrüßte ihr Verleger sie unglücklich und vorwurfsvoll, als er sie in Leipzig empfing.
»Aber Sie haben mir auch recht gegeben, dass dieser Roman gut ist und ein Erfolg werden wird!«
»Fräulein Otto, wissen Sie, was die Preußen mit dem Buchhändler Peltz gemacht haben, der wie ich gleichzeitig auch Verleger ist? Als Aufwiegler zum Weberaufstand in Schlesien verhaftet und ins Gefängnis gesteckt, und das alles nur, weil er Schriften veröffentlicht hat, die auf das Elend der Weber aufmerksam machten. Seine Frau hat das ganze letzte Jahr damit verbracht, Gnadengesuche zu schreiben, und genützt hat es nichts. Er ist verurteilt worden. Ich halte Romane wie Ihre, die sich mit dem Hier und Jetzt beschäftigen, für sehr wichtig, aber ins Gefängnis gehe ich nicht für Sie!«
Wie soll sich je etwas ändern, wenn niemand bereit ist, etwas zu riskieren?, dachte Louise rebellisch. Dann schalt sie sich unvernünftig. Herr Wienbrack hatte recht. Wenn man ihn ins Gefängnis warf, nützte das überhaupt niemandem, auch der guten Sache nicht, denn das Buch bliebe ja immer noch unveröffentlicht.
»Dazu wird es nicht kommen«, sagte sie also beschwichtigend. »Wir werden die Zensoren überzeugen, Sie und ich.«
»Das hoffe ich. Ich habe auch eine Audienz für Sie beim Minister von Falkenstein arrangiert. Nehmen Sie’s mir nicht übel, Fräulein Otto, aber Sie haben den Vorzug, äußerst harmlos zu wirken. Wahrscheinlich stellt man sich bei der Polizei jede unvermählte Schriftstellerin als eine deutsche George Sand vor, ein Weib, das in Männerkleidung herumläuft, Zigarren raucht und die öffentliche Moral gefährdet. Wenn man dagegen Sie sieht …«
Louise wusste nicht, ob sie geschmeichelt oder gekränkt war. Die verletzende Bemerkung über verrückte Louisen seinerzeit hatte sich auf Louise Aston bezogen, die in Berlin angeblich wirklich in Männerkleidung herumlief. Sie kannte Frau Aston nicht, hatte nicht die Absicht, Männerkleidung zu tragen und lose Verhältnisse anzufangen, und es ärgerte sie deshalb doppelt, ständig mit ihr in einen Topf geworfen zu werden. Darum sollte sie sich freuen, dass ihr Verleger ihr ein harmloses und gesittetes Äußeres attestierte.
Andererseits las sie selbst leidenschaftlich gerne George Sand, die skandalöse französische Schriftstellerin, deren männliches Pseudonym längst offenlag. Sie wünschte sich durchaus, irgendwann im deutschsprachigen Raum so bekannt zu sein wie George Sand in ganz Europa, nicht nur in Frankreich. »Harmlos« bedeutete auch, nicht für fähig gehalten zu werden, wirklich etwas zu verändern, was doch ihr Ziel war.
Offenbar hatte sie ihre Mimik nicht so gut im Griff, wie sie glaubte, denn Adolph Wienbrack fügte beunruhigt hinzu: »Sie müssen harmlos wirken, vergessen Sie das nie. Harmlos, sanft und eine gute Untertanin, die nur von christlichem Mitgefühl bewegt ist. Wenn das nicht gelingt, wenn ich den Roman nicht veröffentlichen darf, dann, fürchte ich, sehe ich mich auch nicht in der Lage, weitere Werke von Ihnen herauszubringen, Fräulein Otto.«
Das war noch schlimmer, als sie befürchtet hatte. Ja, es gab andere Verlage auf der Welt und andere Verleger. Doch Verleger, die willens waren, die Schriften einer Frau zu veröffentlichen, die waren wesentlich rarer gesät, wie sie selbst in den Jahren vor ihrer Bekanntschaft mit Adolph Wienbrack entdecken musste.
»Es geht um mehr als um mich«, sagte er auf ihren bestürzten Blick hin. »Wenn mein Verlag vom Mainzer Informationsbüro als Rebellennest identifiziert wird, dann werde ich von nun an bei jedem einzelnen Schriftsteller um die Veröffentlichung kämpfen müssen, selbst wenn ich persönlich in Ruhe gelassen statt wie Peltz behandelt werden sollte. Schloß und Fabrik ist ein guter Roman, aber das ist er mir nicht wert.«
Das Mainzer Informationsbüro war für Louise bisher eher so etwas wie eine Legende gewesen, an die sie nur halb glauben konnte. Es unterstand angeblich dem alten Fürsten Metternich persönlich, dem Staatskanzler Österreichs, und betrachtete sich als zuständig für alle deutschen Staaten, obwohl das alte Reich doch von Napoleon aufgelöst worden war und auch nach dem Ende Bonapartes vom Wiener Kongress nicht wieder zum Leben erweckt wurde. Jetzt war der Kaiser, dem Metternich diente, nur der Kaiser von Österreich, und Österreich zwar Mitglied im Bund der deutschen Fürstentümer, doch nicht länger dessen Herrscher. Dennoch hieß es, dass die Spitzel des Informationsbüros überall seien und Gehör bei allen deutschen Fürsten fänden. Viele waren aufgrund ihrer Berichte in Gefängnissen verschwunden oder ins Exil getrieben worden.
»Vereint nur in der Zensur und der Bespitzelung, getrennt in allem anderen. Armes Deutschland«, sagte Louise bitter.
»Solche Bemerkungen, Fräulein Otto, sind das genaue Gegenteil von sanft und harmlos.«
Bis sie tatsächlich den tabakschwangeren Raum betrat, in dem die drei Vertreter der Zensur sie und Adolph Wienbrack erwarteten, hatte Louise sich besser in der Gewalt. Als ihr Verleger sie vorstellte, schlug sie sittsam die Augen nieder und vermied es, einem der Herren direkt ins Gesicht zu blicken. Sie sprach nur leise, als machte ihr jedes Wort Angst. Leider zeigte sich rasch, dass diese Mühen nicht den gewünschten Erfolg hatten, sondern sogar gegen sie verwendet wurden.
»Fräulein Otto, Sie müssen uns schon sagen, wer dieses Machwerk wirklich verfasst hat. Ein zartfühlendes Wesen wie Sie doch gewiss nicht. Ist es vielleicht ein Verehrer, den Sie in Schutz nehmen, ein Vetter oder einer Ihrer Schwager? Einem Mann, der so tief sinkt, sich vor der Zensur hinter einer Frau zu verstecken, dem schulden Sie überhaupt nichts!«
Ihr Verleger, der offenbar spürte, was Louise als Antwort auf der Zunge lag, sagte hastig: »Das gesamte Manuskript liegt mir in Fräulein Ottos Handschrift vor, und ich kann es gerne überstellen, zusammen mit weiteren Handschriftproben. Fräulein Otto ist zweifellos die Verfasserin dieses Romans, und jede einzelne Zeile ist von ihr persönlich geschrieben.«