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Applaus und Ruhm, eine große Freundschaft und eine gefährliche Zeit: Tanja Kinkels Bestseller „Unter dem Zwillingsstern“ als eBook bei dotbooks. Wie kannst du deinen Traum verwirklichen, wenn die Welt dunkel und kalt geworden ist? Deutschland im Jahre 1918. Ihre skandalumwitterte Mutter ist tot, ihr Vater unnahbar – und doch gibt es etwas, was das Herz der kleinen Carla wärmt: die Gewissheit, dass sie eines Tages als Schauspielerin berühmt sein wird. Und tatsächlich: Im wilden Berlin der 30er Jahren beginnt ihre langersehnte Karriere. Immer an Carlas Seite ist ihr bester Freund Robert: ein hochintelligenter, ehrgeiziger Regisseur, der alles tun würde, um nach ganz oben zu kommen. Aber dann ziehen dunkle Wolken auf: Hitler kommt an die Macht – und das Leben von Carla und Robert ändert sich mit dramatischen Folgen … Die Presse über Tanja Kinkels „Unter dem Zwillingsstern“: „Sie recherchiert so solide, dass sie sich und ihre Leser spielend leicht mal in die finsteren Zeiten der Hexenverbrennung, mal in die ferne Welt Eleonores von Aquitanien versetzen kann. Trotz der Opulenz ihrer Geschichten vermag sie ihr Personal klar zu führen, die Spannungsbögen zu straffen. Ihr neuer Bestseller ‚Unter dem Zwillingsstern‘ schildert das Leben zweier Schauspieler, Carla und Robert, die wie Geschwister aufwachsen und zu Zeiten von Nazi-Herrschaft und Künstlerexil versuchen zu überleben. Es ist Kinkels erster Roman, der im 20. Jahrhundert spielt, und Carla und Robert dürfen ein ziemlich verwegenes Leben führen.“ SPIEGEL – „Ein erstaunliches Werk.“ DIE WELT Jetzt als eBook kaufen und genießen: Tanja Kinkels Bestseller „Unter dem Zwillingsstern“, der große Roman über die Welt des Theaters und des Films, mit ergänztem Nachwort und exklusivem Interview, wird auch Fans von Daniel Kehlmanns „Lichtspiel“ begeistern. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 1482
Über dieses Buch:
Wie kannst du deinen Traum verwirklichen, wenn die Welt dunkel und kalt geworden ist? Deutschland im Jahre 1918. Ihre skandalumwitterte Mutter ist tot, ihr Vater unnahbar – und doch gibt es etwas, was das Herz der kleinen Carla wärmt: die Gewissheit, dass sie eines Tages als Schauspielerin berühmt sein wird. Und tatsächlich: Im wilden Berlin der 30er Jahren beginnt ihre langersehnte Karriere. Immer an Carlas Seite ist ihr bester Freund Robert: ein hochintelligenter, ehrgeiziger Regisseur, der alles tun würde, um nach ganz oben zu kommen. Aber dann ziehen dunkle Wolken auf: Hitler kommt an die Macht – und das Leben von Carla und Robert ändert sich mit dramatischen Folgen …
Die Presse über Tanja Kinkels »Unter dem Zwillingsstern«:
»Sie recherchiert so solide, dass sie sich und ihre Leser spielend leicht mal in die finsteren Zeiten der Hexenverbrennung, mal in die ferne Welt Eleonores von Aquitanien versetzen kann. Trotz der Opulenz ihrer Geschichten vermag sie ihr Personal klar zu führen, die Spannungsbögen zu straffen. Ihr neuer Bestseller ‚Unter dem Zwillingsstern‘ schildert das Leben zweier Schauspieler, Carla und Robert, die wie Geschwister aufwachsen und zu Zeiten von Nazi-Herrschaft und Künstlerexil versuchen zu überleben. Es ist Kinkels erster Roman, der im 20. Jahrhundert spielt, und Carla und Robert dürfen ein ziemlich verwegenes Leben führen.« SPIEGEL
»Ein erstaunliches Werk.« DIE WELT
Über die Autorin:
Tanja Kinkel, geboren 1969 in Bamberg, studierte in München Germanistik, Theater- und Kommunikationswissenschaft und promovierte über Aspekte von Feuchtwangers Auseinandersetzung mit dem Thema Macht. 1992 gründete sie die Kinderhilfsorganisation Brot und Bücher e.V, um sich so aktiv für eine humanere Welt einzusetzen (mehr Informationen: www.brotundbuecher.de). Tanja Kinkels Romane wurden in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt und spannen den Bogen von der Gründung Roms bis zum Amerika des 21. Jahrhunderts.
Bei dotbooks veröffentlichte Tanja Kinkel ihre Novellen Der Meister aus Caravaggio, Reise für Zwei, Feueratem und Ein freier Mann und ihre großen Romane Die Schatten von La Rochelle und Die Söhne der Wölfin.
Mehr Informationen über Tanja Kinkel im Internet: www.tanja-kinkel.de
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Erweiterte Neuausgabe März 2015
Copyright © der Originalausgabe © 1998 by Blanvalet Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Copyright © der um ein Personenverzeichnis, Nachwort und Interview erweiterten Neuausgabe 2014 dotbooks GmbH, München
Der Roman wurde nach den alten Rechtschreibregeln korrekturgelesen, Nachwort und Interview nach den neuen Rechtschreibregeln
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung eines Motivs von shutterstock/asife
ISBN 978-3-95824-011-7
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Tanja Kinkel
Unter dem Zwillingsstern
Roman
dotbooks.
München
Carla Fehr – Tochter des reichen Industriellen Heinrich Fehr; Schauspielerin
Robert König – Carlas bester Freund; Schauspieler und Regisseur
Heinrich Fehr – Carlas Vater; wahrscheinlich verantwortlich für den Tod ihrer Mutter
Marianne – Carlas ältere Halbschwester
Philipp Bachmaier – Industrieller aus Österreich; Carlas Schwager
Käthe Brod – Journalistin; eine Zeit lang Carlas Lehrerin
Martin Goldmann – Roberts Vaterfigur (und ehemaliger Liebhaber von Roberts Mutter)
Berlin
Renate Beuren – alte Schauspielerin; Carlas Lehrerin
Max Reinhardt – König des deutschsprachigen Theaters
Eleonore von Mendelssohn – Carlas Freundin; in Reinhardt verliebt
Monika von Antwolfen – Carlas ehemalige Mitschülerin
Zürich
Jean-Pierre Dupont – einer der beiden Leiter des Theaters 22; Roberts Mentor
Dieter Gredner – der andere Leiter des Theaters 22; Roberts Mentor
Hollywood
Genevieve Beresford – Regisseurin von Carlas erstem Film
Nancy Nakamura – PR-Vertreterin von Universal, später Carlas Assistentin
Paul Kohner – Produzent, später Agent
Eddie Felton – Drehbuch- und Bühnenautor
Bela Lugosi – Darsteller von »Dracula«, einer der Stars bei Universal
Kapitel 1
Carla haßte das Musselinkleid, das sie an diesem Tag tragen mußte. Sie wuchs schnell, und es war ihr zu eng. Außerdem machte die Novemberkälte mittlerweile auch nicht mehr vor dem Haus des Lederfabrikanten Heinrich Fehr halt; der Preis für Kohlen war in diesem vierten Kriegsjahr so gestiegen, daß ihr Vater entschieden hatte, nur noch die wichtigsten Räume zu heizen. Das Zimmer, in dem ihre Gouvernante sie unterrichtete, gehörte nicht dazu. Es war kalt, und sie fror; also sprang sie mehr als bereitwillig auf, als ihre Stiefmutter im Türrahmen erschien und die versprochene Überraschung ankündigte.
Man hatte ihr gesagt, daß sie sich bei Besuch mehr zurückhalten sollte. Aber Besuch kam sehr selten, und sie wußte längst, warum. Außerdem rannte sie gerne, und es vertrieb die Kälte etwas. Also lief sie, so schnell sie konnte, bis zu der Treppe, die hinunter zum Salon führte. Dort hielt sie inne. Jemand spielte Klavier, und zwar so außergewöhnlich schlecht, daß es schon wieder komisch war. Carla spielte selbst nur leidlich und hoffte, ihren Vater möglichst bald überzeugen zu können, auf den Klavierunterricht für sie zu verzichten. Aber verglichen mit jenem erbarmungslosen Klimperer war sie eine hoffnungsvolle Virtuosin.
Das Mädchen kniete sich neben dem Treppengeländer nieder und spähte nach unten. Ihr Vater und einer seiner Freunde, Rainer König, den sie vom Sehen her bereits kannte, standen um das Klavier herum und lachten. Auf dem Schemel saß ein leicht übergewichtiger Junge in ihrem Alter, der sich mit einer Hand durch das braune Haar fuhr und mit der anderen schwungvoll sein Massaker an der Tastatur beendete.
»Finito«, rief er, sprang auf und verbeugte sich. »Verstehen Sie jetzt, Herr Fehr, warum ich meine Pianistenlaufbahn beendet habe? Papa meint, sie sollten mich an die Front schicken. Aber ich glaube, hier wäre ich nützlicher, besonders für Ihr Geschäft, Herr Fehr. Sie könnten lederne Ohrenschützer herstellen. Und warten Sie nur, bis ich als Zauberer auf Tournee gehe. Dann sorge ich dafür, daß auf jedem Taschentuch die Worte KAUFT BEI FEHR erscheinen. Oder soll ich lieber ...«
Carla kannte kaum andere Kinder, aus dem gleichen Grund, aus dem Besuch in der Villa Fehr nun schon seit Jahren immer seltener wurde. Aber sie erkannte ein Schauspiel, wenn sie eines sah; sie war bereits ein paarmal ins Theater mitgenommen worden, wenn ihr Vater wieder einmal seine Gleichgültigkeit gegenüber der öffentlichen Meinung demonstrieren wollte, und es hatte sie fasziniert, selbst wenn sie nicht alles verstand. Sie war auch jetzt fasziniert, aber gleichzeitig wallte Ressentiment in ihr auf, besonders, als ihr Vater den Kopf schüttelte und lachte. Ihr selbst war es noch nicht gelungen, ihren Vater so zum Lachen zu bringen, obwohl er sich seit seiner Hochzeit mit Anni verändert hatte. Sie spürte wieder die Kälte in ihren Fingern, die sich um das Treppengeländer krampften, als ihr Vater immer noch lächelnd sagte: »Rainer, der Junge gefällt mir. Aber hör mal, Schlawiner, wenn du mit meiner Tochter unterrichtet wirst, dann schau zu, daß du sie nicht vom Lernen ablenkst.«
»Kaum«, sagte der Junge, und sie konnte erkennen, daß er eine Grimasse schnitt. »Kinder sind langweilig.«
Sie verabscheute ihn. Hinter sich hörte sie Schritte und roch Annis Parfüm; sie stand auf, drehte sich zu ihrer Stiefmutter und ihrer Lehrerin um und legte bittend den Finger auf den Mund. Fräulein Brod runzelte die Stirn; Anni grinste verschwörerisch und nickte. Das Mädchen, das Heinrich Fehr vor einem Monat geheiratet hatte, war selbst erst sechzehn Jahre alt, jünger als seine ältere Tochter. Carla warf ihr eine Kußhand zu und schlich so leise wie möglich zurück in ihr Zimmer.
Käthe Brod unterdrückte ein Seufzen. Sie war nicht glücklich über das, was ihr Anni Fehr vorhin eröffnet hatte, als Carla davongerannt war, ganz abgesehen davon, daß die kleine, etwas üppige Gestalt neben ihr sie generell irritierte. Sie ist selbst noch ein Schulmädchen, dachte Käthe und war sich dabei bewußt, mit siebenundzwanzig bereits eine alte Jungfer zu sein. Sie schaute von der die Treppe hinunterhüpfenden Anni zu der mächtigen, breiten Gestalt ihres Arbeitgebers und spürte Ekel wie bittere Galle in ihrem Mund, während sie Frau Fehr folgte.
Seit sie vor zwei Jahren Carlas Erzieherin geworden war, stieg ihre Abneigung gegen Heinrich Fehr stetig, und das Bewußtsein, von ihm abhängig zu sein, änderte nichts daran. Als sie ihr Studium gegen den erheblichen Widerstand ihrer Familie durchsetzte, hatte sie sich nicht vorgestellt, daß auch der beste Universitätsabschluß ihr nicht helfen würde, einen angemessenen Arbeitsplatz zu erhalten. Eine Frau als Dozentin war undenkbar, und von den wenigen Artikeln, die sie bei der herrschenden Pressezensur in einer Zeitschrift unterbrachte, konnte sie nicht leben. Daß sie mit der Gruppe um Constanze Hallgarten auf einer Demonstration gegen den Krieg mitmarschiert war, half ihren Aussichten auf eine Stelle in München auch nicht weiter. Als sie schließlich vor der demütigenden Perspektive stand, als gescheiterte arme Verwandte zu ihrer Familie zurückkehren zu müssen, hatte ihr Frau Hallgarten von ihrem Nachbarn erzählt, dem Industriellen Heinrich Fehr, der eine Erzieherin für seine jüngere Tochter suchte.
»Ich weiß, es ist nicht das, was Sie sich gewünscht haben, Käthe«, hatte Constanze Hallgarten mit einer Mischung aus Mitleid und Verlegenheit gemeint, »aber er möchte ausdrücklich jemanden, der die Qualifikation als Lehrerin hat, nicht nur eine herkömmliche Gouvernante. Das Mädchen ist hoch begabt und soll eine anständige Erziehung erhalten. Und für Sie wäre es zumindest ein festes Einkommen.«
»Was«, fragte Käthe, zwischen Dankbarkeit, Neugier und Widerwillen hin- und hergerissen, »spricht denn dagegen, sie in eine Schule zu schicken? Wenn Herrn Fehr die öffentlichen Schulen zu gewöhnlich sind, gibt es doch immer noch Privatschulen.«
»Gewiß. Aber die würden das Kind nicht nehmen. Nicht nur, weil es unehelich ist, es hat auch einen jahrelangen Skandal um die Mutter gegeben, weil ... sprechen wir lieber nicht davon. Ich verabscheue Klatsch, und worauf es ankommt, ist, daß die Situation Möglichkeiten für Sie bietet.«
Also hatte Käthe ihren Traum von einer akademischen Laufbahn vorerst begraben. Sich zu einer Position degradiert zu sehen, die genau dem Frauenideal entsprach, vor dem sie geflohen war, verbitterte sie, aber es war immer noch besser, als von den Almosen ihrer Familie zu leben. Sie verdiente ihr eigenes Geld und fand hin und wieder sogar Gelegenheit, weiterhin Artikel zu schreiben und sie hoffnungsvoll an Zeitungen und Illustrierte abzuschicken. Außerdem erwies sich Carla in der Tat als intelligent, und sie empfand es als überraschend befriedigend, das Mädchen zu unterrichten. Die Schattenseite der raschen Auffassungsgabe ihres Zöglings war allerdings ihr Temperament, und es hatte viel Zeit und Mühe gekostet, Carla dazu zu bringen, es etwas im Zaum zu halten. Mühe, die durch die spektakulären Wutausbrüche des Herrn Fehr nicht gerade erleichtert wurde. Und nun kam seit einigen Wochen ein Kind dazu, das Ehefrau spielte und sofort entschieden hatte, daß Carla Gesellschaft brauche.
»Mei«, sagte Anni Fehr in der breiten Aussprache, die Käthe, deren Familie ursprünglich aus Prag stammte und ihr ein makelloses Hochdeutsch anerzogen hatte, jedesmal zusammenzucken ließ, »das ist also der Bub vom Rainer. Gut schaust aus.«
Käthe bildete sich ein, bei Annis achtlosem Gebrauch von Herrn Königs Vornamen ein kaum merkliches Stirnrunzeln an Heinrich Fehr entdeckt zu haben. Gleich darauf lächelte er jedoch wieder und lauschte dem Geplapper seiner Kindfrau, der es gelang, von einem Fettnäpfchen ins nächste zu treten, ohne es je zu bemerken. Der Junge beantwortete ihre Fragen höflich, aber mehr und mehr belustigt. Da sie wußte, daß sie ihn bald ebenfalls unterrichten würde müssen, beobachtete Käthe ihn genau. Ihr waren weder der Junge noch sein Vater ganz unbekannt, und zwar nicht durch die Freundschaft zwischen Heinrich Fehr und Rainer König, die, wie sie verächtlich dachte, letztlich nur auf eine Saufkumpanei hinauslaufen dürfte. Nein, die Mutter des Jungen, die verstorbene Barbara König, hatte ebenfalls zu der Gruppe um Constanze Hallgarten gehört, aber ihr Anliegen war nicht nur der Pazifismus gewesen. Barbara König hatte Manifeste über das Frauenwahlrecht verfaßt und auf eigene Kosten drucken lassen, sie hatte selbst Demonstrationen organisiert, Gedicht- und Liederzirkel gegründet, die sich bemühten, talentierte Frauen unterschiedlicher Herkunft zusammenzubringen. Für Käthe war sie ein Vorbild gewesen, und daß Barbara König gelegentlich ihren Sohn herumzeigte, den sie selbst unterrichtete und von dem sie behauptete, er sei ein Wunderkind, war ihrer Meinung nach eine verzeihliche Schwäche.
Dann hatte Barbara ihre Freundinnen, die sie ohnehin schon verehrten, vor Ehrfurcht atemlos gemacht. Sie besaß die Kühnheit, mitten im Krieg ihren Mann und die mit ihm verbundene materielle Sicherheit zu verlassen. Käthe spürte immer noch leichte Beschämung, wenn sie daran dachte und die Entscheidung mit ihrer eigenen sicheren Berufswahl verglich. Aber Barbara König war bald danach gestorben, im letzten Winter, an dem Krebs, der sie zerfraß. All ihre furiose Energie und ihr bedingungsloses Streben nach Unabhängigkeit hatten sie nicht retten können.
Käthe musterte Barbara Königs Sohn, das Wunderkind, das nach dem Tod seiner Mutter erstmals auf eine öffentliche Schule hatte gehen müssen, wo man, wenn sie Anni Fehrs Geplauder richtig verstand, enorme Wissenslücken inmitten der Schlagfertigkeit und Frühreife entdeckt hatte. Er hatte Barbaras leicht schräge braune Augen, die ihm einen seltsam asiatischen Einschlag verliehen, äußerst bewegliche Brauen und ein beunruhigend selbstsicheres Gebaren. Es würde schwer mit ihm werden, dachte Käthe und überlegte gerade, wer ihn außer Barbara bisher überhaupt unterrichtet hatte, als die lebhafte Mimik des Jungen mit einemmal erstarrte. Er schaute schräg nach oben, und Käthe folgte seinem Blick. Hinter ihr brach Anni Fehr in ihr Kleinmädchenkichern aus.
Carla kam die Treppe herab, sehr langsam und mit ausgestrecktem Arm, aber ihre Erscheinung hatte mit dem Mädchen, das vor einigen Minuten noch in Geographie unterrichtet worden war, nur noch das lange rote Haar gemein, das sie nun aufgelöst statt in dem üblichen strengen Zopf trug. Ihre Brille fehlte; stattdessen hatte sie sich einen breiten schwarzen Streifen um die Augen gemalt, der sich bis zum Haaransatz an den Schläfen zog. Darunter war ihr Gesicht eine Mischung aus weißen und roten Flecken in Kugelform. Die Stirn zierten drei dunkelblaue Streifen. Käthe stöhnte lautlos. Gab es noch irgendein Material von Anni Fehrs Schminktisch, das sich das Kind nicht ins Gesicht gemalt hatte? Sie sah aus wie eine Kreuzung aus Clown und Indianer. Käthe konnte den Blick ihres Arbeitgebers in ihrem Rücken brennen spüren, aber statt eines Zornesausbruchs von Heinrich Fehr hörte sie Carlas Stimme, ein wenig tiefer als gewöhnlich:
»Seid Ihr alle da?«
Damit beendete sie ihr langsames Schreiten, sprang die letzten zwei Stufen herab und ging zu Rainer König, der als einziger nicht überrascht wirkte und mit dem weitermachte, wobei sie ihn unterbrochen hatte; er schenkte sich Wein nach und trank. Carla knickste vor ihm.
»Grüß Gott, Herr König«, sagte sie in ihrem normalen Tonfall. »Meine Mutter hat mir erzählt, daß Sie ein Kasperltheater mitgebracht haben, und da wollte ich mitmachen. Wer ist denn der kleine Junge neben Ihnen?«
Es fiel Carla schwer, sich nicht umzudrehen, um die Wirkung ihrer Rede auf die anderen zu beobachten. Sie wußte, daß ihr Vater wütend sein und sie bestrafen würde, und anschließend würde er sie wieder für ein paar Wochen ignorieren, aber daran war nichts Neues. Der entsetzte Ausdruck auf Fräulein Brods sonst so beherrschtem Gesicht machte ihr mehr zu schaffen, weil es ihr plötzlich einfiel, daß auch Fräulein Brod bestraft werden könnte, und sie erinnerte sich noch genau an das weinende Dienstmädchen, das im letzten Monat entlassen worden war. Aber dieser beunruhigende Funke ging unter in der glühenden Gewißheit, es dem Angeber vor dem Klavier heimgezahlt und ihn völlig aus der Aufmerksamkeit der Erwachsenen verdrängt zu haben. Sein Vater lachte, wie es vorhin ihrer getan hatte, und der Atem, der sie stoßweise traf, roch sauer. Anni stimmte in das Gelächter ein, womit Carla gerechnet hatte. Sie wollte sich gerade wappnen und zu ihrem Vater umdrehen, als eine Hand die ihre nahm. Es geschah mit einem kleinen Ruck, der sie fast aus dem Gleichgewicht gebracht hätte.
»Gretel«, sagte der Junge, und Carla stellte verärgert fest, daß er nicht im geringsten beleidigt dreinschaute, »ich bin Kasperl.«
Und da er sie immer noch festhielt, zwang er sie, seiner Bewegung zu folgen, als er sich vor den Erwachsenen verbeugte. Es war das erste Unentschieden in einem langen Wettbewerb, und beide wußten es.
Die Villa Fehr hatte, wie die meisten Häuser in Bogenhausen, einen großen Garten, aber durch den Krieg war er völlig verwildert; der Gärtner gehörte zu jenen, die sich seinerzeit freiwillig gemeldet hatten, und sein Ersatzmann war eingezogen worden. Im Sommer wirkten die üppig wuchernden, ungeschnittenen Hecken und Sträucher romantisch; in diesem Monat glichen sie nur noch scharfen, schwarzen Ausrufezeichen in einer grauen Landschaft, und ein Ast verfing sich in Carlas Mantel. Sie riß sich ungeduldig los.
»Wie alt bist du?« fragte Robert, der mit ihr hinausgeschickt worden war und sie beobachtete.
»Älter als du«, entgegnete sie hochmütig. »Das sieht man gleich. Du schaust immer noch aus wie ein Baby!«
Das war ausgesprochen boshaft, denn er war pausbäckig, und er wußte es. Es erinnerte ihn an einige Kinder in der Nachbarschaft, in Bamberg, wo sie gewohnt hatten, ehe seine Mutter entschied, daß sie nach München gehörten. Damals war er noch dicker gewesen als jetzt, und sie hatten Klößla hinter ihm hergebrüllt. Es war immer leichter gewesen, Erwachsene zu beeindrucken und in Mamas Salon aufzutreten.
»Du schaust aus wie eine dürre Zitrone«, gab er zurück. »Gelb vor Eifersucht.«
Er überlegte, ob er noch eine Beleidigung hinzufügen sollte, eine mit ein paar Fremdwörtern. Inzwischen hatte er herausgefunden, wie es andere Kinder verwirrte und verärgerte, wenn sie etwas nicht verstanden.
Carlas Gesicht brannte, was auch daran lag, daß sie sich hatte waschen müssen. Die kalte Novemberluft stach in ihre Poren. Verächtlich stieß sie den Atem zwischen den Zähnen aus und imitierte Fräulein Brods akzentfreie, sorgfältig durchkonstruierte Sprechweise.
»Warum sollte ich eifersüchtig sein? Du bist doch nur hier, weil du noch nicht einmal genug für die Wilhelmsschule weißt.«
Diesmal fühlte er sich nicht getroffen, denn er sah seinen kurzen Aufenthalt an der alten Schule im Lehel nicht als Versagen an; er hatte ihn nur gelangweilt. Aber er war beeindruckt von Carlas Ausdrucksweise. In ihm verfestigte sich mehr und mehr der Argwohn, daß es sich bei diesem Mädchen um eine ernstzunehmende Konkurrentin handelte.
»Du bist eifersüchtig«, wiederholte er ungerührt. »Mit einem Vater wie dem deinen wäre ich auch eifersüchtig.«
Ihre Haut war sehr blaß, wie häufig bei Rothaarigen, und er konnte die wenigen Sommersprossen auf ihrer Nase erkennen, als sie tief Luft holte.
»Besser mein Vater als deiner«, schoß sie zurück. »Meiner kann nämlich am Abend noch richtig sprechen!«
Sie standen sich gegenüber und starrten sich feindselig an. Robert überlegte, sie einfach stehenzulassen, aber das würde sie als Sieg auffassen, und dann müßte er in den Salon zurück. Und sein Vater hatte mittlerweile das Stadium erreicht, in dem er anfing, über Roberts Mutter zu klagen. Der Anblick war ihm mittlerweile vertraut und zutiefst verhaßt; sein Vater, der schluchzte und immer die gleichen Dinge sagte, ohne es zu bemerken, der glaubte, tragisch zu wirken, und über den sich seine Freunde in Wirklichkeit nur noch lustig machten. In einer Mischung aus Grauen und Scham kroch der Gedanke in ihm hoch, daß es vielleicht besser gewesen wäre, wenn Papa und nicht Dada Goldmann eingezogen worden wäre. Er haßte sich dafür, und er haßte das rothaarige Mädchen, das ihn dazu brachte, so etwas zu denken.
Dann fiel ihm der Klatsch wieder ein, den er in den zahlreichen Salons gehört hatte, in denen er seine Zauberkunststücke aufführte und seine Gedichte deklamierte. Seine Augen verengten sich.
»Deine Mutter ...«, begann er und hielt abrupt inne.
Alle Selbstsicherheit war von Carla abgefallen; sie sah noch nicht einmal mehr feindselig aus, sondern verunsichert und sehr, sehr hilflos, wie der Vogel, der vorige Woche gegen das Fenster seines Zimmers geflogen war. Er hatte vergeblich versucht, ihn zu retten. Plötzlich kam ihm das, was er sagen wollte, gemein vor, gemeiner, als sie es verdient hatte. Carlas Atem drang in einer kleinen dünnen Wolke aus ihrem Mund.
»Es ist so kalt hier draußen«, sagte Robert und bot ihr damit einen Waffenstillstand an.
»In der Küche ist es warm«, entgegnete Carla vorsichtig. Rücksicht war ihr fremd, aber sie hatte das Gefühl, ihm etwas zu schulden, und entschied, daß er doch mehr als ein hoffnungsloser Angeber sein mußte.
»Laß uns reingehen.«
***
Für Käthe Brod wurde dieser Novembertag aus Gründen, die nichts mit ihrer Schülerin zu tun hatten, zutiefst erinnerungswürdig. Der unvermeidliche Tadel ihres Arbeitgebers wurde durch das Auftauchen des aufgeregten Prokuristen seiner Fabrik unterbrochen. Das, worauf sie seit dem Streik der Rüstungsarbeiter im Januar gehofft hatte, war eingetreten, zumindest in Bayern; der Sozialistenführer Kurt Eisner hatte einen republikanischen Freistaat ausgerufen. Sie hielt den Atem an, hütete sich aber, in Gegenwart von Herrn Fehr etwas zu sagen. Alles, was Heinrich Fehr über Eisner geäußert hatte, war Erleichterung gewesen, daß man »diesen zugereisten Schlawiner aus Berlin« nach dem von ihm angeführten Streik das Handwerk gelegt habe.
»Eingesperrt, wie es sich gehört«, hatte er befriedigt geschlossen, und Käthe spürte nicht zum ersten Mal die Erbitterung darüber, ihren Lebensunterhalt bei einem Reaktionär verdienen zu müssen. Ihre eigenen Ansichten hatten sich im Verlauf des Krieges radikalisiert, aber selbst wenn sie noch die unerfahrene junge Frau der Vorkriegszeit gewesen wäre, hätte sie doch begriffen, was hinter Herrn Fehrs Gerede von den »vaterlandslosen Gesellen« steckte. Er war Heereslieferant.
Sie hatte im Februar gemeinsam mit ihren Freundinnen an der Kundgebung auf der Theresienwiese teilgenommen, die sich gegen jene richtete, die den Krieg aus reiner Profitgier verlängerten, aber Käthe war sich nur zu bewußt, daß ihr Gewissen auch nicht unbelastet war. Mit etwas mehr Wut würde sie kündigen und wieder versuchen, von ihren Artikeln zu leben. Die Pressezensur würde jetzt bestimmt bald aufgehoben werden, und die Münchner Post hatte zumindest zwei der unzähligen Aufsätze, die sie in den letzten Jahren geduldig geschickt hatte, akzeptiert und abgedruckt, wenn auch unter einem Pseudonym.
Die Scham über mangelnde Courage kämpfte gewöhnlich mit ihrer Erinnerung an das Hungern in einer Wohnung ohne Waschgelegenheit, die sie mit drei weiteren Frauen teilen mußte, aber sie war zu aufgeregt, um realistisch denken zu können. Die so lang herbeigesehnte Revolution war da, und gewiß nicht nur in Bayern. Das mußte auch das Kriegsende bedeuten, das mußte es einfach. Einer ihrer Brüder war bereits gefallen, ein anderer war als Invalide zurückgekehrt, und trotz der Kluft zwischen ihr und der Familie teilte sie die Angst ihrer Eltern um den dritten, der sich immer noch in Frankreich befand.
Es war schwer, sehr schwer, sich unter diesen Umständen auf das Unterrichten zu konzentrieren. Immerhin ließ sie die Begeisterung über die Nachricht ungewöhnlich nachsichtig auf die katastrophalen Wissenslücken reagieren, die sie bei dem jungen König vorfand. Er hatte nicht die geringsten Kenntnisse in Mathematik und bekundete ohne Verlegenheit völlige Ignoranz in bezug auf die europäischen Hauptstädte, abgesehen von London und Paris. Es war um so verblüffender, als er offenbar über ein hervorragendes Gedächtnis verfügte; er rezitierte ihr nicht nur Gedichte, sondern ganze Theatermonologe, und als sie nachprüfte, ob er auch verstand, was er da deklamierte, beschrieb er den Inhalt von Don Carlos so enthusiastisch, daß er an einer Stelle auf das Pult kletterte.
Nachdem sie ihre Pflicht getan und versucht hatte, ihm einige mathematische Grundregeln zu erklären, während Carla gelangweilt zuschaute, brach der Damm, mit dem sie ihre innere Bewegung im Zaum hielt, endgültig zusammen.
»Was für eine Staatsform haben wir?« fragte sie.
»Die Monarchie, Fräulein Brod«, entgegnete Carla höflich.
»Dem ist nicht mehr so«, sagte Käthe und gab den Versuch auf, ihre Begeisterung zu verschleiern. »Heute ist ein historischer Tag. Der Vorsitzende der USPD, Herr Eisner, hat das Land Bayern zum Freistaat deklariert, zum Freistaat mit einer republikanischen Verfassung.«
Die Kinder sahen eher verblüfft als gebührend beeindruckt drein. Käthe entschied, daß es ihre Pflicht sei, dem Nachwuchs der herrschenden Klasse die Bedeutung des historischen Augenblicks nahezubringen. Herr Fehr war ohnehin nicht mehr da; er war sofort zu seiner Fabrik aufgebrochen. Also mußte sie niemanden um Erlaubnis fragen und teilte der Köchin nur mit, sie mache mit Carla und dem jungen König einen Spaziergang.
Die Trambahnen waren überfüllt, und bis sie mit Carla und Robert an der Theresienwiese ankam, wo die Revolution ihren Ausgang genommen hatte, war ihre Stimme heiser und ihr Körper voller Druckstellen und roter Flecken. Aber das machte ihr nichts aus, nicht heute, und als einer der Redakteure der Münchner Post, den sie sonst wegen seiner herablassenden Bemerkungen über Blaustrümpfe im allgemeinen und schreibende Frauen im besonderen beinahe gehaßt hatte, sie erkannte, an sich drückte und statt einer Begrüßung schallend auf die Wange küßte, lachte sie nur und erwiderte die Umarmung.
»Es lebe die Revolution!«
***
Die Aufregung dieses Novembertages blieb für Carla lange das einzig Greifbare, das sich mit dem Begriff Revolution verband. Als Fräulein Brod ihr ein paar Tage später sagte, der Kaiser habe abgedankt und das ganze Reich sei nunmehr ebenfalls eine Republik, begriff sie durchaus, was damit gemeint war, aber die Vorstellung blieb abstrakt und kühl wie eine mathematische Formel. Nur die Auswirkungen auf Käthe Brod fesselten sie. Ihre Erzieherin war ihr immer wie eine der schmalen, unerreichbaren Kerzen vorgekommen, die auf dem Altar brannten. Nun war es, als hätte ein Windstoß sie so zum Flackern gebracht, daß sie sich jeden Moment in eine Fackel verwandeln konnte. Carla wartete auf einen erneuten Ausbruch, aber der kam nicht.
Ihre Stiefmutter Anni hatte auf das Ende des Krieges zunächst auch begeistert reagiert, aber als sich herausstellte, daß Carlas Vater immer weniger Zeit mit ihr und immer mehr mit jenen Bekannten verbrachte, die bis vor kurzem noch einen weiten Bogen um sein Haus gemacht hatten, verwandelte sich ihr Enthusiasmus in Enttäuschung. Sie hatte geglaubt, nach dem Krieg würde das Leben aus Feiern und vielen neuen Kleidern und vor allem viel Spaß bestehen, nicht aus endlosen langweiligen Unterhaltungen, die Heinrich mit anderen alten Männern in seinem Raucherzimmer führte und bei denen man sie ohnehin nicht zuhören ließ. Ihre alten Freunde durfte sie nicht mehr sehen, und die Dienstboten ließen sie spüren, was man von ihr hielt. Es geschah selten, daß sie über etwas nachgrübelte, aber nun kamen ihr Zweifel, ob es richtig gewesen war, das Leben als Elevin beim Ballett aufzugeben. Sie war früher öfter hungrig gewesen, aber Einsamkeit war ein neues und sehr unangenehmes Gefühl. Um ihm zu entgehen, verbrachte sie viel Zeit mit den Kindern.
»Sie ist ein ganz schönes Dummchen«, stellte Robert einmal mitleidlos fest, als ihm Anni seine Geschichte von einer Begegnung mit russischen Spionen, die Kinder entführten, widerspruchslos geglaubt hatte. »Nett, aber blöd.«
»Nicht so blöd, daß man sie aus der Schule geworfen hätte«, gab Carla scharf zurück.
Obwohl sie zuerst eifersüchtig gewesen war, mochte sie Anni, was vor allem daran lag, daß Anni seit Jahren der erste Mensch war, der sich ihr gegenüber durchweg liebevoll verhielt. Es war einfach unmöglich, Anni mit ihrer unkomplizierten Zuneigung und ihrer Gutgläubigkeit, die von allen immer das Beste annahm, nicht gern zu haben.
»Man hat mich nicht rausgeworfen«, protestierte Robert gekränkt. »Es war todlangweilig dort. Außerdem hat meine Mutter immer gesagt, das Schulsystem sei ...«
Er verstummte jäh. Er sprach nicht von seiner Mutter, wenn es sich vermeiden ließ. Carla fragte nicht nach dem Ende des Satzes, und er wußte, weswegen. Sie sprach überhaupt nicht von ihrer Mutter, und anders als bei seiner Familie tat das auch niemand sonst – in ihrer Hörweite. Er wußte nicht, ob er sie darum beneiden sollte.
Sie stritten nicht nur. Als er ihr das erste Mal mit Hilfe des Zauberkastens, den Dada Goldmann ihm geschenkt hatte, einige seiner besten Tricks vorführte, war sie endlich gebührend beeindruckt gewesen. Umgekehrt entdeckte er, daß sie neben ihrer Schlagfertigkeit ein großartiges Gedächtnis und freien Zugang zu der Bibliothek ihres Vaters besaß; sie konnte die Romane, die sie schon kannte, haarklein nacherzählen, und es machte ihnen Spaß, besonders dramatische Szenen immer wieder nachzuspielen. Außerdem entdeckten sie eine gemeinsame schuldbewußte, und darum um so köstlichere, Vorliebe für Karl May, den seine Mutter zu Schundliteratur erklärt hatte, ein Urteil, das auch Fräulein Brod aussprach. Aber sie konnten sich nicht darauf einigen, wer Winnetou und wer Old Shatterhand spielen sollte, und Carla weigerte sich, Nschotschi zu sein. Stattdessen war sie Hadschi Halef Omar, selbst in den Geschichten, die im Wilden Westen spielten, was einige phantasievolle Umänderungen nötig machte.
Als er schließlich doch wieder eine Schule besuchen mußte, hätten sich Rivalität wie Freundschaft vielleicht trotzdem verloren, wenn es nicht zur großen Katastrophe gekommen wäre.
***
Es begann mit einem Besuch von Carlas älterer Schwester Marianne in Bogenhausen, einem an sich schon sehr ungewöhnlichen Ereignis. Marianne war die Tochter von Heinrich Fehr und seiner ersten Frau und sechzehn Jahre älter als Carla. Ihre Mutter, Gerda Bachmaier, entstammte einer der bedeutendsten Münchner Familien, die, anders als die Fehrs, nicht nur reich, sondern schon seit Ewigkeiten in München ansässig war. Als Gerda Bachmaier und Heinrich Fehr heirateten, nannte man das im Simplizissimus »die Ehe von Margarine und Leder«, was sich auf die jeweilige Herkunft des Familienvermögens bezog, aber die Hochzeit war der unbestrittene Höhepunkt der Saison. Die Ehe galt der Gesellschaft als Zeichen, daß der junge Fehr seine studentischen Eskapaden endgültig beendet und ein neues Leben angefangen habe.
In der Tat wandelte sich Heinrich Fehr auf durchaus voraussagbare Art und Weise vom jugendlichen Rebell zur Stütze der Münchner Gesellschaft. Er war seiner Frau nicht treu, aber seine Affären verliefen im üblichen Rahmen: diskret und mit einem netten Abschiedsgeschenk. Das einzige, was den harmonischen Eindruck der Ehe etwas trübte, war das Fehlen eines Sohnes. Wie sein Vater, der zeit seines Lebens nicht das Etikett des neureichen Aufsteigers hatte loswerden können, war Heinrich Fehr besessen von der Vorstellung, eine Dynastie gründen zu müssen, und Marianne als einziges Resultat seiner Ehe enttäuschte ihn. Man nahm an, daß er wohl jemanden aus der Verwandtschaft adoptieren würde, einen von Gerdas Neffen vielleicht oder einen Sohn seiner Cousinen. Niemand vermutete, was bald geschehen sollte.
Er kehrte von einer Reise nach Italien ohne seine Gattin zurück. Stattdessen reiste er mit einer ausländischen Sängerin, bestellte, kaum in München eingetroffen, seine Anwälte zu sich und verlangte die Scheidung. Es war mehr als ein Skandal, es war eine Erschütterung des Status quo, ein Verrat von innen. Gediegene Mitglieder der Gesellschaft heirateten ihre Mätressen nicht, und schon gar nicht verlangten sie, ihre Ehe nicht nur scheiden, sondern auch kirchlich annullieren zu lassen, wie es Heinrich Fehr tat. Was folgte, war ein sechsjähriger erbitterter Kampf zwischen Heinrich Fehr und der gesamten Familie Bachmaier. Die sonst so sanfte Gerda weigerte sich, sich einfach abschieben zu lassen. Jedesmal, wenn die Anwälte ihres Gatten glaubten, eine Möglichkeit gefunden zu haben – etwa eine Scheidung in Riga, zu der das Einverständnis beider Eheleute nicht nötig war –, sorgten Gerda Fehrs Anwälte dafür, daß diese Scheidung außerhalb Rigas keine Gültigkeit besaß. Was gar die kirchliche Annullierung anging, so erwies diese sich als ganz und gar unmöglich. Der im Grunde seines Herzens konservative Heinrich Fehr reagierte mit Kirchenaustritt und einer öffentlichen Demontage der Muttergottesstatue aus dem Erker seines Hauses, was ihm weitere Karikaturen im Simplizissimus einbrachte, aber wenig gewann. Für die Bohemiens war er immer noch ein Reaktionär, und die Sympathien seines alten Freundeskreises lagen ganz und gar bei seiner Frau.
Sein sechsjähriger Kampf um die Auflösung seiner Ehe endete schließlich überraschend mit Gerdas Tod an Lungenentzündung, als er und seine Sängerin sich gerade auf der Suche nach einer weiteren rechtsgültigen Scheidung in Amerika befanden. Sie kehrten zurück, frisch verheiratet, wie jedermann annahm und wie es Heinrich Fehr zu diesem Zeitpunkt auch behauptete; überdies erwartete die neue Frau Fehr, von der niemand wußte, woher sie eigentlich stammte – nicht aus Italien, soviel war sicher –, ein Kind, das unziemlicherweise bereits vier Monate nach dem Tod Gerda Fehrs zur Welt kam.
Da es wieder ein Mädchen war, bedeutete die Geburt das Ende des romantischen Teils der Beziehung zwischen Heinrich Fehr und seiner Sängerin. Selbstverständlich wurde sie nirgendwo empfangen, doch diejenigen Herren, die Heinrich Fehrs Einladungen hin und wieder aus rein geschäftlichen Gründen, wie sie ihren Gattinnen versicherten, annahmen, erzählten von einer schönen Frau, aber auch immer häufigeren öffentlichen Streitereien. Die Ausländerin wurde noch einmal schwanger, erlitt eine Fehlgeburt, und drei Jahre nach ihrer Heirat wettete man in München darauf, wann Heinrich Fehr seine zweite Scheidung einreichen und wie lange es diesmal wohl dauern würde. Stattdessen stürzte sie die Treppe hinunter und brach sich das Genick. Was ihren Tod so bizarr machte, war Heinrich Fehrs Reaktion darauf. Nun erklärte er nämlich, er sei nie rechtsgültig mit der Sängerin verheiratet gewesen; ihr gemeinsames Kind sei somit unehelich.
Während dieser ganzen Zeit hatte er seine ältere Tochter, der er ihre Parteinahme für die Mutter übelnahm, kaum gesehen. Nach Gerdas Tod war sie zu den Bachmaiers gezogen. Jetzt forderte er sie plötzlich wieder auf, ins Haus ihres Vaters zurückzukehren, was sie so lange tat, bis er zu ihrem Entsetzen eine billige Kopie seines ersten öffentlichen Fehltritts heiratete: ein Mädchen, das jünger war als Marianne und das er in einer unsäglichen Revue gefunden hatte.
»Ich habe gewußt, daß sie wieder zurückkommt«, kommentierte Carla, als sie mit Robert in ihrem Versteck auf dem Dachboden saß. Es war Februar und damit eigentlich zu kalt für diesen Ort, aber sie wollte sich Mariannes Begrüßung ersparen, solange sie nur konnte. Sie teilten sich die rationierte Schokolade, die Anni ihnen zugesteckt hatte; Carla bemühte sich, das Stück möglichst langsam im Mund zergehen zu lassen, während Robert seinen Teil so hastig aß, wie er alles andere tat.
»Magst du sie nicht?«
Es war so schwer zu erklären. »Sie bemüht sich so schrecklich, mich zu mögen«, erwiderte Carla endlich. Sie dachte an Mariannes trockene, dünne Hände, die ständig beschäftigt waren, mit Stricken, mit Sticken, damit, Carlas Hände zum Gebet zu falten. Mariannes Stimme, wenn sie ihr Kindergebete beibrachte, klang selten friedlich. Carla versuchte, es ins Komische zu wenden. »Sie nimmt mich immer zur Kirche mit, weil sie Angst hat, daß ich als Heidin aufwachse«, fügte sie hinzu, zog eine Grimasse und legte die Hand ans Herz. »Dabei bin ich ein treuer Moslem, der sogar die Pilgerreise nach Mekka gemacht hat.«
Sie lachten beide, und damit war sie dem Problem entkommen, ihre Gefühle für Marianne entwirren zu müssen. Es stimmte, Marianne bemühte sich ständig, nett zu ihr zu sein, aber man merkte eben, daß sie sich bemühte und was sie dabei dachte. Einmal hatte sie es auch laut ausgesprochen und gemurmelt: »Es ist nicht deine Schuld.« Es wäre einfacher für sie gewesen, sich über das Verhältnis zu ihrer Halbschwester klarzuwerden, wenn Marianne sie offen angegriffen hätte.
Andererseits gab es durchaus Momente, wo sie etwas für Marianne empfand, etwas außer der Eifersucht, die ständig in der Luft lag, wenn Marianne hier war. Die Entdeckung, daß auch Marianne verzweifelt versuchte, die Aufmerksamkeit ihres Vaters zu erringen, hatte sie schon sehr bald gemacht. Aber daß Marianne unter der nervösen Bettelei nach Liebe auch einen tiefen Groll auf ihn verbarg, war ihr erst im Laufe des letzten Jahres klargeworden, und das schuf eine Gemeinsamkeit zwischen ihnen, die sich in Worten nicht ausdrücken ließ.
Am Abend nach Mariannes Ankunft fand ein kleines Abendessen statt, zu dem neben Roberts Vater, Herrn König, auch sein inzwischen aus dem Krieg zurückgekehrter Freund, Dr. Goldmann, eingeladen war. Anni hatte Fräulein Brod hinzugebeten, weil sie sich etwas vor Marianne fürchtete. Aber im Laufe des Abends entspannte sie sich sichtlich. Während sie mit Rainer König über einen Witz lachte, stocherte Carla in ihrem Teller herum und hörte nur halb Herrn Königs letzter Anekdote zu. Die Leute am Tisch zu beobachten war spannender, denn außer Anni benahm sich niemand wirklich unbefangen.
Marianne aß genauso zögernd und ungern wie sie und zuckte zusammen, wenn das Gelächter besonders laut wurde, aber daran war nichts Neues. Neu waren dagegen die verstohlenen Blicke, die sie Dr. Goldmann zuwarf, wenn sie dachte, er würde es nicht bemerken, und die stets von einem hastigen Umschauen in Richtung ihres Vaters begleitet wurden. Dr. Goldmann schien nichts davon zu bemerken. Zuerst fühlte sich Carla geschmeichelt, weil er einen beträchtlichen Teil seiner Aufmerksamkeit ihr widmete und nicht in dem herablassenden, gönnerhaften Tonfall sprach, den die meisten Erwachsenen, die sie kannte, Kindern gegenüber anschlugen – nur Robert gegenüber nicht, der ärgerlicherweise bereits jedermann erfolgreich dazu gebracht zu haben schien, ihn ernstzunehmen.
Dann kam ihr der Verdacht, daß er in Wirklichkeit nur längeren Unterhaltungen mit ihrem Vater ausweichen wollte. Sie beschloß, es auf die Probe zu stellen, und wurde einsilbig. Und in der Tat, Dr. Goldmann stürzte sich nun in eine Diskussion mit Fräulein Brod, die neben ihr saß – so weit wie möglich von Heinrich Fehr entfernt. Fräulein Brod war an diesem Tag jedoch sehr bedrückt und kurz angebunden, und Dr. Goldmann sprach bald mit Robert, dann wieder mit Marianne, die bei diesen Gelegenheiten auf die Tischdecke starrte, dann mit Anni. Nur nicht mit dem Gastgeber, den es seinerseits auch nicht zu einem Gespräch zu drängen schien. Und obwohl Rainer König und Martin Goldmann doch angeblich Freunde waren, wichen auch sie einander aus.
All das war wesentlich interessanter und rätselhafter als alles, was laut ausgesprochen wurde. »Kneif die Augen nicht so zusammen«, flüsterte Robert, der an ihrer anderen Seite saß, ihr zu, »setz deine Brille auf.«
Sie wollte gerade etwas über die zweite Portion Sauerbraten sagen, die er vorhin verlangt hatte, als ihr Vater sich in seinem Stuhl zurücklehnte und, offenbar auf eine Frage Mariannes, befriedigt meinte: »Nun, nach dem heutigen Tag wird das Land wenigstens nicht mehr von einem jüdischen Bolschewisten regiert, und die Arbeitszeitverkürzung wird wohl auch wieder zurückgenommen.«
Fräulein Brod, die Carla gerade die Wasserkaraffe gereicht hatte, zuckte sichtlich zusammen, aber Carlas Vater sah nicht sie an. Seine Bemerkung war offenbar für einen anderen Zuhörer bestimmt gewesen.
»Goldmann, alter Junge«, fuhr er fort, »Sie waren doch an der Front, was mich übrigens sehr überrascht hat, wo die verstorbene Frau König doch so gegen den Krieg eingestellt war. Als Soldat müssen Sie doch auch erleichtert über das sein, was heute geschehen ist.«
An der Tafel herrschte Stille. Nur Anni lachte noch etwas über Rainer Königs letzte Bemerkung, dann fiel auch ihr auf, daß etwas nicht stimmte. Dr. Goldmann legte sein Besteck nieder, nahm die Brille ab, die er trug und die ihn Carla sofort sympathisch gemacht hatte, dann sagte er mit seiner leisen, präzisen Stimme:
»Wenn der bayerische Ministerpräsident ermordet wird, ist Betroffenheit wohl das einzig angemessene Gefühl.«
»Oh, ich weiß nicht«, erwiderte Heinrich Fehr gedehnt. Seine Augen hatten sich verengt, und er starrte Dr. Goldmann direkt ins Gesicht. »Ich für meinen Teil war erleichtert. Wir wollen doch keine russischen Zustände, oder?«
Carla schaute zu Robert, aber er wußte anscheinend genausowenig wie sie über die offene Feindseligkeit zwischen den beiden Männern, die nun überdeutlich geworden war. Dr. Goldmann setzte seine Brille wieder auf und schloß kurz die Augen. Als er sie wieder öffnete, sagte er:
»Daß Sie den Tod eines Menschen gelegentlich als wünschenswert betrachten, ist mir bekannt, Herr Fehr.«
»Was«, fragte Heinrich Fehr und stand langsam auf, »soll das heißen?«
Dr. Goldmann kam nicht dazu zu antworten. Robert sprang auf.
»Du meine Güte«, sagte er, »es ist schon so spät, und wir haben Tante Gisela doch versprochen, noch einmal nach ihr zu sehen.«
Er wandte sich an seinen Vater. »Du weißt doch, Papa, sie wartet auf uns.« Dann drehte er sich zu Heinrich Fehr.
»Verzeihung, Herr Fehr, das Essen war so gut, daß mein Vater und Dr. Goldmann offenbar vergessen haben, was sie meiner Tante versprochen hatten. Meine Tante Gisela besucht uns nämlich gerade, und sie ist ...«
»... krank«, fiel Rainer König ein, der an diesem Abend noch wach genug war, um zu erkennen, worauf sein Sohn hinauswollte. »Dr. Goldmann behandelt sie. Ja, Heinrich, du mußt uns wirklich entschuldigen, tut mir leid ...«
»Mir auch«, sagte Carlas Vater. Er rührte sich nicht. »Schon gut, ich verstehe. Du und ich, wir wissen ja beide, wie schwer es ist, Dr. Goldmann von einer Dame in Not fernzuhalten, nicht wahr?«
Diesmal brachen der Hohn und die Verbitterung in seiner Stimme aus jeder mißverständlichen Höflichkeit heraus. Carla wartete auf einen ähnlichen Ausbruch Dr. Goldmanns, aber der Arzt, der im Vergleich zu ihrem Vater klein und fast zierlich wirkte, sagte nur traurig und ruhig:
»Ich wollte, es wäre so, Herr Fehr. Ich wollte, es wäre so.«
Als die Königs und Dr. Goldmann verschwunden waren, entspannte sich die Atmosphäre etwas, und Heinrich Fehr bat Marianne, auf dem Klavier vorzuspielen, was sie mit sichtlicher Freude und Erleichterung tat. Angeberin, dachte Carla mit dem Neid, der bei solchen Gelegenheiten automatisch in ihr hochkroch; Marianne konnte nämlich wirklich gut Klavier spielen, nicht nur pflichtgemäß wie Käthe Brod. Außerdem intonierte Marianne nicht irgendetwas, sondern ein Lied, das ihr Vater selbst komponiert hatte, in seiner Jugend, ehe er heiratete, die Lederfabrik übernahm und den Gedanken an ein Künstlerleben endgültig hinter sich ließ. Dennoch blieb er sehr stolz auf seine wenigen Kompositionen, und darin lag das Bestehen auf eine musikalische Erziehung seiner Töchter begründet.
Marianne hatte mit ihrem Versuch, den Vater zu besänftigen, so lange Erfolg, bis die arglose Anni, die von den Ereignissen des Abends weniger als jeder andere verstanden hatte, meinte: »So ein gescheites Mädel, und was du alles kannst! Gell, da hast du gewiß schon viele Verehrer?«
Marianne unterbrach ihr Spiel und erwiderte mit spröder Stimme: »Ich kümmere mich nicht um solche Dinge, gnädige Frau.«
»Das solltest du aber«, knurrte Heinrich Fehr, erneut schlecht gelaunt und mit einer Verärgerung, die beiden galt. »So, wie es aussieht, bleibt ein Schwiegersohn meine letzte Hoffnung für die Fabrik! Mädchen, nichts als überflüssige Mädchen.«
Das riß Carla aus dem Bemühen, in Gedanken das Puzzle des heutigen Abends richtig zusammenzusetzen. Sie ballte die Hände, so daß sich ihre Nägel, die man längst hätte schneiden sollen, schmerzhaft in die Handflächen gruben, schaute zu Marianne und stellte fest, daß ihre Schwester trotz des sechzehn Jahre härteren Schutzschildes genau das gleiche getan hatte. Ihre Blicke kreuzten sich. Es war einer der Momente, in denen die Kluft zwischen ihnen keine Rolle mehr spielte.
Anni mochte weder gebildet noch klug sein, aber diese Art von Verletzung verstand auch sie. Sie versuchte, der Bemerkung ihres Mannes eine andere Wendung zu geben.
»Natürlich, jeder stolze Vater wünscht sich, seine Tochter zum Altar zu führen.«
Dann fiel ihr ein, daß Heinrich ja aus der Kirche ausgetreten war, und sie setzte hastig das erste hinzu, was ihr einfiel: »Und daß du viele Verehrer hast, Marianne, das ist doch klar. Weißt, der Dr. Goldmann heut' abend hat auch kaum wegschauen können und ...«
Marianne stand so abrupt auf, daß der Klavierschemel umfiel. »Ich wäre Ihnen dankbar, gnädige Frau«, sagte sie eisig, »wenn Sie es zukünftig unterließen, diesen Herrn in meiner Gegenwart zu erwähnen. Und ich bin sicher, daß mein Vater für ein ähnliches Taktgefühl ...«
Ihre Selbstbeherrschung brach zusammen, und sie rannte aus dem Zimmer. Heinrich Fehr stand auf, griff Anni beim Ellenbogen und zog sie ebenfalls fort. Nur Carla und Käthe Brod blieben zurück.
»Fräulein Brod«, begann Carla, aber zu ihrer großen Überraschung stand es um die Contenance ihrer Erzieherin ebenfalls nicht zum besten.
»Gute Nacht, Carla«, sagte Fräulein Brod und klang so ungewöhnlich, daß Carla ihr nachging und sie am Ärmel berührte. Ihre Erzieherin fuhr herum, und Carla war erschreckt und fasziniert zugleich von dem leidenschaftlichen Zorn, der sich mit einemmal auf Käthe Brods Gesicht zeigte.
»Gute Nacht!« Genug war genug. Gezwungen zu sein, still zu sitzen und sich anhören zu müssen, wie ein Reaktionär über die Ermordung des Ministerpräsidenten triumphierte, war für Käthe Brod schon schlimm genug gewesen, aber selbst ihre Trauer nicht zeigen zu dürfen hatte all ihre Reserven an Disziplin gekostet. Jetzt ließen sich die Tränen, die in ihren Augen brannten, seit sie von dem Attentat gehört hatte, nicht mehr zurückhalten, und sie floh auf ihr Zimmer.
Sie weinte nicht nur um Kurt Eisner. Sie hätte blind sein müssen, um nicht zu bemerken, wie sich das Klima in München in den letzten Monaten verändert hatte. Bei der Wahl im Januar, der ersten Wahl, an der sie als Frau überhaupt teilnehmen konnte, war es bereits zu einem niederschmetternden Sieg für die konservativen Parteien gekommen. Und erst vor wenigen Tagen hatte ein Besuch in der Alten Pinakothek sie an einer Gruppe Studenten vorbeigeführt, die laut »Nieder mit Eisner! Nieder mit den Juden« skandierte.
Daß Heinrich Fehr den Ministerpräsidenten heute einen »jüdischen Bolschewisten« genannt hatte, sollte sie nicht weiter überraschen, obwohl sie früher noch nie eine antisemitische Äußerung von ihm gehört hatte. Doch der Moment war unerwartet verletzend gewesen. Sie fühlte sich nicht als Jüdin. Seit Jahren hatte sie keine Synagoge mehr besucht oder darauf geachtet, koscher zu essen. In einer idealen Welt gab es ihrer Vorstellung nach überhaupt keine Religionsgruppen mehr. Und dennoch hatte sie sich heute getroffen gefühlt.
Während sie die Tür zu ihrem Zimmer abschloß, wünschte Käthe sich ein weiteres Mal, die Stelle bei den Fehrs nie angenommen zu haben. Ein guter Mann, einer der wenigen Hoffnungsträger des Landes, war heute ermordet worden, und sie ließ sich ihren Lebensunterhalt von jemandem bezahlen, dem nichts Besseres einfiel, als offen darüber zu triumphieren. Sie konnte Carla, die ihr gefolgt sein mußte, fortgehen hören. Irgendetwas beschäftigte das Mädchen; es wäre vielleicht angebracht, doch noch einmal mit ihr zu sprechen. Aber nein, sich so zu zeigen, mit geröteten Augen und voll innerem Aufruhr, würde nur ihre Autorität untergraben; sie war kaum in der Verfassung, Ratschläge zu erteilen. Außerdem, dachte sie mit aufflackernder Feindseligkeit, bezahlte man sie in diesem Haus für Wissensvermittlung, nicht, um Trost zu spenden; sie war eine Lehrerin und kein Kindermädchen. Carla konnte zu der törichten kleinen Frau Fehr gehen, die sicher mehr als bereit zu Umarmungen und Herzensergüssen war.
***
Carla ging nicht zu Anni; sie legte keinen Wert darauf, ihrem Vater an diesem Abend noch einmal zu begegnen. Stattdessen lief sie nach kurzem Überlegen zu Mariannes Zimmer, das zum Glück nicht abgeschlossen war. Marianne lag auf ihrem Bett, das Gesicht in das Kissen vergraben, aber zumindest weinte sie nicht, wie es Fräulein Brod, die doch nichts wissen konnte, rätselhafterweise getan hatte. Ihr Haarknoten hatte sich etwas gelöst, und als sie sich bei Carlas Eintritt aufrichtete, sah sie jünger aus als die vierundzwanzig Jahre, die sie zählte, was bei ihr selten war.
»Geh weg«, bat sie mit zitternder Stimme.
»Ich habe mein Gutenachtgebet noch nicht gesagt«, antwortete Carla, »und wenn du es nicht mit mir sprichst, tut es niemand.«
Marianne warf ihr einen argwöhnischen Blick zu. Sie war nicht dumm, und sie wußte, daß Carla gewöhnlich keinen Enthusiasmus für Gebete zeigte und ohne jedes Erröten log, wenn es ihren Zwecken diente. Andererseits gehörte es zu ihrer selbstauferlegten Buße für all die haßerfüllten Gedanken, die sie in bezug auf Carlas Mutter und gelegentlich auch auf Carla selbst gehegt hatte, zu versuchen, ihre kleine Schwester zu retten.
»Also gut, aber dann gehst du.«
Sie knieten beide nieder; Marianne bekreuzigte sich und begann, wie es ihre eigene Mutter vor vielen Jahren mit ihr getan hatte: »Müde bin ich, geh zur Ruh ...«
Aber der Frieden, den das kindliche Gebet sonst immer mit sich brachte, stellte sich heute nicht ein; stattdessen erinnerte es sie an die Zeit, als ihre Welt zerbrach, als ihr Vater sich von einem gutmütigen, liebevollen Mann in einen bösartigen Fremden verwandelt hatte. Es war natürlich die Schuld von Carlas Mutter gewesen. In Gedanken formte sie den Namen, der in diesem Haus seit Jahren nicht mehr ausgesprochen wurde, Angharad, und hörte sich mit verstörter Stimme fragen: »Was für ein Name ist das überhaupt?«
Und nun konnte sie Angharad nicht einmal mehr mit gutem Gewissen hassen; sie hatte ihr tausendmal den Tod gewünscht, aber als die Frau tatsächlich gestorben war ...
Carla hatte ihr Gebet tadellos mitgesprochen, doch auch nachdem sie sich abermals bekreuzigt hatte, machte sie keine Anstalten zu gehen.
»Dr. Goldmann war früher schon einmal hier, stimmt's?« fragte sie und wunderte sich nicht, als Marianne sofort erstarrte.
»Über diese Zeit sprechen wir nicht«, sagte ihre Schwester steif und hoffte, daß der Hinweis genügte. Carla stellte niemals Fragen über Angharad, was seltsam und fast unnatürlich war, wenn man es recht bedachte, aber unter den gegebenen Umständen für alle Beteiligten das Beste. Und in der Tat, das Mädchen schwieg. Sie hatte nun die Bestätigung für ihre Vermutungen. Eigentlich konnte sie gehen, aber sie brachte es nicht fertig. Sie wünschte sich plötzlich, Robert wäre hiergeblieben, um sie mit seiner Angeberei von der Erinnerung abzulenken, die sie unterdrückte, seit Dr. Goldmann ihrem Vater geantwortet hatte.
Jeder nahm an, daß sie sich überhaupt nicht an ihre Mutter erinnerte. Fast jeder, dachte Carla und zitterte.
»Mir ist kalt«, sagte sie, weil Marianne sie mit gerunzelter Stirn musterte.
»Kein Wunder. Du trägst keine Schuhe«, erwiderte ihre ältere Schwester und seufzte. »Von dieser unsäglichen Person gesunden Menschenverstand zu erwarten ist wohl zuviel verlangt, aber man sollte meinen, daß wenigstens deine Erzieherin auf solche Dinge achtet.«
Carla wußte, daß Marianne es gut meinte, daß sie mit solchen Äußerungen ausdrückte, was ihr an Mitgefühl möglich war, und daß es nun das beste wäre, einfach zu schweigen, zu nicken oder zu gehen. Aber ihr Widerspruchsgeist, das unwiderstehliche Bedürfnis, Marianne zu reizen, und das ungute Gefühl, das sie gehabt hatte, als ihr Vater Anni am Ellenbogen packte, trieben sie dazu, das Gegenteil zu tun.
»Anni meint, Hausschuhe werden bald ganz und gar überflüssig werden«, verkündete sie fröhlich und völlig unwahrheitsgemäß, »und daß wir alle barfuß herumlaufen sollten, wenn es wärmer wird, mit Ringen an den Zehen, wie die Frauen in Indien.«
»Diese Frau hat einen schlechten Einfluß auf dich«, sagte Marianne kühl, »und es schickt sich nicht, sie bei ihrem Vornamen zu nennen.«
Der seltsame, gelegentliche Einklang zwischen ihnen war endgültig vorbei, aber auch die Bedrückung, die Carla seit dem Abendessen geplagt hatte.
»Dir würden Ringe an den Zehen auch stehen, Marianne«, entgegnete Carla und bereitete ihren Rückzug vor. »Damit du mehr wie ein Mensch und weniger wie eine Nonne ausschaust.«
Damit verschwand sie; erst viel später kam ihr der Gedanke, daß diese kindische Auseinandersetzung das Ihre dazu beigetragen hatte, die Katastrophe, die folgte, mit auszulösen.
***
Robert hing nicht übermäßig an Häusern und Wohnungen, dazu war er in seiner Kindheit zu oft umgezogen, aber er fühlte sich in dem Hotel wohl, in dem sich sein Vater seit dem Winteranfang einquartiert hatte, und er verstand den Ingrimm nicht, mit dem Martin Goldmann die Tapeten mit ihren verblaßten Lilienzeichnungen musterte.
»Ihr könnt unmöglich hier bleiben«, stellte Dr. Goldmann fest. »Der Junge braucht ein richtiges Zuhause, nicht – ein Hotel!«
Rainer König trug seinen üblichen, gutmütig erheiterten Gesichtsausdruck zur Schau, während er sich in seinem Sessel zurücklehnte, aber anders als sonst hatte seine Miene etwas Angestrengtes.
»Ihm gefällt es hier. Mir auch. Die Zimmermädchen vergöttern ihn. Und«, schloß er mit einer unmißverständlichen Betonung, »er ist mein Sohn.«
Robert zog eine Grimasse und begann, die Lilien an der Wand zu zählen, um weder seinen Vater noch Dada Goldmann ansehen zu müssen. Oft hatte es seine Vorteile, im Mittelpunkt eines ständigen Wettbewerbs zu stehen, vor allem, wenn es darum ging, die Erlaubnis für irgendetwas zu bekommen, aber heute, nach dem scheußlich verlaufenen Abendessen, verzichtete er gerne darauf.
Er hatte zu Carla gesagt, Martin Goldmann sei sein Pate, aber mit dem scharfen Verstand, der sie zu einer so ernstzunehmenden Gegnerin machte, war sie dieser Lüge sofort auf die Spur gekommen.
»Ist er konvertiert?«
»Nein, wieso?«
»Weil Goldmann ein jüdischer Name ist. Nur Katholiken können die Taufpaten von jemandem sein. Oder Evangelische, je nachdem.«
»Woher willst du das wissen? Ich denke, dein Vater geht nicht mehr zur Kirche.«
»Tut er auch nicht. Ich weiß es von Marianne.«
»Na schön, er ist ein Freund meiner Eltern.«
»Und warum«, hatte das rothaarige Wesen mit seiner hartnäckigen Spürnase für verwundbare Stellen gefragt, »machst du dann so ein Theater darum?«
Nun hörte er den Stimmen seines Vaters und Martin Goldmanns zu, wie er es sein Leben lang schon getan hatte, und merkte wieder einmal, daß er auf die dritte, verlorene Stimme wartete. Abrupt stand er von seinem Schemel auf, ging zum Fenster, löste die Riegel und atmete die Nachtluft ein, die wohltuend kalt und schneidend in seine Kehle strömte.
»Robert, mach das Fenster wieder zu. Es ist viel zu kalt, du holst dir noch den Tod.«
Sein Vater hatte ebenfalls den Mund geöffnet, um zu protestieren, aber als Dr. Goldmann ausgesprochen hatte, meinte er stattdessen:
»Ach, laß mal, Martin. Der Junge ist ja nicht aus Zucker.«
Er schaute sich suchend um. »Wo ist denn nur ...«
Sie waren so berechenbar, alle beide. Er kämpfte gegen die Versuchung, zu sagen, was seine Mutter immer gesagt hatte, und sie zu bitten, mit dem Getue aufzuhören. Begonnen hatte es, als er zwei Jahre alt war, als Barbara König mit ihm in Dr. Goldmanns Praxis kam und Martin Goldmann sich in Mutter und Sohn verliebte.
»Robert, weißt du, wo die Flasche mit dem Cognac geblieben ist? Jetzt brauchen wir ja nicht mehr patriotisch zu sein und dürfen das Zeug wieder trinken!«
Erst seit dem Tod seiner Mutter war ihm nach und nach klargeworden, daß ihr Haushalt nach anderer Leute Maßstäben nicht normal organisiert gewesen war. Solange er sich erinnern konnte, hatte er zwei Väter gehabt, Papa und Dada Goldmann, aber keiner von beiden war so wichtig wie seine schöne, strenge Mutter gewesen. Beide hatten sie vergöttert, was ihr hin und wieder lästig fiel. Um nicht daran zu denken, holte Robert die Flasche, nach der sein Vater suchte, aus dem Papierkorb, in dem er sie versteckt hatte.
Dada Goldmann legte seine Stirn in tiefe Falten und fragte scharf: »Meinst du nicht, daß du für den Abend genug getrunken hast?«
»Genug, Genügsamkeit, genügend, ungenügend«, erwiderte Roberts Vater in seiner üblichen trägen, gutgelaunten Stimme und zwinkerte Robert zu. »Es gibt kein Genug auf dieser Welt, Robert, merk dir das. Sei nie mit dem zufrieden, womit dich die Leute abspeisen wollen.«
Es war wie immer leicht, seine Partei zu ergreifen und sich über Dada Goldmanns Mißbilligung zu amüsieren. Robert kam in den Sinn, daß Papa sich benahm, als sei Dada Goldmann sein Vater. Doch er wußte auch noch, warum er die Flasche überhaupt versteckt hatte. Unwillkürlich hörte er wieder die klare, melodische Stimme seiner Mutter, wie sie ohne Ärger, aber auch ohne Mitleid erklärte:
»Rainer, du bist inzwischen zu alt, um noch jungenhaft zu sein, und ich bin zu jung und zu beschäftigt, um deine Mutter zu spielen.«
Um die Stimme aus der Vergangenheit zu übertönen, fragte Robert, an Martin Goldmann gewandt: »Was hat denn der Herr Fehr heute abend gehabt?«
Dada Goldmann zögerte, schaute zu Roberts Vater, zuckte die Achseln und setzte sich ebenfalls.
»Er legt wohl keinen Wert auf Besucher, die seine zweite Frau kannten.« Er seufzte. »Das kleine Mädchen sieht ihr nicht sehr ähnlich, bis auf die Augen und die Hände. Außerdem scheint sie ruhig und still zu sein, während Angharad ...«
Robert verbiß sich einen Widerspruch, obwohl er Carlas Charakterisierung als »ruhig und still« komisch fand.
»Sie hatte die bemerkenswerteste Stimme, die ich je gehört habe«, fuhr Dada Goldmann versonnen fort. »Es ist ein Jammer, daß es keine phonographischen Aufzeichnungen von ihrer Stimme gibt. Deine Mutter war da ganz meiner Ansicht. ›Sie hätte nie die Bühne aufgeben dürfen‹, pflegte sie zu sagen, und wir waren nicht die einzigen, die so dachten.«
Wenn es etwas gab, das Papa und Dada Goldmann gemeinsam hatten, dann war es die Tendenz, jedes Gespräch früher oder später auf Roberts Mutter zu lenken. Weniger aus echtem Interesse als aus dem Bemühen heraus, das Unvermeidliche noch eine Weile aufzuschieben, fragte Robert:
»Wer dachte denn noch so?«
»Eine Menge Menschen«, antwortete Martin Goldmann, »und natürlich Angharad selbst. Sie wollte zurückgehen. Aber dann starb sie.«
»Warum hast du mich nicht daran erinnert, daß du sie gekannt hast?« unterbrach Rainer König, und diesmal klang er eindeutig streitsüchtig. »Der alte Heinz ist furchtbar empfindlich in dieser Angelegenheit.«
»O ja«, entgegnete Dada Goldmann sarkastisch, »Herr Fehr ist ein empfindsamer Mensch.«
Roberts Vater beharrte störrisch: »Er ist ein guter Kerl, wenn man ihn richtig kennt. Versteht Spaß. Nicht so wie manche Schlawiner, die andere nur hinters Licht führen wollen ...«
Dada Goldmann stand auf. »Ich glaube, es ist besser, wenn ich jetzt gehe. Gute Nacht, Rainer.«
Dann umarmte er Robert ostentativ, und Robert stellte überrascht fest, wie dünn Dada Goldmann im letzten Kriegsjahr geworden war.
»Gute Nacht, Robert.«
***
»Familien sind furchtbar«, sagte Robert einige Tage später ungewohnt heftig zu Carla, und sie stimmte ihm zu.
»Ich wünschte, ich hätte keine.«
Kapitel 2
Die Räterepublik, die nach der Ermordung Eisners ins Leben gerufen wurde, hatte den Frühling nicht überlebt. Für Carla und Robert waren die Geschichten von den illegalen Freikorps, die München nach Kommunisten durchsuchten, zunächst nur eine Möglichkeit, einander mit Schreckgeschichten zu übertrumpfen. Dann wurde auch Dr. Goldmanns Wohnung durchsucht, und einer seiner Freunde verschwand.
»Dada meint, diese Korpsleute würden von der Polizei unterstützt. Aber dann müßten die Gefängnisse doch langsam aus allen Nähten platzen«, sagte Robert. Sie besuchten eine der Badeanstalten entlang der Isar, was Annis Idee gewesen war. Carlas Stiefmutter stand im Wasser und spritzte lachend ihren Mann naß, der so gutgelaunt und aufgeräumt wie selten wirkte. Es war ein schöner Tag, aber Carla, die dank der hellen Haut der Rothaarigen sehr leicht einen Sonnenbrand bekam, saß auf einem Handtuch im Schatten, und Robert, der nicht zugeben wollte, daß er nicht schwimmen konnte, saß neben ihr.
Carla zerrte etwas an dem Badeanzug, den sie trug. Er gehörte eigentlich Anni; die Größe paßte, doch das Leinen mit den blauen Streifen war für Carla einfach zu breit geschnitten.
»Du bist doch naiv«, sagte sie, denn diesen Ausdruck hatte sie erst gestern in einem Roman gefunden, und sie wollte ihn unbedingt verwenden. »Die stecken niemanden ins Gefängnis. Sie erschießen die Leute.«
Dieses Wissen verdankte sie einem Gespräch zwischen Fräulein Brod und Frau Hallgarten, das sie mit angehört hatte. Beide hatten so entsetzt und unglücklich gewirkt, daß sie wußte, sie sollte eigentlich ebenfalls entsetzt und unglücklich sein, aber sie kannte niemanden, der erschossen worden war, und so ging es ihr nicht näher als all die Toten am Ende der Nibelungensage.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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